Moonsurfer - Seven Waves - Jan Birck - E-Book

Moonsurfer - Seven Waves E-Book

Jan Birck

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Beschreibung

Als Sohn eines berühmten Schatzsuchers hat der 15-jährige Steven es nicht leicht. Denn sein Vater interessiert sich leider mehr für alte Schiffe als für ihn. Gerade hat er vor der Küste Floridas zwei versunkene Schiffe gefunden und möchte nun von der Insel Sharkfin-Island aus nach dem sagenhaften Aztekenschatz suchen, der angeblich Ende des 16. Jahrhunderts mit den Schiffen im Meer versank. Doch Steven wird schließlich tiefer in das Geheimnis der untergegangenen "Blackbird" eindringen, als sein Vater es sich jemals vorstellen könnte. Denn der Junge gelangt in den Besitz eines alten Surfboards, das magische Kräfte besitzt und ihm so das Tor zur Vergangenheit öffnet. Durch eine riesige Welle wird Steven in das Jahr 1693 katapultiert, wo er auf das ungewöhnliche Mädchen Shark und den Schiffsjungen Peter trifft. Das Abenteuer beginnt ...

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Seitenzahl: 297

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Zitat

Die Westküste Floridas

3. Juni 2004, etwa 20 Uhr, Sonnenuntergang. Ein Surfer vor Sharkfin-Island, starker Seegang

Etwa eine halbe Stunde später, gegen 20.30 Uhr, an Bord des Schiffes X-Plorer II

Etwa einen Monat davor. Eine Boeing 737 im Sinkflug über den Wolken und der Insel Sharkfin-Island, Abenddämmerung

Zoom auf die Insel am Eingang zur riesigen Tampa-Bay

Zoom auf das Flugzeug, dann auf das Bullauge, hinter dem Steven kauert. Zoom in das Innere des Fliegers

Tampa International Airport, Gepäckrollband, Ausgang zu den Abholerparkplätzen

Interstate 275 nach Süden. Nacht, Sturm, Regen. Ein Van versucht, einem silbernen Porsche zu folgen.

Zoom auf die Fahrzeuge, auf den Van und in das Innere des Fahrzeuges

Auf der Insel; Strand zum offenen Meer, Nacht, böiger Starkwind

Auf der Zugbrücke

Auf dem Grundstück, überwuchert vom Dickicht, schwarze Nacht, Totenstille

Dunkelheit

Der Van vor dem Grundstück, auf dem die Hazienda eins mit dem Dschungel geworden ist. Nacht, Regen, immer noch Sturm

In Stevens Zimmer; Vormittag, Sonnenschein

An Deck der X-Plorer II; Tag, klarer Himmel, Hitze

In der Messe und im Labor der X-Plorer II

Zurück im Haus am Strand, Sonnendeck

Mitte Mai 2004; Totale über das Schulgelände, Tag, Sonne, leichter Wind

Gehsteig vor dem Schulgebäude

Strandhaus; Tag, wolkenloser Himmel, leichter Wind

Das Gelände der unheimlichen Hazienda auf dem Dschungelgrundstück, Nachmittag, Hitze, Windstille

Veranda

Zurück auf der Veranda

Am Strand, Sonnenuntergang

Zurück auf dem Strand; es wird Nacht.

Stevens Zimmer im Strandhaus, Tag

Vor der Garage

Schnitt / Vor der Garage, etwa zwei Wochen später

An Bord der X-Plorer II

3. Juni; Surf-Wettbewerb auf Sharkfin-Island, Mittag, Seegang, hohe Brandungswellen

An Bord der X-Plorer; unruhige See; aus der Ferne der Surfsound des Wellenreiter-Wettbewerbes, kurz vor Sonnenuntergang

Etwas über 300 Jahre davor; Juni im Jahre des Herren 1693; ruhiges Meer, etwa 70 Fuß vom Strand der Insel Sharkfin-Island entfernt, Nacht, wolkenlos

Juni 2004; Ben Waves im Wasser, kurz nach Sonnenuntergang

Juni im Jahre des Herren 1693; ruhiges Meer, etwa 70 Fuß vom Strand der Insel Sharkfin-Island entfernt; Nacht, wolkenlos, Windstille

Nach Mitternacht, in der Kapitänskajüte eines Schiffes, ruhige See; der Dreimaster liegt mit starker Schlagseite unbeweglich auf einer Sandbank.

Im Laderaum der Blackbird, völlige Dunkelheit, Hitze

Im Laderaum der Blackbird, dann auf den Decks, Abend/Nacht; bewölkt, kaum Wind

Ein Stockwerk darunter, im Kanonendeck

Außenbordwand der Blackbird

Im Kanonendeck

Außenbordwand der Blackbird

Kanonendeck

Außenbordwand

Kanonendeck

Außenbordwand

Kanonendeck

Außenbordwand

Kanonendeck

Juni 2004; am Strand von Sharkfin-Island, Sonnenaufgang, Seegang, Wind

Juni im Jahre des Herren 1693; die Blackbird vor der Insel; Vogelperspektive, Nacht

Zoom auf das Schiff; die Außenbordwand der Blackbird

Auf der Blackbird

Außenbordwand

Unter dem Schiffsbauch, Steven im Wasser

Strand von Sharkfin-Island, Brandung, Nacht

Juni 2004; auf der X-Plorer, Morgendämmerung

Juni im Jahre des Herren 1693; auf dem Strand von Sharkfin-Island, Vormittag

Am Abend

Im Inneren des Dschungels

Zwei Tage später, im Inneren des Dschungels auf Sharkfin-Island, klare Nacht

Tage später, Strand von Sharkfin-Island, Morgengrauen, Südwestwind

Offene See südlich von Sharkfin-Island, kurz vor Longboat Key

Etwas später, vormittags, leichter Wind, schwüle Hitze

Eine kleine Insel inmitten der Sarasota Bay; schwüle Hitze, abends

Zoom in die Vogelperspektive

Captiva-Island; Vogelperspektive, Zoom auf den natürlichen Hafen

Zoom zurück in die Totale über Captiva

Kerker

Hängebrücke

Kerker

Mitternacht; die Mangroveninsel mitten in der Sarasota Bay

Charlotte Harbour, die letzte Bay, die Steven und Shark überqueren müssen, bevor sie Captiva-Island erreichen; morgens

Auf dem Deck des Gefangenenschiffes; Nacht, kräftiger Wind, Hitze, Schauer, Wetterleuchten am Horizont

In der Kajüte

Auf dem Hauptdeck / im Kanonendeck

Nacht; in der Kloake

Auf dem Hauptdeck des Kerkerschiffes; der nächste Tag bricht an.

