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Käpt’n Krischan kann es nicht fassen. Der Motor seines geliebten Krabbenkutters ANNE II wurde mutwillig zerstört. Die Diagnose „Sand im Getriebe“. Der Schuldige ist schnell gefunden, da dessen ölverschmierte und erschlagene Leiche noch immer im Maschinenraum des betagten Kutters liegt. Oder war etwa alles ganz anders, als es auf den ersten Blick scheint? Ein verzwickter Fall für Kriminalhauptkommissarin Nina Moretti und Inselpolizistin Lotta Dönges.
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Seitenzahl: 442
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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8421-4
Micha KrämerMordskutter
Prolog
Sonntag, 5. Juni 2022, 0:22 Uhr Hafen/Insel Langeoog
Nein, er war bestimmt nicht neidisch. Zumindest würde er selbst sich nicht so beschreiben. Seine Wut, der Hass, der tief in ihm schwelte, hatte nichts mit Neid auf eine gewisse Person zu tun. Ihm ging es mehr um die Ungerechtigkeit des Lebens, der er ständig ausgesetzt war. Das Karma war eine verdammte Bitch.
Es wurmte ihn, dass andere immer und immer wieder auf der Sonnenseite des Lebens standen, während er sich anstrengte, abrackerte und dann doch wieder als Verlierer dastand. Alles, was er bisher in seinem Leben angepackt hatte, war früher oder später gescheitert. Er war ein Pechvogel. Immer schon. Selbst seine Mutter sagte dies. Das Pech war seit seiner Geburt ständiger und ungerechter Begleiter.
Derzeit besaß er nicht mehr viel mehr als das, was er am Körper trug. Die Hiobsbotschaften der letzten Monate hatten ihn in einen Abgrund gestürzt. Er war, zumindest mental, ganz unten angekommen und würde nun diesem einfältigen Fatzken Krischan Dönges zeigen, was es hieß, wenn das Leben nicht immer nur rosarot und ein Ponyhof war.
Um zu verstehen, dass Krischan ein Idiot war, hatte er nicht lange gebraucht. Es reichten bereits wenige Sätze aus dem Mund des langen, schlaksigen Kerls, um zu verstehen, dass der nicht der Intelligenteste war.
Dennoch besaß Krischan ein wunderschönes altes Schiff, ein Wahnsinnshaus in bester Insellage und sogar eine wirklich gut aussehende und wie es schien sogar auch noch intelligente Frau.
Wie passte so etwas zusammen? Diese Ungerechtigkeit ging ihm einfach nicht in seinen Schädel.
Aber der Trottel würde sich noch umschauen. Als Erstes würde er das Schiff zerstören, dann das Haus. Was danach kam, würde sich zeigen.
Er blickte sich kurz um und lauschte in die Dunkelheit. Der Hafen und das Dorf dahinter schliefen tief und fest. Lediglich das leichte Glucksen des Wassers zwischen der Bordwand und der Kaimauer war zu hören. Mit dem Sandsack in der Hand balancierte er über die Bohle auf das Deck des Schiffes. Noch einmal hielt er dort inne und lauschte. Von irgendwo weit entfernt war der einzelne Schrei einer Möwe zu hören. Ansonsten nur wieder das sanfte Plätschern der Wellen und der allgegenwärtige leichte Wind.
Krischan Dönges war gutmütig und leichtgläubig. Der Weg unter Deck, wo sich ein Aufenthaltsraum, eine winzige Toilette und der Maschinenraum befanden, war lediglich mit einem Riegel gesichert. Ein Schloss gab es nicht. Er stieg die Stufen hinab und sog die Luft ein. Es roch nach einer Mischung aus Tee, Kaffee und Essbarem, aber nicht muffig. Er tastete nach dem Lichtschalter. Angst, dass jemand draußen auf die hell erleuchteten Bullaugen aufmerksam werden könnte, hatte er nicht. Da draußen war eh keine Menschenseele, die es sehen könnte. Falls doch jemand vorbeikäme, wäre der Lichtstrahl einer Taschenlampe auf dem Schiff vermutlich viel auffälliger und verräterischer als das offensichtliche Licht.
