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Berlin 1938. Die Reichshauptstadt wandelt sich zur Welthauptstadt Germania. Bei dem gewaltigen Bauvorhaben steht viel Geld auf dem Spiel. Als mehrere Mitarbeiter einer Baufirma ermordet werden, wird der Fall Kriminalkommissar Erich Malek übertragen. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf Betrügereien und Intrigen, die ihn ins Jahr 1934 zum Röhm-Putsch zurückführen. Dabei behindern immer wieder Parteimitglieder und einflussreiche NS-Funktionäre seine Ermittlungen. Kann Malek das Morden dennoch stoppen?
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Seitenzahl: 382
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Renegald Gruwe
Mord in Germania
Kriminalroman
Mordsbau Kriminalkommissar Erich Malek wird der Mordfall an dem Leiter der Bauaufsichtsbehörde von Groß-Berlin übertragen. Kaum mit den Ermittlungen betraut, stirbt ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Reichenberger AG eines gewaltsamen Todes. Kurz darauf wird die nächste Leiche im Schlosspark Charlottenburg entdeckt. „Drei große Tiere in einer Woche“, konstatiert Malek trocken und ahnt, dass es eine Verbindung zwischen den Toten geben muss. Seine Ermittlungen führen ihn immer wieder zur Reichenberger AG. Die Baufirma avancierte unter dem Hitler-Regime zu einem der führenden Unternehmen. Dabei bediente sie sich auch krimineller Mittel, um an die großen Bauvorhaben der nationalsozialistischen Monumentalarchitektur zu kommen. Berlin soll Welthauptstadt Germania werden, dabei sind Milliarden Reichsmark umzusetzen – was sind da schon ein paar Leichen?
Renegald Gruwe, 1956 in Berlin geboren und von Beruf Musiker, arbeitet als Schlagzeuger in diversen Musikgruppen sowie als Techniker und Produzent für mehrere Tonstudios, wo er sich u. a. mit dem Aufnehmen und Produzieren von Werbespots und Hörspielen befasst. Seit einigen Jahren konzentriert sich seine künstlerische Tätigkeit auf das Schreiben von Liedtexten und Kurzgeschichten, die er auf Tonträgern und in Literaturzeitschriften veröffentlicht. Mit »Deckfarbe« gab er sein literarisches Romandebüt, inspiriert nicht zuletzt durch seine Liebe zur gestaltenden Kunst, die er selbst in surrealistischen Federzeichnungen auslebt.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Spreeleichen (2016)
Deckfarbe (2014)
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Herbert Hoffmann
ISBN 978-3-8392-5646-6
Renegald Gruwe Sen.Polizeihauptkommissar1952–1991
Die Vorhänge vor den hohen Fenstern des großzügig geschnittenen Arbeitszimmers waren zugezogen. Nur ein kleiner Spalt ließ das Tageslicht und den Sonnenschein des Junitages erahnen. Und auch das üppige Grün des Gartens der Villa Kaltenberg blieb vor den Blicken der Anwesenden verborgen.
Die Dame des Hauses, Luise von Kaltenberg, hatte mit einer Freundin einen Spaziergang zum Hagenplatz unternommen. Dort, im Café Schneider, tranken die Damen Kaffee und aßen Kuchen, Schwarzwälder Kirschtorte.
Hans von Kaltenberg hatte außer seinen Diener, Joseph, alle anderen Angestellten und seine Frau fortgeschickt. Von dem stattfindenden Treffen im Hause von Kaltenbergs sollten so wenige Menschen wie möglich wissen.
So lag die Villa an der Koenigsallee in Berlin-Grunewald verlassen und die sieben Herren saßen ungestört um einen kleinen Rauchtisch in einer Ecke des großen Zimmers, im matten Schein einer Stehlampe. Es wurde geraucht und Cognac getrunken.
Anwesend waren Hans von Kaltenberg, Zweiter Vorstandsvorsitzender der Reichenberger AG, die Vorstandsmitglieder Wilhelm Americh, Karl Wiener, August Leine, Ulrich Schneller und der Prokurist Karl-Ludwig Herrenstein. Außerdem saß noch der Oberbuchhalter Herbert Leuthner in der Runde. Aus verständlichen Gründen wurde kein Protokoll dieser außerordentlichen Sitzung geführt. Lediglich von Kaltenberg hatte für seine privaten Notizen die Namen der Anwesenden und das Datum der Unterredung notiert. Es war der zweite Juni 1934.
»Meine Herren«, begann von Kaltenberg zu sprechen. Er war nicht nur von seinen Lebensjahren her der Älteste in der Runde. Mit schneeweißem Haar und einer schon sehr gebrechlichen Statur, auf einen Stock gestützt, hustete er immer wieder in ein Taschentuch. Seine Stimme allerdings ließ nichts Greisenhaftes zu: »Meine Herren, wir sind nun an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Die Weichen sind gestellt und der Zug nimmt ordentlich Fahrt auf. Wer jetzt noch abspringen möchte, wird sich zwangsläufig den Hals brechen.«
Diese Warnung war völlig unzweideutig bei den anderen Herren angekommen. Nur leises Räuspern war zu hören.
»Aber«, hob der ältere Herr seinen Zeigefinger der rechten Hand, während er mit der linken seine Zigarre festhielt, »wenn der Zug erst angekommen ist, wird er jedem von uns ein Vermögen eingefahren haben! – Prost!«
Sie erhoben die Gläser und prosteten sich gegenseitig zu.
Joseph stand im gehörigen Abstand im Halbdunkeln bereit, die Getränke nachzufüllen und, wenn nötig, die Zigaretten und Zigarren anzuzünden.
»Und wir müssen unter allen Umständen den besseren Preis machen. Die entsprechenden technischen Details wird Ihnen nachher Herr Wiener erläutern, sofern sie von Bedeutung sind. Das Objekt an der Wilhelmstraße ist nicht nur einfach ein Gebäude und das zukünftige Hauptquartier des Luftfahrtministeriums, es symbolisiert auch die zukünftige Größe Deutschlands. Wer dieses Monument der Stärke und der Macht errichtet, ist ein Teil dieser Macht und dieser Stärke.«
Gesagt hätte es niemand in der Runde, aber die gewählte Ausdrucksweise erinnerte doch sehr an Hermann Göring, den Reichsminister der Luftfahrt und einen Duzfreund von Hans von Kaltenberg.
»Als Architekt ist Ernst Sagebiel vorgesehen. Er gilt in architektonischen Fragen als Konkurrent Albert Speers. Sagebiels Entwürfe stehen im Vergleich zu Speers klassizistischen Tendenzen eher als ein harter und geradliniger Baustil, aber letztendlich führen wir nur aus. Die Zukunft der deutschen Architektur allerdings ist ganz ohne Frage Speer. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda hat angeregt, Albert Speer die Planung für den Reichsparteitag in Nürnberg anzutragen. Dieser Herr hat die größeren Visionen und nicht zuletzt das uneingeschränkte Vertrauen des Führers.« Hans von Kaltenbergs Stimme senkte sich und er lehnte sich geheimnisvoll vor. »Ich habe die ersten Pläne einsehen können, ein Bauvorhaben weltstädtischer Größe. Ich muss Ihnen gestehen, meine Herren, mir stockte der Atem. Der Führer hat die Absicht, Berlin zur Hauptstadt der Welt auszubauen. Dafür wird die Mitte der Stadt komplett umgestaltet. Bauten von solcher Größe hat noch nie ein Mensch gebaut. Dagegen nimmt sich das Kolosseum in Rom wie eine Hundehütte aus. Und dieses Bauvorhaben leitet der Führer persönlich mit Albert Speer an seiner Seite.« Jetzt wurde die Stimme Kaltenbergs wieder laut und Raum einnehmend. »Ich sage Ihnen, meine Herren, dieser Speer wird es noch sehr weit bringen. Nicht zuletzt wird neuer Grund und Boden gebraucht und Menschen, die diesen Boden bebauen und darauf Häuser und Straßen und ganze Städte errichten.«
Jedem im Zimmer war klar, auf was der Zweite Vorstandsvorsitzende der Reichenberger AG hinauswollte. Aus diesem Grund sprach Hans von Kaltenberg offen.
