Monster - Benjamin Maack - E-Book

Monster E-Book

Benjamin Maack

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Beschreibung

Ein Chemielaborant, der in einem überalterten Dorf im Harz nach der Liebe sucht - und eine Eule findet. Ein Manager, der als ein guter Erwachsener in Hotelzimmern liegt und von den Sünden seiner Jugend heimgesucht wird. Ein Housesitter, der ein Sofa versaut, einen Baum tötet und eine Minderjährige verführt. Sie alle heißen Benjamin. Sie alle irren umher. Durch Wälder und Tierparks, über Familienfeiern und Vorortstraßen. Nach seinem vielgelobten Prosadebüt "Die Welt ist ein Parkplatz und endet vor Disneyland" zeigt Benjamin Maack nun in "Monster" erneut, mit welcher Konsequenz und Überzeugungskraft er erzählen kann. Spannend, provokant - und manchmal ungeheuer witzig.

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Inhaltsverzeichnis

Viel schlimmer als die dunklen Räume sind die spiegelnden Fenster

Okay, bereit? ...

Australien

Ich glaube nicht an andere Menschen ...

Den Zoo verlassen ...

Wie sehr hat Las Casas geweint?

0

Zoo

Okay, ich hab noch einen Benjamin-Witz ...

Was du da hast ...

Bringen Sie Ihre Atmung und Ihre Bewegungen in Einklang

Fürchte dich nicht ...

Ach ja ...

Atavismen

Keine Angst Angst ...

Ich merk schon ...

Benjamin

Du glaubst nicht an andere Menschen ...

Xxxxxxxx

Benjamin Maack

Impressum

Viel schlimmer als die dunklen Räume sind die spiegelnden Fenster

1

Es ist plötzlich da. Wie hineingestürzt ins Licht und auf die Straße. Das Ding. Der Mensch oder das Tier im Scheinwerferlicht. Zu schnell, um zu erkennen, was es ist. Plötzlich ist da was auf der Straße. Plötzlich ist es ein Geräusch unter dem Wagen, ein Schleifen oder Kratzen. Ein Scharren. Ein roter Schemen im Rücklicht.

Tier. Bitte.

Sich darauf vorbereiten, getötet zu werden, wie man in dunklen Wäldern getötet wird, wenn man aus Autos steigt. Die Tür öffnen. Aussteigen.

Tier, Tier, Tier.

Bitte, bitte, bitte.

Im Schein der Rücklichter liegt die Gestalt unter einer Decke aus Rot und Schwarz. Viel kleiner, als sie sich unter dem Auto angefühlt hat. Eine Form, irgendwie oval, ein Tier, ein Vogel. Ja, nur ein dummer Vogel. Eine Eule.

Den Körper umfassen. Ja, es ist eine Eule. Das ist gut. Eine gute Sache. Eine gute Eule.

Da ist eine Kälte wie Nacht im Gefieder, aber darunter fühlt sie sich warm an. Mit beiden Daumen durch den Flaum auf der Brust streichen. Ganz weiche Federn. Daunen. Die Eule vom Asphalt nehmen. Eine schwere Eule. Sie mit ausgestreckten Armen vor das Gesicht heben wie einen Säugling. Angeschaut werden von zwei trüben Murmeln. Den Wind hören. Ungewöhnlichen Wind, irgendwie wild. Oder wütend. Wind, der den Wald und seine Wesen beschützt. Wind, der heranrauscht, um einen Mörder zu bestrafen.

Du willst ins Auto. Du musst ins Auto. Nur schnell einsteigen. Bevor der Wind kommt. Die Eule auf dem Beifahrersitz anschnallen und mit ihr verschwinden. Die Eule ins Auto. Die Beifahrertür öffnen, die Eule auf dem Arm. Die Eule ins Auto. Die Eule ins Auto. Nachdenken. Nachdenken, nachdenken, nachdenken. Zum Kofferraum. Den Deckel öffnen. Den Vogel neben die schwarze Reisetasche. Den Deckel luftdicht zuknallen lassen.

Benjamin springt ins Auto und drückt den Knopf für die Zentralverriegelung.

Jetzt hast du eine Eule, denkt er. Neben deiner Reisetasche im Kofferraum ist jetzt eine Eule.

