4,99 €
Wiederentdeckung eines klassischen Agententhrillers
«Sie zahlen, wir morden!» lautet die Devise einer New Yorker Attentatsagentur. Einzige Bedingung: Die Liquidation des Opfers muss sozial nützlich und legitim sein … Mit «Mord auf Bestellung» brilliert der weltbekannte Abenteuerautor im Suspense-Genre. Nun erstrahlt sein wiederentdeckter Agententhriller aus dem Jahr 1910 in Eike Schönfelds Neuübersetzung.
10.000 $ für einen Polizeichef; 100.000 $ für einen zweitrangigen Monarchen; eine halbe Million für Seine Majestät, den König von England – Diskretion garantiert! Die Geschäfte der mordenden Moralfanatiker laufen prächtig, bis ein schwerreicher Philanthrop Verdacht schöpft und sie beauftragt, ihren eigenen Chef zu eliminieren: Auftakt einer Verfolgungsjagd quer durch die USA. Vor einer hawaiianischen Insel kommt es zum nalen Showdown … Dieser Agententhriller fesselt mit Dramatik, Action und spektakulären Wendungen. Zugleich wirft er hochbrisante Fragen auf: Welche Opfer darf ein Mensch im Namen einer höheren Moral in Kauf nehmen? Welcher Zweck heiligt welche Mittel? Und nicht zuletzt: Wie lässt sich eskalierende Gewalt eindämmen?
Zum 100. Todestag des Autors am 22. November 2016
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 287
JACK LONDON
Mord auf Bestellung
Roman
Vervollständigt von Robert L. Fish
Aus dem amerikanischen Englischübersetzt von Eike Schönfeld
Nachwort von Freddy Langer
MANESSE VERLAG
ZÜRICH
1
Der Mann sah gut aus mit seinen großen, schwarz schimmernden Augen, dem olivfarbenen Teint, der auf einer klaren, reinen Haut von unvergleichlich glatter Struktur lag, und dem lockigen schwarzen Haarschopf, der zum Wuscheln einlud – kurz, er war ein Mann, den Frauen gern betrachten, einer, der sich der einschmeichelnden Wirkung seines Aussehens voll und ganz bewusst ist. Er hatte eine schmale Taille, war muskulös und breitschultrig, und er besaß einen besonderen kühnen, maskulinen Gang, den jedoch der sorgenvolle Blick, mit dem er den hinausgehenden Diener, der ihn eingelassen hatte, wie auch den Raum musterte, Lügen strafte. Der Diener war taubstumm – was er wohl erraten hätte, wenn er es dank Lanigans Beschreibung eines früheren Besuchs in dieser Wohnung nicht ohnehin schon gewusst hätte.
Als sich die Tür hinter dem Diener geschlossen hatte, konnte der Besucher nur schwerlich einen Schauder unterdrücken. Doch an dem Zimmer an sich war nichts, was eine solche Regung hätte zeitigen können. Es war ein stiller, repräsentativer Raum, gesäumt von gut gefüllten Bücherregalen, dazu hier und da eine Radierung sowie, an einer Stelle, ein Kartenständer. Ebenfalls an der Wand stand ein großes Gestell voller Zugfahrpläne und Dampferbroschüren. Zwischen den Fenstern befand sich ein massiger, breiter Schreibtisch, auf dem ein Telefon stand und an dem ein Bord mit einer Schreibmaschine darauf befestigt war. Alles war penibel geordnet und verriet, dass es sich bei der Seele des Systems um ein alles lenkendes Genie handeln musste.
Die Bücher lockten den Wartenden an; er streifte die Regale entlang und überflog die Titel mit geübtem Blick in ganzen Reihen auf einmal. Auch an diesen gediegen gebundenen Büchern war nichts, was einen erschauern hätte lassen können. Besonders fielen ihm Ibsens Prosadramen und Shaws diverse Stücke und Romane auf, Luxusausgaben von Wilde, Smollett, Fielding, Sterne und den Märchen aus 1001 Nacht, Lafargues Entwicklung des Eigentums, Marx für Studenten, Fabianische Essays,1 Brooks Adams’ America’s Economic Supremacy, Engels’ Ursprung der Familie, Conants The United States in the Orient und John Mitchells Organized Labor. Obendrein standen da in russischen Originalausgaben die Werke von Tolstoi, Gorki, Turgenjew, Andrejew, Gontscharow und Dostojewski.
Der Mann schlenderte weiter zu einem Bibliothekstisch, auf dem sich in ordentlichen Stapeln die aktuellen Revuen und Vierteljahresschriften türmten und wo in einer Ecke ein Dutzend neuer Romane lagen. Er zog einen Sessel heran, streckte die Beine aus, zündete sich eine Zigarette an und überflog die Bücher. An einem schmalen mit rotem Einband blieb sein Blick hängen. Auf dem Umschlag prangte eine lasziv zurechtgemachte Frau. Er nahm das Buch in die Hand und las den Titel: Vier Wochen: Ein knalliges Buch. Als er es aufschlug, gab es zwischen seinen Seiten eine kleine, aber heftige Explosion, samt Blitz und einem Rauchwölkchen. Erschrocken fuhr er zusammen. Er fiel in den Sessel zurück und stürzte zu Boden, alle viere in die Luft gereckt, wobei er das Buch von sich schleuderte wie eine Schlange, die man versehentlich in die Hand genommen hat. Der Besucher war ganz außer sich. Seine schöne olivfarbene Haut hatte sich zu einem grässlichen Grün verfärbt, und seine schwarz schimmernden Augen waren vor Entsetzen geweitet.
Da öffnete sich die Tür zu einem inneren Zimmer, und das lenkende Genie trat ein. Schneidende Belustigung lag in seiner Miene, als er den anderen in seinem kläglichen Schrecken sah. Er bückte sich, hob das Buch auf und spreizte es auseinander, womit er den Spielzeugmechanismus enthüllte, der die papierne Zündkapsel zur Explosion gebracht hatte.