»Und dass es Krieg geben wird, darüber sind wir uns ja wohl einig. Wozu sonst sollte der Führer eine Welthauptstadt Germania planen? Und dann, meine Herren, müssen wir in vorderster Front stehen!«
Allgemeines Nicken und das Aneinanderschlagen von Gläsern signalisierte Zustimmung.
Nur Karl-Ludwig Herrensteins Reaktion war verhaltener. »Und was geschieht mit Herrn Bierhof?«
August Leine äffte Herrenstein nach: »Und was geschieht mit Herrn Bierhof? Na, er wird sich ein paar kalte Füße holen.«
»Herrenstein, stellen Sie sich doch nicht so blöd an«, schüttelte Herbert Leuthner ärgerlich den Kopf, »Sie wissen doch, wo gehobelt wird, da fallen Späne.«
Die anwesenden Herren fielen nun verbal über Herrenstein her, sodass dieser immer tiefer in seinen Sessel sank. Einzig Karl Wiener hielt sich zurück und betrachtete die Szene eher skeptisch. Sich Herrenstein anzuschließen und seine eigentliche Meinung zu sagen, vermied er indes.
Wilhelm Americh formulierte seine Meinung zwar etwas weniger drastisch, aber nichtsdestoweniger energisch, auch wenn er die letzte Konsequenz nicht aussprach: »Herr Bierhof geht mit unseren Zielen nicht konform, und da wir ihn nicht absetzen können, ohne Aufsehen zu erregen, muss er …«
»Reden wir Klartext, meine Herren«, kürzte Hans von Kaltenberg die Aussprache über das Schicksal des Ersten Vorstandsvorsitzenden ab. »Ich habe meine Fühler ausgestreckt und bin auf ein bevorstehendes Ereignis gestoßen, das sich für unsere Belange geradezu anbietet. Ja, es ist, als ob dieses Szenario extra für uns geplant worden wäre.«
Die Mitglieder der Runde richteten sich gespannt in ihren Sesseln auf und lehnten sich vor.
»Bevor ich weiterspreche, möchte ich noch einmal betonen, wie geheim diese Informationen sind. Es darf auf gar keinen Fall auch nur die leiseste Andeutung diesen Raum verlassen. Kein Sterbenswort, haben Sie mich verstanden, meine Herren?« Die letzte Frage war eher rhetorisch gemeint, aber der intensive Blick von Herrn von Kaltenberg blieb auf dem zweifelnden Gesicht Karl-Ludwig Herrensteins haften. Dieses färbte sich leicht rot.
»Ein Parteifreund der ersten Stunde hat mir einen Hinweis gegeben, dass in den nächsten Tagen eine Aktion gegen die Führung der SA laufen soll. Es soll mal Klarschiff gemacht werden.«
Die Herren ließen sich beinahe gleichzeitig zurück in ihre Sessel fallen. Leuthners Mund blieb offen stehen, dass ihm beinahe die Zigarre herausgefallen wäre.
»Ja, wie ich sagte, eine Information von äußerster Brisanz. Der Führer selbst hat …«
Das Rot im Gesicht Karl-Ludwig Herrensteins wechselte in ein blasses Gelb. Gleichzeitig spürte er, dass das flaue Gefühl in seinem Magen, das ihn die ganze Zeit der Unterredung plagte, sich nun in Übelkeit wandelte. Natürlich wusste der Prokurist, dass sie bei ihrem Vorhaben nicht mit der Unterstützung des Ersten Vorstandsvorsitzenden der Reichenberger AG rechnen konnten. Aus welchem Grund sonst hätte man ihn nicht zu diesem Treffen einladen sollen. Dass es auf den Tod des dreiundsechzigjährigen Maximilian Bierhofs hinauslief, damit hatte er vor diesem Treffen nicht gerechnet.
Unter dem ungläubigen Staunen der anderen Herren erläuterte von Kaltenberg weiter, welche Geschehnisse in den nächsten Wochen dazu geeignet waren, ihr Problem zu lösen.
Ein Zimmermann kommt zu Tode. Familienkrach in den Bergen. Nationalsozialisten unter sich.
»Ganz schön tief geht es da runter!« Kriminalkommissar Erich Malek beugte sich vorsichtig über das hölzerne Geländer und spuckte in die zwanzig Meter tiefe Baugrube. »Also, wenn du nicht schon tot bist, wenn du unten ankommst, bei so einem Sturz kannst du dir glatt den Tod holen.«
Am Boden der Grube waren bereits die Böden aus Beton gegossen. Moniereisen stachen in die Höhe, wo demnächst die Pfeiler für das sechsstöckige Gebäude errichtet werden sollten.
Kriminalkommissaranwärter Heinrich Wegener, der neben Malek stand, sah ebenfalls in die Tiefe und nickte ehrfurchtsvoll. »Und Gott sei Dank ist der Mann nicht auf die Eisen gefallen.«
Rein rechnerisch machte dieser Umstand für den Toten keinen Unterschied. Aber die Vorstellung eines aufgespießten Bauarbeiters gefiel Malek genauso wenig.
Erich Malek wusste zu diesem Zeitpunkt, dass der Mann, der gute zwanzig Meter tiefer mit dem Rücken auf dem Fundament lag, tot sein musste. Seine Augen waren im Angesicht des Todes weit aufgerissen.
An der Stelle, wo der Zimmermann hinuntergestürzt war, war die hölzerne Absperrung durchbrochen.
Aus der Entfernung schätzte Malek das Gewicht des Toten und kam zu dem Schluss, dass ein einfacher Druck nicht ausgereicht hätte, die Absperrung zu zerbrechen. Er musste gestoßen worden sein.
»Ludger Bernstengel, siebenunddreißig Jahre, Zimmermann, hat hier auf der Baustelle gearbeitet«, las Wegener von seinen Notizen ab. »Der Polier sagt, der Mann war ein guter Arbeiter, zuverlässig und pünktlich. Soweit der Arzt es sagen kann, trat der Tod so gegen sieben Uhr ein. Gefunden wurde Bernstengel aber erst gegen halb neun.«
Malek suchte, nach seiner ersten Inspektion des Tatorts, den Polier Alfred Bauer auf. Auf dem Weg besah er sich das Schild neben dem Baustelleneingang am Fehrbelliner Platz im Berliner Bezirk Wilmersdorf. Bauherr war die Nordstern-Versicherung, ausführendes Unternehmen die Reichenberger Bauunternehmen AG. Gegründet 1880 von Friedrich Reichenberger.
»Angefangen hat er mit Ausgrabungen für den Kaiser. Dann hingen die roten Fahnen der SPD am Baugerüst und heute wird das Rot von einem Hakenkreuz unterbrochen«, sinnierte Malek über die wechselhafte Geschichte des Unternehmens, symbolisiert durch die Hakenkreuzfahnen, die aus Anlass des bevorstehenden Staatsbesuchs von General Francisco Franco aus Spanien am Gerüst aufgehängt wurden. »Jetzt schaffen sie für die Braunen.«
Aber unterlagen sie nicht alle dem Wechsel der Zeiten? 1938 konnte sich kaum ein Bürger dem nationalsozialistischen Denken und Handeln entziehen.