Auf der Sandbank; im Gebüsch zwischen Lagune und Meer, wo Snake, Steven, Turtle, Alligator, Sting und Scouba den Alarmruf hören.

An Deck des Kerkerschiffes

Totale; die Bucht mit der Lagunenstadt

Zoom auf die Hütte Gaspars

Unten in der Kloake

Gaspar auf seinem Balkon

Im Gebüsch, wo sich Steven, Snake und die anderen befinden

Gaspars Balkon

Im Gebüsch auf der Landzunge, wo Snake zurückgeblieben ist, um seinen Gruß an die Meute Captivas auf die Reise zu schicken

Auf dem Außenstrand der Lagune, wo das Auslegerboot in der Brandung wartet

Steven

Strand

Auf offener See vor Captiva-Island

In Gaspars Lagune; der Kessel dümpelt noch immer auf den alten Schiffsrumpf zu.

Offenes Meer, auf dem Auslegerboot, Wind, Wellen, Wolken

Offenes Meer; eine Jolle mit verkohlten Planken, 6 Mann Besatzung, ein durchlöchertes Segel

Auf dem Auslegerboot

Unter Wasser

Irgendwo nordwestlich von Captiva Island

An Bord des Auslegerbootes

Die Küste nördlich von Captiva, vormittags, Bewölkung; Zoom in die Totale, Vogelperspektive

Zoom auf den Strand

Irgendwo draußen auf dem Meer; Tag, klarer Himmel

Im Land der Calusa, kurz nach Mitternacht

Ein Stück weiter südlich, im Rücken der Flüchtlinge, Mittag

Lagerplatz der Flüchtenden

In der Hütte der Tocobaga-Schamanin auf Sharkfin-Island, ein paar Tage später

Außerhalb der Hütte, Sturm

Sharkfin-Island; am Strand und auf der Veranda des Strandhauses; der Morgen nach dem Surf-Contest, Juni 2004

Bradenton Memorial Hospital

In Stevens Krankenzimmer; 14. Juni 2004, Tag

Ein paar Tage später; 27. Juni 2004

Im Porsche auf der Manatee Ave

Eingang zum Strandhaus, Straßenseite

Veranda, Strand von Sharkfin-Island, später Nachmittag

Auf der X-Plorer; ein paar Tage später; der Abend vor dem Vollmond über Sharkfin-Island, Seegang

In der Brandung; Bruce und sein Jetski kommen aus den Wellen.

Glossar

Über den Autor

Jan Birck, geb. 1963, ist bekannt für Jugendbücher, Animationsfilme und Werbung. Für »Geheimagent Morris« wurde er mit dem Troisdorfer Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Der Autor besegelte den Nordatlantik auf einem alten Zweimaster, war im Mittelmeer und in der Karibik unterwegs. Zeitweise lebte er in seinem Haus auf einer Insel vor der Westküste Floridas.

Jan Birck

Buch I

Mit Illustrationen von Jan Birck

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2012 by Baumhaus Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Katharina Jacobi, Leipzig

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen unter Verwendung von Illustrationen von Jan Birck

Einband-/Umschlagmotiv und Innenillustrationen: Jan Birck

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-1163-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Das fahle Licht des Vollmondes flackert

durch sturmzerfetzte Wolken.

Muschelweiße Strände blitzen auf,

und brennen die riesige Form einer Haifischflosse

in das aufgewühlte Silbermeer.

3. Juni 2004, etwa 20 Uhr, Sonnenuntergang. Ein Surfer vor Sharkfin-Island, starker Seegang

Die Sonne berührt den Horizont, taucht ein, glüht ein letztes Mal auf und versinkt. Der Wind zerrt an Stevens nassen Haaren, seine Shorts schlagen knatternd auf seine Oberschenkel.

Er beginnt die Wogen zu zählen, die unter ihm durchrollen:

Eins… zwei…

Steven spürt das Vibrieren des Boardes und wendet.

… fünf…sechs …

Die Siebte Welle baut sich auf.

Take-off.

Er stemmt den Oberkörper hoch und zieht seine Beine mit einer einzigen schnellen Bewegung in die Hocke. Für einen kurzen Moment befinden er und das Board sich im freien Fall, dann schießen sie eine Wasserwand hinunter, die sich mit der doppelten Höhe seiner ein Meter achtzig aufgetürmt hat. Das Publikum, das vor der Küste Sharkfin-Islands noch nie ein solches Wellenmonster gesehen hat, verstummt und steht starr, unfähig, die Flucht anzutreten.

Jetzt formt sich der Brecher über ihm zu einer Tube. Ein Wassermaul, das ihn verschlingen will.

Steven versucht, der Röhre zu entkommen. Doch noch bevor er begreifen kann, was wirklich mit ihm geschieht, packen die schäumenden Kiefer des Wassermonsters zu. Die riesige Welle fällt mit einem ohrenbetäubenden Donnern in sich zusammen. Wipe-out.

Steven wird verschlungen, und mit ihm Moonsurfer.