«Kein Wunder, dass Leute wie Sie sich genötigt sehen, mich aufzusuchen», spottete er. «Ihr Terroristen wart mir schon immer ein Rätsel. Wie kommt es, dass Sie ausgerechnet von dem, wovor Sie sich am meisten fürchten, auch am meisten fasziniert sind?» Er sprach nun mit unverhohlenem Spott. «Pulver – das ist es. Wäre diese Zündkapsel aus einer Kinderpistole auf Ihrer nackten Zunge explodiert, dann hätte sie nichts weiter als eine vorübergehende Beeinträchtigung Ihrer Artikulationsfähigkeit und Ihres Geschmackssinnes zur Folge gehabt. Wen also wollen Sie jetzt töten?»
Die Erscheinung des Sprechers stand in krassem Kontrast zu der seines Besuchers. Sein Haar war so hell, dass man es glatt als ausgewaschenes Blond bezeichnen konnte. Seine Augen, verschleiert von äußerst feinen und seidigen Wimpern, fast wie bei einem Albino, waren von lichtestem Hellblau. Den Kopf, stellenweise schon kahl, bedeckte ein ähnlich dünner Flaum feinen, seidigen Haars, fast schneeweiß, so schön silbrig war es, und dennoch nicht von der Zeit gebleicht. Der Mund wirkte fest und nachdenklich, dabei nicht harsch, und die Rundung seiner breiten, hohen Stirn kündete beredt von den Gehirnwindungen dahinter. Sein Englisch war peinlich korrekt; das vollkommene und ausdruckslose Fehlen eines Akzents bildete beinahe selbst einen solchen. Trotz des groben Streichs, den er seinem Gast gerade gespielt hatte, besaß er wenig Sinn für Humor. Ihm eignete eine ernste, düstere Würde, die auf Gelehrsamkeit hindeutete, wobei ihn eine Aura selbstgefälliger Machtfülle umgab und er ein Ausmaß philosophischer Gelassenheit erahnen ließ, die weit über Buchattrappen und Kinderpistolenkapseln hinausging. Seine Persönlichkeit, sein farbloser Teint und sein nahezu faltenloses Gesicht, das alles war so schwer fassbar, dass es kaum Rückschlüsse auf sein Alter erlaubte, das irgendwo zwischen dreißig und fünfzig – oder auch sechzig – liegen mochte. Man hatte das Gefühl, dass er älter war, als er aussah.
«Sie sind Ivan Dragomiloff?», fragte der Besucher.
«Das ist der Name, unter dem man mich kennt. Er dient mir genauso gut wie jeder andere – so gut wie Will Hausmann Ihnen. Das ist der Name, unter dem Sie eingelassen wurden. Ich kenne Sie. Sie sind der Sekretär der Caroline-Warfield-Vereinigung. Mit der hatte ich schon einmal zu tun. Ich glaube, Sie wurden durch Lanigan vertreten.» Er machte eine Pause, legte sich ein schwarzes Käppchen auf sein schütter bedecktes Haupt und setzte sich. «Kein Grund für Klagen, so hoffe ich doch», fügte er kalt hinzu.
«O nein, keineswegs», versicherte Hausmann eilig. «Diese andere Geschichte verlief zu unsrer absoluten Zufriedenheit. Wir haben uns nur deshalb nicht wieder bei Ihnen gemeldet, weil wir es uns nicht leisten konnten. Aber jetzt wollen wir McDuffy, den Polizeichef …»
«O ja, den kenne ich», unterbrach ihn der andere.
«Er ist brutal, eine Bestie», fuhr Hausmann rasch mit anschwellender Empörung fort. «Er hat unsere Sache wiederholt torpediert, unsere Vereinigung ihrer vorzüglichsten Köpfe beraubt. Trotz der Warnungen, die wir ihm haben zukommen lassen, hat er Tawney, Cicerole und Gluck deportieren lassen.2 Immer wieder hat er unsere Zusammenkünfte aufgelöst. Seine Beamten haben uns wie Vieh geprügelt und geschlagen. Seinetwegen schmachten jetzt vier unserer geschundenen Brüder und Schwestern in Gefängniszellen.»
Während er weiter Klagen an Klagen reihte, nickte Dragomiloff ernst, als machte er dabei eine Rechnung auf.
«Und dann der alte Sanger, eine so reine und erhabene Seele, wie kaum je eine die verpestete Luft der Zivilisation geatmet hat, zweiundsiebzig Jahre alt, ein Patriarch, die Gesundheit ramponiert, und der geht an seinen zehn Jahren Haft in Sing Sing Zoll um Zoll zugrunde, mitten in diesem Land der Freien. Und wofür?», rief er erregt aus. Dann fiel seine Stimme in eine hoffnungslose Leere, während er seine eigene Frage matt beantwortete. «Für nichts und wieder nichts. – Diesen Hunden des Gesetzes muss mal wieder eine blutige Lektion erteilt werden. Sie können uns nicht ständig ungestraft misshandeln. McDuffys Leute haben im Zeugenstand falsch ausgesagt. Das wissen wir. Er hat lange genug gelebt. Die Zeit ist reif. Und er hätte schon viel früher sterben sollen, nur hatten wir das Geld nicht. Aber als wir sahen, dass ein Attentat billiger ist als die Anwaltskosten, ließen wir unsere armen Genossen ohne Rechtsbeistand in ihre Gefängniszellen wandern und hatten so die Summe schneller beisammen.»
«Sie kennen ja unsere Regel, dass wir einen Auftrag erst dann annehmen, wenn wir uns davon überzeugt haben, dass er gesellschaftlich gerechtfertigt ist», bemerkte Dragomiloff ruhig.
«Aber gewiss», versuchte Hausmann, einen Einwurf der Empörung loszuwerden.