Und selbst Erich Malek arbeitete für das Regime, da machte er sich nichts vor. Auch wenn er und einige seiner Kollegen keine Mitglieder der NSDAP waren. So auch Heinrich Wegener. Sonst hätte Malek nicht so offen vor dem Kollegen gesprochen.
Malek saß nun dem Polier Alfred Bauer in dessen Büro gegenüber. Bauer hatte ungefragt zwei Flaschen Bier auf den derben Holztisch gestellt. Obwohl es noch sehr früh war, nahm Malek die Einladung an. Beide gönnten sich einen tiefen Schluck.
»Hat Bernstengel getrunken?«
»Nicht mehr und nicht weniger als alle anderen. Nein, nein«, kam Bauer den Überlegungen Maleks zuvor, »dass er da runtergefallen ist, weil er zu viel getrunken hat, kann ich mir nicht vorstellen.«
»Das wird die Untersuchung im Institut klären«, sprach Malek eher zu sich als zu dem Polier. »Und eine Auseinandersetzung unter Kollegen?«
»So etwas kommt vor. Das sind hier keine Betschwestern, Herr Kommissar. Aber einen Streit, der damit endet, dass einer einen anderen da runterstößt, kann ich mir nicht vorstellen. Wenn sie auch keine Betschwestern sind, Mimosen sind das schon.« Bauer machte unterschiedliche Stimmen nach: »Der Fritz hat mir meinen Hammer weggenommen! – Paul kippt immer meine Tasche mit den Nägeln um, das macht der mit Absicht! – Warum darf der, weshalb kann der und wieso muss ich? – Aber deswegen bringen wir uns hier nicht gegenseitig um.«
Der Kriminalist bestätigte lächelnd, wenn auch nur in Gedanken, die Ausführungen des Poliers. Kannte er doch selbst ähnliche Zänkereien von der Dienststelle.
Die Vernehmung von weiteren Arbeitern der Baustelle ergab ein Bild des Toten, das eher von Ablehnung der Kollegen geprägt war. »Bernstengel war immer überkorrekt. Eben ein Parteimitglied.« Diese doch recht klare Aussage machte ein Zimmermann, allerdings nur unter vier Augen. Zu Protokoll hätte er diese Meinung nicht gegeben.
Was Malek indes aus der Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters mit Namen Bernward Schmidt herausgehört hatte, war, dass es auf der Baustelle Unregelmäßigkeiten gegeben haben sollte. Was dies genau für Unregelmäßigkeiten waren, war von Schmidt nicht zu erfahren. Um sich möglichen Ärger mit seiner ehemaligen Firma zu ersparen, stellte sich der Maurer nach seiner Bemerkung plötzlich stumm. Dem Mann wurde wegen fortwährender Unpünktlichkeit gekündigt. Genau an diesem Tag holte Bernward Schmidt seine letzte Lohntüte und seine Papiere bei der Bauleitung ab.
Erich Malek hatte den Mann gegenüber der Baustelle im Lokal Zur Tulpe aufgespürt.
Eher zufällig führte es den Kriminalisten in die Kneipe, und bei einem Weinbrand am Tresen lernte er Bernward Schmidt kennen. Dieser Umstand blieb im Polizeibericht jedoch unerwähnt.
Schmidt hatte dem Unbekannten von seiner heutigen Kündigung erzählt und seinem Ärger Luft gemacht. Als sich der Gast als Polizeibeamter zu erkennen gab und von dem Todesfall in der Baugrube erzählte, war der Mann mehr als überrascht.
»Bernstengel ist tot? Das habe ich nicht gewusst. Gleich als ich auf die Baustelle gekommen bin, hat der Polier mir verkündet, dass ich entlassen bin, und mich zur Bauleitung geschickt. Dort lagen bereits meine Papiere. Die Bauleitung liegt auf der anderen Seite des Fehrbelliners. Dann bin ich gleich in die Tulpe. Auf den Schreck musste ich erst einmal ordentlich frühstücken.«
Warum Schmidt ausgerechnet in diese Kneipe gekommen war, wollte Malek wissen.
»Ich dachte, später kann ich ein paar Kollegen treffen. Von denen wollte ich wissen, wer mich bei Bauer verpfiffen hat.«
Als Malek wieder zurück an den Tatort kam, hatte Wegener gerade den Abtransport der Leiche freigegeben. Malek unterrichtete den Kollegen über sein Gespräch mit Bernward Schmidt.
»Das wäre doch ein Motiv. Der Bernstengel hat den Schmidt wegen seiner Unpünktlichkeit angeschwärzt. Dann die Kündigung und heute Morgen gab es Streit.« Für Heinrich Wegener lag die Tötung wegen der Entlassung auf der Hand.
»Nur war Schmidt zur fraglichen Tatzeit nicht auf der Baustelle«, konstatierte Malek. »Er ist mal wieder zu spät gekommen. Diesmal hat es für den Herrn sein Gutes.«
Wie später festgestellt, wurde das Alibi Bernward Schmidts von mehreren Zeugen bestätigt. Darunter der Blockwart aus seinem Haus, der auf die Sekunde genau die Zeit bestätigte, wann Schmidt seine Wohnung verlassen hatte.
Und dann war er schnurstracks nach seinem Rauswurf in die Tulpe marschiert. Dies bestätigte die Wirtin. Ein anderes Motiv, ebenfalls von Bernward Schmidt angedeutet, waren die Unregelmäßigkeiten auf der Baustelle.
»Gut möglich, dass der eine oder andere Steine für seinen Schrebergarten hat mitgehen lassen. So ein Fenster wie dieses da könnte auch Ding der Begierde gewesen sein.« Malek sah sich die am Rand der Baustelle gelagerten Fenster an. »In einer Laube gäbe diese Größe von Fenster eine prima Terrassentür.« Der Kriminalist kannte die Begehrlichkeiten von Laubenpiepern. Sein Onkel Paul war einer von ihnen. Wenn der Onkel nicht an seiner Laube bastelte, Gemüse erntete oder Skat spielte, organisierte er.
Aber würde man einen Menschen in eine Baugrube stürzen wegen eines gestohlenen Fensters?
Der Polier Alfred Bauer verwahrte sich entschieden gegen den Vorwurf von Diebstählen auf seiner Baustelle. »So etwas kommt bei uns nicht vor. So etwas gibt es nicht. Nicht mal ein Nagel kommt hier weg!«
Malek beließ es bei der Versicherung des Poliers. Wären Diebstahl und dessen Aufdeckung Motiv für den Tod von Ludger Bernstengel, würden dies die weiteren Ermittlungen zeigen.
Jetzt aber musste Erich Malek einer der unangenehmsten Pflichten seines Berufs nachkommen.
Bernstengels Frau brach, nachdem sie begriffen hatte, was der Polizist ihr mitgeteilt hatte, buchstäblich zusammen.
Malek musste sie gemeinsam mit seinem Kriminalkommissaranwärter ins Wohnzimmer führen. Dort legte sie sich auf die Couch.
Nach einer Stunde hatte der herbeigerufene Hausarzt der Familie Hermine Bernstengel mit einem Medikament so weit beruhigt, dass Malek wenigstens einfache Fragen an sie richten konnte.
Wann war Ludger Bernstengel aus dem Haus gegangen? Hatte er von einem Streit unter Kollegen berichtet? Womöglich ging es um Diebstahl. War Hermine Bernstengel sonst noch irgendetwas aufgefallen?
Die Frau beantwortete die Fragen, konnte Malek aber keinen Hinweis geben, der auf einen Täter oder ein Motiv im privaten oder näheren Umfeld auf seiner Arbeitsstelle hinwies.
»Jetzt sind wir in das neue, schöne Haus gezogen und nun ist er tot!«, weinte Hermine Bernstengel. Malek sah sich im Wohnzimmer um. Es stimmte, man roch förmlich noch den frischen Mörtel und die Farbe.
