6,99 €
Auf ihren kulinarischen Reisen durch Frankreichs Restaurants nehmen Aristide Pamplemousse und sein Hund Pommes Frites so manche kriminelle Witterung auf. "Mord in Frankreich" enthält drei unterhaltsame Cosy-Krimis - der perfekte Lesestoff für Fans des englischen Humors und der französischen Küche.
Band 1: Monsieur Pamplemousse und das verschwundene Soufflé
Monsieur Pamplemousse macht eine erschütternde Entdeckung: Auf der Speisekarte seines Lieblingsrestaurants fehlt das Soufflé Surprise - der Chefkoch ist spurlos verschwunden. Zusammen mit seinem vierbeinigen Begleiter Pommes Frites beginnt der ehemalige Inspektor zu ermitteln ...
Band 2: Monsieur Pamplemousse und das Geheimnis des Zeppelins
Monsieur Pampelmousse macht sich zusammen mit seinem Hund Pommes Frites auf den Weg in die Bretagne, um den Jungfernflug eines luxuriös ausgestatteten Luftschiffes begleiten. Doch schon bald überschlagen sich die Ereignisse: Ein Terrorist droht den Zeppelin in die Luft zu sprengen ...
Band 3: Monsieur Pamplemousse und der tödliche Kampf gegen die Kilos
Monsieur Pamplemousse soll das kulinarische Angebot der Schlankheitsfarm Château Morgue testen. Doch als immer mehr ältere wohlbetuchte Damen dort das Zeitliche segnen, beginnt er zu ermitteln ...
Jetzt als eBook bei beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
"Pamplemousse und sein treuer Hund Pommes Frites sind ein wundervolles Ermittlerduo und ein Garant für einen heiteren Leseabend." Publishers Weekly
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 824
Michael Bond
Mord in Frankreich - Die sonderbaren Fälle des Monsieur Pamplemousse
Cover
Weitere Titel des Autors
Über dieses Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
1. OPERATION SOUFFLÉ
2. EIN FREMDER IN DER NACHT
3. GRUND ZUM FEIERN
4. DIE WASSERPROBE
5. L’INSTITUT DES BEAUX ARBRES
6. POMMES FRITES MACHT EINE ENTDECKUNG
7. DAS PICKNICK
8. EIN EINMALIGES MAHL
9. APÉRITIF MIT MADAME GRANTE
Monsieur Pamplemousse und das Geheimnis des Zeppelins
Monsieur Pamplemousse und der tödliche Kampf gegen die Kilos
Monsieur Pamplemousse ist im Urlaub am Genfer See und kehrt in das exklusive Sterne-Restaurant Les Cinq Parfaits ein. Dort macht er eine erschütternde Entdeckung: Auf der Speisekarte fehlt das Soufflé Surprise – sein Lieblingsgericht! Offenbar ist der Chefkoch spurlos verschwunden – wurde er entführt? Zusammen mit seinem vierbeinigem Begleiter Pommes Frites, einem pensionierten Bluthund aus Polizeibeständen mit einem besonders feinen Gaumen, beginnt der ehemalige Inspektor zu ermitteln …
Michael Bond, der geistige Vater des berühmten Bären »Paddington«, wurde am 13. Januar 1926 im englischen Newbury geboren. Neben den bekannten Kinderbüchern schrieb er auch eine Krimi-Reihe, in der der Gastrokritiker und Hobbydetektiv Monsieur Pamplemousse zusammen mit seinem Hund Pommes frites spannende Fälle lösen. Michael Bond lebte bis zu seinem Tod am 27. Juni 2017 in London, unweit der U-Bahn-Station Paddington.
Michael Bond
Monsieur Pamplemousse und das verschwundene Soufflé
Aus dem Englischen von Werner Richter
»Verzeihung, Monsieur.«
Monsieur Pamplemousse fuhr zusammen, als plötzlich direkt neben ihm eine Gestalt in Abendkleidung auftauchte. Indem er rasch seine Taschenbuchausgabe der gesammelten Werke von Sir Arthur Conan Doyle in den Falten des schneeweißen Tischtuchs verbarg, das ihm über die Beine hing, fand er die Beherrschung wieder und vollbrachte im Bruchteil einer Sekunde den gedanklichen Sprung vom kargen Mobiliar der Baker Street 221B, London/Großbritannien, in die fraglos weitaus weniger harte Realität seiner üppigen Umgebung im Speisesaal von Les Cinq Parfaits, Haute-Savoie/Frankreich.
Er senkte den Kopf, um die Gegenwart des Kellners zur Kenntnis zu nehmen, aber nicht unbedingt willkommen zu heißen, und wandte dann seine Aufmerksamkeit mit etlichem Widerstreben von den Abenteuern des Sherlock Holmes ab, um sich auf eine crèmefarbene Karte zu konzentrieren, auf der die verschiedenen Genüsse des menu gastronomique verzeichnet waren. Während er die Speisekarte betrachtete, war er sich nur allzu bewusst, dass ein weiteres Augenpaar auf der anderen Seite des großen Panoramafensters zu seiner Rechten jede seiner Bewegungen verfolgte, und er verrückte seinen Stuhl ein Stückchen gegen den Uhrzeigersinn, um dem beharrlichen Blick zu entrinnen.
Fast augenblicklich stürzte, auf ein kaum wahrnehmbares Signal des maître d’hôtel, ein ganzer Schwarm von Unterkellnern zu seinem Tisch, legte das Besteck wieder symmetrisch vor ihm auf, drehte den Teller, so dass das Parfait-Logo wieder gerade stand, schob die Blumen in der Vase ein wenig zurecht und zog dann den dunkelgrünen Samtvorhang ein paar Zentimeter nach links, womit der Ausblick auf einen Teil des Genfer Sees, auf das diesig verhangene Vorgebirge des Massivs dahinter und einen wenig ansehnlichen Zaungast im Vordergrund versperrt war.
So rasch wie die Entourage herbeigeeilt war, trat sie auch wieder diskret in den Hintergrund zurück, doch rascher noch erschien auf der anderen Seite des Fensters wieder die große, feuchte, frisch mit Vaseline eingeriebene Schnauze und stupste energisch gegen einen neuen Abschnitt der Glasscheibe.
Monsieur Pamplemousse seufzte. An diesem Abend war Pommes Frites mehr als nur »ein bisschen schwierig«. Mit Schaudern dachte er daran, wie die Fensterscheibe aussehen würde, wenn erst die Strahlen der Morgensonne hindurchschienen.
»Pardon, Monsieur.« Der maître d’hôtel beugte sich ein wenig vor. »Darf ich Sie auf eine geringfügige Änderung der Speisekarte hinweisen? Das Soufflé Surprise ist aus.«
»Das Soufflé Surprise ist aus?« Langsam wiederholte Monsieur Pamplemousse die Worte, als könne er seinen Ohren nicht recht trauen. »Aber das ist unmöglich.«
Zu behaupten, er habe sich durch die sechs oder sieben vorigen Gänge mühsam und nur mit einem einzigen Ziel im Sinn hindurchgearbeitet, nämlich jene Kreation zu kosten, für die Les Cinq Parfaits weithin berühmt war, wäre gewiss krass untertrieben, ja eine unverzeihliche Beleidigung gewesen. Jeder Gang war die pure Perfektion: nicht nur ein einzelner Höhepunkt, sondern eine ganze Kette großartiger Gipfel; jede Speise war per se der Inbegriff der Vollkommenheit und bot gleichermaßen Befriedigung und lustvoll-quälenden Vorgeschmack auf die Genüsse, die da noch kommen sollten. Würde er seine Mahlzeit an dieser Stelle beenden, so gäbe es kaum Grund zur Beschwerde. Es war ein denkwürdiges dîner gewesen. Dennoch, und um die Gebirgsanalogie noch weiter auf die Spitze zu treiben: es gab eben nur einen Mount Everest. So weit gereist zu sein, ohne den höchsten Gipfel erklommen zu haben, den das Soufflé Surprise nun einmal verkörperte, wäre denn doch eine arge Enttäuschung.
Er war versucht, zu fragen, warum man ihm, wenn es denn aus sei, eine Speisekarte vorlege, auf der in deutlichen Druckbuchstaben zwischen fromage und café die beiden Worte Soufflé und Surprise zu lesen seien. Damit streute man ja obendrein noch Salz in die Wunde.
Er sah sich in dem gut besetzten Restaurant um. »Da wird es heute Abend in Les Cinq Parfaits viele betrübte Gesichter geben.«
»Oui, Monsieur.« Der Ober teilte seinen Kummer sichtlich.
»Was haben Sie also stattdessen?«
Mit einer Miene, die, falls dies möglich war, noch etwas verlegener schien als zuvor, wies der Ober auf einen großen Servierwagen, der gerade in ihre Richtung heranrollte.
»Wir haben eine Reihe von Sorbets nach Art des Hauses. Monsieur könnte ein panaché nehmen – eine ganze Auswahl, wenn es beliebt.«
»Aber ich habe schon ein Sorbet gehabt«, erwiderte Monsieur Pamplemousse leicht verstimmt. »Das war zwischen dem omble und den quenelles de veau.«
Und es war auch ganz ausgezeichnet gewesen – ein granité au vin de Saint-Émilion, hergestellt mit etwas weit Besserem als dem vin ordinaire, wenn ihn sein Urteil nicht trog, mit einem Grand Cru Classé, außerdem hatte man Orange und Zitrone hinzugefügt, und die Garnitur des Desserts war ein frischer, heller, mit Minzeblättern aromatisierter Pfirsich gewesen. Ein Gaumentupfer ersten Ranges. Auf dem Notizblock, den er in einer Falte des rechten Hosenbeins verborgen hielt, hatte er ihm die volle Punktezahl verliehen.