«In diesem Fall jedoch», fuhr Dragomiloff ruhig und richterlich-kühl fort, «besteht wenig Zweifel an der Rechtmäßigkeit Ihres Ansinnens. McDuffys Tod erscheint als gesellschaftlich ratsam und rechtens. Ich kenne ihn und seine Taten gut. Ich kann Ihnen versichern, dass wir, wie ich es sehe, bei der Überprüfung so gut wie sicher zu diesem Schluss kommen werden. Und nun zum Geld.»
«Aber wenn Sie McDuffys Tod doch nicht für gesellschaftlich rechtens halten?»
«Dann wird Ihnen das Geld rückerstattet, abzüglich zehn Prozent für die Kosten der Nachforschung. Das ist unsere gängige Praxis.»
Hausmann zog eine dicke Brieftasche hervor, dann zögerte er. «Ist die Bezahlung der vollen Summe erforderlich?»
«Sie kennen unsere Bestimmungen.» In Dragomiloffs Stimme lag ein leiser Tadel.
«Aber ich dachte, ich hatte gehofft – Sie wissen doch selbst, dass wir Anarchisten arme Leute sind.»
«Deshalb mache ich Ihnen auch so einen günstigen Preis. Zehntausend Dollar für die Tötung des Polizeichefs einer Großstadt ist nicht überzogen. Glauben Sie mir, das deckt gerade mal unsere Auslagen. Privatpersonen wird deutlich mehr berechnet, zudem auch nur für Privatpersonen. Wären Sie Millionär und keine bettelarme Vereinigung, die am Hungertuch nagt, dann würde ich Ihnen für McDuffy fünfzigtausend Minimum berechnen. Nebenbei bemerkt mache ich das auch nicht zum Zeitvertreib.»
«Du lieber Himmel! Was würden Sie denn dann für einen König verlangen!», rief der andere.
«Das kommt ganz darauf an. Ein König, sagen wir der von England, würde eine halbe Million kosten. Bei kleinen zweit- oder drittrangigen Königen beliefe sich das Honorar auf etwas zwischen fünfundsiebzig- und hunderttausend Dollar.»
«Ich hatte ja keine Ahnung …», murmelte Hausmann.
«Deshalb werden auch so wenige getötet. Zudem vergessen Sie die enormen Fixkosten einer so perfekten Organisation, wie ich sie aufgebaut habe. Allein unsere Reisespesen übersteigen Ihre Vorstellungen bei Weitem. Ich habe eine Menge Agenten, und Sie werden doch nicht glauben, dass die ihr Leben aufs Spiel setzen und für ein Butterbrot töten. Und bedenken Sie, wir erledigen diese Dinge ohne jedes Risiko für unsere Kunden. Wenn Sie finden, dass das Leben des Polizeichefs McDuffy für zehntausend teuer veranschlagt ist, so möchte ich Sie fragen, ob Sie Ihr eigenes Leben geringer ansetzen würden. Außerdem seid ihr Anarchisten miserabel in solchen Dingen. Jedes Mal, wenn ihr es selbst versucht, vermasselt ihr es oder werdet gefasst. Ferner beharrt ihr immerzu auf Dynamit oder auf irgendwelchen Höllenmaschinen, die äußerst riskant sind …»
«Unsere Aktionen müssen aber sensationell und spektakulär sein», erklärte Hausmann.
Der Chef der Attentatsagentur nickte. «Ja, das verstehe ich. Aber darum geht es nicht. Das ist eine derart dumme, primitive Art des Tötens, dass sie, wie ich schon sagte, für unsere Agenten äußerst riskant ist. Sollte Ihre Vereinigung mir aber gestatten, beispielsweise Gift einzusetzen, so lasse ich Ihnen zehn Prozent nach, bei einem Luftgewehr fünfundzwanzig Prozent.»
«Ausgeschlossen!», rief der Anarchist. «Das ist unseren Zwecken nicht zuträglich. Unsere Attentate müssen blutig sein.»
«In diesem Fall kann ich Ihnen keinen Nachlass gewähren. Sie sind doch Amerikaner, nicht, Mr. Hausmann?»
«Ja, und zwar gebürtiger – aus St. Joseph, Michigan.»
«Warum töten Sie McDuffy dann nicht selbst und ersparen Ihrer Vereinigung die hohen Kosten?»
Der Anarchist erbleichte. «Nein, nein … Ihre Agentur ist wirklich zu brillant, Mr. Dragomiloff. Auch habe ich eine … äh … angeborene Zurückhaltung beim Töten oder Blutvergießen – das ist, nun ja, etwas Persönliches. Es stößt mich ab. Theoretisch weiß ich sehr wohl, dass eine Tötung gerechtfertigt ist, aber ich kann mich nicht zur Tat durchringen. Ich … ich kann es einfach nicht, so ist es nun mal. Ich kann’s nicht ändern. Ich könnte mit den eigenen Händen keiner Fliege etwas zuleide tun.»
«Dennoch gehören Sie einer gewalttätigen Organisation an.»
«Ich weiß. Mein Verstand lässt mir keine andere Wahl. Ich könnte mich nicht damit zufriedengeben, den philosophierenden Tolstojanern anzugehören, die keinen Widerstand leisten.3 Ich glaube nicht daran, dass es reicht, die andere Wange hinzuhalten, wie sie es beispielsweise in der Martha-Brown-Gruppe4 tun. Werde ich geschlagen, so muss ich zurückschlagen …»
«Selbst wenn es per Stellvertreter ist», unterbrach Dragomiloff ihn trocken.
Hausmann verbeugte sich. «Per Stellvertreter. Ist das Fleisch schwach, gibt es keinen anderen Weg. Hier haben Sie das Geld.»