Das Haus der Bernstengels lag in der Fuchsbau-Siedlung im Bezirk Blankenburg. Diese Siedlung war speziell für Mitglieder der NSDAP errichtet worden, die sich um die Partei verdient gemacht hatten.
Vom Fehrbelliner Platz hatten die Beamten mit ihrem Dienstwagen eine gute Dreiviertelstunde bis nach Blankenburg gebraucht. Bernstengel, so rechnete Malek, musste mit der S-Bahn gut eine Stunde unterwegs gewesen sein.
Ja, das war etwas anderes als die Zweizimmerwohnung des Kriminalisten in Neukölln nahe dem Tempelhofer Flughafen. An manchen Tagen knatterten die Junkers stündlich über das Haus des Polizisten und setzten über dem Friedhof der St.-Thomas-Gemeinde zur Landung an.
»Hier fliegt höchstens mal ein Eichhorn zu tief und der Fuchs sagt dem Hasen Gute Nacht«, lächelte Malek und warf noch einen Rundblick über die Siedlung, bevor er zu Kriminalkommissaranwärter Heinrich Wegener, der auf dem Vordersitz Platz genommen hatte, in den Dienstwagen stieg.
»Nee«, schüttelte Malek den Kopf, »nicht begraben möchte ich hier sein!« Er klopfte dem Fahrer auf die Schulter, dass dieser losfahren könne.
Dass Malek beim Verlassen der Siedlung an Rosa denken musste, lag an den Häusern und an Rosa selbst, die neben ihm auf dem Rücksitz saß. Seine ehemalige Gattin blickte mit ihrem unnachahmlichen spöttischen Blick auf die Wohnstätten der Volksgenossen. Sie brauchte kein Wort zu sagen, Malek wusste auch so, was sie dachte.
Er fragte sich, ob Rosa damals bei ihm geblieben wäre, wenn er ihr und den Kindern auch so ein Haus geboten hätte? Anstelle der Zweizimmerwohnung in Neukölln.
»Du weißt, dass es nicht an der Wohnung gelegen hat«, sagte Rosa und schüttelte ihren Kopf. »Und außerdem, du als Beamter, verheiratet mit einer jüdischen Frau, hättest hier nie einziehen dürfen. Selbst dann nicht, wenn du in der Partei gewesen wärst.«
Malek wollte etwas erwidern, lächelte stattdessen in Erinnerung an ihr Eheleben.
Was hatten sie gestritten! Heute konnte Malek darüber schmunzeln. Damals war ihm gar nicht danach. Er hatte sich vorgenommen, für seine Frau zu sorgen und später natürlich für die Kinder. Aber mit dem Gehalt eines frischgebackenen Kriminalkommissars konnte man keine großen Sprünge machen. Und dass Rosa angefangen hatte, als Journalistin zu arbeiten, hatte ihm ganz und gar nicht gepasst.
»Wir leben in modernen Zeiten, mein Lieber, da trägt die Frau zum Einkommen der Familie bei«, hatte sich Rosa lachend von Malek auf der Straße verabschiedet und war, während er zum Dienst ging, in die Redaktion des Berliner Tageblatts gegangen.
Dass Malek auf keinen Fall finanzielle Zuwendungen seitens des Vaters von Rosa akzeptierte, konnte sie verstehen. Nach der Geburt der beiden Kinder allerdings, Albert, im Jahr 1929, und Elisabeth, zwei Jahre später, nahm Rosa heimlich Geld der Eltern an.
Dass Malek nicht der ideale Schwiegersohn für Karl-Friedrich Braun gewesen war, hatte ihm nicht viel ausgemacht. Dass der Schwiegervater seinem Schwiegersohn während einer gemeinsamen Dampferfahrt auf dem Tegernsee so ganz nebenbei mitteilte, dass er seiner Tochter monatlich eintausend Mark zukommen ließ und er, der Schwiegersohn, nicht so empfindlich sein solle, war das Ende der Schwiegervater-Schwiegersohn-Beziehung.
Hatte Malek noch der Reise nach Bayern zugestimmt und auch ebenso zähneknirschend der Übernachtung in der Villa der Schwiegereltern in München, so ließ Malek Karl-Friedrich Braun und dessen Ehefrau an den Landungsbrücken beim Bräustüberl einfach stehen und trank sich den ersten Ärger in eben jener Gastwirtschaft von der Seele.
»Dein Vater kann mich mal kreuzweise!«, hatte er unbeabsichtigt Rosa angeblafft. Diese hatte ein gewisses Verständnis für die Reaktion ihres Mannes gezeigt.
»Er hätte dir nichts von dem Geld sagen dürfen. Das war nicht richtig.«
Malek musste sich zusammennehmen, um nicht vor der malerischen Kulisse des Tegernsees einen Streit vom Zaun zu brechen.
»Dein Vater nimmt es mir übel«, hatte der geschmähte Schwiegersohn versucht einer Auseinandersetzung mit seiner Frau aus dem Weg zu gehen, »dass du mal in dem Gewerbe tätig warst!« Doch hier hatte sich Malek getäuscht und die Schlagfertigkeit seiner Rosa unterschätzt.
»Du hast ganz genau gewusst, was du für eine kriegst. Du hast immer gesagt, dass es dir nichts ausmacht, dass ich anschaffen gegangen bin!«
Jetzt saß Malek tiefer im Schlamassel, als er es gedacht hatte. Rosa hatte es geschafft, von ihrem Fehler, das Geld ihres Vaters anzunehmen, abzulenken und ihm den schwarzen Peter zuzuschieben.
Die sofort angetretene Rückfahrt mit der Eisenbahn wurde von allen vier Familienmitgliedern schweigend bewältigt. Tochter Elisabeth schlief auf Vaters Arm und Sohn Albert in Mutters Schoß.
Erst in Berlin versöhnten sich die Eheleute wieder. Doch der Streit um das Geld wollte nicht versiegen.
Nach der Scheidung im Jahr 1933 folgte Rosa ein Jahr später ihren Eltern mit den Kindern nach Palästina. Dort hatte sie mit ihren Geschwistern den Verlag ihres Vaters neu gegründet und die Schriftsteller, die ebenfalls ins Exil gegangen waren, veröffentlicht.
Die neuen Inhaber des Akzente Verlages in Deutschland weinten ihren fortgegangenen Autoren keine Träne nach und setzten wahrlich neue Akzente bei ihrer Titelauswahl. »Völkisch« und »Blut und Boden« lauteten jetzt die Überschriften der neuen Veröffentlichungen.
1936 siedelte Rosa in die USA über. Dort baute sie eine Edition des Familienverlages auf. Gleichzeitig arbeitete sie als erfolgreiche Journalistin und Schriftstellerin. Auch war sie weiterhin eine leidenschaftliche Kämpferin gegen das Regime der Nationalsozialisten in Deutschland. Alles unter dem Namen Rosa Malek.
Vieles hatte Malek von Rosa persönlich erfahren. Über eine Deckadresse bekam er ab und zu Post von seiner ehemaligen Frau. Auch Bilder von seinen Kindern legte Rosa bei. So konnte Malek wenigstens aus der Ferne miterleben, wie sie aufwuchsen.
Dass sein oberster Chef, Kriminaloberrat Schlegel, ihn einmal auf seine geschiedene Frau angesprochen und sich fast beiläufig nach ihr erkundigt hatte, ließ Malek noch vorsichtiger werden, als er ohnehin schon entsprechenden Stellen gegenüber war. Er machte seine Arbeit und versuchte, so wenig wie möglich aufzufallen.