»Vielleicht fruits de saison? Wir haben wilde framboises ... die Mädchen aus dem Dorf haben sie eben erst bei Sonnenuntergang am Berghang gepflückt. Sie sind von ihren Schürzen noch ganz warm ...«
»Fruits de saison?« Ohne die Stimme zu heben, gelang es Monsieur Pamplemousse, genau die richtige Portion von Verachtung darin anklingen zu lassen.
»Vielleicht eine crème caramel, Monsieur?« In die Stimme des Obers legte sich bereits ein erster Anflug von Verzweiflung. »Aus den Eiern unserer eigenen Hühner, die seit dem Tag ihrer Geburt mit nichts anderem gefüttert werden als nur dem ...«
»Eine crème caramel?« Als Monsieur Pamplemousse bewusst wurde, dass er sich langsam anhörte wie ein alternder Schauspieler, der jeden Satz der Komik halber zunächst einmal nachäffte, versuchte er es auf einem anderen Weg. »Haben Sie denn nichts mit dem Wort pâtisserie dabei?«
Schon als er die Frage stellte, kannte er die Antwort. So erklärte sich auch das Fehlen vieler der sonst üblichen Leckerbissen im Verlaufe dieser Mahlzeit. Ein Mangel, den er zuvor allerdings mit einer gewissen Erleichterung registriert hatte, da er sich bei jeder Schlacht, in der sein Geist gegen das Stoffliche antrat, vor deren Ausgang fürchtete.
Der Ober beugte sich über den Tisch, um einen imaginären Brotkrümel zu entfernen. »Ich bedaure, Monsieur, aber die pâtisserie ist heute Abend nicht von der Qualität, die wir von Les Cinq Parfaits unseren Gästen zu servieren uns in der Lage sehen.« Er senkte die Stimme noch etwas mehr. »Was das Soufflé Surprise angeht ... pfff!« Ein leises Pfeifgeräusch, das ein wenig an einen unrühmlich in sich zusammenfallenden Heißluftballon denken ließ, entrang sich seinen Lippen. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch er entschied sich dagegen, wohl weil ihm klar geworden war, dass er ohnehin schon zuviel gesagt und seine Vertrauensstellung missbraucht haben könnte.
Monsieur Pamplemousse beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen. Er bestellte die framboises und machte es sich bequem, um die Angelegenheit zu durchdenken. Ganz offenkundig stand es nicht zum Besten in den Küchenräumen von Les Cinq Parfaits, und wenn es dort nicht zum Besten stand, dann brachte ihn dies in ein Dilemma.
Eigentlich war er ja nur in halboffizieller Funktion hier, es war eine Art Belohnung seitens seiner Chefs, der Verleger von Le Guide. Der Aufenthalt war nach dem erfolgreichen Abschluss eines Auftrags im Loire-Tal von seinem dankbaren Direktor für ihn arrangiert worden. Trotzdem verstand sich der Besuch von Les Cinq Parfaits selbstverständlich inklusive seiner Beurteilung des Restaurants; man wünschte zudem seine Meinung in einer Sache zu hören, die bereits seit einiger Zeit die Überlegungen seiner Vorgesetzten in Anspruch nahm. Für ihn war die Arbeit nicht mehr weit, wenn Essen auf dem Tisch stand.
Ebenso wie Le Guide den Ruf des Doyens der französischen Gastronomieführer hatte, so galt gemeinhin Les Cinq Parfaits auch als das beste der besten Restaurants in Frankreich, was in den Augen der meisten Menschen gleichbedeutend war mit: das beste der Welt.
Wie ein Juwel lag es in den Hügeln östlich von Évian und bot eine wunderschöne Aussicht über den See; an den Wänden hingen Fotografien von den Großen und Bedeutenden, den Reichen und Berühmten der Welt, die alle ihre Pilgerfahrt zu seinen allzeit geöffneten Türen unternommen hatten. Präsidenten kamen und gingen, Königshäuser stiegen auf und wurden gestürzt, doch Les Cinq Parfaits schien dazu ausersehen, seine illustre Stellung für alle Ewigkeit einzunehmen.
In einer Gegend, die sich eher jenen widmete, deren Taillenumfang dringend der Verringerung bedurfte oder schon jenseits aller Hoffnung war, und wo infolgedessen die cuisine im allgemeinen eher nach basse als nach haute tendierte, hatte sich Les Cinq Parfaits als Ausnahme von der Regel erwiesen und war hervorragend gediehen. Seit vielen Jahren besaß es drei Sterne im Michelin, die maximale Mützenzahl im Gault-Millau und gehörte zu dem knappen Dutzend von Restaurants in Frankreich, die die allerhöchste Auszeichnung durch Le Guide errungen hatten: die drei Kasserollen. Es galt als offenes Geheimnis, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis einer der drei miteinander konkurrierenden Gourmetführer den Anfang machte und Les Cinq Parfaits eine weitere, ganz besondere Auszeichnung verlieh.
Und gerade hier lag das Dilemma. Erwies sich ein derartiger Bruch mit der Tradition nämlich als Fehlschlag, so wäre der Verlag, der ihn verantwortet hatte, natürlich sofort jeder Kritik preisgegeben. Zu zaudern hingegen, nur der Zweite zu sein, das hieße, sich der Anschuldigung auszusetzen, eher Nachahmer denn Anführer zu sein. Es war ein kniffliges Problem, das keinen Fehler erlaubte.
Wenn drei Kasserollen Perfektion bedeuteten, würde eine vierte für etwas noch Absoluteres stehen müssen. An der Leistung dieses Abends gemessen, gereichte jedoch zumindest einer der »cinq Parfaits« – entweder Monsieur Albert, der Vater, oder einer seiner vier Söhne Alain, Edouard, Gilbert und Jean-Claude – dem Namen der Familie nicht ganz zur Ehre.
Monsieur Pamplemousse sah sich im Speisesaal um. Wie in den meisten Restaurants dieser Klasse schien es mehr Personal als Gäste zu geben. Seine Notizen und Karteikarten würden ihm später die genauen Zahlen verraten, doch schätzte er die Kapazität des Raumes auf etwa sechzig couverts. Alle Tische waren belegt, viele von ihnen vermutlich seit Wochen, wenn nicht seit Monaten im Voraus bestellt; die clientèle war international. Die Kellner wechselten mit lässiger Routine zwischen Französisch, Englisch und Deutsch hin und her.
Die Zeremonie des Lüftens der silbernen Serviertellerdeckel war in vollem Gang. Kein Gericht gelangte ohne Abdeckung in den Speisesaal. Mochten noch so viele Gäste um einen Tisch sitzen, unter den Kellnern galt es als Todsünde, beim Auflegen nachzufragen, wer nun was bestellt habe, und das Aufheben aller Deckel im Unisono war eine dramatische Geste, die das gastronomische Äquivalent eines Applauses einzuheimsen nie versäumte.
Am Nachbartisch vollbrachte ein Kellner, der gerade einer Gruppe von Gästen die gesamte Speisekarte in perfektes Deutsch übersetzt hatte, die gleiche Fleißaufgabe für eine andere Familie auf Englisch. Den Gesprächsfetzen, die Monsieur Pamplemousse bei ihrem Eintreffen aufgeschnappt hatte, war zu entnehmen gewesen, dass die Tochter eines der Internate der Gegend besuchte. Die sprachliche Ausbildung dort ließ jedoch sichtlich zu wünschen übrig.
An einem kleineren Tisch dahinter saß ganz allein ein junges Mädchen. Das blonde Haar, ihre helle Hautfarbe und die Tatsache, dass sie der Familie am Nebentisch zur Begrüßung zugenickt hatte, ließen darauf schließen, dass sie ebenfalls Engländerin war. Vermutlich auf demselben Internat wie deren Tochter. Sie konnte nicht viel älter als achtzehn oder neunzehn sein.
Er fragte sich, was sie hier tat. Sie wirkte seltsam fehl am Platze und irgendwie unruhig, als warte sie auf jemanden, rechne aber gleichzeitig fest damit, versetzt zu werden. Er verspürte den irrationalen Impuls, zu ihr hinüberzugehen und sie zu fragen, ob er ihr irgendwie behilflich sein könne, doch er beherrschte sich, weil er befürchtete, sie werde seine Vorgehensweise falsch interpretieren – was die übrigen Gäste ganz bestimmt tun würden. Die Menschen dachten eben immer gleich das Schlimmste. Ein- oder zweimal sah er rasch auf und ertappte sie dabei, wie sie ihn anstarrte, fast im selben Moment die Augen niederschlug und errötete, was ihr gut zu Gesicht stand.
Holmes hätte schon längst alles über sie gewusst. Er hätte sich im Geiste ein komplettes Bild von ihr gemacht, aus irgendeinem Detail, das damit zu tun hatte, wie sie ihren Gürtel trug oder ihr Kleid auswählte.