Die beiden eisernen Riegel der Stahltür, hinter der sich der Antrieb des alten Krabbenkutters befand, quietschten und ächzten, als er daran drehte. Auch im Maschinenraum schaltete er das Licht an, als gehöre er ganz selbstverständlich hierher. Da er im Grunde keine Ahnung von Maschinen und Motoren besaß, musste er schon einen Moment suchen, bis er den Einfüllstutzen für das Öl entdeckte. Krischan Dönges würde ganz schön dumm aus der Wäsche gucken, wenn der Motor des Kahns morgen den Geist aufgab. Hoffentlich zeigte der Sand auch seine Wirkung und tat das, was er sich erhoffte. Er schraubte den rot angemalten Deckel mit der Aufschrift ÖL auf und hob den Sack an die doch sehr kleine Öffnung. Es gehörte schon Geschick dazu, nicht das Meiste von dem Sand, den er vom Strand mitgebracht hatte, zu verschütten. Als das Säckchen schon beinahe zur Hälfte geleert war, vernahm er plötzlich ein Geräusch hinter sich. Erschrocken wirbelte er herum.
„Du?“, entfuhr es ihm überrascht.
„Sag mal, spinnst du? Was gibt das denn hier, wenn das fertig ist?“, erkundigte sich sein Gegenüber.
Kapitel 1
Sonntag, 5. Juni 2022, 7:42 UhrHafen/Insel Langeoog
Endlich Urlaub. Nina saß zufrieden und dick eingepackt auf der vordersten Sitzbank am Bug der ANNE II, blinzelte in die noch tief stehende Morgensonne und streckte die Beine aus. Die Luft war kühl und frisch, und es roch herrlich nach Meer. Am strahlend blauen Himmel über dem Schiff balgten sich wild zeternd einige Möwen um die Überreste eines Fischbrötchens.
„Diese verdammten Mistviecher“, schimpfte Ninas Freundin Lotta Dönges und ließ sich neben sie auf die Bank plumpsen.
„Na, lass sie doch“, meinte Nina, da sie nichts Schlimmes dabei fand, wenn die Möwen sich hin und wieder ein Stück Brot oder sonst etwas Nahrhaftes stibitzten. Leben und leben lassen. Außerdem könnte die Freundin eh nichts daran ändern, dass die Möwen da waren. Heute am Sonntag trug sie ja noch nicht einmal wie sonst in der Woche ihre Dienstwaffe.
„Nee, lass ich nicht. Diese Biester sind eine echte Plage. Die klauen alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Die sind so dreist und frech, dass sie den Kindern das Eis oder die Kekse aus den Fingern reißen“, empörte sich Lotta. Nina erwiderte nichts, sondern ließ ihren Blick über den Hafen schweifen. Gerade lief das Fährschiff LANGEOOG III ein. An der Mole unweit der ANNE II lag das Seenotrettungsboot der DGzRS. Nina könnte noch stundenlang einfach nur hier sitzen, sich umschauen und die frische Seebrise genießen. Erst gestern Abend waren sie, ihr Mann Klaus und die Zwillinge nach Langeoog angereist. Und sofort heute Morgen sollte es mit dem zu einem Ausflugsschiff umgebauten Krabbenkutter hinaus zu den Seehundbänken gehen. Chiara und Matteo sprachen seit Tagen von nichts anderem.
„Die ANNE II ist wirklich toll geworden. Sieht ganz anders aus als früher. Weißt du noch, als wir beide und Krischan damals damit nach Spiekeroog gefahren sind?“, überlegte Nina laut. Beinahe sieben Jahre war dies nun her, und ihr kam es immer noch vor, als wären nur Wochen seitdem vergangen.
Lotta kicherte.
„Ja klar, das werde ich auch niemals vergessen. Auf der Rückfahrt habe ich Krischan das erste Mal geküsst. Wenn mir damals jemand erzählt hätte, dass ich irgendwann einmal die Frau des Kapitäns werden würde … nee“, schwärmte sie und sah zum Heck des Schiffes, wo sich das kleine Steuerhaus befand, in dem Käpt’n Krischan gerade den Motor startete. Das Rumpeln im Bauch des ehemaligen Krabbenkutters war unüberhörbar.