Während Dragomiloff es zählte, unternahm Hausmann einen letzten Versuch zu feilschen. «Zehntausend Dollar. Sie werden sehen, es stimmt. Nehmen Sie es und denken Sie daran, dass es für Hingabe und Opfertum vieler Dutzend von Genossen steht, die sich die hohen Beiträge, die wir fordern, nur schwerlich leisten können. Könnten Sie … äh …, könnten Sie nicht gleich auch noch Inspector Morgan mit dazunehmen? Das ist auch so ein hinterhältiges Vieh.»
Dragomiloff schüttelte den Kopf. «Nein, ausgeschlossen. Ihre Vereinigung kommt ohnehin schon in den Genuss des höchsten Rabatts, den wir jemals gewährt haben.»
«Ach, nur eine einzige Bombe», beschwor ihn der andere. «Vielleicht erwischen Sie ja beide mit einer.»
«Was wir unter keinen Umständen tun werden. Natürlich werden wir Polizeichef McDuffy ausspähen müssen. Wir verlangen für alle unsere Transaktionen eine moralische Sanktionierung. Sollten wir dann zu dem Schluss gelangen, dass sein Tod gesellschaftlich nicht zu rechtfertigen ist …»
«… was wird denn dann aus den zehntausend?», unterbrach Hausmann ihn besorgt.
«Die werden Ihnen abzüglich zehn Prozent für bereits getätigte Auslagen rückerstattet.»
«Und wenn Sie es nicht schaffen, ihn zu töten?»
«Sollten wir es bis Jahresende nicht geschafft haben, wird Ihnen das Geld rückerstattet, plus fünf Prozent Zinsen.»
Dragomiloff drückte einen Rufknopf und erhob sich, womit er zu verstehen gab, dass das Gespräch beendet war. Hausmann folgte seinem Beispiel, nutzte aber die Zeit bis zum Eintreffen des Dieners für eine weitere Frage. «Aber angenommen, Sie sterben? – Ein Unfall, eine Krankheit, irgendetwas. Ich habe keine Quittung für das Geld erhalten. Es wäre verloren.»
«Für all das ist Vorsorge getroffen. Der Leiter meiner Chicagoer Filiale würde sofort einspringen und alles Nötige veranlassen, bis der Leiter der San Franciscoer Filiale eingetroffen ist. So etwas hatten wir erst letztes Jahr. Erinnern Sie sich an Burgess?»
«Welcher Burgess?»
«Der Eisenbahnkönig. Einer unserer Leute hat das übernommen, die gesamte Transaktion abgewickelt und die Zahlung wie üblich im Voraus erhalten. Natürlich hatte er meine Einwilligung. Und dann geschah zweierlei: Burgess kam bei einem Eisenbahnunfall ums Leben, und unser Mann starb an einer Lungenentzündung. Dennoch wurde das Geld rückerstattet. Ich hatte persönlich dafür gesorgt, obwohl es rein rechtlich nicht einklagbar gewesen wäre. Unser langjähriger Geschäftserfolg beweist, wie redlich wir mit unseren Kunden verfahren. Glauben Sie mir, da wir ja jenseits von Recht und Gesetz operieren, wäre für uns alles andere als die strikteste Redlichkeit fatal. Und was McDuffy betrifft …»
In dem Moment trat der Diener ein, und Hausmann bedeutete ihm mit einer warnenden Gebärde zu schweigen. Dragomiloff lächelte.
«Er kann kein Wort hören», sagte er.
«Aber gerade haben Sie doch nach ihm geklingelt. Und auf mein Klingeln an der Tür hin ist er doch auch gekommen.»
«Für ihn ist ein Klingeln ein Lichtblitz. Statt einer Glocke geht ein elektrisches Licht an. Er hat in seinem ganzen Leben noch keinen Laut gehört. Solange er Ihre Lippen nicht sieht, versteht er auch nicht, was Sie sagen. Und nun zu McDuffy. Haben Sie sich die Sache mit seiner Beseitigung auch gut überlegt? Bedenken Sie, haben wir einen Auftrag erhalten, ist er schon so gut wie erledigt. Anders können wir unser Geschäft nicht führen. Wir haben nämlich unser festen Regeln. Ist ein Auftrag erst einmal erteilt, kann er nicht mehr widerrufen werden. Sind Sie damit einverstanden?»
«Vollkommen.» Hausmann blieb nochmals an der Tür stehen. «Wann etwa könnten wir von … von einer Aktivität hören?»
Dragomiloff überlegte einen Augenblick. «Binnen einer Woche. Die Untersuchung ist in diesem Fall reine Formsache. Die Operation selbst ist denkbar einfach. Ich habe meine Männer an Ort und Stelle. Guten Tag.»
2
Eine Woche später wartete eines Nachmittags ein elektrischer Wagen vor dem großen russischen Importhaus S. Constantine & Co. Um drei Uhr verließ Sergius Constantine schließlich sein Büro und wurde vom Geschäftsführer zu dem Wagen begleitet, dem er dabei noch Anweisungen gab. Hätten Hausmann oder Lanigan ihn gesehen, wie er in den Wagen stieg, dann hätten sie ihn sofort wiedererkannt, wenn auch nicht unter dem Namen Sergius Constantine. Hätte man sie gefragt und hätten sie geantwortet, hätten sie ihn Ivan Dragomiloff genannt.
Denn es war Ivan Dragomiloff, der in südlicher Richtung losfuhr, mitten hinein in das Gewimmel der East Side. Einmal hielt er an, um bei einem «Extrablatt!» kreischenden Straßenjungen eine Zeitung zu kaufen. Er setzte seine Fahrt erst wieder fort, nachdem er die Schlagzeilen und einen kurzen Artikel gelesen hatte, der von einer weiteren anarchistischen Gewalttat in einer Nachbarstadt und vom Tod des Polizeichefs McDuffy berichtete. Als er die Zeitung sinken ließ und anfuhr, lag auf Constantines Gesicht ein Ausdruck stiller Genugtuung. Die Organisation, die er aufgebaut hatte, funktionierte, und zwar mit der gewohnten Reibungslosigkeit. Die Untersuchung – in diesem Fall eine fast beiläufige – war erfolgt, der Auftrag erteilt, und McDuffy tot. Er lächelte verhalten, als er vor einem modernen Wohnblock hielt, der am Rand eines der schlimmsten Slums der East Side stand. Das Lächeln verdankte sich der Vorstellung des Jubels, der in der Caroline-Warfield-Vereinigung ausbrechen würde – bei Terroristen, denen der Mumm zum Morden fehlte.