»Für heute Abend ausgeliehen, mein lieber Watson. Und zwar in großer Eile. Man merkt es daran, dass es nicht ganz zu ihrem Nagellack passt.«
Widerstrebend riss er sich von der Szene los und wandte sich wieder seinem Buch zu. Die Lektüre verknüpfte das Angenehme mit dem Nützlichen und gehörte zu seinen Urlaubsvorsätzen – sie bot ihm Gelegenheit, sein Englisch zu verbessern und gleichzeitig wieder einmal mit einer seiner Lieblingsromanfiguren zusammenzutreffen.
Die Geschichten hatten denkbar wenig mit seinen eigenen Erfahrungen an der Pariser Sûreté zu tun, und doch lag eine gewisse Faszination in ihnen, der er sich nicht entziehen konnte. Besonders die Erzählung, die er gerade las – Der Hund von Baskerville – war ein gutes Beispiel. Schon auf der zweiten Seite hatte Holmes nach kurzer Untersuchung eines Spazierstocks den Schluss gezogen, der Besitzer sei ein Landarzt, der seine Ausbildung an einem großen Londoner Krankenhaus genossen, den Assistentenposten dort jedoch bald aufgegeben hatte; auch jetzt noch sei er unter dreißig, recht leutselig, etwas zerstreut und außerdem Hundebesitzer, wobei das Tier größer als ein Terrier und kleiner als ein Mastiff sein müsse.
Beim nochmaligen Lesen der Stelle wurde Monsieur Pamplemousse an Pommes Frites erinnert. Er blickte sich um, doch die Schnauze drückte sich nicht mehr gegen die Fensterscheibe. Es bedurfte nicht des scharfsinnigen Talents eines Sherlock Holmes, um zu folgern, dass sein eigener Watson verdrossen seiner Wege gegangen war, und obgleich es nicht seine Entscheidung gewesen war, Pommes Frites von der Mahlzeit auszuschließen, verspürte er dennoch abrupte Gewissensbisse.
Bei der Ankunft in Les Cinq Parfaits war er bitter enttäuscht gewesen, dass Hunde dort neuerdings interdit waren. Die Direktion hatte das Verbot verhängt, nachdem ein zu Gast weilender Industriekapitän eines Abends vom Dobermann eines erbosten Aktieninhabers angefallen worden war. In gewissem Maße hatte er für das Verbot sogar Verständnis, aber es war etwa so, als wollte man den Touristen verbieten, auf den Eiffelturm zu steigen, nur weil irgendwann einmal jemand dabei ertappt worden war, wie er unter dem Turm eine Bombe legen wollte; schwer zu akzeptieren und kaum zu erklären, jedenfalls nicht einem Wesen, dessen Denkvermögen auf derart verschlungenen Pfaden nicht folgen konnte.
Dabei erging es den vierbeinigen Besuchern von Les Cinq Parfaits keineswegs schlecht. Der Hundezwinger hinter dem Hauptgebäude war mustergültig angelegt, der Service einwandfrei und die Personaldichte nahezu ebenso hoch wie im Restaurant selbst. Das Stroh wurde zweimal täglich gewechselt, und die Auswahl an Gerichten servierte man auf Porzellantellern mit dem Kronensignet des Hotels. Selbst pfotentaugliche Klingelschnüre hätten Monsieur Pamplemousse dort nicht überrascht. Bei fünfzig Franc pro Tag, Vollpension und service compris, war das Preis-Leistungs-Verhältnis unglaublich günstig.
Trotzdem war es doch nicht das gleiche wie am selben Tisch zu sitzen, jedenfalls hatte Pommes Frites das Ganze in die falsche Kehle bekommen, und zwar genau so, wie es Monsieur Pamplemousse befürchtet hatte.
Pommes Frites besaß eine recht einfache Lebensanschauung. Schwarz war für ihn schwarz. Und Weiß war weiß. Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten war die gerade Linie, und Restaurants waren dafür da, dass man in ihnen aß, »ohne Ansehen von Rasse, Fellfarbe oder Belligion«. Zutrittsbeschränkungen aufgrund von Diskriminierungen jeglicher Art lagen jenseits seines Begriffsvermögens.
Auch Monsieur Pamplemousse musste sich eingestehen, dass ihm die Gesellschaft von Pommes Frites fehlte. Nicht nur das schöne Gefühl, wenn sein Partner ihm hin und wieder den warmen Kopf auf den Fuß legte oder seinen behaarten Körper gegen das Bein schmiegte, vermisste er, sondern auch dessen Ansichten zur Speisenfolge, die dieser zumeist mit einem Stirnrunzeln oder einem diskreten Wedeln des Schweifes übermittelte.
Pommes Frites hatte für Gerüche und Geschmacksfarben die Empfindlichkeit der Bluthunde; sein Spürsinn war schon früh, während seiner Ausbildung bei der Pariser Polizei, entwickelt und auf Reisen kreuz und quer durch Frankreich mit seinem Herrn weiter geschärft worden. Zwar wusste niemand etwas davon, aber es gab eine Menge Restaurants, die ihre Aufnahme in Le Guide Pommes Frites’ Geschmackspapillen verdankten, und schon deswegen hätte Monsieur Pamplemousse sehr viel darum gegeben, dessen Reaktion auf die Mahlzeit, die er eben verzehrt hatte, auf dem Notizblock verzeichnen zu können.
Er starrte aus dem Fenster zu den Lichtern von Lausanne hinüber, die auf der Schweizer Seite des Sees glitzerten. Mitten auf dem Wasser pflügte langsam ein Passagierdampfer zurück nach Genf. Er sah auf die Uhr. Es war noch nicht einmal zehn. Er hatte das Abendessen früh begonnen. Also blieb noch Zeit für einen kleinen Bummel, ehe er zu Bett ging. Vielleicht sollte er Pommes Frites auf einen extra langen Spaziergang mitnehmen, um die Situation ein wenig auszubügeln. Im Kofferraum des Autos lagen noch Kekse für den Notfall. Beim Zurückkommen würde er als besondere Überraschung die Schachtel aufmachen.
Er sah auf, als ein Kellner mit einem Silbertablett auf ihn zusteuerte, auf dem sich nicht, wie man hätte erwarten dürfen, das Schälchen mit den wilden Himbeeren befand, sondern stattdessen ein Teller, auf dem ein einsamer blassblauer Briefumschlag lag. Er runzelte die Stirn, denn er erkannte die Farbe des Hotelbriefpapiers. Wer wollte ihm hier eine Nachricht zukommen lassen?
Als der Kellner gegangen war, nahm Monsieur Pamplemousse ein Messer und öffnete den Brief, wobei er sich bewusst war, dass ihn die Gäste am Nachbartisch neugierig beobachteten. Der Brief enthielt ein Blatt weißes Telexpapier mit einem rosa Durchschlag darunter. Die Botschaft war kurz und bündig; ja, sie bestand aus einem einzigen Wort. Das Wort lautete ESTRAGON.
Die Behauptung, dass Monsieur Pamplemousse beim Erfassen der Nachricht sichtlich erbleichte, wäre einer Schmähung sowohl seiner Fähigkeiten im Verbergen seiner wahren Gefühle als auch der gedämpften und indirekten Beleuchtung gleichgekommen, die der für die Innenausstattung verantwortliche Architekt ersonnen hatte. Schon in Anbetracht der bisweilen astronomischen Höhe der Rechnungen filterte man hier Erbleichen jedweder Ursache durch Lichtstrahlen ab, die wohlweislich den wärmeren Tönen des Spektrums entströmten.
Dennoch spürte er, wie sich sein Puls beschleunigte, als er die Nachricht sorgfältig wieder zusammenfaltete und zwischen die Seiten seines Buches schob, um die Stelle zu markieren, an der er gerade war. An Weiterlesen war jetzt nicht zu denken. Wäre er Sherlock Holmes gewesen, hätte er vermutlich in der Hoffnung, seine rasenden Gedanken mit dem Allheilmittel der Musik zu besänftigen, nach der Violine gegriffen. Stattdessen tat Monsieur Pamplemousse das Zweitbeste: Er griff nach Löffel und Gabel. Wieder näherten sich Kellner seinem Tisch. Es wäre doch jammerschade, die Anstrengungen all dieser Dorfmädchen mit den prallen Schürzen verderben zu lassen.
Die framboises waren ohne Fehl und Tadel, und Monsieur Pamplemousse fügte lediglich noch etwas Sahne hinzu.
Das Wort ESTRAGON konnte nur eines bedeuten: Es musste irgendein Notfall eingetreten sein.
Um etwas Privates konnte es sich nicht handeln. Er hatte Doucette kurz vor dem Abendessen angerufen. Sie war mitten in ihrer Lieblingsserie gewesen, und er hatte gegen die Hintergrundgeräusche des Fernsehers anschreien müssen. Und wenn es um Privatangelegenheiten ging, hätte das Telefon wohl ohnehin ausgereicht.
In seiner ganzen Zeit bei Le Guide war das Notfall-Codewort sehr selten verwendet worden. Das letzte Mal, an das er sich erinnern konnte, war schon volle zwei Jahre her: als jemand Truffert aus der Normandie dabei beobachtet hatte, wie er beim Taxieren eines Restaurants in Nizza in einem Exemplar von L’Escargot, der Hauspostille der Mitarbeiter von Le Guide, geschmökert hatte. Damals war die Hölle los gewesen. Die Anonymität der Gutachter war ein geheiligter Grundsatz, der niemals gebrochen werden durfte. Und es waren Köpfe gerollt.