Etwa eine halbe Stunde später, gegen 20.30 Uhr, an Bord des Schiffes X-Plorer II

»Ben …«

»… kann das nicht warten?«

»Ben, die Marine Rescue ist am Apparat. Sie vermissen einen Surfer!«

Ben Waves ist der Eigner der »X-Plorer II«, die etwas weiter südlich vor der Insel an ihren Ankerketten zerrt, während der Wind mächtige Wellenberge unter dem Kiel der umgerüsteten Yacht hindurchtreibt. Als die Aufforderung des Marine Rescue Departments von Sharkfin-Island an alle Schiffe rausgeht, sich an der nächtlichen Suche nach einem vermissten Surfer zu beteiligen, steigt Waves gerade aus seinem Neoprenanzug. Er hatte im Alleingang den letzten Tauchgang des Tages unternommen, bevor der Seegang zu stark geworden war und die Dunkelheit ihn zurück an Bord seines Schiffes gezwungen hatte.

»Dann sollen sie ihn suchen gehen, dafür werden sie bezahlt!«, brüllt der Schatzjäger durch den Wind.

»Ben, das ist so was wie ein Notruf! Ich bin hier der Käpt’n und muss …«

Der Mann mit dem Telefon unterbricht sich, denn eine heftige Böe jagt über das Deck. Er muss sich an der Reling festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und streckt seinem Boss das Gerät entgegen. »Verdammt, sprich selbst mit den Leuten!«

Der Schatzjäger balanciert auf einem Bein, als läge sein Schiff regungslos in einer Flaute. Er ist damit beschäftigt, seine Füße aus der hautengen Hose des Anzuges zu schälen. Gleichzeitig greift er nach dem Telefon.

Kurz darauf hat er sich vom Neopren befreit und das Telefonat beendet. Er wirft das Gerät dem Kapitän seiner Yacht zurück, der es im letzten Moment aus der Luft fingern kann, bevor es über Bord geht.

»Gib Befehl, Helikopter und Motorboot klarzumachen! Wir suchen nach ’nem Penner, der sich da draußen in die Scheiße geritten hat!«

Etwa einen Monat davor. Eine Boeing 737 im Sinkflug über den Wolken und der Insel Sharkfin-Island, Abenddämmerung

Auf seinem Fensterplatz zieht sich Steven gerade die Kapuze seines Sweatshirts über die blonde Mähne, sodass er aussieht wie ein Bettelmönch im Gebet. Unterdessen beschreibt der Monitor in der Rückenlehne des Vordersitzes mit grober Computer-Grafik den Landeanflug auf den Flughafen von Tampa/Florida. Bitte die Sitze in aufrechte Position bringen und anschnallen.

Vor etwa fünfzehn Stunden hatte Steven noch auf der anderen Seite des Atlantiks zwischen Reisetaschen und Koffern vor einem der Gates in die Zukunft gekauert. Nun würde die Boing 737in weniger als zwanzig Minuten am Tampa International Airport aufsetzen. Endlich, denn es ist eng im Flieger, und Steven ist sich sicher, dass die Fluggesellschaften die Sitzreihen von Jahr zu Jahr näher zusammenstellen, um weitere Reihen für immer mehr Passagiere dazwischenpressen zu können.

Müde blickt er auf das weiße Wolkenmeer hinab, in dem sich laut Wetterbericht ein ungewöhnlich früher Tropensturm wie ein böses Omen zusammenbraut.

Als die Boing dann plötzlich in den brodelnden Kochtopf eintaucht, schwankt, rüttelt und ächzt das Flugzeug, als drohe es, auseinandergerissen zu werden. Doch schon nach wenigen Minuten stößt es wieder aus dem kochenden Weiß heraus und sinkt ruhig und sicher geleitet vom Bord-Computer hinein in die tropische Welt darunter.

Steven überlegt, dass er es gar nicht so übel fände, wenn er selbst auch so etwas wie ein automatisches Leitsystem hätte, das ihn im Blindflug durch die Zukunft führen könnte.

Der Jumbo neigt sich in eine steile Linkskurve, um die südliche Anflugschneise auf den Flughafen zu finden, und der Anblick, den das nach unten geneigte Bullauge nun freigibt, lässt Steven die Eintönigkeit der viel zu langen Reise vergessen. Unter ihm liegen die Inseln vor der Westküste Floridas, aufgeschnürt wie Silberdollars auf einer Schnur.

Das Flugzeug schwenkt zurück in die Waagrechte und folgt im Sinkflug der lang gezogenen Inselkette bis zu ihrer nördlichsten Insel, die rasch näher kommt. Ihre Form erinnert Steven an eine Haifischflosse. Doch als sie so nahe ist, dass man die ersten bunten Häuser unter den Baumkronen erkennen kann, leuchtet der lange und breite Strand auf der Seeseite für einen kurzen Moment silbern auf wie ein riesiger Säbel.

Zoom auf die Insel am Eingang zur riesigen Tampa-Bay

Der Strand der Insel wird gesäumt von hoch aufragenden Pinien, Fächerpalmen und breit ausladenden Banyon-Bäumen, die aus dem dichten Dickicht dahinter wachsen.

Sharkfin-Island ist schon seit Jahrhunderten besiedelt. Zuerst lebten hier die Indianerstämme der Tocobaga – bis etwa vor fünfhundert Jahren die Segel der ersten spanischen Konquistadoren am Horizont auftauchten: auf der Suche nach Gold und dem sagenhaften Jungbrunnen. Später, im 17. Und 18. Jahrhundert, streiften Piratenbanden über die Insel, bevor sie von Pinonieren und Siedlern erschlossen wurde. Heute finden hier Aussteiger, Künstler, Rentner oder Urlauber in einer bunten Mischung alter und neuerer Holzhäuser ihr Paradies. Zum Schutz vor der Flut schweben viele davon wie Baumhäuser auf hölzernen Beinen, umgeben von den letzten Boten der Pflanzenwelt eines einst undurchdringlichen Dschungels.

Aus dem Schatten einer Palmengruppe am Strand löst sich eine dunkle Gestalt. Sie humpelt unendlich langsam hinaus in die unruhige Tropennacht, Schritt für Schritt über den weißen, feinen und um diese Zeit kühlen Muschelsand. So langsam, dass man ihre Bewegungen kaum wahrnehmen kann. Die Gestalt passiert einen ängstlich flatternden gelben Sonnenschirm, den ein Urlauber dort vergessen hat, und schlurft geradewegs in die Wellen, die weit den flachen Strand hinaufgetrieben werden.