Kathrin hat den großen Hammer aus der Werkstatt ihres Vaters geholt. Breitbeinig steht Benjamin in dem alten Hühnerkäfig, einem Holzgerippe mit Kaninchendrahtverschlag und Wellblechdach. Er schlägt auf eine alte Autobatterie ein. Das blinde Plastik lässt das Werkzeug zurückfedern. Er holt wieder und wieder aus.

Dum, dum, dum.

Dumpfe Schläge auf den schmutzigen Block.

Spielt egal wo, hat Kathrins Vater gesagt, aber nicht in dem alten Hühnerkäfig. Da habe ich überall Rattengift ausgelegt, in den Brettern stecken rostige Nägel, die euer Blut verseuchen. Und Finger weg von den Autobatterien, in denen ist Säure, die ätzt euch alles weg.

Der Junge mit dem Hammer schwitzt, er atmet mit offenem Mund. Er schlägt auf die Batterie ein, weil er und das Mädchen Säure besitzen wollen. Kathrin steht ein bisschen abseits, viel zu große, sehr gelbe Geschirrspülhandschuhe an ihren Kinderhänden, um später alles genau zu untersuchen. In einer Hand hält sie eine leere Coladose. Um die Säure abzufüllen, wenn die Batterie geknackt ist. Kathrins Hemd mit dem Vogelmuster hängt unordentlich aus ihrer roten Kordlatzhose. Sie hat die Ärmel hochgekrempelt, als würde sie die ganze Arbeit machen. Bei jedem Schlag verzieht sich ihr Gesicht, als hätte sie den Hammer in der Hand.

Das Plastik knackt.

Auf der Batterie öffnet sich ein langer Spalt.

Benjamin lässt den Hammer fallen und fasst sich ins Gesicht.

Dann schreit er.

»Mir ist was in den Mund gespritzt! Auf meine Zunge!«

Kathrin muss nicht lange überlegen. Muss sie nie.

»Säure. Das muss die Säure sein. Nicht schlucken. Spuck aus. Nein, halt! Spuck nicht aus.« Kathrin schreit auch. Weil alles Lärm ist in diesem Moment.

»Lass den Mund auf. Streck die Zunge raus. Merkst du schon was? Nein, nicht reden. Komm mit.«

Benjamin schreit, Kathrin packt ihn am Arm, schleppt den weinenden Jungen hinter sich her zu dem anderen Lärm vor dem Haus. Dort mäht ihr Vater den Rasen.

»Papa! Benjamin hat Batteriesäure auf der Zunge«, schreit sie, legt ihren ganzen Atem in den Schrei.

Der Rasenmäher geht aus.

»Was ist los?«

»Wir wollten Säure haben. Dafür mussten wir doch den Hammer nehmen. Wir wollten ihn aber gleich danach zurückbringen. Dann hat Benjamin die Säure auf die Zunge gekriegt. Wir sind aber gleich hergekommen. Ehrlich.«

»Ich habe euch doch gesagt, dass im Schuppen nicht gespielt wird.«

»Muss er jetzt sterben?«

»Wo ist es denn hingespritzt?«

»Ein Tropfen. Auf seine Zunge.« Kathrin zeigt mit den großen gelben Handschuhen auf Benjamins offenen Mund.

Der Vater zieht seine Arbeitshandschuhe aus, mit schwieligen Fingern drückt er die Zähne des Jungen auseinander und wirft einen Blick hinein. Zwei Tränen laufen über das Gesicht mit den Fingern im Mund, eine links, die andere rechts die Wangen herunter und treffen sich am Kinn.

»Das tut mir leid, Benjamin«, sagt der Vater, er sieht den Jungen ernst an, »wahrscheinlich musst du jetzt sterben.«

»Was muss er?«, kreischt Kathrin.

»Du gehst jetzt besser nach Hause. Und du kommst mit, junge Dame.«

Ohne Benjamin noch einmal anzuschauen, packt Kathrins Vater seine Tochter an den Latzhosenträgern und zerrt sie ins Haus.

»Aber Benjamin ...« Die Tür fällt ins Schloss und es ist still. Der Junge steht plötzlich allein da. Ein paar Sekunden steht er nur so da und wartet, schaut dumpf auf das frisch geschnittene Gras vor seinen Füßen und wartet, dass er stirbt.

Fast ist er ein bisschen gespannt.