„Stimmt, und hätte ich ihm nicht gesagt, er solle mal endlich voranmachen, bevor du dir einen anderen Traumprinzen suchst, hätte das vermutlich nichts mit euch gegeben“, erklärte Nina. Nur zu gut konnte sie sich nämlich daran erinnern, wie die beiden sich gegenseitig zwar angeschmachtet, aber sich einfach nicht getraut hatten.
„Mama, Mama, Eike sagt, man darf keine Möwen füttern“, kreischte Ninas Sohn Matteo im Vorbeilaufen. Nina packte den kleinen Wildfang und hob ihn zu sich auf den Schoß.
„Ja, da hat der Eike recht“, belehrte sie ihn.
„Und warum?“, wollte der beinahe Fünfjährige wissen.
Als Nina schon antworten wollte, vernahm sie von unter sich aus dem Bauch des Schiffes ein lautes Knirschen und Rumpeln. Dann starb der Motor ab. Sie sah zu Lotta, die sich erneut mit nun besorgtem Blick in Richtung des Steuerhauses umblickte.
„Was war das?“, wollte Nina wissen.
„Keine Ahnung. Das hatten wir auch noch nicht“, erwiderte die Freundin. Nina setzte Matteo zurück auf den Boden und erhob sich. Gut zwei Dutzend Fahrgäste befanden sich an Deck des betagten Krabbenfängers. Klaus, Ninas Mann, saß mit Krischans Onkel Piet Dönges, einem ehemaligen Käpt’n der Langeooger Fährgesellschaft, auf der Bank vor dem Steuerhaus. Auf seinem Schoß die kleine Chiara.
Kapitän Krischan hatte sein Steuerhaus verlassen und verschwand gerade durch die Luke, durch die es in den Bauch des Schiffes ging. Dort befanden sich neben einer Kajüte auch eine Toilette und der Maschinenraum.
„Hoffentlich ist nichts kaputtgegangen. Die Saison hat doch gerade erst angefangen“, stöhnte sie.
„Geht denn an so einem alten Schiff oft etwas in die Brüche?“, wollte Nina wissen.
Lotta schüttelte den Kopf.
„Nein, die ANNE II ist in einem Topzustand. Bisher war noch nie irgendwas Größeres defekt. Aber das gerade hörte sich nicht gut an“, erklärte sie.
Nina, deren Blick noch immer auf die Luke gerichtet war, entdeckte Krischan, der zurück auf Deck stieg und zu ihnen herüberkam. Der große, schlaksige Kerl mit den strubbeligen blonden Haaren und den leuchtend blauen Terence-Hill-Augen wirkte reichlich blass um die Nase.
„Lotta, du musst sofort kommen … das Getriebe …du, der ist mausetot … Nina, du auch“, stammelte er wirres Zeug. Nina bemerkte, wie seine Hand zitterte, als er nach Lotta griff, um sie mit sich zu ziehen.
„Mensch, Krischan, was ist denn los?“, zischte diese und sah sich um, als sei es ihr vor den Fahrgästen peinlich. Nina folgte den beiden durch die Reihen der Passagiere. Was Krischan ihnen beiden wohl zeigen wollte? Nina hatte keinerlei Ahnung von Schiffsantrieben oder was auch immer eben kaputtgegangen sein könnte. Dass mit der ANNE II etwas nicht stimmte, war offensichtlich.
Im Vergleich zu draußen war die Luft unter Deck irgendwie schwerer. Nicht direkt muffig. Die verschiedensten Gerüche überlagerten sich. Es roch nach Tee und Kaffee, aber auch irgendwie nach Öl und Werkstatt. Krischan eilte mit Lotta durch den Salon, wie er die kleine Kajüte unter Deck nannte, in der sich die Fahrgäste bei schlechtem Wetter, beengt wie die Ölsardinen in der Dose, aufwärmen konnten. Am Ende des Raumes stand die Luke zum Maschinenraum offen. Nina kannte die kleine stählerne Tür mit den schweren Riegeln von früheren Fahrten. Dass sich dort der Motor des kleinen Schiffes befand, war auch nie zu überhören gewesen. Sie hatte ja früher sogar schon mal hier unten während der Fahrt geschlafen. Da, wo damals die Schlafkojen waren, befanden sich heute Sitzgelegenheiten und ein Tisch für die Passagiere. Eigentlich schade. Als Hausboot hatte der Kahn ihr persönlich besser gefallen.