Ein Fahrstuhl brachte Constantine ins oberste Geschoss, und mittels eines Druckknopfs wurde ihm die Tür von einer jungen Frau geöffnet, die ihm die Arme um den Hals warf, ihn küsste und ihn mit russischen Kosenamen im Diminutiv überschüttete, einer Frau, die er seinerseits Grunya nannte.
Es waren ausgesprochen behagliche Räumlichkeiten, in die er geführt wurde – bemerkenswert komfortabel und geschmackvoll eingerichtet, selbst für ein Musterwohnhaus an der East Side. Von karger Schlichtheit, ließen Mobiliar und Ausstattung auf Kultur und Reichtum schließen. Es gab zahlreiche Bücherregale und einen mit Zeitschriften übersäten Tisch, während das Ende des Raumes von einem Salonflügel eingenommen wurde. Grunya war eine robuste russische Blondine, jedoch mit Farbakzenten, die dem Blond ihres Besuchers fehlten.
«Du hättest vorher anrufen sollen», schalt sie ihn in einem Englisch, das wie seines akzentfrei war. «Ich hätte ja auch ausgegangen sein können. Du kommst so unregelmäßig, ich weiß nie, wann ich dich erwarten soll.»
Er legte die Zeitung neben sich und ließ sich in die Kissen der geräumigen Fensterbank sinken. «Aber Grunya, Liebste, fang bitte nicht gleich mit Vorwürfen an», sagte er und sah sie mit strahlender Zuneigung an. «Ich gehöre nicht zum notleidenden Zehntel deines Kindergartenvolks, auch verbitte ich mir, dass du über mein Tun bestimmst, ja dass du mir gar noch vorschreibst, wann ich mir das Gesicht waschen oder die Nase putzen soll. Ich bin einfach aufs Geratewohl hergefahren in der Hoffnung, dich hier anzutreffen, vor allem aber, um meinen neuen Wagen auszuprobieren. Möchtest du nicht auf eine kleine Spritztour mitkommen?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nicht heute Nachmittag. Ich erwarte um vier Besuch.»
«Dann bin ich im Bilde.» Er schaute auf die Uhr. «Auch wollte ich von dir hören, ob du eventuell am Wochenende nach Hause kommst. Ohne uns beide ist es in Edge Moor ziemlich einsam.»
«Ich war erst vor drei Tagen draußen», schmollte sie. «Grosset hat gesagt, du seist seit einem Monat nicht mehr dort gewesen.»
«Zu beschäftigt. Aber jetzt will ich einmal eine Woche ausspannen und lesen. Warum hielt Grosset es übrigens für nötig, dir zu sagen, dass ich einen Monat nicht dort gewesen war, wenn nicht deshalb, weil auch du nicht dort warst?»
«Zu beschäftigt, du Inquisitor, zu beschäftigt, genau wie du.» Sie ließ ein perlendes Lachen hören und streichelte ihm über die Hand.
«Kommst du also?»
«Jetzt ist doch erst Montag», überlegte sie. «Also ja, wenn …» Sie machte eine schelmische Pause. «… wenn ich übers Wochenende jemanden mitbringen darf. Du wirst ihn mögen, das weiß ich.»
«Oho, also ein Er, stimmt’s? Vermutlich wieder einer deiner langhaarigen Sozialisten.»
«Nein, ein kurzhaariger. Aber wärme doch bitte nicht die Witzchen aus den Comic-Beilagen auf, liebster Onkel. Ich habe im Leben noch keinen langhaarigen Sozialisten gesehen. Du etwa?»
«Nein, aber ich habe sie Bier trinken sehen», erklärte er nachdrücklich.
«Jetzt sollst du aber bestraft werden.» Sie nahm ein Kissen und ging drohend auf ihn zu. «Wie mein Kindergartenvolk sagt: ‹Ich hau dir auf die Rübe.› … Da! Und da! Und da!»
«Grunya! Ich protestiere!», ächzte und keuchte er unter den Schlägen. «Das schickt sich nicht. Es ist respektlos, den Bruder deiner Mutter derart zu behandeln. Ich werde langsam alt …»
«Pah!», fuhr ihm die lebhafte Grunya über den Mund und warf das Kissen weg. Sie nahm seine Hand und betrachtete die Finger. «Denk daran, dass ich einmal gesehen habe, wie diese Finger ein Kartenspiel zerreißen und Silbermünzen biegen.»
«Das war einmal. Jetzt … sind sie ganz schwach.»
Er ließ die fraglichen Glieder schlaff und kraftlos in ihrer Hand ruhen, was ihre Empörung von Neuem entfachte. Sie legte ihm die Hand auf den Bizeps. «Spann ihn an!», befahl sie.
«Ich … ich kann nicht», stockte er. «… oh! Aua! Da, mehr geht nicht.» Er hatte sich allerdings kaum angestrengt. «Ich bin völlig ausgemergelt, siehst du – Gewebeauflösung aufgrund fortschreitender Senilität …»
«Spann ihn an!», rief sie und stampfte diesmal auch mit dem Fuß auf.
Constantine kapitulierte und gehorchte, worauf der Bizeps unter ihrer Hand anschwoll und ihr Gesicht voller Bewunderung aufleuchtete.
«Wie Eisen», murmelte sie, «nur dass es lebt. Es ist wunderbar. Du bist schrecklich stark. Ich würde sterben, solltest du diese Kraft je gegen mich wenden.»