Er fühlt ein Kribbeln in seinen Händen und Füßen, als würde es schon losgehen.

Aber seine Eltern. Die wären bestimmt sauer, wenn er einfach hier auf dem Rasen vor dem Haus von Kathrins Eltern sterben würde.

Er fängt an zu rennen. Unter seinen Füßen das Gras, dann die feste Erde auf der Einfahrt, dann der Staub des Fahrradweges. Er rennt nach Hause, um seinen Eltern zu sagen, dass er gleich tot ist. Da fällt ihm ein, dass er sein Rad vergessen hat. Er will nicht, dass seine Eltern fragen, wo denn sein Fahrrad ist, wenn er ihnen etwas so Wichtiges zu sagen hat. Benjamin läuft zurück zu Kathrins Haus.

»Benjamin!«

Kathrin hat verheulte Augen, sandigen Schnodder unter der Nase.

»Streck deine Zunge raus!«

Sie kreischt ihn an.

Er streckt seine Zunge raus.

»Noch weiter!«

Sie kreischt, obwohl sein Gesicht jetzt direkt vor ihrem ist.

Er streckt seine Zunge noch weiter raus.

Kathrins Gesicht kommt noch näher.

Dann drückt sie ihre Zunge fest gegen seine.

»So«, sagt sie, »wenn du stirbst, muss ich auch sterben.«

Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, eine Runde, zwei Runden, ein Schnappschloss schnappt, eine Türkette klappert. Die Tür öffnet sich einen Spalt.

»Wer ist da?«, fragt Kathrin.

»Ich.«

»Wer?«

»Ich.«

»Benjamin?«

»Ja.«

»Wir schlafen schon. Komm rein.«

Kathrin hat einen Becher auf den Küchentisch gestellt. In einem großen Frotteebademantel steht sie an der Anrichte und schüttet Kaffee in einen Papierfilter.

»Was machst du hier?«

»Ich dachte, ich komme dich mal besuchen.«

Sie nimmt einen Becher aus einem der Schränke und stellt ihn wieder zurück, klappert in der Geschirrschublade, dann dreht sie sich um.

»Ich verstehe das nicht«, sagt sie, »wir haben Ewigkeiten nichts von dir gehört. Hast du meine Briefe nicht gekriegt?«

»Doch. Alle. Wo ist denn Stephan?«

»Er hat schon seine Medikamente bekommen.«

»Tut mir leid, dass ich mich nie gemeldet habe. Aber jetzt habe ich frei. Ich wollte euch sehen. Was ihr so macht. Wenn ich darf, würde ich gern ein paar Tage bleiben.«

»Wir haben kein Gästezimmer, nur Stephans alten Raum oben. Er schafft die Treppe nicht mehr.«

Die Matratze des weiß gelackten Krankenhausbettes ist aus medizinischen Gründen hart. Der Mond lässt die Holzbalken unter der Decke lange schwarze Schatten werfen. Draußen geht der Wind durch die Bäume, es raschelt in den Wänden. Das Gebälk des alten Hauses arbeitet. Bilder rauschen ihm durch den Kopf. Die Stadt, aus der er weg ist. Die letzten Tage im Labor. Kathrin im Bademantel. Die Eule im Kofferraum. Alles vermischt sich. Benjamin ist schrecklich müde, endlos erschöpft. Alles vermischt sich, alles wird eins.

Mitten in der Nacht wecken ihn Geräusche auf dem Flur. Dumpfe Schläge. Eine lange Pause zwischen jedem Laut, als falle etwas unendlich langsam die Treppe hinunter.

Dum.

Dum.

Dum.

Jetzt ist es im Haus, denkt Benjamin plötzlich.

Die Beine an den Körper gezogen, die Decke bis unter das Kinn. So wartet er, dass die Tür sich öffnet und etwas Kaltes ihn am Fuß packt.