Doch seinerzeit war der Code in umgekehrter Richtung benutzt worden: für einen Notruf von draußen ans Hauptquartier. Monsieur Pamplemousse konnte sich an keinen Fall erinnern, bei dem die Zentrale selbst die Losung ausgegeben hätte. Er fragte sich, ob es sich womöglich um einen generellen Alarm handelte. Vielleicht warteten überall in ganz Frankreich die Kollegen so wie er auf ihren café und fragten sich dasselbe.
Die erste Tasse kam und ging die Kehle hinab. Eine zweite schlug er aus, erhob sich und steuerte auf die Tür zu. Dabei fing er einen Blick des blonden Mädchens auf. Sie errötete und sah auf ihren Teller, als wäre sie sich bewusst, dass ihr seine besondere Aufmerksamkeit galt.
Auf dem Weg kam er an zwei Tischen vorbei, an denen die Gäste auch gerade gezwungen waren, ihre Entscheidung bezüglich des letzten Gangs zu revidieren. Auch sie schienen nicht eben erfreut darüber. Der maître d’hôtel wäre ihm vermutlich nicht einmal dankbar, wenn er stehen bliebe und die framboises empföhle – obwohl es sicherlich die besten gewesen waren, die er je gekostet hatte. An diesem Abend würde die Küche all ihre Vorräte aufbrauchen. Dass ein Gericht ausging, war schon mehr als hart. Gingen dann aber auch noch die Zutaten für ein zweites zur Neige, so grenzte dies an eine Katastrophe.
Im Foyer sah er sich nach einer Telefonzelle um. Er hielt es für keine gute Idee, den Apparat auf seinem Zimmer zu benutzen und dabei womöglich jemanden mithören zu lassen – nicht ehe er wusste, worum es überhaupt ging. Man hatte in Les Cinq Parfaits zwar längst ein automatisches Selbstwählsystem, doch hegte er ein altmodisches Misstrauen gegen Hoteltelefone.
Er leerte sein ganzes Kleingeld auf das Brettchen, steckte ein paar Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer der Zentrale. Schon beim ersten Läuten wurde abgehoben.
»Ah, Monsieur Pamplemousse.« Es war eine Stimme, die er nicht erkannte. Normalerweise hatte er kaum je Kontakt mit der Nachtschicht. »Monsieur le directeur erwartet ihren Anruf schon. Un moment.«
Der Direktor ging noch schneller an den Apparat als die Vermittlung. Er musste die ganze Zeit über mit der Hand auf dem Hörer dagesessen haben.
»Pamplemousse? Ist Ihnen etwas passiert? Weshalb dauert das denn so lange?«
»Leider ließ der café ein wenig auf sich warten, Monsieur.«
»Café!« Am anderen Ende der Leitung war ein Geräusch wie eine mittelstarke Explosion zu hören. »Sie haben noch auf den café gewartet?«
»Oui, monsieur le directeur.« Monsieur Pamplemousse beschloss, größte Vorsicht walten zu lassen. Der Tonfall klang ganz und gar nicht freundlich. »Angesichts der Bedeutsamkeit Ihrer Nachricht hielt ich es für klug, keinen Verdacht zu erwecken, weshalb ich mich nicht in allzu großer Hast vom Tisch entfernen wollte.«
»Ah!« In dieser Antwort kamen verschiedene Gefühle zum Ausdruck: Ungläubigkeit und Misstrauen, die jedoch, wenn auch mit einigem Widerwillen, einem grantigen Respekt Platz machten. »Gut gedacht, Pamplemousse. Gut gedacht.«
Monsieur Pamplemousse stieß einen erleichterten Seufzer aus. Man musste fix sein, wenn man es mit dem directeur zu tun hatte. Wie ein Boxer tat man immer gut daran, die nächste Bewegung schon vorauszuahnen.
»Wie war Ihr Essen?« Aus dem Klang der Stimme durch das Telefon war klar, dass die Antwort auf diese Frage schon von vornherein feststand. Nicht zum ersten Mal empfand Monsieur Pamplemousse Ehrfurcht vor der Tüchtigkeit der Leute von Le Guide. Dennoch fragte er sich, wie die Neuigkeit über Les Cinq Parfaits so rasch dorthin gedrungen war. Im Geiste malte er sich die Einsatzzentrale aus: den großen Tisch in der Mitte des Saales, die erleuchtete Wandkarte mit den vielen kleinen Fähnchen, die jede für einen Inspektor standen und von jungen Damen mit langen Stäben verschoben wurden. Gedämpftes Licht. Gedämpfte Gespräche unter dem Personal, während die Berichte nacheinander eintrafen. Heute jedoch war kein normaler Abend.
»Es ließ eine Menge zu wünschen übrig, Monsieur. Besonders zum Abschluss hin.«
»Es ist eine Katastrophe, Aristide. Eine Katastrophe erster Ordnung.«
»Jedenfalls ziemlich unerfreulich, Monsieur«, gab Monsieur Pamplemousse vorsichtig zurück und ertastete sich einen Weg durch das Minenfeld der Gedanken des Direktors. »Es war ganz und gar nicht erfreulich. Wie Sie sich vorstellen können, hatte ich große Erwartungen. Vielleicht« – hier versuchte er, einen fröhlichen Ton anzuschlagen, – »vielleicht sieht man daran nur wieder einmal, dass eben nichts auf dieser Welt je vollkommen perfekt sein kann.« Vom Schweigen am anderen Ende der Leitung ermutigt, fing Monsieur Pamplemousse an, das Thema weiter zu vertiefen. Der Direktor war sichtlich angespannt. Er bedurfte einiger beruhigender Worte. »Ein soufflé macht ja noch keinen Sommer, Monsieur. Es wird andere geben.«
Es entstand eine lange Pause. »Haben Sie getrunken, Pamplemousse?«
»Getrunken, Monsieur? Ich hatte einen apéritif vor dem Essen – einen Kir –, und danach ein oder zwei Glas Sancerre mit dem omble, dann einen bescheidenen Côte Rôtie und schließlich noch ein Glas Beaumes-de-Venise zur Nachspeise. Auf einen liqueur habe ich verzichtet ...«
»Wissen Sie, weshalb ich Ihnen das Telex geschickt habe?«
»Wegen des Soufflé Surprise, Monsieur?«
»Nein, Pamplemousse.« Die Stimme im Hörer erinnerte plötzlich an einen bellenden Hund. »Es ging mir nicht um das Soufflé Surprise.« Wieder entstand eine Pause, diesmal eine noch längere. »Andererseits haben Sie ja eigentlich recht. Es geht sehr wohl um das Soufflé Surprise.«
Monsieur Pamplemousse beschloss, gar nichts zu sagen. Offensichtlich hatte er, wenn auch ganz unwissentlich, irgendwie ins Schwarze getroffen. Mitten ins Schwarze sogar. Indem er alle Vorsicht in den Wind schlug, stieß er die Tür der Telefonzelle mit dem Fuß ein Stück weit auf, da die Hitze seine Verwirrung nur noch verstärkte. Als der Direktor nun fortfuhr, schwang in seiner Stimme ein neuer Respekt mit.
»Ihre Zeit bei der Sûreté war nicht umsonst, Aristide.«
»Merci, Monsieur. Das sage ich mir auch immer gern.«
»Sie haben eine Art, die Probleme immer direkt an der Wurzel zu packen. Schlagen sich eine Bresche durch den Urwald. Es ist tatsächlich ein großer Glücksfall, dass wir ausgerechnet Sie in diesen Tagen zu Les Cinq Parfaits geschickt haben. Pamplemousse ...« Der Direktor machte eine Pause, und Monsieur Pamplemousse hielt sich für die nächsten Worte fast instinktiv gut fest. »Pamplemousse, wenn ich Sie nach der Definition für den Begriff ›flüssiges Gold‹ fragen würde, wie würde sie lauten?«
Da sich Monsieur Pamplemousse nun endlich auf sicherem Boden glaubte, zögerte er keinen Augenblick. »Das wäre wohl ein Sauternes, Monsieur. Ein Château d’Yquem. Wahrscheinlich der 45er. Es ist mir zu Ohren gekommen, dass der 28er und der 37er zwar immer noch ganz hervorragend sind, inzwischen aber bedauerlicherweise ein wenig abgebaut haben. 1945 gab es dort eine recht frühe Ernte, und ...«
»Aristide!« In der Stimme des Direktors lag ein leise flehender Ton, als wollte er damit etwas mitteilen. »Aristide, es handelt sich hier leider um eine sehr ernste Angelegenheit. Denken Sie noch einmal nach.«
Monsieur Pamplemousse durchdachte das Ganze noch einmal von vorn. Es kam ihm der Gedanke, dass der Direktor ihn vielleicht auf die Probe stellen wollte. Möglicherweise dachte er an einen deutschen Eiswein – das Kapital, das Winzer aus etwas schlugen, was unter anderen Bedingungen und in anderen Gegenden eine Katastrophe wäre: Wein aus dem Saft von Trauben, die bis zum ersten Frost an der Rebe geblieben waren. Diesen Trank nun könnte man tatsächlich ›flüssiges Gold‹ nennen. Er zermarterte sich das Hirn, bei welchen berühmten Jahrgängen dies besonders gut ausgegangen war.