Natürlich hätte er Schlegel am liebsten eins in die Zähne gegeben nach dessen provozierender Bemerkung: »Das jüdische Weib reißt ja seine Klappe da drüben in Amerika ziemlich weit auf gegen Deutschland. Gut, dass Sie sich wenigstens von ihr getrennt haben, wenn Sie schon nicht in der Partei sind.«
Hauptkommissar Otto Jansen hatte seinen jüngeren Kollegen beruhigt. »Lass mal, mein Junge, die Rosa ist schon in Ordnung. Aber ich muss gestehen, die erste Begegnung mit ihr war nicht die feinste.« Jansen spielte auf das Jahr 1928 an und auf Maleks ersten eigenen Fall. Ein Serientäter, im Berliner Jargon der »Nuttenrächer« genannt, hatte fünf Zuhälter ermordet. Im Rahmen dieser Ermittlungen tauchte auch eine junge Prostituierte auf, die ihrem Zuhälter von München nach Berlin gefolgt war. Eben dieser war das erste Opfer des damals sehr berühmten Stummfilmschauspielers Bruno Hofer geworden.
Der damalige Kriminalkommissaranwärter Erich Malek hatte sich Hals über Kopf in die junge Dame verliebt.
Malek wandte sich an Rosa, doch der Platz neben ihm im Fond war wieder leer. Um seine Gedanken doch noch loszuwerden sprach er Heinrich Wegener an: »Ich muss gerade an meinen ersten eigenen Fall denken. Damals war ich noch Kriminalkommissaranwärter, genau wie Sie. Der Alte hat mich einfach ins kalte Wasser geworfen. Sozusagen. Die Mordserie Hofer. Und da habe ich auch meine erste Frau kennengelernt.«
Dass Rosa zu dieser Zeit eine Prostituierte war, erwähnte Malek nicht.
»Meinen Sie den bekannten Schauspieler Bruno Hofer?«, fragte Wegener interessiert nach. »Ich habe einige Filme von ihm gesehen. Und meine Mutter hat für ihn geschwärmt. Als junge Frau. Hat er sich nicht umgebracht?«
»Da streiten sich die Geister. Seine Leiche ist nie gefunden worden. Seine Komplizin und Geliebte hat vier Jahre Zuchthaus bekommen. Sie lebt heute in der Schweiz am Genfer See in einer großen Villa und ist eine vermögende Frau. Wenn Sie mich fragen, heißt einer ihrer Angestellten Bruno.«
»Bernstengel hat sich das Genick gebrochen. Und noch einiges mehr, das führte aber nicht zum Tod. Das Genick hat ihm das Genick gebrochen, sozusagen«, sagte der Mediziner und wartete auf eine Reaktion der Kriminalisten. Doch Wegeners Gesichtsfarbe zeigte an, dass er im Augenblick nicht zu Späßen aufgelegt war. Er hatte sich noch immer nicht an die Leichenschauen gewöhnt. Auch Malek blieb nachdenklich.
So wurde Dr. Berger auch wieder ernst. »Aber deutlich ist, dass ihn jemand gestoßen haben muss, und zwar ziemlich kräftig. So hat sein Körper das Holz der Absperrung durchbrochen. Hier, sehen Sie!«, lenkte der Arzt die Aufmerksamkeit der Beamten auf einige kleine Einstiche im Rücken des Toten. »Das sind Wundmale von Holzsplittern. Die sind durch das Hemd in die Haut eingedrungen. So einen Stoß führt man nur dann aus, wenn man die Absicht hat zu töten. Und«, schüttelte der Arzt nachdenklich den Kopf, »es muss großer Hass oder enorme Wut im Spiel gewesen sein. Allerdings«, schränkte Dr. Berger ein, »könnte die Absperrung an dieser Stelle auch nicht richtig festgemacht gewesen sein.«
»Also ist der Mann von vorne gestoßen worden. Er kannte demnach seinen Mörder. Hatte er getrunken?«
»Für einen Bauarbeiter eine zu erwartende Promille. Bei einem normalen Menschen würde ich sagen, um die Uhrzeit, morgens um sieben Uhr: Dieser Mensch hatte ein Alkoholproblem. Aber«, wusste der Doktor, worauf der Kriminalist hinauswollte, »ja, die Reaktion auf einen möglichen Angriff war auf jeden Fall eingeschränkt.«
In Berlin sind Liebespärchen nicht sicher. Kunst ist es, sich nicht den Mund zu verbrennen. Malek fühlt sich geschmeichelt.
»Da macht einer die Götzes nach!«, schlug Otto Jansen ärgerlich mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch und wirbelte die dort liegende Asche seiner vielen gerauchten Zigarren auf. »Hier, letzten Monat, Überfall auf ein Liebespärchen in Grünau, und hier«, empörte sich der Hauptkommissar, »gleich zwei Paare Opfer von Raubüberfällen am Müggelsee. Am Freitag und am Samstag letzter Woche. Und jetzt im Grunewald abseits der Onkel-Tom-Straße. Ganz genau an den Orten, an denen auch die Götzes ihr Unwesen getrieben haben.«
Die Raubüberfälle der vergangenen Wochen waren ganz im Stile der Brüder verübt worden: Anfänglich beraubten Walter und Max Götze im Großraum Berlin Liebespaare in ihren Autos. Später verlegten sich die Geschwister auf Überfälle auf Kraftfahrzeuge, die sie mit umgelegten Bäumen oder gespannten Drahtseilen auf der Straße stoppten, um die Insassen zu berauben. Weiter überfielen sie Tankstellen und S-Bahn-Schalter. Letztlich gingen zwei Morde auf das Konto von Walter Götze.
Der Tipp einer Kneipenwirtin führte im Januar 1938 zur Verhaftung der Verbrecher.
»Und jetzt verübt ein Mann Überfälle im selben Stil wie die Götzes.«
Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. »Ja, haben die Leute nichts gelernt aus der Vergangenheit? Man soll sich nicht an dunklen Ecken aufhalten. Und auch nicht im Automobil auf dunklen Parkplätzen.«
Die Mitarbeiter von Otto Jansen mussten immer sehr genau hinhören, wenn ihr Chef sprach. Weil er meistens, so wie jetzt, eine Zigarre oder einen Zigarrenstummel im Mund hatte, und daher nuschelte.
Fritz Teichmann scherzte: »Die Bautätigkeit der Organisation Todt dauert zu lange, bis alle ihre Wohnung haben. So müssen sie weiter im Grünen poussieren.«
Normalerweise hatte der Hauptkommissar Verständnis für die manchmal recht derben Späße seiner Mitarbeiter. Bei so viel Mord und Elend den ganzen Tag musste man sich schon einmal Luft machen. Doch wenn einer seiner Mitarbeiter drohte, sich den Mund zu verbrennen, hörte der Spaß bei Jansen auf.
»Teichmann, seien Sie ein wenig vorsichtiger mit Ihren Anspielungen. Jemand könnte das in den falschen Hals bekommen. Wir sind hier unter uns, aber ob wir wirklich alleine sind, wer weiß?« Otto Jansen ging davon aus, dass die Büros der Inspektion A überwacht wurden. Der Grund für die Ermahnung Jansens war der Scherz, den Teichmann über die Organisation Todt gemacht hatte. Diese Organisation war erst kürzlich gegründet worden und keineswegs für den Wohnungsbau verantwortlich, wie der junge Kriminalist gespottet hatte. Die Organisation Todt war nach ihrem Führer Fritz Todt benannt und diente dazu, gegenüber der französischen Maginotlinie eine deutsche Festungslinie, den Westwall, zu errichten. Natürlich war diese Information über den Tätigkeitsbereich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Was die Bauvorhaben bedeuteten, konnte sich jedermann selbst ausrechnen.