2

Hinter dem Haus hebt sich ein Berg. Dicht bewaldet. Ein Rücken aus Buchen, ein paar Fichten. Stämme, Laub, Gräser, Moosgrund, mehr zu erahnen als zu erkennen. Schlierig ineinanderlaufende Braun- und Grüntöne. Eine unscharfe, verwischte, verwucherte Masse. Und in der Mitte das Haus, Kathrins und Stephans Haus. Grau verputzte Fassade, das Obergeschoss mit dunklem Holz verkleidet, ein breiter Balkon. Unter dem schweren Schieferdach beugt es sich in die Vegetation, verläuft an seinen Rändern mit der Umgebung, mehr Schmutzfleck als Gebäude. Dafür sehen die Wolken aus wie Felsen. Scharfe Schatten, schartige Spalten. Bedrohliche Umrisse im Himmel. Wie ein Meteoritenschwarm, ein paar hundert Meter vor dem Einschlag auf der Erde, ein Blinzeln davon entfernt, alles irdische Leben auszulöschen.

»Du malst immer noch«, sagt Benjamin. Das Aquarell hängt über dem Küchentisch, ein Bild in einem alten Rahmen aus sehr dunklem Holz. Kathrin macht Frühstück. Sie kocht Kaffee, presst Orangen, schneidet grüne und rote Paprika in Streifen, legt Wurst- und Käsescheiben fächerförmig auf einen Teller. Dann holt sie Blister und Gläschen mit Tabletten aus dem Seitenfach der Kühlschranktür und lässt Pillen und Kapseln in die Waben einer cremeweißen Plastikdose klackern. Sie schaut auf ihr Werk und greift sich noch eine Paprika.

»Nein, eigentlich nicht. Ist das einzige Bild, das ich hier gemalt habe. Ganz am Anfang, als wir hergekommen sind. Als es Stephan noch besserging.«

Kathrin spült ihre Paprikahände unter dem Wasserhahn ab, stellt Teller und Tassen auf den Frühstückstisch. Sie sieht gut aus in dem Sonnenlichtstreifen, der durch die Verandatür fällt. Viel besser als gestern Abend.

»Du könntest mal wieder was malen«, sagt er, »solange ich hier bin. Ich würde in der Zeit auf Stephan, na ja, aufpassen. Wenn ich das kann.«

»Guten Morgen, Hase. Oder ... sollte ich sagen ... ihr Hasen? Ich sehe, du ... hattest jemanden über ... Nacht da.« Stephans Stimme klingt, als müsste sein Adamsapfel für jede Silbe ein Tonnengewicht stemmen, zwischen den Satzfetzen schnappt er nach Luft. Sein Kopf wird von einer Nackenstütze aus blankem Metall gehalten. Er muss die Augen etwas nach oben verdrehen, um Benjamin anzusehen. Das gibt seinem Blick etwas Verschlagenes, Tierhaftes.

»Lass nur, ich hab alles weggeworfen«, sagt Kathrin in Benjamins Richtung. Sie wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, geht zu Stephan, nimmt seinen Kopf zwischen ihre Handflächen und küsst seine Stirn.

»Du bist hier der einzige Hase, und jetzt sei brav und hoppel an den Tisch.« Der elektrische Rollstuhl surrt durch die Küche. Benjamin ist nicht sicher, ob er aufstehen soll, beugt sich unschlüssig vor.

»Ich bleib sitzen ... wenn ... du es auch machst«, sagt Stephan. »Wie geht es dir, ... Mann. Wir haben uns ewig ... nicht mehr gesehen. Eigentlich, seit wir ... aus der Stadt ... weg sind, du ... treulose Tomate.«

»Ich ...«

»Du siehst gut aus. Na ja, auf jeden ... Fall besser als ich. Oder sagen wir mal, besser ... auf den Beinen.«

Kathrin gießt Kaffee ein, stopft Stephan ein Geschirrtuch in den Pullikragen.

»Du bist auch wie so ein sturer Hundertjähriger. Da haben wir mal Besuch, und du musst erst deine doofen Zeichentrickserien gucken. Schinken oder Pute?«

»Schinken.«

Sie belegt eine Scheibe Brot, schneidet sie in briefmarkengroße Rechtecke und beginnt, Stephan die Stücke in den Mund zu stecken. Zuerst bewegt der seine dürren Arme noch so, als wolle er das selbst machen, doch seine Bemühungen sind nur ein schwacher Schatten hinter Kathrins routinierten Handgriffen. Schwer atmend kaut er das Brot.

»Sieh mich an, ... alter Kumpel ... Fernsehen ist alles, ... was mir geblieben ist«, keucht Stephan theatralisch, und Benjamin erkennt den Stephan, der früher einmal sein Mitbewohner war. Er muss lachen.