»Wird es wenigstens schon warm, Monsieur?«
»Nein, Pamplemousse.« Durch den Hörer drang ein lauter Seufzer. »Es wird überhaupt nicht warm. Es ist ganz kalt. Aber die momentane Temperatur ist gar nichts im Vergleich zu den Temperaturen, mit denen zu rechnen ist, falls dieses Problem nicht bald gelöst wird. Denn dann wird es sehr kalt werden. Dann wird uns allen sehr kalt werden.«
»Ich habe gehört, dass der Besitzer von Château d’Yquem auch seinen 67er in den höchsten Tönen lobt ...«
»Pamplemousse! Wollen Sie endlich aufhören, andauernd von Wein zu sprechen. Die Sache hat mit Wein nicht das geringste zu tun.« Monsieur Pamplemousse verstummte, als der Direktor sein Sinnieren abrupt unterbrach. Er hörte den warnenden Ton heraus, und wie ein Berufsspieler, der zunächst einmal das Geschehen an den Tischen beobachtet, beschloss er, vorerst abzuwarten, wie sich das Spiel entwickelte, um so ein Gespür dafür zu bekommen, wie die Kugel rollen würde, ehe er seinen nächsten Einsatz wagte. Der Direktor ging inzwischen in eine völlig andere Richtung.
»Erinnern Sie sich an den Winter 1947, Pamplemousse?«
»Das war ein sehr kalter Winter, Monsieur. Ich war damals neunzehn und zum ersten Mal längere Zeit von zu Hause fort. Ich wohnte in Paris, und ich weiß noch, wie ich in meinem Zimmer bibberte und mir wünschte, wieder in der Auvergne zu sein; dort hatte man wenigstens Holz zum Feuermachen. Zu essen gab es damals nur wenig, und die Innenseite meines Schlafzimmerfensters war mit Eis überzogen.«
»Es ist gut möglich, dass Ihr Schlafzimmerfenster im nächsten Winter erneut von innen zufriert, Pamplemousse, wenn Sie nicht rasch handeln. Rasch, präzise, und mit allergrößter Diskretion.
Hören Sie mir zu, und hören Sie genau zu. Die Wände haben Ohren, wie Sie wohl wissen, und ich möchte das, was ich zu sagen habe, nicht noch einmal wiederholen.
In vier Tagen werden Sie in Les Cinq Parfaits erleben, wie man einen roten Teppich auf den Eingangsstufen auslegt, einen roten Teppich, der sich über die gesamte Strecke vom Haupteingang bis zum Hubschrauberlandeplatz auf der Schmalseite des Gebäudes erstreckt. Im Laufe seiner Geschichte hat dieser rote Teppich die Schritte eines regierenden Monarchen von Großbritannien sowie mehrerer Präsidenten der Französischen Republik gelenkt. In letzter Zeit wurde sein Velours nahezu irreparabel vom Gewicht eines Mannes zusammengepresst, der so unermesslich reich ist, dass man es kaum beschreiben kann: eine Grosse Légume, die dank dem Segen Allahs das große Glück hat, auf einem der umfangreichsten Ölvorkommen der Welt zu sitzen.
Jedes Jahr besucht er Les Cinq Parfaits als Gast Frankreichs, um dort das vorzunehmen, was man einen ›Einkaufsbummel‹ nennen könnte, und dabei in allem zu schwelgen, was das Haus an Üppigem und Sahnigem auf der Speisekarte zu bieten hat. Und besonders angetan ist er jedes Mal vom Soufflé Surprise.«
Monsieur Pamplemousse beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.
»Mit Verlaub, Monsieur, ich habe bereits alles verstanden, was Sie sagen wollten. Sie wollten sagen, dass dieser V.I.P. – Grosse Légume, wie Sie ihn zu nennen beliebten – als Gast Frankreichs, als ein für unseren zukünftigen Wohlstand ziemlich wichtiger Gast, während seines Aufenthaltes hier gehätschelt und verwöhnt werden und es gemütlich haben soll. All das verstehe ich, wenn ich es auch nicht unbedingt billige. Nur verstehe ich nicht ganz, was es mit meinem eigenen Aufenthalt in Les Cinq Parfaits zu tun haben könnte.«
»Weil Sie, lieber Aristide, im Augenblick gar nicht in Les Cinq Parfaits sind. Sie glauben vielleicht, dass Sie dort sind, aber dem ist nicht so. Im Grunde müsste man wohl eher sagen, dass sie in Les Quatre Parfaits sind. Es fehlt nämlich ein Parfait. Einer der Brüder – Jean-Claude –, eben jener, der für das erwähnte soufflé zuständig ist, hat sich in Luft aufgelöst. Ganz plötzlich, und ohne die geringste Spur zu hinterlassen.«
»Eine sehr schlechte Nachricht, Monsieur, da stimme ich Ihnen zu ... aber zweifellos doch ein Fall für die hiesige Polizei ...«
»Nein, Pamplemousse, das ist kein Fall für die örtliche Polizei. Die örtliche Polizei ist unter allen Umständen herauszuhalten. Es gibt da höchst komplizierte Mechanismen, und in diesen Mechanismen wirken wieder viele kleinere, ebenso komplizierte Mechanismen, und alle zusammen müssen ständig geölt werden. Und ohne den fortwährenden guten Willen von Grosse Légume – hier muss ich wohl erwähnen, dass die Geschwindigkeit, mit der er seine sagenhaften Reichtümer angehäuft hat, in keinem Verhältnis zum Ausmaß seiner Menschenfreundlichkeit steht, allenfalls in einem reziproken – könnte Öl hier bald außerordentlich knapp werden. Es wäre gut möglich, dass es dann in kältere Klimazonen als die unsere umgeleitet wird.«
»Aber Monsieur, wenn dieser ... diese Person nun ohne ihr spezielles Soufflé Surprise auskommen muss, so ist das doch keineswegs das Ende der Welt. Gewiss könnte doch ein anderes Mitglied des Personals eines zubereiten? Einer der älteren Brüder? Oder, falls das nicht geht, könnte jemand von auswärts geholt werden. Girardet zum Beispiel? Der wäre jedenfalls in der Nähe.«
»Aristide, hätten Sie Tizian gebeten, Ihnen einen Monet zu malen, oder bei Picasso nach einem Renoir gefragt? Wir haben es hier schließlich mit der Kreation eines Genies zu tun.«
Monsieur Pamplemousse verstummte. Der Direktor hatte natürlich recht. Sie sprachen über das Werk eines Künstlers, der auf dem Gipfel seiner Schaffenskraft stand. Solche Dinge lagen jenseits der Reproduzierbarkeit.
»Pamplemousse!« Wieder unterbrach die Stimme des Direktors seinen Gedankengang. »Wenn ich sage, dass es um eine ernste Angelegenheit geht, dann meine ich, dass die Angelegenheit sehr ernst ist. Wer weiß, wo das noch hinführt! Jeder der Brüder ist ein Experte in seiner besonderen Kunst. Heute gibt es kein Soufflé Surprise. Morgen könnte es der omble sein. Und übermorgen dann das ris de veau aux salsifis. Es ist ein Problem, das gewissen Personen an höchster Regierungsstelle eine Menge Kopfzerbrechen bereitet. Insbesondere einer ganz bestimmten ›gewissen Person‹, deren Namen ich aus Sicherheitsgründen mich zu nennen nicht in der Lage sehe ...«
»Eine gewisse Person«, griff Monsieur Pamplemousse die Redewendung auf, weil er sich nicht ins Bockshorn jagen lassen wollte, »die keine Million Meilen weit entfernt ist?«
»Nein, Pamplemousse.« Erneut schien der Direktor Schwierigkeiten beim Atmen zu haben. »Eine ›gewisse Person‹, die in diesem Augenblick keinen halben Meter weit von mir entfernt sitzt. Und überdies mit Ihnen sprechen will.«
Unwillkürlich nahm Monsieur Pamplemousse Haltung an, als nun eine zweite Stimme aus dem Hörer drang, klar und schneidend: eine Stimme, die er sofort erkannte. Eine Stimme, die er bis zu diesem Moment immer nur im Radio oder im Fernsehen gehört hatte.
»Oui, Monsieur.« Seine eigene Stimme klang vergleichsweise fern.
»Oui, Monsieur. Ich verstehe, Monsieur.
Es wird mir eine große Ehre sein, Monsieur.
Ganz ohne Frage, Monsieur.«
»So, nun begreifen Sie wohl die Tragweite der Situation, Pamplemousse?« Dies war wieder der Direktor; er klang jetzt wesentlich lebhafter und hatte kaum weniger Autorität im Tonfall als der vorige Sprecher. Seine Stimme war jetzt die eines Mannes mit einer Mission. Die Stimme eines Mannes, wie Monsieur Pamplemousse sich nicht zu spekulieren versagen konnte, der die Möglichkeit einer feierlichen Ehrung in naher Zukunft förmlich zu erahnen schien. Ein Verdienstkreuz vielleicht, oder die Aufnahme in die Légion d’Honneur?