Jansen kam zurück auf den neuen Fall, der ganz frisch vom Raubdezernat an die Inspektion A überstellt worden war.
»Jetzt ist es ein Mordfall. Der Kerl hat dem Mann eiskalt in den Kopf geschossen. Die Frau im Auto hat einen Nervenzusammenbruch erlitten.«
Dass bei dem letzten Überfall im Grunewald ein Mensch zu Tode gekommen war, änderte die Sachlage. Nun war es Raubmord und fiel damit in den Zuständigkeitsbereich der Inspektion A. Also in die Verantwortung von Hauptkommissar Otto Jansen. Dieser hatte seine Mitarbeiter zu einer Besprechung des neuen Falles in sein Büro gebeten.
Nun saßen die Kriminalkommissare Erich Malek, Wilhelm Roder, Klaus Winter, Fritz Teichmann, der Kriminalkommissaranwärter Heinrich Wegener sowie die Kriminalassistenten Ulrich Linke und Hans Koffermann auf zwei Stühlen, dem Fensterbrett und auf der Tischkante des Schreibtisches ihres Chefs. Die Luft war durch den Zigarren- und Zigarettenqualm zum Schneiden.
»Ganz offensichtlich tritt er in die Fußstapfen der Gebrüder Götze«, stimmte Malek seinem Chef zu. »Das ist richtig, nur«, stockte der Kriminalist und betrachtete ausgiebig die Polizeifotos und die Zeichnung des Tatverdächtigen. Diese waren nach Zeugenangaben angefertigt und mit Reißzwecken an eine Tafel geheftet.
»Nur? – Was, nur? Malek, spucken Sie es schon aus«, sagte Jansen ungeduldig. Er brauchte jede erdenkliche Unterstützung, und sei die Theorie auch noch so unwahrscheinlich.
»Nur, warum kopiert einer eine Methode so haarklein, wenn es ihm nur um das Geld geht? Es sieht schon fast danach aus, als wolle der Täter einen Zusammenhang zwischen seinen Taten und denen der Gebrüder Götze herstellen.«
Die anderen Kriminalisten im Raum sahen sich fragend an.
Malek erläuterte weiter: »Ich sehe hier Details, die mir aus den Ermittlungsakten des Falles der Götze-Brüder bekannt vorkommen. Hier, zum Beispiel, die Täter trugen immer dieselben Wollmützen. Unser Mann hat eine sehr ähnliche. Dann wurde das erbeutete Geld in einer Aktentasche verstaut. Fast schon ein Spleen der Götzes. Und was sagt dieser Zeuge aus?« Malek suchte auf einem Tisch neben der Tafel und fand ein Schriftstück. »›Der Räuber hat uns das Geld abgenommen und es in eine braue Ledertasche gesteckt.‹ Und dann noch die Stiefel. Wie bei den Götzes wurde auch bei unserem Täter eindeutig Schuhwerk erkannt, wie es bei Mitarbeitern der Reichsbahn gebräuchlich ist. Nur eines ist seltsam«, machte Malek wieder eine Pause.
»Was ist seltsam?«, beugte sich Jansen vor, als könne er seinen Kollegen so dazu bewegen, fortzufahren.
»Unser Täter spricht nicht. Er hält seinen Opfern einen Zettel und die Pistole vor die Nase. Das unterscheidet ihn von der Arbeitsweise der Gebrüder Götze.«
Jetzt ließ sich der Hauptkommissar in seinen knarrenden Stuhl zurückfallen. »Ich sollte mir mein Lehrgeld zurückgeben lassen, Malek. – Warum bin ich nicht darüber gestolpert?«
Nun wurden auch die anderen Kollegen aufmerksamer. Fritz Teichmann ergänzte die Ausführungen Maleks: »Das heißt, der Mann könnte sich durch seine Stimme verraten. Vielleicht spricht er einen Dialekt. Oder er stottert.«
»Sehr gut, Teichmann! Jetzt durchsuch doch mal unser Familienalbum nach Mitgliedern mit auffälligen Sprachstörungen. Und nach Dialekten oder Ausländern. Linke, Sie können ihm helfen.« Aus einer zuvor abgegebenen Rauchwolke wieder auftauchend fixierte Jansen Malek. »Malek, ich sehe es Ihnen doch an der Nasenspitze an, dass Sie noch etwas auf der Pfanne haben.«
»Dass der Mann geschossen hat, finde ich ungewöhnlich.«
»Er hat die Opfer mit einer Waffe bedroht. Da ist es folgerichtig, dass er schießt.«
»Ja, aber es sieht für mich so aus, als wäre das ein Versehen gewesen.«
»Ein ziemlich endgültiges Versehen.« Wilhelm Roder zeigte wenig Verständnis für die Ausdrucksweise seines Kollegen.
»In den Zeugenaussagen steht zu lesen, dass der Mann stets das Weite gesucht hatte, wenn es seitens der Opfer Widerstand gegeben hat. Bei …«, der Kriminalist musste in den Akten nachlesen, »bei vier Versuchen hat er die Flucht angetreten, weil jeweils ein Überfallopfer laut gerufen hat.«
Otto Jansen begann zu verstehen, worauf sein Mitarbeiter hinauswollte, und erklärte Roder die Überlegung des Kollegen. »Malek will sagen, dass der Täter kein Professioneller ist. Beim kleinsten Widerstand nimmt er Reißaus.«
Jetzt begriff auch Roder. »Sie meinen, die ganzen Überfälle mit der Handschrift der Götzes sollen uns etwas sagen.«
Malek nickte.
»Und dann ist etwas schiefgegangen. Der Mord war auf keinen Fall beabsichtigt.«
»Es war sozusagen ein Betriebsunfall.«
»Aber jetzt mal Butter bei die Fische, wie der Hamburger sagt«, forderte Jansen seinen Mitarbeiter auf. »Worauf wollen Sie hinaus, Malek?«
»Da will jemand die Götzes entlasten.«
Nach einigen Augenblicken Schweigen nahm Otto Jansen seinen Zigarrenstummel aus dem Mund und sagte für alle gut hörbar: »Donnerwetter, Malek! Wo nehmen Sie das her?«
Jansens Augen signalisierten Lob. Auch die anderen Kollegen nickten anerkennend. Malek fühlte sich geschmeichelt.
Allerdings war Hauptkommissar Otto Jansen im Besitz einer Information, die Maleks Theorie nicht mehr ganz so glänzend aussehen ließ. »Nur leider weiß unser Täter nicht, dass die Brüder bereits gestanden haben. Schon vor drei Wochen. Es stand nicht in der Presse. So etwas nennt man Künstlerpech.«
»Wenn man also von Kommissar Maleks Überlegungen ausgeht, waren die Überfälle nur angelegt, um die Gebrüder Götze zu entlasten?« Friz Teichmann schüttelte den Kopf ob solch sonderbaren Unterfangens.
Hauptkommissar Jansen war froh, dass durch Maleks Gedanken ein wenig Fahrt in die Sache kam. Er schickte Kriminalassistent Ulrich Linke los, sich um die Bekannten mit offensichtlicher Sprachstörung oder auffälligem Akzent oder Dialekt aus der Verbrecherkartei zu kümmern.
»Malek! Sie und Teichmann bleiben bei Ihrem Bauarbeiter. Roder und Winter machen den Götze-Fall. Wegener, Sie bleiben bei Vatern und katzbuckeln ordentlich. Mein Ego braucht jetzt Bestätigung. Koffermann, Sie helfen, wo Not am Mann ist. So, Tschüskin Männer und heil Petri!«
Die Kollegen taten es ihrem Chef gleich und hoben grinsend den rechten Arm.
Nationalsozialisten, so weit man blickt. Ein Käfer, ein Stein und Malek macht einen Fehler.