Die Menschen hier fürchten das Auftauchen des gespenstischen Alten. Sie glauben, dass er die Dunkelheit des undurchdringlichen Gestrüppes nur deshalb verlässt, um den Sturmgott der schon vor sehr langer Zeit verschwundenen Ureinwohner zurückzurufen: Huracan.

Der Alte bewacht ein vor langer Zeit gesunkenes Schiff voller Gold, so heißt es. Und der von ihm herbeigerufene Hurrikan soll denjenigen vernichten, der es wagt, sich auf die Suche nach dem Wrack zu begeben.

Niemand auf der Insel hat sich jemals in die Nähe des Alten gewagt, keiner hat je ein Wort mit ihm gesprochen. Nie hat der unheimliche Greis seinen Dschungel aus einem anderen Grund verlassen, als um draußen in den Wellen den Sturmgott anzubeten. Die Bewohner der Insel haben dem Alten einen harmlos klingenden Namen gegeben: »Grumble«. Sie hätten ihn auch den »Unheimlichen« oder den »Hässlichen« nennen können, aber sie haben ihn nur den »Mürrischen« genannt. Vielleicht, weil sie ihn dann etwas weniger fürchteten, oder einfach nur deshalb, weil sie ihn nicht zu sehr verärgern wollten.

Grumble trägt einen altertümlichen, vollkommen zerschlissenen Gehrock, der nur mit einem schimmligen Ledergürtel zusammengehalten wird und an dem ein rostiger Entersäbel hängt. Seine kalkweiße Stirn ist auf ihrer Backbordseite von einer tiefen Narbe durchschnitten, die nach oben hin in einem Strohhut verschwindet und unten in einem weißblinden Augapfel endet. Im ausgefransten Strohhut steckt eine Feder und zwischen Grumbles zerfurchten Lippen, so trocken und farblos wie eine abgestreifte Schlangenhaut, klaffen zahnlose Lücken. Lange, silberdünne Haarsträhnen sorgen im Wind zitternd dafür, dass er an einen in der Sonne verdörrten Piraten erinnert.

Inzwischen hat der Alte sein Ziel erreicht, steht regungslos wie eine Statue in den Wellen. Halbblind starrt er aus schwarzen Höhlen auf das Meer hinaus. Dann dringt sein irres Lachen durch das Tosen der Brandung:

»Hu-ra-caaan! Ha-ha-ha-HAAAA….!«

Und der Wind trägt den Ruf über Sharkfin-Island.

Etwa eine halbe Meile vom Strand entfernt liegt eine große 100-Fuß-Yacht in den Wellen. Sie hat die Aufbauten eines Forschungsschiffes und ist hier schon vor Wochen vor Anker gegangen.

Die Yacht gehört Stevens Vater, Ben Waves. Eigentlich ein Traumvater. Ein Riese. Kräftig, braun gebrannt, Schatzsucher. Für Steven jedoch hat die Sache einen Haken: Ben Waves interessiert sich nur für die Jagd nach versunkenem Gold, nach Silber und Edelsteinen, nicht aber dafür, dass er einen Sohn hat.

Und zurzeit sucht Stevens Vater nach dem Wrack, das hier irgendwo unter der Brandung vor der Insel Sharkfin-Island liegen soll.

Plötzlich bewegt sich der Alte in den Wellen wieder. Grumble wendet seinen Blick von Ben Waves’ Schatzsucher-Schiff ab, hebt den Kopf und starrt der Boing 737 nach, die sich soeben aus den Wolken gesenkt hat. Das Flugzeug hält in einem großen Bogen und im Sinkflug auf den Tampa International Airport von South-West-Florida zu.

Zoom auf das Flugzeug, dann auf das Bullauge, hinter dem Steven kauert. Zoom in das Innere des Fliegers

Noch immer blickt Steven gedankenverloren über die schwankende Tragfläche der Maschine auf die schnell näher kommende Meeresoberfläche.

Seine Mutter ist eine international gefragte Archäologin, also ist er es gewohnt, gemeinsam mit ihr von einem Land in das nächste zu ziehen. Aber diesmal ist es etwas anderes, dieses Mal ziehen sie zu seinem Vater. Oder zumindest in die Nähe, denn sein Vater legt keinen Wert auf »Familie«. Entsprechend früh haben sich seine Eltern wieder getrennt, allerdings nicht früh genug, um Steven vor den Auseinandersetzungen zu bewahren, die der Scheidung vorausgegangen waren.

Steven hatte sich damals in eine eigene Welt zurückgezogen. Das Tor zu diesen Paralleluniversen war zwar nur so groß wie der Monitor einer PSP, aber Steven war hier wenigstens willkommen. Anders als zur Welt seines Vaters hatte er zu dem kleinen Gerät immerhin Zugang.

Denn Ben Waves war nach der Trennung von Stevens Mutter auf seine Yacht gezogen. Oder hielt sich im Archivo General de Indias im südspanischen Sevilla auf, um das Archiv wie ein Höhlenforscher nach Hinweisen auf versunkene Schiffe zu durchwühlen: Nach Frachtbriefen, Registern, Seekarten oder Logbüchern. Wie ein Besessener hatte er dort nach möglichen Wracks aus der spanischen Silberflotte des 16. und 17. Jahrhunderts gesucht – beladen mit dem Gold der Azteken. Bis ihm der Zufall zu Hilfe gekommen war: In einem Magazin für Taucher las Waves eines Tages von einem Fund auf der verschlafenen Urlaubsinsel Sharkfin-Island. Jemand hatte eine spanische Silbermünze aus dem frühen 16. Jahrhundert im Sand gefunden, die eine Legende von einem angeblichen Schatz vor der Insel untermauerte. Kaum hatte Waves das gelesen, hatte er sich auch schon mit seiner X-Plorer II auf den Weg nach Sharkfin-Island gemacht.