»Ab sofort werden Sie nur noch direkt mit der Zentrale in Kontakt treten. Ich werde die Telefonvermittlung Tag und Nacht besetzen lassen. Das Codewort für ihren Auftrag lautet ›Operation Soufflé‹. Ich habe bereits mit Monsieur Albert Parfait gesprochen. Er wurde instruiert, Ihnen in jeder Hinsicht behilflich zu sein. Falls Sie sonst irgendetwas benötigen, sagen Sie es nur, und Sie sollen es haben. Ansonsten schlage ich vor, dass wir unsere Gespräche auf das Allernotwendigste beschränken.«
»Oui, Monsieur.«
»Ach, und Aristide ...« Die Stimme des Direktors wurde einen Moment lang weicher. »Falls ... nein, nicht falls – wenn unsere Mission zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht worden sein wird, dann dürfen Sie sich eine Flasche des Château d’Yquem bestellen ... vom 45er Jahrgang. Ich werde das gleich mit Madame Grante in der Buchhaltung klären. Ihr P39er-Formular wird nicht wieder so lange brauchen. Au revoir, et bonne chance.«
»Au revoir, Monsieur.«
Monsieur Pamplemousse hängte ein und blieb noch einige Sekunden lang gedankenverloren in der Zelle stehen. Nun war es wohl vorbei mit der ruhigen Urlaubswoche in Les Cinq Parfaits. Gut, dass Doucette nicht mitgekommen war, wie sie ursprünglich geplant hatten. Sie hätte an alledem wohl kaum Spaß gefunden.
Nachdem er das restliche Kleingeld eingesteckt hatte, stieß er die Tür auf und sah sich vorsichtig um. Es kam ihm vor, als wäre er stundenlang in der Telefonzelle gewesen, dabei konnte es sich höchstens um ein paar Minuten gehandelt haben. Im Speisesaal sah noch alles genauso aus wie eben, als er hinausgegangen war: gedämpftes Licht, hin und her huschende Kellner, das stetige Raunen der Tischgespräche. Wenn die Gäste geahnt hätten, was für Stürme sich rings um sie zusammenbrauten ...
Als er die Eingangshalle durchschritt, musterte ihn der commissionnaire fragend und trat dann beiseite. Die automatische Glastür öffnete sich geräuschlos.
Die Luft draußen war kühl. Ihre beißende Frische war ein erster Vorbote des Herbstes. Flutlichter, die hinter einem Mäuerchen verborgen waren, warfen einen ätherischen Schein auf ein Beet mit spätblühenden Rosen. Ein farbig angestrahlter Springbrunnen wechselte gerade von Rot nach Grün. Das Schwimmbecken dahinter war menschenleer. Von Pommes Frites weit und breit keine Spur.
Monsieur Pamplemousse zog eine Ultraschall-Hundepfeife aus einer Innentasche, setzte sie an die Lippen und blies mehrere Male kräftig hinein. Das Ergebnis war höchst zufriedenstellend. Irgendwo hinter dem Hotel brach ein wahres Pandämonium los: ein wildes Gebell und Gejaule und Geheul, das ein seliges Lächeln auf die Lippen jedes Mitgliedes des hiesigen Hundezüchterverbandes gezaubert hätte. In das schrille Kläffen von Papillons und Pekinesen mischten sich Beagles und Spaniels, die ihrerseits gegen die Wolfsspitze anbellten. Er erkannte einen oder zwei Airedales und etwas, das wie ein Labrador klang; was aber durch sein Fehlen geradezu auffiel, war das tiefere, vollkehlige Anschlagen eines Bluthundes, der auf den Ruf seines Herrn antwortet.
Das Ganze bewies mehrere Dinge zugleich: Die Pfeife funktionierte tatsächlich – seit er sie erstanden hatte, war er sich dessen nie ganz sicher gewesen. Außerdem aber bewies es, dass Pommes Frites, im Augenblick jedenfalls, nicht an seinem Posten war. Vielleicht ging sein Groll doch tiefer als befürchtet, oder er hatte sich aus irgendeinem anderen Grund davongemacht, der nur ihm allein bekannt war.
Monsieur Pamplemousse starrte nachdenklich auf die Büsche, als hegte er insgeheim die Hoffnung, sie würden sich jäh teilen, um seinen Freund und Ratgeber in seine Arme zu entlassen. Doch in den Büschen teilte sich rein gar nichts.
Mit schwerem Herzen und einem Gefühl böser Vorahnungen steckte er die Pfeife wieder in die Tasche und kehrte, Watson-los, ins Restaurant zurück.
Schwer auf einen Stock gestützt, erhob sich Albert Parfait von seinem Stuhl, schob eine große Flasche ohne Etikett, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war, über den Schreibtisch und schwankte dann unsicher, als er das Gleichgewicht zu bewahren suchte. Anders als bei der Flasche, die unten wesentlich breiter war als oben, stand es in seinem Falle mit der Gewichtsverteilung viel ungünstiger, und einen Moment lang sah es fast so aus, als würde er rücklings in seinen Stuhl zurückplumpsen.
Monsieur Pamplemousse widerstand dem Impuls, ihm zu Hilfe zu eilen. Da er selbst in der Auvergne geboren und aufgewachsen war, begriff er den Drang zur Eigenständigkeit des anderen, der ebenfalls aus einer Gebirgsgegend stammte.
Seine Zurückhaltung blieb nicht unbelohnt. Monsieur Parfait entspannte sich letztendlich und schwenkte den Stock in einer triumphierenden Geste, die seinen Besucher, die schemenhaften Gestalten hinter der getönten Scheibe zwischen seinem Büro und der Küche und die Flasche auf dem Tisch gleichermaßen einbezog.
»Encore!«
Monsieur Pamplemousse folgte der Aufforderung ohne Zaudern. Für gewöhnlich war er kein großer Freund von eau-de-vie. Hätte er die Wahl gehabt, so wäre ihm ein Armagnac lieber gewesen, aber die Gelegenheit, noch ein Gläschen Poire William zu verkosten, wollte er dennoch nicht einfach auslassen. Nach dem einigermaßen deprimierenden Telefongespräch mit dem Direktor konnte er eine kleine moralische Stärkung ohnehin gut gebrauchen.
Die Flasche gab ein zufriedenes Glucksen von sich, als sich das Glas nochmals füllte; die Birne im Innern blieb höchst verlockend eingeschlossen, unerreichbar. Aus dem Fehlen jeglichen Etiketts schloss er, dass es sich um die Hausmarke von Les Cinq Parfaits handelte. Vermutlich war es Aufgabe des jüngsten Küchengehilfen, die leeren Flaschen im späten Frühjahr über die langsam Fleisch ansetzenden Früchte zu stülpen. Im Herbst dann, wenn die Birnen reif und ausgewachsen waren, wurde jemand anders damit beauftragt, sie samt Flasche vom Baum zu schneiden und den Branntwein dazuzugießen. Und noch etwas später bekamen andere, wie jetzt er selbst, die glückliche Gelegenheit, das Ergebnis all dieser Anstrengungen zu genießen. Es lag eine Logik in der Abfolge dieser Tätigkeiten, die seine mathematische Ader ansprach. Bei aller Mühsal besaß das Leben zweifellos auch seine lohnenden Seiten: Gerade wenn die Lage am schwärzesten aussah, geschah meist etwas Unerwartetes und stellte das Gleichgewicht wieder her. So war er nun fast schon wieder gespannt darauf, was das Schicksal als nächstes für ihn auf Lager hatte.
Bequem in seinem Sessel zurückgelehnt, spürte er nach dem ersten Schluck die Wärme in sich aufsteigen, während er darauf wartete, dass sein Gastgeber erneut das Wort ergriff. Die ausladende Geste von Monsieur Parfaits Gehstock hatte eine Großzügigkeit ausgedrückt, der er sich nur ungern widersetzen mochte, weil er den Hotelchef nicht beleidigen wollte.
Er sah sich im Zimmer um. Hoch oben an der Wand zu seiner Rechten hing eine gerahmte Fotografie in Sepiatönen. Es war das Original zu kleineren Versionen in Postkartenformat, die in der Eingangshalle ausgestellt waren und dort ebenso auf Andenkenkäufer warteten wie die Gläser mit confiture nach Art des Hauses oder die signierten Exemplare der Speisekarte – heutzutage beinahe obligatorische Markenzeichen eines erfolgreichen Restaurants.
Das Photo zeigte eine kleine Gruppe, die vor einem weiß getünchten Steingebäude in Positur stand. Einer aus der Gruppe, der einzige erwachsene Mann im übrigen, trug eine Soldatenuniform, und der Kleidung der anderen nach zu urteilen, musste das Bild während des Ersten Weltkriegs entstanden sein, in jenen Tagen, als »Les Cinq Parfaits« einfach nur »Mère Parfaite« hieß. Über ihren Köpfen ließen sich gerade noch die Worte CAFÉ RESTAURANT entziffern, und auf der rechten Seite, neben einem ziemlich kleinen Fenster, trennte nur ein Perlenvorhang in der Eingangstür den Speisesaal von der Straße.
Das alte »Parfait« war noch etwas ganz anders gewesen, und in dem heutigen Gebäude, das man all die Jahre hindurch immer wieder erweitert, angebaut und verbessert hatte, nicht mehr wiederzuerkennen. Statt Perlenschnüren gab es nun Glastüren, die sich auf die geringste Bewegung hin automatisch öffneten und schlossen. Pommes Frites hatte bei der Ankunft ein Chaos ausgelöst, weil durch seinen Schwanz, der in Vorfreude auf die von seinem anderen Ende hoffnungsvoll erwarteten Genüsse heftig gewedelt hatte, ständig die unsichtbare Lichtschranke der Automatik betätigt worden war. Das Lächeln des Empfangspersonals war daraufhin bald eher frostig denn freundlich gewesen.