„Ich glaub, das Getriebe zwischen der Welle und dem Motor ist hin“, jammerte Krischan, und Nina hatte den Eindruck, als kämen dem jungen Mann gleich die Tränen. Dennoch stellte sich Nina die Frage, wie sie und Lotta da helfen sollten. Sie waren keine Mechaniker, sondern Polizistinnen.
„Das ist Sabotage. Warum hat er das bloß gemacht? Ich hab doch keinem was Böses getan“, meinte Krischan und stieg als Erster durch den engen Durchgang. Nina sah, wie Lotta sich anschickte, über die etwas erhöhte Türschwelle zu steigen, dann aber zurückstolperte. Nina trat schnell einen Schritt vor und hielt die Freundin fest, da sie Angst hatte, Lotta könnte stürzen. Das ungute Gefühl in Ninas Magengegend wuchs.
„Verflixt, das kann doch nicht wahr sein“, hörte sie Lotta, die von dem, was sie gesehen hatte, wahrlich schockiert schien. Nina musste jetzt wissen, was los war. Sie schob Lotta zur Seite und sah durch das Schott in den hell erleuchteten Maschinenraum. Der war gar nicht so dreckig, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nein, alles war penibel sauber und frisch gestrichen. Alles tipptopp, wenn da nicht die große Blutlache unter dem Kopf des reglosen Körpers gewesen wäre.
*
Ein Inselpolizist wie Polizeihauptmeister Onno Federsen war in der Saison quasi immer im Dienst. Selbst wenn er wie heute noch zu Hause in seinem Bett lag. Es war lang geworden gestern Abend. Bis nach Mitternacht hatte er mit seiner besseren Hälfte Tine vor dem Fernseher gehockt und diese Serie angesehen. Eigentlich machte sich Onno nichts aus Fernsehen. Natürlich schaute auch er sich mal einen Film oder eine interessante Dokumentation an. Krimis mochte er am liebsten. Wobei die ja mit richtiger Polizeiarbeit eigentlich gar nichts zu tun hatten. Und schon gar nicht mit den Aufgaben eines Inselpolizisten auf Langeoog.
Der Hauptunterschied zwischen einer Insel und dem Festland war das Wasser drum herum. Ein Schutz vor Gaunern, Verbrechern, Autos und sogar tollwutbringenden Füchsen. Im Sommer, also in der Hauptsaison, konnte Onnos Job schon mal stressig werden. Dann, wenn täglich Tausende Touristen über das kleine Eiland herfielen. Darunter waren dann auch solche, die seit ihrer Kindheit kein Fahrrad mehr angefasst hatten und nun meinten, sie müssten sich hier auf der Insel mit einem gemieteten Drahtesel in das Getümmel stürzen. Wobei stürzen in einigen Fällen die Sache sehr gut beschrieb. Und wer wurde dann wieder gerufen, wenn es gekracht hatte? Die Polizei! Zum Glück war Onno nicht der Einzige seines Berufsstandes auf der Insel. Außer ihm gab es nämlich noch die Polizeimeisterin Lotta Dönges, die allerdings seit der Geburt ihres Sohnes Eike nur noch eine halbe Stelle bekleidete.
Es war deshalb mehr als ungewöhnlich, dass an diesem Sonntagmorgen ausgerechnet Lottas Name auf dem Display seines Mobiltelefons stand, als er verschlafen darauf blickte. Sofort richtete er sich auf. Wenn Lotta so früh bei ihm anrief, musste etwas passiert sein. Noch dazu wo die Kollegin ihm gesagt hatte, dass sie heute Morgen mit ihren Freunden hinaus auf See wollte und er daher eigentlich alleine klarkommen musste.
Mit einer bösen Vorahnung nahm er das Gespräch an.
Und tatsächlich … das, was Lotta ihm zu sagen hatte, klang gar nicht gut.
„Ein Toter … bist du sicher?“, fragte er vorsichtshalber noch einmal nach und hielt dann, als die doch sehr lautstarke Antwort kam, das Gerät so weit weg, wie sein ausgestreckter Arm es zuließ.