«Du wirst dich erinnern», antwortete er, «und mir zugutehalten, dass ich dir als kleines Ding, auch wenn du sehr ungezogen warst, nie den Hintern versohlt habe.»
«Aber, Onkel, das lag doch nicht daran, dass du moralische Bedenken gegen das Versohlen hattest.»
«Stimmt, aber wenn solche Bedenken je erschüttert worden sind, dann durch dich, als du im Alter zwischen drei und sechs warst, und zwar mehr als einmal. Liebste Grunya, ich möchte dich nicht kränken, aber die Liebe zur Wahrheit zwingt mich zu der Feststellung, dass du zu jener Zeit eine kleine Barbarin warst, eine Wilde, ein Höhlenkind, ein Dschungelwesen, ein … ein echter kleiner Teufel, eine Wölfin ohne Moral oder Manieren, ein …»
Ein Kissen, drohend erhoben, veranlasste ihn zu schweigen und die Arme schützend über den Kopf zu halten. «Vorsicht!», rief er. «Dein jetziges Benehmen lässt nur den Schluss zu, dass du nun eine ausgewachsene Wölfin bist. Zweiundzwanzig, nicht wahr? Und spürst deine Kraft – und lässt sie an mir aus. Aber noch ist es nicht zu spät. Bei deinem nächsten Versuch, mich zu verprügeln, versohle ich dir wirklich noch den Hintern, auch wenn du eine junge Dame bist, eine fette junge Dame.»
«Ah, du Rohling! Das stimmt nicht!» Sie streckte einen Arm aus. «Schau gut hin. Fühl doch mal. Das sind Muskeln. Ich wiege siebenundfünfzig Kilo. Nimm das sofort zurück!»
Wieder sauste das Kissen auf ihn nieder, und während er es noch nach Kräften abwehrte, lachend und ächzend auswich und sich mit den Armen schützte, trat das Hausmädchen mit einem Samowar ein, und Grunya ließ von ihm ab, um den Tee einzuschenken.
«Eine deiner Kindergärtnerinnen?», fragte er, nachdem das Mädchen den Raum verlassen hatte.
Grunya nickte.
«Sie sieht ja ganz passabel aus», bemerkte er. «Sogar ihr Gesicht ist sauber.»
«Ich lasse es nicht zu, dass du mich mit meiner Settlement-Arbeit5 aufziehst», antwortete sie lächelnd und streichelte ihn, als sie ihm seinen Tee reichte. «Ich habe nur an meiner persönlichen Entwicklung gearbeitet, weiter nichts. Du glaubst jetzt auch nicht mehr an das, woran du mit zwanzig geglaubt hast.»
Constantine schüttelte den Kopf. «Vielleicht bin ich ja nur ein Träumer», setzte er wehmütig hinzu.
«Du hast viel gelesen und studiert, aber für den gesellschaftlichen Fortschritt hast du nichts getan. Dafür hast du keinen Finger gerührt.»
«Dafür habe ich keinen Finger gerührt», wiederholte er traurig, und im selben Moment fiel sein Blick auf die Schlagzeile der Zeitung, die McDuffys Tod meldete, und er sah sich gezwungen, ein Grinsen zu unterdrücken, das seine Lippen umspielte.
«So ist es, das russische Wesen», rief Grunya. «… Studium, mikroskopische Analyse und Selbstbeobachtung, alles, nur keine Taten und kein Handeln. Ich dagegen» – Ihre jugendliche Stimme erhob sich triumphierend –, «ich bin Teil der neuen Generation, der ersten amerikanischen Generation …»
«Du bist in Russland geboren», warf er trocken ein.
«Aber in Amerika aufgewachsen. Ich war ja noch ein Baby. Ich kenne kein anderes Land als dieses Land der Tat. Und dennoch, Onkel Sergius, du hättest eine solche Autorität sein können, wenn du nur die Finger vom Geschäftemachen gelassen hättest.»
«Sieh dir doch nur an, was du hier machst», erwiderte er. «Vergiss nicht, dass du deine Arbeit nur dank meiner Geschäfte ausüben kannst. Wie du siehst, tu ich Gutes durch …» Er zögerte und erinnerte sich an Hausmann, den sanftmütigen Terroristen. «Ich tue Gutes per Stellvertreter. Das ist es. Du bist meine Stellvertreterin.»
«Das weiß ich ja, und es ist grässlich, dass ich solche Sachen sage», rief sie großmütig. «Du hast mich verwöhnt. Ich kenne meinen leiblichen Vater nicht, es ist also kein Verrat, wenn ich sage, dass ich froh bin, dass gerade du die Rolle meines Vaters übernommen hast. Nicht einmal mein Vater … gar kein Vater … hätte so … so kolossal nett sein können wie du.»
Und statt mit Kissen überhäufte sie den farblosen, schütter behaarten blonden Herrn mit den Eisenmuskeln, der da auf dem Fenstersitz lümmelte, mit Küssen.
«Was ist denn nun aus deinem Anarchismus geworden?», erkundigte er sich listig, hauptsächlich deshalb, um die bescheidene Verwirrung und Freude, die ihre Worte bei ihm ausgelöst hatten, zu überspielen. «Vor ein paar Jahren hat es eine Zeit lang so ausgesehen, als würde aus dir eine ausgewachsene Rote werden, die allen Bewahrern der gesellschaftlichen Ordnung Tod und Zerstörung bringt.»
«Solche Anwandlungen hatte ich … tatsächlich mal», gestand sie widerstrebend.
«Anwandlungen!», rief er. «Wie hast du mir das Leben schwer gemacht, als du mich überreden wolltest, mein Geschäft aufzugeben und mich ganz der Sache der Menschlichkeit zu widmen. Und ‹die Sache› war für dich das Größte, falls du dich erinnerst. Dann bist du auf diese Slum-Arbeit verfallen … hast praktisch mit dem Feind paktiert … und die armen Opfer des Systems, das du einst so sehr verachtet hast, aufgepäppelt …»
Sie hob protestierend eine Hand.