Monsieur Parfait las die Gedanken von Monsieur Pamplemousse. Er wies mit dem Stock auf die bräunliche Photographie; im Mittelpunkt stand eine ältere Dame mit verschränkten Armen. Sie besaß enorme Ähnlichkeit mit ihm: der gleiche dunkle, italienisch anmutende Teint, die gleiche Nase. Sie sah aus wie jemand, der sich von niemandem etwas gefallen ließ.
»Das ist grand-mère. Der mit der Uniform ist mein Vater. Zwei Monate später ist er gefallen – ich habe ihn kaum gekannt. Die Frau neben ihm ist meine Mutter. Und das hier«, – er deutete auf eine kleine Gestalt zwischen den beiden, – »das bin ich. Seit damals hat sich eine Menge verändert.« Er machte eine Geste in Richtung der Küche. »Nicht zuletzt da drin. Zu meiner Zeit war da alles voller Rauch und Dampf, Hitze und Lärm. Jetzt sieht es dort eher aus wie in einer Klinik. Überall rostfreier Stahl, blankpolierte Fliesen und Dunstabzüge. Man braucht auch nicht mehr zu brüllen, wenn man will, dass die anderen einen hören.«
Wieder zeigte er auf die Flasche, die auf dem Tisch stand. »Damals war ich wie diese Birne: Ich konnte die Außenwelt sehen, aber niemals dorthin entkommen. Die Umstände hielten mich gefangen.« Er sprach ohne jede Spur von Groll, trotzdem fragte sich Monsieur Pamplemousse, ob das diese Feststellung begleitende Achselzucken Reue ausdrückte.
Erneut wurden seine Gedanken erraten. »Comme ci, comme ça. Alles hat eben seine Vor- und Nachteile. Was da nun besser war? Schwer zu sagen. Zu jener Zeit war ein Küchenchef das Letzte vom Letzten. Natürlich gab es Ausnahmen – Carême, Brillat-Savarin, Escoffier –, aber das waren Genies, die man verehrte wie Angehörige von Königshäusern. Und viele ihrer unbedeutenderen Kollegen verdienten es wohl auch nicht, dass man sie besser behandelte.
Heutzutage sind Köche wie Filmstars. Die Leute bitten uns um Autogramme. Wir müssen ebenso sehr Diplomaten wie Geschäftsleute sein. Wir müssen etwas von Umsätzen und Verdienstspannen und Cash-Flow verstehen. Kochen ist nur eine der Künste, die wir beherrschen müssen.
Ich sage Ihnen, in jedem Chefkoch steckt heutzutage ein kleiner Buchhalter. Unser Umsatz hier zum Beispiel liegt leicht über zehn Millionen Franc pro Jahr ... aber in diesem Jahr habe ich allein für Trüffel schon fast eine Viertelmillion ausgegeben. Fünfzigtausend haben wir für Blumen abgezweigt, zweihunderttausend für die Wäscherei. Stellen Sie sich das mal vor! Wenn meine gute alte Großmutter wüsste, dass ich an einer signierten Speisekarte mehr verdiene als an einem von Jean-Claudes soufflés, würde sie sich im Grabe umdrehen. Und was den Hubschrauberlandeplatz angeht – den hätte sie bestimmt für ein Werk des Teufels gehalten.
Alors! Man muss eben mit der Zeit gehen. Als ich klein war, verbrachte ich jede freie Minute in der Küche. Eine bessere Ausbildung hätte ich mir gar nicht wünschen können. Mit vierzehn hatte ich alles schon einmal gemacht. Und dann bekam ich die Chance, bei Fernand Point in Vienne in die Lehre zu gehen. Er hat mich dazu inspiriert, die Kochkunst zu perfektionieren. Mit weniger war er nicht zufrieden: Nichts war so vollkommen, dass es sich nicht noch verbessern ließ.
Dann heiratete ich. Meine Frau schenkte mir vier Söhne, und wir waren glücklich wie im Paradies. Dann, eines Tages ... peng! ... hatten wir einen Autounfall.« Er beugte sich vor und berührte sein Bein. »Ich hatte noch Glück. Mir ist nichts weiter passiert als das hier. Aber meine Frau war auf der Stelle tot. Nun musste ich die Kinder großziehen. Ich war fest entschlossen, dass sie nicht nur genauso gut werden sollten wie ich, sondern noch besser. Als für sie die Zeit kam, in die Welt hinauszuziehen, sorgte ich dafür, dass auch sie ihre Lehre bei großen Meistern absolvierten.
Wir leben jetzt im Zeitalter des Spezialistentums. Wenn ich ein Haus kaufen will, gehe ich zu einem Anwalt. Wenn ich beim Verfassen eines Kochbuchs sichergehen will, dass ich nicht aus Versehen fremde Urheberrechte verletze, gehe ich zu einem anderen Anwalt. Also habe ich Alain, meinen ersten Sohn, zu Barrier geschickt, wo er die Demut lernte. Es gibt keine wahre Größe ohne eine Spur von Demut. Er ist jetzt unser saucier. Edouard ging zu Bocuse, der, wie ich, ein Schüler von Point ist. Edouard wurde der rôtisseur. Gilbert bekam von Chapel beigebracht, seine Phantasie spielen zu lassen ... er ist heute unser poissonnier ...«
»Und Jean-Claude?«
»Ach! Jean-Claude!« Monsieur Parfait hob den Blick himmelwärts. »Im Leben gibt es immer auch eine Ausnahme. Jean-Claude ging seinen eigenen Weg. Er war anders als seine Brüder. Von seiner Großmutter hatte er den Sturkopf geerbt und von seiner Mutter das Talent. Auf seine Weise ist er ein Genie, obwohl es mir nicht im Traum einfiele, ihm das zu sagen – das wäre gar nicht gut für ihn. Auch seine Brüder sind alle außergewöhnlich begabt, aber es kostete sie viel Mühe und harte Arbeit, die Fähigkeiten zu erlangen, die sie jetzt besitzen. Bei ihm dagegen waren diese Fähigkeiten immer schon da. Er ist ein echtes ›Naturtalent‹ – ein wirklich kreativer Geist. Wir hätten sicher auch ohne ihn unsere drei Sterne im Michelin, unsere Hauben und Kasserollen ... aber mit ihm ... wer weiß? Seine Stärke liegt darin, dass er unseren Gästen immer gerade dann, wenn sie ans Ende ihrer Mahlzeit kommen und meinen, nun könne sie nichts mehr überraschen, etwas serviert, das alles Vorangegangene noch bei weitem übertrifft.
Eines Tages wird er das Geschäft übernehmen – wenn er etwas gesetzter ist; er hat zweifellos alles, was man dazu braucht.
In einem Restaurant wie Les Cinq Parfaits zu essen, sollte in vielerlei Hinsicht einem Konzertbesuch oder dem Lesen eines guten Romans ähneln. Der Anfang sollte die Aufmerksamkeit fesseln und den Wunsch zum Weitermachen wecken. Der Mittelteil muss so etwas wie innere Befriedigung verschaffen. Und danach braucht man einen Abschluss, der nicht nur das Gefühl vermittelt, dass es der Mühe wert war, sondern auch Lust aufs Wiederkommen macht.«
»So wie das Soufflé Surprise?«
»So wie das Soufflé Surprise. Es ist Jean-Claudes bislang größte création. Fragen Sie ihn, wie er es zubereitet, und er wird nur die Achseln zucken. Wenn Sie in ihn dringen und ihn fragen, welche geheimen Zutaten er dafür verwendet, dann wird er vermutlich lachen und das Thema wechseln. Zum Beispiel sagt er: ›Hören Sie, heute muss Mittwoch sein. Woher ich das weiß? Na, ich höre in der Ferne Kinder spielen. Die haben am Mittwochnachmittag immer frei.‹ Ebenso gut hätte man Beethoven fragen können, wie er mit nichts als einem Klavier und einem leeren Blatt Papier vor sich die Neunte Symphonie komponieren konnte.« Albert Parfait tippte sich an den Kopf. »Die ›geheime Zutat‹ existiert nur hier oben.«
Monsieur Pamplemousse fühlte sich an ein anderes berühmtes Restaurant erinnert – an das »Pic« in Valence. Lange Zeit hatte er an der besonderen Geschmacksnote des Kir herumgerätselt, den man dort großzügig aus Krügen ausschenkte. Er war dann einigermaßen erstaunt gewesen, dass der Kunstgriff in nichts anderem bestand als einem Extraschuss Dubonnet. Vielleicht war Jean-Claudes »geheime Zutat« etwas ebenso Einfaches. Er beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.
»Das soufflé ist auch der Grund meines Kommens. Jean-Claudes soufflé – beziehungsweise dessen Fehlen – gibt in gewissen Kreisen Anlass zur Besorgnis.«
Monsieur Parfait musterte ihn lange und grimmig. »Davon habe ich gehört. Die machen sich Sorgen um ihr soufflé – ich dagegen mache mir Sorgen um meinen Sohn.«
Monsieur Pamplemousse erwiderte den Blick schweigend. Albert Parfaits Verhalten strafte seine Worte Lügen. Er gab sich nicht wie ein Mann, der sich Sorgen machte. Seit Beginn ihres Gesprächs hatten sie sich über Gott und die Welt unterhalten. Zu sagen, man hätte das Thema des verschwundenen Jean-Claude behutsam umschifft, wäre eine Untertreibung gewesen. Es schien fast, als bemühte sich der andere, nicht darüber zu reden. Wäre die Idee nicht so abwegig gewesen, hätte man den Verdacht bekommen müssen, Monsieur Parfait wolle Zeit gewinnen. Aber Zeit wofür? Als patron von Les Cinq Parfaits hatte man gewiss genug Grund, Kopfschmerzen zu bekommen. Nach Parfaits eigener Schilderung war der Weg zur Spitze langwierig und mühsam gewesen; doch je höher man kletterte, desto tiefer der Fall, und so etwas konnte über Nacht geschehen. Da gab es durchaus Präzedenzfälle.