Kathrin und Stephan gucken ihn an, als wäre er eben erst in den Raum gekommen.

»Ergötzt du dich ... etwa an unserem Leid?«, fragt Stephan. Er schielt Benjamin jetzt ganz ernst ins Gesicht. Ein glänzender Brotkrümel klebt in seinem Mundwinkel.

»Hör nicht auf ihn«, sagt Kathrin, »er macht nur blöde Witze. Na ja, streng genommen, macht er ziemlich häufig ganz gute. Der hier war jetzt blöd. Weißt du schon, was du heute machen willst?«

»Keine Ahnung«, sagt Stephan, jetzt mit einem schmalen Lächeln im Gesicht. »Ich denke«, sagt er, »ich gehe eine Stunde ... joggen, danach ... raus in den Garten, ... holzhacken und später ...«

Kathrin wirft ihm einen Blick zu, der ihn scherzhaft nach Atem ringen lässt.

»Nicht den ... Todesblick, dunkle ... Imperatorin. Ich füge mich ... Ihrer Macht.«

Kathrin lacht und rollt übertrieben die Augen.

»Also, Benjamin, was hast du vor?«

»Wenn ich echt ein paar Tage bleiben darf, würde ich erst mal meine Sachen aus dem Auto holen.«

»Hey, alter ... Kumpel. Mi casa ... es su casa, ... eh? Wenn du ... willst, kannst du nachher ... sogar ’ne Runde in meinem ... Rolls drehen.« Stephan lässt seinen Rollstuhl vor- und zurückzucken.

Am Abend zuvor hatte Benjamin sein Auto unten am Straßenrand geparkt. Irgendwie konnte er den Weg zu diesem dunklen, grauen Umriss zwischen den Bäumen nicht hochfahren. Er ging die Auffahrt hoch. Kies, kalkweiß lag der im Mondlicht, knirschte unter seinen Sohlen. Die Fenster waren schwarze Quadrate in einer flachen Hauskulisse. Als würde direkt hinter ihnen das Nichts anfangen, das Benjamin hier erwartete. Ja, er hatte die Briefe von Kathrin bekommen, die Fotos vom Haus, von den Bergen und dem Dorf. Die Weihnachtspostkarten. Aber er hatte das alles nie ernst genommen. Für ihn waren Stephan und Kathrin zwar weg aus der Stadt, aber nie woanders angekommen. Sie waren einfach weg. Als Benjamin den Klingelknopf drückte, rechnete er nicht damit, dass Kathrin ihm die Tür aufmachen würde. Irgendjemand, klar. Eine uralte Frau, die einen müden Fremden hereinbitten und ihm eine dick geschnittene Scheibe Bauernbrot mit selbst eingekochter Marmelade schmieren würde, bevor er sich wieder auf den Weg machte. Oder ein Mann mit einer Flinte im Anschlag. Bis er ihre Stimme hörte, hatte er gedacht, dieses Haus könne jedem gehören, aber nicht Kathrin und Stephan. Bis sie die Tür öffnete, hatte er nicht ausgeschlossen, dass seine älteste Freundin sich einfach in Luft aufgelöst hatte. Dann öffnete Kathrin die Tür und sah aus wie Kathrin, redete wie sie. Das ganze Haus roch nach ihr.

Benjamin öffnet den Kofferraum und macht vor Schreck einen taumelnden Schritt rückwärts, rutscht fast auf dem Kies aus. Große Murmelaugen, schwarze Pupillen mit einem dünnen bernsteingelben Ring darum, zwei Sonnenfinsternisse in einem Nest aus Federn. Aus dem schummrigen Dämmer seines Kofferraums schaut sie ihn an. Einfach so, als hätte sie die ganze Zeit gelauert, als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet. Neben seiner geräumigen Sporttasche liegt die Eule und sieht mit starrem Blick zu ihm hoch. Er schnappt sich die Tasche und schlägt den Kofferraum viel zu heftig zu. Als er zurück zum Haus geht, sieht er Stephans Gesicht im Wohnzimmerfenster.

»Was hast ... du denn da ... aufgeführt? Hat sich eine ... Leiche in deinem Kofferraum ... versteckt?«

»Nein, ich hatte nur einen Wadenkrampf. Auf deiner steinharten Matratze schläft man ja wie auf einer Grabplatte«, lügt Benjamin und schämt sich im nächsten Moment für die Grabplatte.