«Wie würdest du das denn sonst nennen?», fragte er. «Deine Jungsclubs, deine Mädchenclubs, deine kleinen Mutterclubs. Und die Tagesstätte, die du für Arbeiterinnen eingerichtet hast! Indem du dich während ihrer Arbeitszeit um die Kinder kümmerst, heißt das doch nur, dass du es den Arbeitgebern ermöglichst, die Mütter noch gründlicher auszubeuten.»
«Aber aus der Sache mit den Tagesstätten bin ich rausgewachsen, Onkel, das weißt du doch.»
Constantine nickte. «Und noch aus einigen anderen Dingen. Du wirst richtiggehend konservativ … äh, irgendwie sozialistisch. So gar nicht aus dem Stoff, aus dem Revolutionäre gemacht sind.»
«So revolutionär bin ich gar nicht, liebster Onkel. Ich werde eben auch älter. Der gesellschaftliche Fortschritt dauert seine Zeit und ist mit Entbehrungen verbunden. Da gibt es keine Abkürzungen. Jeder einzelne Schritt muss erkämpft werden. Ach, ich bin eben immer noch eine philosophische Anarchistin. Wie jeder intelligente Sozialist. Aber mit jedem Tag wird mir klarer, dass man die ideale Freiheit des anarchischen Zustands nur erreicht, wenn man das Zwischenstadium des Sozialismus durchläuft.»
«Wie heißt er?», fragte Constantine abrupt.
«Wer? … Was?» Ein warmer Strom mädchenhaften Blutes stieg in ihre Wangen.
Constantine trank gelassen einen Schluck Tee und wartete.
Grunya gewann ihre Fassung wieder und schaute ihn eine Weile ernst an. «Das verrate ich dir», sagte sie, «am Samstagabend in Edge Moor. Es … es ist der Kurzhaarige.»
«Der Gast, den du mitbringen willst?»
Sie nickte. «Mehr verrate ich dir bis dahin nicht.»
«Wirst du …?», fragte er.
«Ich … ich glaube schon», stockte sie.
«Hat er sich schon erklärt?»
«Ja … und nein. Er hat so eine Art, alles für gegeben zu nehmen. Warte, bis du ihn siehst. Du wirst ihn lieben, Onkel Sergius, bestimmt. Und seinen Verstand wirst du auch zu schätzen wissen. Er … er ist derjenige, der mich um vier besucht. Bleib, dann siehst du ihn gleich. Sei doch bitte so lieb.»
Doch Onkel Sergius Constantine alias Ivan Dragomiloff blickte auf die Uhr und stand rasch auf. «Nein; bring ihn Samstag mit nach Edge Moor, Grunya, dann will ich mir alle Mühe geben, ihn zu mögen. Dann habe ich auch mehr Gelegenheit dazu als jetzt. Ich werde eine Woche lang ausspannen. Wenn es so ernst ist, wie es aussieht, soll er die ganze Woche über bleiben.»
«Er ist immer so beschäftigt», war ihre Antwort. «Zu mehr als einem Wochenende konnte ich ihn nicht überreden.»
«Geschäfte?»
«In gewisser Weise. Aber keine richtigen. Er ist kein Geschäftsmann. Er ist steinreich. Sein Geschäft ist der gesellschaftliche Fortschritt, so könnte man es wohl am besten beschreiben. Aber du wirst seinen Verstand bewundern, Onkel, und auch zu schätzen wissen.»
«Das hoffe ich … um deinetwillen, Liebes», waren Constantines letzte Worte, als er sich mit einer Umarmung an der Tür von ihr verabschiedete.
3
Wenige Minuten nach dem Aufbruch ihres Onkels empfing eine sehr zurückhaltende junge Frau Winter Hall. Grunya war über die Maßen ernst, als sie ihm Tee servierte und mit ihm plauderte – wenn man es denn Plaudern nennen konnte, wo die Themen doch von Gorkis letztem Buch6 und den neuesten Nachrichten der russischen Revolution bis zu Hull House7 und dem Streik der Blusennäherinnen8 reichten.
Winter Hall schüttelte wegen ihrer geänderten Weltverbesserungspläne warnend den Kopf. «Nimm nur mal das Hull House», sagte er. «Es war ein Lichtblick in der Slumwildnis Chicagos. Das ist es noch immer, mehr aber auch nicht. Die Slumwildnis ist weitergewuchert, in ungeheurer Weise weitergewuchert. Im heutigen Chicago sind Laster, Elend und Erniedrigung insgesamt ungleich verbreiteter als zu der Zeit, als Hull House gegründet wurde. Hull House ist daher gescheitert wie alle anderen Reforminstitutionen auch. Mit einem Schöpfeimer, der weniger Wasser fasst, als durch das Leck nachläuft, kannst du ein sinkendes Boot nicht retten.»
«Das weiß ich ja», murmelte Grunya traurig.
«Nimm die Sache mit den fensterlosen Zimmern», fuhr Hall fort. «Bei Ende des Bürgerkrieges gab es in New York sechzigtausend solcher Zimmer. Seitdem tobt ein beständiger Kampf dagegen. Viele Menschen haben ihr Leben ebendiesem Kampf gewidmet. Zu Tausenden und Abertausenden haben sozial gesinnte Bürger ihren Beitrag geleistet, mit Spenden oder ihrer Unterschrift. Ganze Blocks wurden abgerissen und durch Parks und Spielplätze ersetzt. Es war ein großer, schrecklicher Kampf, und das ist er noch immer. Und mit welchem Ergebnis? Heute, im Jahr1911, gibt es in New York über dreihunderttausend fensterlose Zimmer.» Achselzuckend trank er einen Schluck Tee.