So kam es, dass Onno keine fünfzehn Minuten später in Uniform, jedoch ohne seinen morgendlichen Friesentee und ohne ein Frühstück im Magen zum Hafen radelte.
Auf dem Kai, vor der ANNE II, standen gut zwei Dutzend Schaulustige. Die meisten von ihnen unterhielten sich. Über was, das konnte Onno nicht verstehen, da zum einen sein Fahrrad so heftig quietschte und zum anderen zeitgleich mit ihm noch jemand sein Rad direkt neben Onno stoppte. Onno sah an dem Drahtesel und dessen Fahrer hinunter bis zu dem Elektromotor. Fuhren jetzt eigentlich außer ihm alle mit diesen neumodischen Dingern herum?
„Moin, Onno“, grüßte Hauptkommissar Willi Bogner ihn.
„Moin moin, Willi. Tja, hätte ich gewusst, dass du bereits auf dem Weg bist, dann hätte ich ja beruhigt zu Hause bleiben können. Tote Menschen fallen ja eher in deinen Aufgabenbereich“, fand Onno.
Natürlich war er jetzt auch neugierig, was es mit dem ominösen Todesfall auf sich hatte. Aber zumindest eine Tasse Tee wäre, wenn er das mit Willi gewusst hätte, noch drin gewesen.
„Ja, ist wirklich ein Zufall, dass ich gerade heute hier auf Langeoog bin“, log der Kriminalbeamte aus der Dienststelle Wittmund. Es war nämlich kein Geheimnis mehr unter den Kollegen, dass der eingefleischte Junggeselle Willi Bogner seit dem letzten Herbst eine Freundin auf der Insel hatte und seitdem jeden freien Tag hier verbrachte.
„Moin“, grüßte von Bord her eine Stimme, die Onno ebenfalls nur allzu gut kannte.
„Moin, Nina … da hätten Onno und ich ja beide im warmen Bett bleiben können, wenn die netteste aller Kolleginnen sich bereits am Tatort befindet“, schleimte Willi so dermaßen, dass Onno sich dafür fremdschämte.
„Na, das hättet ihr beiden wohl gerne! Die Einzige, die hier Urlaub hat, bin ich. Ihr werdet hier gebraucht“, rief die hübsche Kriminalistin aus dem Westerwald zurück.
Onno sah sich um. Ninas Mann Klaus, ein wirklich sehr netter Kerl, mit dem er auch schon das eine oder andere Bier getrunken hatte, war nirgends zu sehen.
Nachdem sie auch Lotta begrüßt hatten, gingen Willi und Onno an Bord.
Lotta erklärte, was passiert war. Dem Anschein nach hatte sich ein Unbekannter im Maschinenraum zu schaffen gemacht. Das Ausmaß des Schadens am Schiff sei noch nicht klar. Klar wäre allerdings, dass der Saboteur mausetot sei. Onno musste bei den Worten der Kollegin schlucken. Zum einen, weil er es nicht so mit Toten hatte, und zum zweiten, weil er jetzt schon wieder wusste, dass dies alles eine Menge Arbeit und Unruhe bedeutete. Noch dazu, wo die Leiche auf dem Schiff der Kollegin, beziehungsweise deren Gatten, gefunden worden war. Krischan war in Onnos Augen ein gutmütiger Trottel. Das klang im ersten Moment hart, war aber nun einmal so. Der große, schlaksige junge Kerl würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Das wusste Onno – und das wussten natürlich auch Krischans Freunde. Ein Außenstehender, wie es zum Beispiel der Staatsanwalt einer war, wusste das nicht. Für diese Leute könnte sich nämlich in Anbetracht der Situation ganz schnell ein Bild ergeben, welches der Kollegin Lotta gar nicht lieb sein dürfte. Der Kapitän eines Schiffes ertappt einen Fremden im Maschinenraum dabei, wie er sich am Motor zu schaffen macht. Zack … und schon gab es einen Toten und einen Hauptverdächtigen.
„Habt ihr irgendetwas angefasst oder verändert?“, wollte Willi wissen.
„Ich habe nur kurz gefühlt, ob das Opfer noch Puls hat“, antwortete Nina Moretti.