Das Schiff ist eine umgerüstete Yacht, ein schwimmendes High-Tech-Labor: Sediment-Sonare, Metalldetektoren und Saugvorrichtungen zum Orten versunkener Wracks.

Das Suchgebiet vor Sharkfin-Island befindet sich in den Küstengewässern Floridas, und so hat Ben Waves inzwischen nicht nur die Erlaubnis, sondern sogar den Auftrag in der Tasche, das dort vermutete Wrack aufzuspüren und seine Ladung zu bergen.

Allerdings wurde Ben Waves von Floridas Marineministerium ein kleiner Streich gespielt. Der Auftrag und damit auch die Mittel, die er erhalten hat, wurden nämlich an eine Bedingung geknüpft: Ben Waves hatte einen zuverlässigen Archäologen an seiner Seite zu akzeptieren, damit die Schätze ordentlich gesichert, katalogisiert und konserviert werden würden. Der Gouverneur von Florida will sichergehen, dass eine mögliche Fundstätte nicht zerstört und der erhoffte Schatz vollständig registriert wird … und die beste Archäologin, die dafür zu bekommen war, ist ausgerechnet Ben Waves’ Ex-Frau: Professor Susan Waves, Stevens Mutter.

Plötzlich setzt der von den heftigen Böen gebeutelte Jumbo mit einem harten Schlag auf dem Rollfeld auf, um gleich darauf mit wippenden Tragflächen die erlösende Vollbremsung zu machen.

Es ist Mai und normalerweise beginnt die Hurrikan-Saison in Florida erst im Juni. In dieser Zeit, die bis September, manchmal Oktober dauert, kann es täglich zu kräftigen Regengüssen kommen. Wie kurze, heiße Duschen prasseln die Schauer dann auf die Inseln herunter, meist begleitet von Thunderstorms, Gewittern mit heftigen Winden. Auch können Monster-Wirbelstürme hereinbrechen, die sich über der Karibik oder im Atlantik vor der Küste Afrikas zusammengebraut haben. Hurrikans mit Spitzengeschwindigkeiten bis über zweihundert Meilen pro Stunde und gigantischen Durchmessern fallen dann über den Golf von Mexiko her, um dort ihr zerstörerisches Werk zu beginnen. Und der Weg der Verwüstung kann unberechenbar sein, besonders dann, wenn Grumble sein Lachen in den Wind wirft …

Tampa International Airport, Gepäckrollband, Ausgang zu den Abholerparkplätzen

Hinter der gläsernen Schiebetür am Ausgang des Flughafengebäudes erwartet Steven und seine Mutter die unsichtbare Mauer, durch die man aus dem unterkühlten Bereich der Klimaanlage in die feuchtwarme Luft des Golfes von Mexiko tritt – selbst bei diesem ungewöhnlich schlechten Wetter. Es riecht nach tropischer Vegetation und Salzwasser.

Ein sonnenverbrannter Mann in ledernen Latschen, speckigen Shorts und einem farblosen Leinenhemd, das aussieht, als würde es gelegentlich auch als Fischernetz verwendet werden, stößt sich von seinem Wagen ab und schlurft mit skeptischem Blick über den Rand seiner geflickten Brille auf die Ankömmlinge zu. Im Mundwinkel eine Zigarette, auf dem Kopf ein ausgeblichenes Cap mit der kaum mehr leserlichen Aufschrift »Longboard Classic«.

Steven wäre seinem Vater am liebsten wie ein kleines Kind entgegengerannt und in die Arme gefallen, aber er will sich seine Aufregung auf gar keinen Fall anmerken lassen. Außerdem hat er vor langer Zeit beschlossen, seinen Vater zu hassen, weil ihm das erträglicher erscheint.

So bleibt es bei einem kurzen »Hi, Dad!«, während Ben Waves die Luft irgendwo in der Nähe der Wange seiner Ex-Frau küsst. Im Gegenzug erhält Steven immerhin ein »Hey, wie geht’s? Groß geworden«.

Sein Vater ist ihm jetzt zwar so nah wie schon seit vielen Jahren nicht mehr, dennoch kommt er ihm noch immer irgendwie weit weg vor. Abwesend, irgendwo dort draußen auf seiner Yacht.

Als die drei dann mit ihrem Gepäck vor Ben Waves’ Wagen stehen, wird Steven klar, dass die gemeinsame Zukunft tatsächlich schwierig werden könnte: Das Fahrzeug, das sein Vater anzubieten hat, ist ein Porsche 911 aus den Achtzigern. Der silberne Sportwagen bietet gerade mal Platz für Ben Waves und seine Taucherflasche, die sich angeschnallt auf dem Beifahrersitz befindet.

Interstate 275 nach Süden. Nacht, Sturm, Regen. Ein Van versucht, einem silbernen Porsche zu folgen.

Eine Stunde später bemüht sich die hundemüde Susan Waves, einen gemieteten Chevy Van hinter dem Sportwagen ihres Ex-Mannes her durch den pfeifenden Tropensturm nach Palmetto zu lenken, um von dort aus Bradenton und danach Sharkfin-Island zu erreichen. Die Fahrzeuge überqueren auf der tankerhohen Skyway-Bridge die riesige Tampa-Bay, während der Porsche immer wieder außer Sichtweite gerät. Susan Waves versucht, nicht den Anschluss zu verlieren und muss fürchten, von einem irgendwo in der Dunkelheit lauernden Cop einen Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit zu kassieren.

Zoom auf die Fahrzeuge, auf den Van und in das Innere des Fahrzeuges

Mit verschränkten Armen presst sich Steven wütend in den Beifahrersitz des Mietwagens. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass sein bester Freund – die Taucherflasche – angeschnallt im Porsche bleibt. Natürlich geht es ihm nicht um seinen Vater, redet Steven sich ein. Aber er wäre viel lieber in einem Neun-Elfer über den nächtlich glitzernden Manatee-River geschossen als mit einem im Wind schaukelnden Chevy-Van zu eiern.