Als Stephan noch Benjamins Mitbewohner war, hasste er ihn. Das wusste er da aber noch nicht. Er dachte, Stephan würde ihn ein bisschen nerven, wie einem jeder, den man gut kennt, auch ein wenig auf den Geist geht, dachte er damals. Ein paar Angewohnheiten und nur ein bisschen. Unwichtig. Kleinigkeiten. Ganz normal, dachte er. Aber das war Quatsch. Hätte Benjamin darüber nachgedacht, er hätte schon damals ganz genau gewusst, was er an Stephan hasste. Er hätte eine Liste machen können:

– Er hasste, dass Stephan ständig irgendwas zu erledigen hatte.

– Er hasste diese bestimmte Art von unverkrampfter Ernsthaftigkeit, die sein Mitbewohner bei allem, was er anfing, an den Tag legte.

– Er hasste, dass Stephan neben seinem Jurastudium in einer Anwaltskanzlei jobbte, eine stupide Arbeit, bei der er sich durch riesige Archive bibelseitiger Folianten wühlen musste. Und dass er auch das auf diese unverkrampfte Art ernst nahm.

– Er hasste, dass sein Mitbewohner trotzdem mit dem Enthusiasmus geistig Behinderter von Nachbarschaftsstreitigkeiten und Klagen wegen Körperverletzung reden konnte.

– Er hasste überhaupt, wie begeistert Stephan sein konnte.

– Und wie leicht alles bei ihm aussah.

– Selbst das Ausgehen schien für Stephan eine ernste Angelegenheit zu sein. Er hielt immer am längsten durch und trank mit mildem Blick, bis kein anderer mehr konnte. Am nächsten Morgen, wenn Benjamin sich noch immer betrunken zum Klo schleppte, saß er schon wieder in der Küche und blätterte durch irgendeine überregionale Tageszeitung.

– Aber am meisten hasste Benjamin, dass alles, was Stephan machte, so vernünftig und folgerichtig erschien. Oder wenigstens fast alles.

Denn dann gab es da noch diese anderen Tage. An denen fand Benjamin seinen Mitbewohner heulend auf dem Badezimmerboden.

Dann jammerte Stephan, dass seine Adern sich auflösen würden, dass sein Blut Säure wäre. Es war immer dasselbe. Alle paar Wochen brach Stephan plötzlich zusammen. Als wäre etwas in ihm aufgebraucht. Er hatte diese fixe Idee, dass die Stresshormone in seinem Körper nicht abgebaut werden, dass sie sein Blut in eine ätzende Suppe verwandeln, die seine Adern von innen zerfrisst. Dann rollte er sich auf ihrem ekligen Badvorleger zusammen. Dann liefen dicke, trübe Tränen und Rotz über sein Gesicht. Dann ließ er seinen Hinterkopf auf die Fliesen donnern. Dann war nichts mehr von dem übrig, was Benjamin an ihm hasste. Dann stand Benjamin neben seinem Mitbewohner und sah sich das alles an. Er war das Publikum für diese Szenen, und irgendwie beruhigten sie ihn. Er war froh, dass Stephans Leben nicht umsonst war, dass es etwas kostete.

An einem dieser Abende lernten Kathrin und Stephan sich kennen. Zusammengerollt, schluchzend lag er auf dem Boden. Voller Schnodder, ein roter Babykopf zwischen zwei Armen, der Hinterkopf voller schmerzender Beulen unter dichtem, weichem Haar.

Eigentlich wollte Kathrin mit Benjamin ins Kino gehen. Sie studierte damals in einer anderen Stadt und kam ihn zum ersten Mal besuchen. Flüsternd bat er Stephan, ruhig zu sein. Er schloss die Tür zum Bad, zog sich Jacke und Schuhe an. Lächelnd öffnete Benjamin Kathrin die Tür, während Stephans erbärmliches Wimmern aus dem Bad kam. Sie trat ganz selbstverständlich ein, horchte, ging ins Badezimmer und kniete sich neben Stephan. Was hast du?, fragte sie ihn. So ist Kathrin. Hilfsbereit. Auch dann, wenn andere schon am Nachmittag die Kinokarten gekauft haben.