«Du führst mir immer deutlicher zwei Punkte vor Augen», gestand Grunya. «Erstens, dass Freiheit, die nicht durch von Menschen geschaffene Gesetze beschnitten wird, einzig und allein durch ein Zwischenstadium massenhafter, von Menschen geschaffener Gesetze erlangt werden kann, die uns praktisch zu Automatenwesen machen – natürlich das sozialistische Stadium. Ich jedenfalls lege keinerlei Wert darauf, in einem sozialistischen Staat zu leben. Das würde mich verrückt machen.»
«Du ziehst die prächtige, wilde, grausame Schönheit unseres jetzigen kommerzorientierten Individualismus vor?», fragte er ruhig.
«Möglicherweise. Möglicherweise schon. Aber der sozialistische Staat muss kommen. Dessen bin ich mir sicher, und zwar wegen des zweiten Punkts, den ich so klar sehe, und das ist das Scheitern der Reformen an den Reformen.» Sie brach abrupt ab, schenkte ihm ein strahlendes, fröhliches Lächeln und verkündete: «Aber warum so ernst, wo es jetzt draußen immer wärmer wird? Warum fährst du nicht mal raus aus der Stadt, um frische Luft zu schnappen?»
«Und warum du nicht?», konterte er.
«Zu beschäftigt.»
«Wie ich.» Er verstummte, und plötzlich wurden seine Gesichtszüge hart und grimmig, als brütete er über einem schweren tiefen Gedanken. «Ich bin derzeit sogar so beschäftigt wie in meinem ganzen Leben noch nicht und war nie so nahe dran, etwas Großes zu erreichen.»
«Aber willst du denn nicht wenigstens für die eine Woche mitkommen und meinen Onkel kennenlernen?», fragte sie unvermittelt. «Gerade eben war er noch hier. Er möchte, dass wir eine … eine Art Hausparty veranstalten, nur wir drei, und schlägt dafür diese Woche vor.»
Widerstrebend schüttelte er den Kopf. «Ich würde ja gern, und ich komme auch mit, aber nicht für eine ganze Woche. Erst heute habe ich etwas herausgefunden, wonach ich wochenlang gesucht habe.»
Und während er so sprach, musterte sie sein Gesicht, wie nur eine verliebte Frau es bei einem Mann vermag. Sie kannte noch das winzigste Detail von Winter Halls Gesicht, von dem umgekehrten Bogen der zusammengewachsenen Brauen bis zu den prägnanten Mundwinkeln, von dem markanten, grübchenlosen Kinn bis zum letzten Fältchen am Ohr. Da Hall ein Mann war, kannte er Grunyas Gesicht nicht so genau, mochte er auch noch so verliebt sein. Er liebte sie, doch öffnete ihm die Liebe nicht die Augen für winzige Details. Wäre er unvermittelt aufgefordert worden, sie anhand der in seinem Bewusstsein hängen gebliebenen Eindrücke zu beschreiben, hätte er dies nur in allgemeinen Begriffen gekonnt, als da wären: «lebhaft», «eindrucksvoll», «zarter Teint», «tiefe Stirn», «stets vorteilhafte Frisur», «Augen, die wie ihre Wangen lächeln und glühen», «ein sympathischer, bezaubernder Mund» und «eine Stimme, deren Violen wundervoll und unbeschreiblich sind». Auch hatte er Eindrücke von Reinlichkeit und Gesundheit, nobler Ernsthaftigkeit, gefälligem Witz und brillantem Intellekt.
Grunya wiederum erblickte einen gut gebauten Mann von zweiunddreißig mit Denkerstirn und allen Merkmalen des Tatmenschen in den Zügen. Auch er war blond und blauäugig, in der typisch amerikanischen Art derer, die sich viel in der Sonne aufhalten. Er lächelte oft und lachte, wenn er es tat, laut. Bei unbewegter Miene aber lag auf seinem Gesicht eine gewisse, fast brutale Strenge. Grunya, die das Strenge liebte, vom Brutalen jedoch abgestoßen war, sah sich gelegentlich von flackernden Ahnungen dieser anderen Seite seines Wesens beunruhigt.
Winter Hall war ein recht ungewöhnliches Produkt seiner Zeit. Trotz der Unbeschwertheit des Wohlstands, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, und trotz des komfortablen Vermögens, das er von seinem Vater geerbt hatte und zu dem durch zwei unverheiratete Tanten noch etwas hinzugekommen war, hatte er sich schon früh der Sache der Menschlichkeit verschrieben. Am College hatte er sich auf Volkswirtschaft und Soziologie spezialisiert, und seine Kommilitonen, denen es weniger ernst damit war, betrachteten ihn als eine Art Spinner. Nach dem College hatte er Riis9 bei dessen New Yorker Kreuzzug unterstützt, und zwar mit Geld ebenso wie mit persönlichem Einsatz. Die viele Zeit und Arbeit, die er in ein soziales Settlement steckte, hatten ihn nicht befriedigt. Er war unablässig auf der Suche nach der Sache hinter der Sache – nach der Ursache, die die eigentliche Ursache war. Und so hatte er auch noch Politik studiert, verfolgte anschließend Bereicherung und Amtsmissbrauch von New York bis Albany und tat dies auch in der Hauptstadt seines Landes.
Jahre später arbeitete er einige vermeintlich wirkungslose Monate an dem Settlement einer Universität mit, die in Wahrheit eine Brutstätte des Radikalismus war, und entschied sich, mit seinen Studien ganz unten anzufangen. Ein Jahr streifte er als Gelegenheitsarbeiter durchs Land, ein weiteres Jahr als Vagabund, als Gefährte von Landstreichern und Ganoven. Zwei Jahre war er dann fest angestellter Sozialarbeiter in Chicago, wo er für fünfzig Dollar im Monat endlose Überstunden ableistete. Und durch all das hindurch hatte er sich zum Sozialisten entwickelt – einem «Millionärssozialisten», wie die Presse ihn etikettierte.