Nachdem sie Palmetto durchquert und auch den Fluss hinter sich gelassen haben, passieren die beiden Fahrzeuge die Statue des spanischen Konquistadors Hernando de Soto vor dem South Florida Historical Museum von Bradenton und biegen kurz darauf nach Westen in Richtung Meer ab. Von hier aus geht es endlich über die lange Manatee-Ave hinaus nach Sharkfin-Island.

Steven: »Wir schlafen doch hoffentlich nicht bei diesem Seegang auf der Yacht?«

Seine Mutter schüttelt den Kopf. »Nein, wir können sofort in das Haus einziehen, das das Marineministerium für uns gemietet hat.«

»Jetzt noch? Mitten in der Nacht?«

»Die Schlüssel und die genaue Wegbeschreibung finden wir in einem Kasten an der Tür des Maklerbüros auf der Insel. Unser neues Zuhause liegt direkt am Strand, Stevie! Mit Blick auf das Schiff deines Vaters …« Und lächelnd fügt sie hinzu: »Von dort aus kannst du ihn ab jetzt immer im Auge behalten!«

»Wohnt er nicht bei uns?«

Seine Mutter seufzt. »Dein Vater hat noch nie etwas von festem Boden unter den Füßen gehalten, Stevie …«

Die Insel Sharkfin-Island liegt – bei gutem Wetter – in Sichtweite vor der Küste, mit der sie durch einen künstlichen Damm und eine schmale Zugbrücke verbunden ist. Doch als die beiden Fahrzeuge endlich auf diese letzte Hürde vor ihrem nächtlichen Ziel zurollen, schaltet die Ampelanlage gerade auf Stopp. Steven und seine Mutter sehen nur noch, wie der Porsche vor ihnen am Rotlicht vorbeizieht, über die Brücke surft und in der Dunkelheit verschwindet. Susan Waves beschleunigt kurz, tritt dann aber doch auf die Bremse und kommt gerade noch zum Stehen, denn die Zugbrücke beginnt sich bereits zu heben, um eine letzte verspätete Yacht in die Sicherheit der Bay zu holen.

»Na bravo!«, brummt Steven missmutig. »Das war’s dann auch schon mit dem Im-Auge-Behalten.«

Langsam, viel zu langsam, öffnet sich die Straße, kippt himmelwärts und steht dann irgendwann und eine gefühlte Ewigkeit später senkrecht in der Nacht.

Plötzlich lässt der Regen nach, nur noch ein paar letzte Tropfen klatschen an die Scheiben. Hier und da schimmern einzelne Lichter gegenüberliegender Häuser im aufgewühlten Wasser der Bucht, während der Wind am Wagen rüttelt und die Scheibenwischer zu quietschen beginnen.

Sie sind allein.

»Das hat uns noch gefehlt!«, stöhnt Stevens Mutter und schaltet die Wischer aus. Sie hat sich nach vorne gebeugt, ihre Hände auf das Lenkrad gelegt und ist todmüde in sich zusammengesunken. »Ben ist mit seinem dämlichen Rennwagen einfach unter dem Sturm hindurchgetaucht, und uns lässt er hier mitten in der Nacht alleine zurück. Das sieht ihm äh…!«

»Schschsch!«, unterbricht Steven, der wortlos die Wand vor sich angestarrt hatte. »Hörst du das?«

»Was?«

»Der Sturm lacht. Er lacht uns aus!«

»Unsinn, Stevie, du hast zu viele von diesen Horrorvideos …«

»Halt doch mal die … ich mein, sei doch mal ruhig, Mom!«

Der Sturm rüttelt so heftig am Wagen, als habe er es nur auf dieses eine Fahrzeug abgesehen. Stevens Mutter verstummt. Und dann hört auch sie es.

Doch das heisere Lachen im Wind ist nicht die Stimme des Sturmes. Es stammt auch nicht von Ben Waves, obwohl Stevens Mutter ihrem Ex diese Boshaftigkeit durchaus zugetraut hätte …

Auf der Insel; Strand zum offenen Meer, Nacht, böiger Starkwind

Der alte Grumble steht noch immer in der Gischt und gröhlt und lacht den Hurrikan herbei, während an seinen knöchernen, weit ausgebreiteten Armen die Fetzen der Jahrhunderte tanzen.

Auf der Zugbrücke

Der Segler ist vorbeigeglitten. Die Brücke senkt sich, so unerträglich langsam, wie sie sich angehoben hatte. Als Stevens Mutter dann endlich wieder Gas geben kann, katapultiert der kräftige Motor den Van röhrend über die scheppernden Stahlgitter der Fahrbahn, bevor sich das Fahrzeug über die schnurgerade Straße auf die Insel flüchtet. Steven hat gerade genug Zeit, um die Aufschrift auf dem Ortsschild am Straßenrand zu erfassen:

»WELCOME TO THE PARADISE OF SHARKFIN-ISLAND.«

Das kleine Städtchen Sharkfin City liegt wie ausgestorben da. Die Menschen haben die Geschäfte und Tankstellen frühzeitig geschlossen, sie haben sich in ihre Häuser zurückgezogen, haben die Fernseher laut gestellt oder sind früh schlafen gegangen, um die Ohren unter ihre Kopfkissen zu schieben. Denn sie wollen das heisere Lachen des alten Grumble nicht hören.

Susan Waves lässt den Wagen durch die Dunkelheit blubbern. Nur hier und da pendeln Lichter in den Hauseingängen. Über einer Kreuzung schwingt eine flackernde Ampel in ihren Stahlseilen wie eine sterbende Fliege in einem Spinnennetz.