Sie und Benjamin waren zu der Zeit kein Paar, aber irgendwie war er sich immer sicher gewesen, dass sie einmal heiraten würden. Sie gehörte ihm, auch wenn es da noch keine richtige Absprache gab. Wenn alles gut laufen würde, hatte er gedacht, würde sie erst am nächsten Morgen wieder in den Zug nach Hause steigen.

Am Ende schlief Stephan in Kathrins Armen ein. Zwei Fremde unter einer Decke. Und Benjamin saß allein in seinem Zimmer und knetete die Kinokarten in seiner Hosentasche, bis nur noch Fussel übrig waren.

»Ich gehe mal ins Dorf«, ruft Benjamin in die Küche und schlägt die Haustür hinter sich zu.

3

Das Dorf sieht unschuldig und verdorben zugleich aus. Ein Dorf wie nach einem Weltuntergang. Ein Dorf wie auf den Leichen von Milliarden, versteckt zwischen unschuldigen, grünen Hügeln. Zwei Reihen holzverkleideter Häuschen, links und rechts die holprig geteerte Hauptstraße hinunter. Ein Bäcker, ein Grillimbiss, ein Laden für Funktionskleidung mit verstaubten Auslagen im Schaufenster, verblichene Goretex-Jacken-Werbung. Eine Apotheke, ein kleiner Supermarkt und eine Touristeninformation. Über allen anderen Hauseingängen hängen Zimmer-frei-Schilder mit handgepinselten Tannen, Hexen oder großäugigen Waldgeistern.

»Hallo?«

Ein Windspiel klirrt über der Tür. Bücherwände, Staubgeruch. Die Jalousien sind heruntergelassen. Der Raum wird nur von einem Computerbildschirm erhellt, an dem ein blondes Mädchen versucht, eine Mauer von Steinen Reihe um Reihe verschwinden zu lassen, während von oben immer neue herabfallen. Am oberen Bildschirmrand klebt ein laminierter Zettel. »Gästecomputer« ist darauf in umständlich verschnörkelten Buchstaben zu lesen. Benjamin steht unter dem Windspiel, bis man nichts mehr hört als den Lüfter des Computers und die Finger auf der Tastatur. Die Quader fallen immer schneller, die Mauer wird höher und höher.

»Hallo, Entschuldigung, ich ...«

»Sekunde, sage ich doch«, stöhnt das Mädchen, obwohl es noch gar nichts gesagt hat.

»Hmpf«, macht der blonde Hinterkopf schließlich. Der Bildschirm ist bis zum oberen Rand voller bunter Quader. Es hat aufgehört, Steine zu regnen.

»Entschuldigen Sie, ist hier irgendwo ein ...«, Benjamin sucht nach dem richtigen Begriff, »Touristikexperte?«

»Ich bin das.« Benjamin ist erstaunt, als das Mädchen sich zu ihm dreht und eine alte Frau ist. »Was wollen Sie denn?«

»Ich würde gerne das Dorf umwandern. Haben Sie vielleicht eine Karte für mich?«

»Normalerweise kenne ich alle Auswärtigen, die hier außerhalb der Saison herkommen.«

»Ich bin zu Besuch.«

»Ah so. Und bei wem haben Sie sich eingemietet?«

»Ich besuche alte Freunde.«

»Ah so, verstehe. Wen denn?«

»Die Schwarzs«, sagt Benjamin und merkt, dass sich das komisch anhört, weil er das so noch nie gesagt hat, dass Stephan und Kathrin zusammen die Schwarzs sind. Kathrin und Stephan Schwarz.

»Ah. Da sind Sie ja in einem schönen, alten Haus untergekommen. Ich war früher oft da, als der Herr Brunner und seine Frau noch lebten.«

Sie steht mit einem leisen Ächzen auf und geht langsam hinter den Tresen, über dem »Touristik« steht. »Hier kümmert man sich umeinander«, murmelt sie halb zu sich selbst. »Na ja, aber seit sie verstorben sind, war ich nicht mehr da. Ist es denn noch schön?«

»Ich denke schon.«

»Ah so. Was kann ich denn für Sie tun?«

»Ich würde gern das Dorf umwandern. Können Sie mir eine Landkarte verkaufen oder mir sagen, wo ich langgehen muss?«

Zwischen den hundertjährigen Bäumen, neben dem Bachlauf und den stillen Steinen sind die letzten Tage nur ein ferner Gedanke. Stäbe aus Licht stoßen durch das wankende Laubdach, lassen den Weg blass funkeln.