„Ihr habt nicht versucht, ihn zu reanimieren?“, fragte Willi weiter, während sie durch die Luke in den Bauch des Schiffes stiegen.
„Nein, das hätte nichts mehr gebracht. Der Kerl war schon steif und eiskalt“, erwiderte Nina.
Obwohl Onno neugierig war, was es da nun genau zu sehen gab, hielt er sich zurück und ließ Willi den Vortritt in den Maschinenraum. Er musste da nicht unbedingt mit hinein. Stattdessen ging er zu der Sitzgruppe, an der zwei ziemlich stille Gestalten hockten. Der Ältere hielt sich mit steinerner Miene an seiner Pfeife fest, während der Jüngere sichtlich niedergeschlagen und mit Tränen in den Augen das Geschehen beobachtete.
„Moin, ihr zwei“, grüßte Onno und ließ sich auf die Bank gegenüber von Krischan sinken.
„Moin Moin, Onno“, erwiderte Käpt’n Piet Dönges und blies einen Rauchkringel in die Luft.
„Nu is alles futsch. Was sollen wir denn nu machen?“, jammerte Krischan.
„Weißt du denn schon, was kaputt ist?“, erkundigte sich Onno bei dem jungen Kapitän.
„Jo, da is wohl nu Sand im Getriebe“, antwortete der Ältere für den Jungen, der nur zustimmend nickte.
„Ja, dann macht man das halt wieder sauber. Kann ja nicht so dramatisch sein“, behauptete Onno jetzt einfach mal, obwohl er von solchen Dingen überhaupt keine Ahnung hatte. Sein Auto hatte er früher immer in die Werkstatt gebracht, wenn da mal etwas kaputt gewesen war. Nachdem er irgendwann als junger Bursche einmal eine Glühbirne im Rücklicht hatte austauschen wollen und dabei mehr kaputt als heile gemacht hatte, schwor er sich, niemals wieder an solchen Dingen herumzuhantieren.
Dass er auch dieses Mal mit der Einschätzung des Reparaturaufwandes etwas schieflag, zeigten ihm die entsetzten Gesichter der beiden Seeleute.
„Onno, kannst du mal Doktor Bechersheim anrufen?“, schallte es zum Glück nun aus dem Maschinenraum, bevor er sich hier noch mehr blamierte.
*
Martin von Schlechtinger liebte es, wenn die Sonne schien und er nur im T-Shirt und ohne die dicke Jacke über seine Insel radeln konnte. Da arbeiten, wo andere Leute Urlaub machten, war nicht immer so toll, wie es klang. Wenn einem aber sein Job auch noch Spaß machte und man mit Leib und Seele dabei war, dann war das das ganze Jahr über wie Urlaub.
Überhaupt war es mit der Arbeit so eine Sache. Die einen erlernten einen Beruf, merkten dann irgendwann, dass dieser doch nichts für sie war, und suchten sich etwas anderes. Dann gab es die Menschen, die ihren erlernten Job zwar ebenfalls nicht mochten, ihn aber dennoch mit reichlich Frust und Zähneknirschen bis zur Rente durchzogen. Falls sie denn so alt wurden und nicht vorher mit Magengeschwüren oder an Depressionen kaputtgingen. Als dritte Gattung waren da dann noch diejenigen, die ihren erlernten Beruf lebten, ihn ausfüllten und mit Spaß bei der Arbeit waren. Typen, wie er einer war. Wenn dann noch das Wetter, die Landschaft und die Menschen um einen herum stimmten, dann war das sogar noch besser als Urlaub. Kurzum, Martin war Klempner aus Leidenschaft und konnte sich nicht vorstellen, irgendwann, irgendwo einmal etwas anderes zu tun.
„Wat meinst du, Lumpi … et is doch eigentlich schon Zeit für dat zweite Frühstück, oder?“, fragte er die Border-Collie-Hündin, die hinter ihm in dem kleinen Fahrradanhänger bei seinem Werkzeug hockte. Eine Antwort bekam er nicht, obwohl er sich sicher war, dass Lumpi jedes seiner Worte genau verstand. Er hielt vor dem „Treffpunkt“, dem Imbiss in der Barkhausenstraße, und orderte bei der jungen Dame hinter dem Tresen eine Currywurst mit Pommes und ordentlich Majo obendrauf. Die Wurst hatte Martin sich nach den zwei Einsätzen am Morgen aber auch redlich verdient. Sowohl der Wasserhahn im Süderdünenring als auch der Siphon in der Hauptstraße funktionierten wieder tadellos.