Sie passieren die Neonbeleuchtung eines Motels und folgen dem Gulf-Drive, der Straße, die wie ein Rückgrad über die Insel bis zu ihrer nördlichen Spitze führt. Die Schlüssel liegen am vereinbarten Versteck beim Maklerbüro, die Wegbeschreibung fehlt. »Kein Problem«, versichert Stevens Mutter, »ich hab die Lage des Hauses vor dem Flug gegoogelt!«

Wenig später stellt Stevens Mutter das dritte Mal fest: »Das hier muss es sein!«, während sie mit dem Van wie ein Fahranfänger hin und her kurvt. »Fehlt zwar ein Straßenname, aber vielleicht hat der Sturm ja einfach nur das Schild weggeblasen …«

»Dann schlage ich vor, wir sehen nach!« Steven blickt in den Weg, an dessen Anfang ein blechernes Schild im Wind zittert: »Dead End«.

Sie biegen ab und rollen unter den mächtigen Ästen riesiger, uralter Banyon-Bäume hindurch, von denen weißes Moos herunterfließt wie tausend kleine erstarrte Wasserfälle.

Der Wagen kommt auf sandig weichem Boden am Ende der Sackgasse zum Stehen. Susan Waves dreht den Zündschlüssel zurück. Der Motor erstirbt und der Lichtkegel des Vans lässt das Geflecht eines langen Drahtzaunes erkennen. Der Zaun ist von Schlingpflanzen durchzogen und wird auf halber Strecke von einem windschiefen Tor unterbrochen. Notdürftig mit rostigem Draht daran befestigt, ein noch schieferes Schild: »Private Property«.

Dahinter ist nichts als Dschungel zu erkennen. Steven kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und neigt sich weit nach vorne, als ob das etwas nützen würde. Er versucht, ein Haus im Dunkel des Dickichts auszumachen.

Gespenstische Stille.

»Der Sturm ist weg. Das unheimliche Lachen auch!«, flüstert Steven. »Wo ist Dads Porsche?«

»Bestimmt irgendwo sicher und trocken verstaut, während wir hier um unser Überleben kämpfen«, lästert seine Mutter. »Jedenfalls haben wir uns definitiv verfahren! Hier gibt’s nur Gestrüpp, aber kein Haus, schon gar nicht unser Strandhaus!«

»Ich geh nachsehen!«

»Du wirst einen Teufel …«, protestiert seine Mutter, aber Steven hat den Schutz des Fahrzeuges bereits verlassen.

Er untersucht den Gartenzaun und findet einen Zugang. Dahinter ist es stockduster, also kehrt er zum Auto zurück.

»Haben wir ’ne Taschenlampe?«

»Irgendwo in den Koffern, aber …«

»Dann eben ein Feuerzeug …«

»Steig wieder ein!«

Doch Steven ignoriert seine Mutter: »Willst du mich etwa ohne Licht da hineingehen lassen?«

Kurz darauf ist Steven wieder am Tor und versucht vorsichtig, das rostige Gitter aufzudrücken. Es quietscht erbärmlich, lässt sich aber ein Stück weit aufschieben, gerade so viel, dass er sich durch die schmale Öffnung zwängen kann.

Auf dem Grundstück, überwuchert vom Dickicht, schwarze Nacht, Totenstille

Steven lässt das Feuerzeug seiner Mutter aufflammen. Vorsichtig betritt er die Überreste einiger Steinplatten, die kaum mehr zu erkennen sind. Er duckt sich unter dem Spanish-Moss hindurch, das von den Ästen der uralten Bäume in langen silbernen Streifen herunterfließt. Immer wieder streichen die hängenden Moose nasskalt über seine Schultern, so als würden tote, kraftlose Finger aus einer Geisterwelt nach ihm greifen. Er folgt dem Weg, der jetzt nur noch aus kalkweißem Muschelkies besteht.

Steven muss sich durch einen immer dichter werdenden Dschungel vorarbeiten, über Wurzeln, zersplitterte Äste und vertrocknete Palmwedel. Hier scheint schon seit Ewigkeiten kein Mensch mehr entlanggegangen zu sein. Der Haupteingang kann das jedenfalls nicht sein…, überlegt er, während er das Feuerzeug hoch über seinen Kopf hebt, um in die Dunkelheit zu spähen.

Er stolpert, stürzt beinahe in ein Feld hellgrauer Brocken am Fuße eines Palmenstammes. Seltsame kleine bleiche Felsen, rund wie Melonen oderwie … Totenschädel.

Einen Augenblick denkt Steven an Flucht, dann aber fällt ihm wieder sein Vater ein, der vielleicht genau das von ihm erwartet.

Vielleicht ist das Ganze hier ja nur ein mieser Scherz von ihm?Was, wenn in dem Moment, in dem ich abhaue, das Licht angeht, und Dad sich über mich kaputtlacht? Er blickt sich um, aber das Einzige, was er erkennen kann, ist das Unterholz des Dschungels. Angestrengt horcht er in die Dunkelheit. Bis auf das Rauschen der nahen Brandung kann er nichts hören. Kein Kichern, kein mühsam unterdrücktes Hüsteln, nichts.

Also nimmt Steven all seinen Mut zusammen, und kickt eines der runden Dinger am Boden mit der Fußspitze an.

Kokosnüsse, du Idiot…

Er holt ein paar Mal tief Luft, dann arbeitet er sich weiter.

Kurz darauf wird der Pfad abrupt nach rechts gezwungen.

Eine Mauer! Wo eine Mauer ist, könnte auch ein Haus sein!

Einige Schritte später windet sich Steven vorsichtig durch ein überwuchertes Tor und betritt einen kleinen Innenhof.

In der Mitte des Hofes ein Brunnen, aus dem Gräser und Farne ragen wie aus einer Vase, die ein Riese hier vor Jahrhunderten abgestellt hat. Zu seiner Linken meint Steven die schattenhaften Umrisse brettervernagelter Fensteröffnungen ausmachen zu können. Auch diese wurden offensichtlich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr benutzt.

Steven hält das Feuerzeug hoch über seinen Kopf. Er kann die Mauern einer Ruine im Stil einer Hazienda erkennen, bevor schlagartig der Sturm und der Regen wieder einsetzen. Das Feuerzeug erlischt und lässt sich inmitten dieser tobenden Waschmaschine nicht mehr zum Leben erwecken, so verzweifelt Steven es auch versucht. Zitternd entschließt er sich endgültig zum Rückzug, als das morsche Tor, durch das er den Hof betreten hatte, mit einem lauten Krachen zuschlägt.