Das einzige Zeichen von Besorgnis hatte der Händedruck zu Beginn vermittelt. Er war kräftig, aber unerwartet feucht gewesen. Und die Feuchtigkeit hatte eine innere, keine äußere Ursache gehabt. Wie das übrige Gebäude war auch Albert Parfaits Büro auf eine Raumtemperatur von 20 °C klimatisiert.
»Sie werden mir die Äußerung hoffentlich verzeihen, aber Sie scheinen nicht übermäßig beunruhigt über die Nachricht, dass Ihr Sohn verschwunden ist.«
»Manchmal, Monsieur Pamplemousse, kann der Schein wohl auch trügen. Wie Sie habe ich mein ganzes Leben lang die Kunst vervollkommnet, meine wahren Gefühle zu verbergen.«
Monsieur Pamplemousse nahm den darin versteckten Tadel mit Gleichmut entgegen. »Sie wissen natürlich, weswegen ich hier bin.«
Monsieur Parfait neigte ein wenig den Kopf. »Ich wurde heute Abend davon in Kenntnis gesetzt. Wir haben großes Glück. Wirklich ein Wink des Schicksals.« Er entspannte sich wieder etwas. »Nun, da Sie vor mir sitzen, erkenne ich Sie selbstverständlich wieder. Ich habe Ihr Bild ja oft genug in den Zeitungen gesehen. Allerdings hatte ich geglaubt, Sie seien nicht mehr aktiv tätig ...«
»Man bittet mich von Zeit zu Zeit noch immer um meine Mitwirkung.« Monsieur Pamplemousse erwiderte dies so rasch, dass sein Gegenüber gar keine Zeit hatte, sich über den Grund für die frühe Pensionierung näher auszulassen. Ihn überkam dabei jedes Mal ein peinliches Gefühl. Das Wort Variéte schien in den Menschen immer gleich die schlechtesten Assoziationen zu wecken: Fügte man dann noch die inhaltsträchtigen Begriffe Paris und Tänzerinnen hinzu, waren sie meist nicht mehr zu halten. Das war etwa so, als wollte man dem Prüfer vom Finanzamt erklären, warum man für Recherchen zu einem Handbuch über Kälteforschung nach Südfrankreich habe fahren müssen. Hätte man ihn im Adamskostüm auf einem Himalayagipfel erwischt, so hätte das eine Woche lang in der Bombay Times Schlagzeilen gemacht und wäre danach allenthalben vergessen worden. Aber in der Tänzerinnengarderobe der Folies-Bergère – niemals.
»Zuerst dachten wir ja, Sie kämen von einem dieser Gourmet-Führer. Dass ein Mann allein in Les Cinq Parfaits speist, ist eine Seltenheit. Wenn wir dann sehen, wie er hier ein bisschen kostet ... dort ein wenig probiert ... sich einen Tisch aussucht, von dem aus er alles gut beobachten kann, was rings herum vorgeht ... dann kommen wir schon auf solche Gedanken. Alain war der Meinung, Sie gehörten zu Michelin, aber dann haben wir gesehen, dass Sie Pirelli-Reifen fahren, somit schied diese Möglichkeit aus. Edouard tippte auf Gault-Millau – vor allem, als Sie sich vom omble nachgenommen haben. Mich selbst hat eigentlich vor allem Ihr Hund irritiert. Das passt nicht ins Bild. Niemand von einem der Führer, so dachte ich mir, würde einen Hund mitbringen. Er ist wohl Ihr ... Assistent?«
Monsieur Pamplemousse nickte. »Wir sind praktisch unzertrennlich. Zu einigen meiner denkwürdigsten Entscheidungen hat er ganz wesentlich beigetragen.« Kulinarisch gesehen stimmte das sogar; und er konnte sich nur schwer vorstellen, bei irgendeinem Fall ohne Pommes Frites auskommen zu müssen. Stillvergnügt überlegte er, was Albert Parfait wohl sagen würde, wenn er sich über die wahre Identität dieser beiden Gäste im Klaren gewesen wäre. Es gäbe ihm bestimmt Anlass zu gesteigerter Transpiration.
Es war ihm gar nicht bewusst gewesen, dass er derart im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden hatte. In Zukunft musste er vorsichtiger sein. Vielleicht sollte er bei der nächsten vierteljährlichen Versammlung den Vorschlag unterbreiten, allen Inspektoren eine geeignete Begleiterin zuzuteilen. Man könnte vielleicht sogar eine feste Auswahl an »geeigneten Begleiterinnen« für jede Gelegenheit als eine Art Bereitschaftsdienst einstellen. Madame Grante würde bei dieser Vorstellung bestimmt feuerrot werden.
»Wenn Sie ihn doch hereinbringen müssen – falls es wichtige Spuren zu verfolgen gibt –, so tun Sie dies bitte. Ich vertraue hier auf Ihre Diskretion. Wir möchten natürlich nicht, dass andere Gäste denken, wir würden Sie irgendwie bevorzugen.«
»Seien Sie sicher, Monsieur Parfait, dass weder Pommes Frites noch ich Ihr Vertrauen missbrauchen werden. Was die Spurensuche angeht, so wird sich das noch zeigen, aber wir versuchen jedenfalls, uns nach Möglichkeit zurückzuhalten. Ich vermute, die hiesige Polizei ist noch nicht informiert worden?«
»Nein, Gott sei Dank. Wir möchten nicht, dass die mit ihren schweren Stiefeln durch unser Hotel poltern. Das wäre gar nicht gut fürs Ambiente. Die jetzige Lösung ist viel besser. Mit ein wenig Glück merkt niemand etwas.«
Monsieur Pamplemousse verkniff sich die Bemerkung, dass eine ziemlich große Portion Glück nötig war, damit es nicht bald jeder merkte. Denn es stünde dann garantiert in allen Gazetten.
»Wann haben Sie Ihren Sohn denn zum letzten Mal gesehen?«
»Heute früh um acht Uhr. Als ich vom Markt in Thonon zurückkam. Er sagte mir, er wollte zu einem Lieferanten in die Berge fahren. Es gibt dort ein Kloster, wo sie fruits du vieux garçon für uns herstellen – das ›Obst des eingefleischten Junggesellen‹. Der Name hat Jean-Claude schon immer gut gefallen.«
»Ist er mit dem Auto gefahren? Und von einem Unfall hat man nichts gehört ... vielleicht hat er eine Panne gehabt?«
»Ja, das ist eigenartig – es ist nämlich ein langer Weg, aber sein Wagen steht noch in der Garage. Er muss es sich anders überlegt haben.«
»Dann kann er nicht allzu weit gekommen sein. Außer er ist mit dem Zug woanders hingefahren und hat sich verspätet. Wo ist hier der nächste Bahnhof?«
»In Évian. Aber ich habe dort schon nachgefragt. Es hat ihn niemand gesehen.«
»Hätte er denn einen Grund zum Verschwinden? Gibt es irgendetwas, das ihm Anlass gäbe, von zu Hause fortzugehen, ohne jemandem davon zu erzählen?«
Wieder dieses kurze, fast unmerkliche Zögern. »Was für ein Grund könnte das wohl sein?«
Das beantwortete die Frage nicht, aber Monsieur Pamplemousse beschloss, es anders zu versuchen. »Er wohnt hier auf dem Gelände?«
»Alle meine Söhne wohnen hier. Alain, Édouard und Gilbert sind verheiratet und haben ihre eigenen Häuser auf dem Grundstück. Jean-Claude und ich haben jeder eine Wohnung im Hauptgebäude.«
»Und er hatte keinerlei Sorgen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Allerdings ist er nicht gerade jemand, der über Probleme redet. Das Leben ist für ihn zum Leben da. Er kann nicht genug davon bekommen.«
»Und so etwas wie heute ist noch nie vorgekommen?«
»Er hat seine Arbeit. Und er ist ein Profi. Er würde die anderen nur sehr ungern in Schwierigkeiten bringen.«
»Darf ich mich in seiner Wohnung umsehen?«
»Wenn Sie glauben, dass es von Nutzen ist.«
»Im derzeitigen Stadium kann alles von Nutzen sein.«
»Ich lasse Ihnen den Weg zeigen.« Monsieur Parfait packte seinen Stock mit festem Griff und warf einen Blick auf die Uhr auf dem Schreibtisch. »Wenn Sie bitte entschuldigen, dass ich Sie jetzt sich selbst überlassen muss. Aber mein Beruf erfordert neben allem anderen auch noch das Talent eines Schauspielers. Es gibt da eine Vorstellung, die ich jeden Abend geben muss, und zwar nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach. Die Gäste erwarten von mir, dass ich meine Runde mache.«
»Wie ich höre, rechnen Sie gegen Ende der Woche mit dem Eintreffen eines eher problematischen Publikums«, bemerkte Monsieur Pamplemousse.