„Hätten Sie auch gerne etwas zu trinken zu Ihrer Currywurst?“, fragte das Mädchen, eine hübsche Brünette, die locker seine Tochter hätte sein können.
„Jo, Mädche … wenn du so fragen tust … dann hätte ich gerne ein frisch gezapftes Kölsch“, bestellte er jetzt einfach mal.
„Ähm … wir haben kein gezapftes Bier“, erwiderte die Bedienung das, was Martin eh wusste. Immerhin kam er hier seit Jahren fast jeden Vormittag her.
„Okay, dann nehm ich eben ein Kölsch in der Flasche“, sagte er, obwohl er auch die Antwort auf diese Order ganz genau kannte.
Das Mädchen schaute ihn etwas überfordert an.
„Ich glaube, diese Sorte haben wir nicht.“
„Aber du weißt schon, dat dat Kölsch die Königin der Biere ist?“, fragte er jetzt einfach mal, da er gerade den Verdacht hegte, dass die neue Aushilfe noch nicht einmal wusste, was ein Kölsch überhaupt war. Wenn er eines nämlich auf dieser Insel vermisste, dann war es ein leckeres Kölsch zu Himmel und Ääd, wie man in Köln die gebratene Blutwurst mit Kartoffelpüree, gebratenen Zwiebeln und Apfelmus nannte.
„Mein Papa sagt immer, Jever wäre das beste Bier“, behauptete das Mädchen.
„Na, wenn der Papa dat sagen tut … dann gib mir lieber mal eine Cola ohne Zucker“, beschied er sie.
„Aber Sie wollten doch …“
„Nä, Kind, dat hat sich erledigt. Da vürn kommt mein Doktor … wenn der sieht, dat ich morgens schon Bier trink, dann verzällt der dat wieder der Frau Annemarie, und dann is he aber Aschermittwoch … aber su jet von“, erklärte er und zeigte auf den jungen Herrn mit dem Fahrrad, der nun direkt vor dem Imbiss hielt und ihn grüßte.
„Moin, Maddin“, rief der und stellte sein Fahrrad ab.
„Moin Moin, Jan. Machst du etwa schon Hausbesuche am frühen Sonntagmorgen?“, fragte Martin seinen Schwiegersohn, der gerade von Lumpi freudig begrüßt wurde.
„Ja … nein, da war nichts mehr zu machen. Onno und Lotta hatten mich an den Hafen bestellt, um einen Totenschein auszustellen“, erzählte er und bestellte dann, obwohl es noch nicht einmal Mittag war, ein Bier.
„Ähm, Fräulein … ich nähm dann doch lieber ein Bier“, fügte Martin hastig hinzu, da er es ja nicht zulassen konnte, dass sein Schwiegersohn am frühen Morgen alleine trank.
Das Mädchen verdrehte genervt die Augen und stellte die kleine Flasche Cola wieder zurück in den Kühlschrank.
„Ein Toter?“, fragte Martin interessiert.
„Ja … schlimme Sache. Gerade mal Mitte zwanzig“, berichtete Doktor Jan Bechersheim.
„Su ene junger Kerl? Wat ist dem dann passiert?“, war Martin jetzt wirklich sehr neugierig, da er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass der Bursche an Herzversagen oder Altersschwäche verstorben war.
Jan griff sein Bier und trank einen Schluck. Dann schüttelte er den Kopf.
„Das kann ich dir leider nicht sagen, mein Lieber. Du weißt doch, dass ich an die ärztliche Schweigepflicht gebunden bin.“
„Wieso dat dann? Ich glaub nit, dat den Jungen dat noch stören tut, wenn der eh schon tot ist. Außerdem tut dat, wat mir zwei reden, ja schließlich in der Familie bleiben tun“, beschied Martin ihn und rückte ein Stück näher an seinen Schwiegersohn ran.