Völlige Dunkelheit.

Angst kriecht über seinen Rücken, schleicht nach oben, greift nach seinem Hals und schnürt ihm den Atem ab. Nahezu blind tastet er sich zur Mauer des Innenhofes zurück, um den Ausgang zu finden. Doch dort, wo er die Wand erwartet, greift er ins Leere. Entweder ist sie verschwunden, oder er hat die Orientierung verloren.

Er versucht es in einer anderen Richtung. Vergeblich. Noch einmal fingert er am Feuerzeug herum, doch das Ding verweigert den Dienst. Weitersuchen.

Plötzlich stößt er auf kühlen Stein, macht eine kurze Verschnaufpause und schiebt sich dann Stück für Stück am Mauerwerk entlang. Wenig später ertastet er eine moosige Holztür und presst sich gegen das Tor in die Freiheit, um es aufzudrücken. Der Regen rinnt über sein Gesicht. Seine Zähne klappern viel zu laut und er weiß, dass sie ihn verraten werden, an was auch immer.

In diesem Moment gibt das glitschige Ding mit einem grässlichen quietschenden Geräusch nach.

Dunkelheit

Steven stolpert rückwärts ins schwarze Nichts, stürzt und verliert das Feuerzeug. Er befindet sich nicht mehr im Innenhof, aber auch nicht draußen im Dschungel. Denn obwohl das Rauschen der Baumkronen noch da ist, ist der Wind nicht mehr zu spüren. Dafür stinkt es hier so sehr, dass es Steven beinahe auch noch das letzte bisschen Atem verschlägt, das ihm geblieben ist.

Seine Angst geht in pure Panik über.

Hektisch und blind robbt er auf den Knien über einen staubigen Holzboden, tastet verzweifelt nach dem Feuerzeug. Doch es ist verschwunden. Er hat das Gefühl, sein heftig schlagender Puls könnte jeden Moment eine ganze Horde Geister aufscheuchen.

Dann plötzlich hört er es: Leise röchelnder Atem. Er ist tatsächlich nicht allein.

Steven erwartet sein Ende, aus welcher Ecke der Dunkelheit das Wesen auch immer zuschlagen würde.

Dann ein kurzes Kratzen.

Krrt.

Einmal, zweimal.

Krrt-krrt … und ihm gegenüber, etwa neun Fuß entfernt, flackert die Flamme seines Feuerzeugs auf, während draußen der unerbittliche Sturm weiter heulend und röhrend an den Fensterläden rüttelt.

Im Lichtschein des Feuerzeuges leuchtet eine weiße Kugel auf, nicht größer und heller als eine schwach flackernde Glühbirne.

Doch das, was zunächst so aussieht, als würde es hinter der Flamme des Feuerzeuges im Raum schweben, ist keine Glühbirne.

Es ist ein weißblindes Auge. Darüber ein zerfledderter Strohhut mit einer Feder. Über die Stirn des Wesens zieht sich eine grässliche Narbe, die bis über das tote Auge darunter reicht. Fliegen sind aufgestoben, surren um das bleiche Gesicht. Nach und nach kehren sie auf ihren Wirt zurück, bis sie ihn wieder fast vollständig bedecken.

Ein kurzes Blitzen aus der schwarzen Tiefe der anderen Augenhöhle.

»Sei willkommen, Seven Waves!«

Die Stimme röchelt wie eine Ankerkette, die ins Wasser rasselt.

»Der alte Grumble hat lange, sehr lange auf Euch gewartet!«

Der Fliegenschwarm ist wieder unterwegs.

Steven kniet vor einem modrigen Teppich und schluckt. »S…Sir … « Seine Stimme versagt ihm den Dienst und er muss sich räuspern. »Ähem, Sir… nicht ›Seven‹ ohne ›t‹. Richtig wäre St…Steven, mit einem t, also Steven, nicht Seven Waves!«, und durch seinen Kopf schießt: Scheiße, was rede ich da? und WOHER KENNT DER MEINEN NAMEN?

Stille.

Nur die Schmeißfliegen surren.

Der Angstschweiß, der von Stevens Stirn tropft, plitscht auf die Holzbohlen, auf denen er noch immer in der demütigen Haltung eines Hundes kauert, der seine Strafe erwartet.

Durch den Fliegenschwarm mustert ihn schweigend das runzlige Schädelgesicht.

Dann erlischt die Flamme wieder. Stille, Schwärze, Gestank. Und der röchelnde Atem des Kerls. Fliegensurren.

Eine halbe Ewigkeit vergeht. Dann wieder das erlösende: Krrk-krrk.

Doch jetzt erscheint die Flamme etwas weiter rechts, führt einen kleinen Tanz auf und entzündet dabei nacheinander einige verbogene Kerzen. Sie stecken in einem gewaltigen Achtender, von dessen geschwungenen Armen tropfenförmige Fäden bis auf einen schweren Eichentisch herunterreichen.

Steven hockt noch immer bibbernd vor dem modrigen Teppich unter dem mächtigen Tisch. Er wagt keine noch so kleine Bewegung. Die Schmeißfliegen haben ihn entdeckt und landen jetzt auch auf seinen Lippen.

Im spärlichen Licht der Kerzen offenbart sich der große Wohnraum einer spanischen Hazienda. Ein steinerner Kamin, schwere Holzmöbel. An den Wänden indianische Webdecken, Ölgemälde, Szenen von Seeschlachten. Degen, Säbel, Entermesser und Steinschlosspistolen. Hoch über der Szene schwebt ein riesiger Ventilator, so schief, dass er sich schon sehr lange nicht mehr bewegt haben dürfte. Spinnweben überall, so dicht, als wollten sie jeden Gegenstand im Raum nach und nach zu Staub verdauen. Die Luft ist heiß und stickig.

Verwesungsgeruch.