Hauptkommissar Otto Jansen hatte Malek im Fall Ludger Bernstengel die Kollegen Teichmann und Linke an die Seite gestellt, nachdem dieser sprachliche Auffälligkeiten in der entsprechenden Verbrecherkartei recherchiert hatte. Die weitere Bearbeitung der Götze-Nachahmer übernahmen Roder und Winter.
Die ersten Routineermittlungen richteten sich auf das persönliche Umfeld des Mordopfers aus.
Ulrich Linke befragte einige frühere Kollegen, die in Berlin wohnten. Fritz Teichmann fuhr mit Malek in einem Dienstwagen zum Haus von Bernstengel nach Blankenburg hinaus.
Hermine Bernstengel hatte sich von ihrem ersten Schock erholt. Bereitwillig gab sie Auskunft.
Die Freunde und Bekannte von Ludger Bernstengel kamen Malek durchweg ausgesucht vor. »Alles stramme Nationalsozialisten.« So, als wurde nach Parteibuch Freundschaft geschlossen. Alle führten einen tadellosen Lebenswandel. Keiner trank übermäßig oder fiel durch andere Laster auf. Vorwiegend wohnte man in der Fuchsbau-Siedlung in Blankenburg und blieb unter sich.
Bei den Befragungen im Freundeskreis der Familie Bernstengel ertappte sich Malek dabei, wie er immer wieder gähnen musste. Teichmann zeigte ähnliche Regungen.
»Kinder, die sind ja alle so was von steril.« Der Kriminalkommissar schüttelte seinen Kopf. »Wenn du da eine Zitronenpresse nimmst und alle reinschmeißt, kommt der pure Nationalsozialismus raus. Eine langweilige Soße.«
Malek musste über die treffende Bemerkung seines Kollegen lachen. Obwohl es ganz und gar nicht zum Lachen war.
Die Kommissare hatten den Verdacht, dass es doch etwas gab, was in dieser Siedlung schiefgelaufen war, und dass es hinter der glatten Fassade mächtig bröckelte. Eifersucht als Motiv machte auch nicht vor Volksgenossen halt.
Doch ganz wie die Ideologie der Nationalsozialisten es vorgab, fügten sich diese Volksgenossen. Der Einzelne zählte nichts, sein Wert leitete sich von der Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft ab. Wer sich außerhalb dieser Gemeinschaft stellte, verwirkte seine Rechte.
Und diese Rechte wurden systematisch eingeschränkt, ja nicht einmal mehr anerkannt. Heinrich Himmler, Reichsführer SS, erklärte, dass der einzelne Mensch nur als Zelle für den Aufbau der völkischen Gemeinschaft diente. Diese Gemeinschaft umfasste Ehre, Volksgesundheit und Volkstum. Dort gab es keinen Platz für das Individuum und dessen Rechte. So kannte der Staat auch keine vorstaatliche und außerstaatliche Freiheit des Einzelnen. Eine Privatsphäre gab es im Nationalsozialismus nicht.
Da in Blankenburg nichts zu erfahren war, machte Malek noch einmal einen Besuch auf der Baustelle am Fehrbelliner Platz, auf der Ludger Bernstengel zu Tode gekommen war.
Er wollte dessen Kollegen etwas genauer unter die Lupe nehmen. Neben persönlichen Motiven konnte genauso gut etwas an den Andeutungen Bernward Schmidts sein.
Während Malek sich vom Polier die Liste mit den auf der Baustelle beschäftigten Mitarbeitern bringen ließ, beobachtete er aus dem Fenster der Bauleitung das Treiben auf der Baustelle. Im Speziellen einen jungen Mann, der Moniereisen bog und ab und zu zum Büro des Poliers herübersah.
»Irgendetwas stimmt mit dem Burschen nicht«, sprach Malek zu sich selbst. Die langjährige Erfahrung des Kriminalisten veranlasste ihn, sich diesen Bauarbeiter als Ersten vorzunehmen. Alfred Bauer führte den Auftrag aus, nachdem er die Namensliste vor Malek auf den Tisch gelegt hatte, indem er das Fenster öffnete und wie ein Berserker den Namen des Arbeiters quer über die Baustelle brüllte.
Heinrich Möller war Mitte dreißig.
Als Möller Malek im Umkleidewagen der Bauarbeiter gegenübersaß, wusste der Kriminalbeamte, dass dieser junge Mann aus einem anderen Elternhaus kam als dem, aus dem er vorgab zu stammen. Nach seinen Angaben war der Vater ebenfalls Arbeiter und die Mutter ging bei feinen Leuten in den Dienst. Malek kannte sich im Arbeitermilieu aus und selbst bei den Gebildetsten wäre dieser Mann ein Fremdkörper unter ihnen gewesen.
Hier saß ein belehrter, gut erzogener Mensch, hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und blickte selbstbewusst dem Kommissar ins Gesicht. Auch wenn er einen gewissen Augenaufschlag nicht verbergen konnte.
»Sie kannten Ludger Bernstengel, waren Sie befreundet?«
Möller überlegte. »Nein, wir waren Arbeitskollegen.«
»Sie mussten nachdenken, ob Herr Bernstengel Ihr Freund war?«
»Wir waren es früher einmal.«
»Was hat Sie entzweit?«
»Eine Frauengeschichte.«
»War diese Frau die heutige Frau Bernstengel?«
Wieder zögerte der junge Mann für Maleks Gefühl ein wenig zu lange.
»Nein, das war vor ein paar Jahren. Wir haben auf einer anderen Baustelle gearbeitet. Dort gab es eine Sekretärin bei der Bauleitung. Hedwig Reiter. Unglücklicherweise waren wir beide in das Fräulein verliebt.«
Möller lächelte den Kriminalisten verschmitzt an. »Nein, der Unglückliche war Bernstengel. Fräulein Reiter heißt heute Möller und wartet heute Abend hoffentlich zu Hause mit Kohlrouladen auf mich. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Heinrich Möller fasste in die Innentasche seiner Maurerjacke und legte dem Polizisten eine Fotografie vor.
»Ich nehme an, das ist Frau Möller. Sehr hübsch.«
»Ja und einen anderen Grund, Bernstengel in die Baugrube zu stoßen, kann ich Ihnen nicht bieten. Zum Glück.«
Da die Papiere Möllers ohne Beanstandung waren, entließ Malek den jungen Mann zurück an seine Arbeit.
»Und guten Appetit, heute Abend bei den Kohlrouladen.«
Heinrich Möller lächelte und verließ das Büro.
Zwei Tage später trat Kriminalassistent Ulrich Linke vor Malek.
»Es ist nichts zu finden. Dieser Heinrich Möller hat keine Vergangenheit. Jedenfalls keine amtliche. Kein Melderegister hat eine Wohnung auf seinen Namen eingetragen. Bei der Krankenkasse ist der Mann auch erst seit der Baustelle am Fehrbelliner Platz gemeldet und …« Linke machte ein fragendes, hilfloses Gesicht. »In der Passabteilung ist ein Heinrich Möller mit dem genannten Geburtsort und Geburtstag gänzlich unbekannt.«
»Falsche Papiere!«, murmelte Malek ohne aufzusehen in seinen nicht vorhandenen Bart.
»Was soll ich jetzt mit diesem Möller machen?«
»Gar nichts, ich kümmere mich darum. Schönen Dank, Linke, machen Sie mal mit dem falschen Götze weiter.«
Der Kriminalassistent verließ das Büro des Kommissars.
Jetzt wusste Malek, weshalb er das Gefühl hatte, Möller passe nicht zu seinem dargestellten Leben. Es war gar nicht sein Leben. Ihn gab es nicht.
Und auch das Fräulein Reiter existierte nicht sowie Frau Möller und ihre Kohlrouladen.