Tief atmen, die Lungen aufblasen wie Ballons. Das alles in sich aufsaugen.

Der Pfad ist schmal, es gibt keine Abzweigungen, keine Trampelpfade in den Wald, keine Alternativen. Ein Mann, ein Weg. Gut fühlt sich das an. Benjamin marschiert mit langen Schritten, merkt gar nicht, wie sich der Himmel verdunkelt. Die Sonne verschwindet hinter dem Berg wie abgestürzt. Es wird finster. Es wird kalt. Eine Kälte, die unter die dünne Nylonjacke schleicht. Benjamins Kleider ziehen die klamme Luft in ihr Gewebe, wie ein Schneeanzug sich mit Eiswasser vollsaugt und ein Kind auf den Grund eines Wintersees zieht. Die Blätter der Bäume stürzen aus ihrem Grün in ein düsteres Türkis.

Benjamin bemerkt das alles nicht. Benjamin geht einfach nur. Benjamin geht den Weg.

Dann beginnt es zu regnen.

In Sekunden brechen die dicken Tropfen durch die Baumkronen und zerplatzen auf Benjamins Gesicht. Unter seinen Ledersohlen verwandeln sich Baumwurzeln in rutschige Krampfadern. Rechts von ihm der Bach. Dahinter Dickicht, Dunkel, eine Mauer aus Tannen. Der Hang zu seiner Linken blutet Schlamm.

Der Regen wird stärker. Der Regen peitscht jetzt in die Augen.

»Warum wollen Sie um das Dorf rum?«, hatte die Frau in der Touristeninformation gefragt und an ihm heruntergeschaut.

»Einfach so.«

Benjamin rutscht aus. Mit einer Hand versucht er, sich in dem Gras am Bachrand abzustützen und versinkt bis zum Ellenbogen im schlammigen Boden. Als er sich befreien will, hält ihn ein schmatzender Unterdruck. Bewegt sich da etwas? Da bewegt sich doch was. So sterben Menschen, denkt er. Sie machen Urlaub, einen kleinen Ausflug in die Wildnis, sie rutschen aus, fallen unglücklich, brechen sich einen wichtigen Rückenwirbel, dann wird es Nacht, dann wird es kalt, dann erfriert man am Rand eines Wanderweges mit Blick auf die Dächer des Dorfes, und am nächsten Tag fragen sich alle, wie ein solches Unglück nur geschehen konnte.

Mit einem Ruck den Arm aus der Erde zerren, als sei er gar kein Teil mehr von einem. Er ist schwarz von fauligem Schlamm. Im Dorf hinter dem dichten Regenvorhang gehen grau die Lichter an. Den Abhang runterschauen auf einen Garten hinter einem Haus. Ein Komposthaufen, ein Maschendrahtzaun, ein paar vergessene Kinderspielzeuge.

Auch mit dem Blick auf so was kann man sterben, denkt Benjamin.

Auch mit dem Blick auf so was kannst du sterben.

Wenn jetzt ein morscher Ast von einer Böe aus den Bäumen gebrochen wird und auf deinen Schädel kracht, hört keiner deine Schreie.

Wenn du jetzt nicht aufpasst, dann ...

Du kennst die Geschichte.

Jeder kennt die Geschichte von dem Schüler, der auf der Abifahrt nach Italien unter einem jahrtausendealten römischen Bogen durchgeht. Ein Stein, der sich aus dem Gemäuer löst. Ein zertrümmerter Schädel in irgendeinem Dritte-Welt-Dorf in Italien. Und die Biografie ist beendet, bevor man was Richtiges im Lebenslauf stehen hatte. Ein uralter, unschuldiger Stein und man ist tot.

Und du bist tot.

So schnell geht das.

Als wäre der Ewigkeit ein blöder Witz eingefallen.

Du denkst an Tiere aus einem Trickfilm, den du als Kind gesehen hast. Wildschweine, Füchse, Hasen, Eichhörnchen, Vögel, aufgereiht wie für ein Klassenfoto.