Einzig die junge hübsche Frau auf der Fotografie war echt. Aber wahrscheinlich ein Mannequin aus einer Modezeitschrift.
Dass Malek nicht stutzig geworden war, als Möller wie aufs Stichwort dieses Abbild aus seiner Jacke gezaubert hatte, schrieb er den Mechanismen des Dritten Reiches zu. Das Fräulein war so blond, dass es schon fast in den Augen wehtat. Soll heißen, wer so eine blonde Freundin hatte, konnte gar nicht anders, als ein linientreuer Nationalsozialist zu sein. Malek hatte sich täuschen lassen.
Als Malek nach Möller fragte, erfuhr er vom Polier, wie vermutet, dass dieser nicht mehr zur Arbeit erschienen war.
»Gleich am nächsten Tag, nachdem Sie sich nach ihm erkundigt hatten, ist er nicht wiederaufgetaucht. Seine Papiere liegen noch im Büro und den restlichen Lohn hat er auch nicht abgeholt.«
Erich Malek hatte beinahe ein schlechtes Gewissen. Er hatte einen Menschen mit falscher Identität auffliegen lassen. Wenn auch nicht beabsichtigt, war dieser Mensch durch ihn gezwungen worden, unterzutauchen. Was immer der Grund für die falsche Identität war, einen kriminellen Hintergrund konnte Malek ausschließen. Jedenfalls nach seiner Interpretation. Ein Verbrecher würde wohl kaum bei Wind und Wetter auf einer Baustelle schuften. Es mussten politische Gründe für die falsche Identität vorliegen. Dieser Umstand war symptomatisch für diese Zeit. Alles, was man dachte und tat, geschah im Kontext des Nationalsozialismus. Jede Phase des Lebens war durch und durch angefüllt mit dem Gedanken, nicht aufzufallen oder besondere Aufmerksamkeit zu erregen.
Und ein Polizeibeamter geriet dadurch in die Zwickmühle, dass er seinen Beruf ausübte und dabei seine Fähigkeiten und Erfahrungen einsetzte, um verdächtige Personen aufzuspüren und dingfest zu machen.
»Nur eben Kriminelle und keine …«, unterbrach sich Malek selbst.
Am Abend saß er mit Paula, seiner Freundin, in seinem Wohnzimmer. Sie tranken Wein. Obwohl Malek nicht die Absicht hatte, einen Menschen mit einem Insekt zu vergleichen, schien ihm die folgende Parallele passend: »Wie ein Käfer, der vor einem Vogel unter einen Stein flieht. Und ich habe den Stein angehoben.«
Paula sagte nichts. Das war kein gutes Zeichen, und Malek nahm ihr Schweigen als Bestätigung seines Fehlers.
Er beobachtete seine Freundin, wie sie Wein nachschenkte. Mit ihr konnte er offen über solche Dinge sprechen.
Paula war ganz klar gegen den Nationalismus. Mehr noch, sie hasste ihn. Ob sie fähig war, Widerstand zu leisten, konnte Malek nicht sagen. Eine entsprechende Frage, schon vor geraumer Zeit gestellt, hatte sie unwillig zurückgewiesen.
Maleks Bruder Heinz schlug genau in die andere Richtung aus. Aber hier beschränkte sich der Kontakt auf Zufallsbegegnungen.
Die Mutter war nicht unbedingt eine Gegnerin der Nationalsozialisten. Sie sah das geregelte Leben und dass es den Deutschen wieder gut ging. Auch gerade in der Wirtschaft und speziell in ihrer Pension konnte es nicht besser laufen. Die Zimmer waren auf Monate ausgebucht.
Über dem Büfett, auf dem das Geschirr für das Frühstück stand, hing das Bild von Andreas Schlüter, dem bekannten Bildhauer und Baumeister. Schlüter hatte vor allem Berlin mit seiner Architektur geprägt.
Dass nicht der Führer, wie sonst üblich, an dieser exponierten Stelle thronte, sondern Schlüter, lag an der Namensgebung der Pension. Dies war ihre Erklärung auf die Frage eines Parteifunktionärs gewesen, der zu einem Empfang beim Führer in der Reichskanzlei aus dem Rheinland angereist war und in der Pension Schlüter logiert hatte.
Wirklich übel hatte Elisabeth Malek dem Führer genommen, dass Rosa seinetwegen aus Deutschland fortzog. Die Schwiegertochter hatte Maleks Mutter geliebt. Und ebenso hatte sie Hitler nicht verziehen, dass sie durch diesen Umstand ihre Enkelkinder nicht um sich hatte. Zumindest die Kinder von Erich Malek, Elisabeth und Albert. Peter und die kleine Liselotte, die Kinder von Heinz, ihrem jüngsten Sohn Heinz, sah sie wenigstens ab und zu.
Alles in allem lebte Erich Malek, wie viele andere Millionen Deutsche, in seinem eigenen, kleinen Universum.
Oder sollte er besser sagen, unter seinem eigenen Stein?
Paula beendete Maleks Grübelei mit einem Kuss auf seinen Mund.
»Los, zeig mal, was du draufhast, Bulle! Ich habe da ein Geheimnis. Mal sehen, ob du es herausfindest. – Nein, nicht da, Dummkopf, weiter unten!«
Mord in der Friedrich-Wilhelm-Straße. Ein Jackett in Größe sechzig, und ein Herr ist schlecht präpariert.
Kriminalkommissar Fritz Teichmann begrüßte die Kollegen Malek und Winter vor einem Haus in Berlin-Tempelhof.
Winter hatte Malek mit dem Dienstwagen vor seiner Wohnung in der Jonasstraße in Berlin-Neukölln abgeholt.
Der Kriminalist hatte eigentlich frei und wollte sich von seinem bis spät in die Nacht dauernden Besuch bei seiner Bekannten Paula Mährlander erholen. Doch die Krankmeldung von zwei Kollegen hatte Otto Jansen bewogen, Malek zu »bitten«, Überstunden zu machen. Nun hatte Winter ihn aus dem Schlaf auf seiner Wohnzimmercouch gerissen.
»Wer kann dem Alten schon eine Bitte abschlagen.« Malek hatte den Morgenmantel aus- und seinen Anzug angezogen.
Gemeinsam fuhren sie in die Friedrich-Wilhelm-Straße.
Frau Reiner saß in der Küche am Tisch und trocknete ihre Augen mit dem Zipfel eines Geschirrhandtuchs. Malek nickte ihr freundlich zu, bevor er und Klaus Winter in das Wohnzimmer gingen. Der Kommissar nahm den Geruch von Gebratenem wahr. In der Küche stand eine Bratpfanne mit zwei Spiegeleiern auf dem Herd.
»Wer sind Sie denn?«, sprach Malek einen etwa fünfzig Jahre alten Mann an, der am anderen Ende des Flurs in der Tür zum Badezimmer stand und mit größtem Interesse das Treiben der Polizisten beobachtete.
»Walter Klopke mein Name«, trat der Fremde einen Schritt vor und blieb dann unschlüssig stehen. Zwischen ihm und dem Polizisten lag eine Leiche.
»Was wollen Sie?«, wurde Malek ungehalten und sah sich schon nach einem Beamten um, den er für die Schlamperei, einem Unbeteiligten Zugang zu gewähren, verantwortlich machen konnte.
»Mein Name ist Walter Klopke und ick bin hier der Blockwart. Stehe zur Verfügung!« Der Zivilist schlug die Hacken zusammen und grüßte militärisch mit der Hand an der nicht vorhandenen Mütze.
»Ach so«, regte sich Malek wieder ab. »Was wissen Sie?«
»Ick?«, zeigte Klopke mit dem Finger auf sich. »Ick weiß jar nischt.«