*
So hatte Nina sich ihren ersten Urlaubstag nicht vorgestellt. Kaum auf der Insel, schon gab es einen Mord. Warum passierten immer nur ihr solche Dinge im Urlaub? Konnte sie nicht einmal in Ruhe ein paar Tage auf Langeoog genießen?
Zugegeben, als sie den Toten heute Morgen zum ersten Mal gesehen hatte, wie er mit einem halb verschütteten Sack Sand neben dem beschädigten Getriebe lag, hatte sie zuerst gedacht, Krischan könne etwas damit zu tun haben. Klar, Krischan war eine friedliebende Seele. Aber auch bei solchen Leuten gab es gelegentlich einen Kurzschluss in den Synapsen. Die ANNE II war, neben Lotta und dem kleinen Eike, Krischans ganzer Stolz. Da würde es nicht wundern, wenn er Amok lief, wenn jemand dem Schiff oder der Familie etwas zuleide tat. Nina hatte in ihrer beruflichen Laufbahn schon viele Menschen getroffen, denen sie nie und nimmer einen Mord zugetraut hätte. Zum Glück hatte Doktor Bechersheim die Tatzeit auf Mitternacht plus/minus eine Stunde eingeschätzt. Gut für Krischan, da er damit aus der Schusslinie war. Es gab gleich drei Zeugen dafür, dass Krischan im betreffenden Zeitraum in der Sauna gewesen war. Eine davon war Nina selbst. Nach dem Abendessen gestern hatten Klaus und Krischan spontan den Bollerofen in Krischans neuer Holzfasssauna angeheizt. Ein tolles Teil, das Nina sogar noch besser gefiel als die elektrisch geheizte Sauna bei ihnen zu Hause. Einzig der Pool fehlte hier noch, was aber auch nicht schlimm war. Zwischen den Aufgüssen hatten sie nicht nur entspannt, sondern auch fleißig von Krischans neuesten Schnapsbränden gekostet. Da sie sich auch nach so langer Zeit noch viel zu erzählen hatten, war es kurz vor zwei Uhr morgens gewesen, bis sie, nach einem Bad in der nächtlichen Nordsee, alle ins Bett gegangen waren. Mehr Alibi ging nicht.
„Also … ein Einheimischer war der junge Kerl nicht“, sinnierte Lotta. Hauptkommissar Willi Bogner hatte Nina, Lotta und Krischan nach Hause geschickt, damit die Kollegen von der Spurensicherung in Ruhe die Spuren am Tatort sichern konnten. So saßen sie jetzt gemeinsam mit Klaus, der bereits mit den Kindern vorgegangen war, im Garten unter dem großen Birnbaum.
Die Stimmung war, wie sollte es auch anders sein, eher mies.
„Nö, ich glaube, den hab ich hier auch noch nie gesehen“, pflichtete Krischan bei und trank einen Schnaps. Nina beugte sich vor, nahm die Flasche mit dem Selbstgebrannten vom Tisch und stellte sie hinter ihrem Stuhl auf den Boden. Krischan guckte sie mit großen Augen an.
„Das bringt hier jetzt niemandem etwas, wenn du deinen Kummer mit Schnaps ertränkst“, schimpfte sie ihren Gastgeber.
„Nina hat recht, Krischan. Lass uns lieber in Ruhe überlegen, was wir jetzt machen“, fand auch Lotta.
„Na, wegen dem toten Mann können wir auch nichts machen. Das sollten wir mal schön deinen Kollegen überlassen“, sagte Klaus.
„Aber wir können doch hier nicht untätig rumsitzen“, erwiderte Lotta.
„Mein schönes Schiff … einfach so futsch“, seufzte Krischan, der tatsächlich total am Boden schien.
„So ein Käse, Krischan. Was kann der Kerl denn da schon großartig kaputt gemacht haben?“, versuchte Klaus dem Freund gut zuzureden.
Ninas Gedanken waren indes ganz woanders. Sie überlegte schon die ganze Zeit, welchen Grund es geben könnte, dass jemand sich an dem Motor überhaupt zu schaffen machte. Der Tote im Maschinenraum hatte die ANNE II mit voller Absicht lahmlegen wollen. So wie sich die Spurenlage bot, hatte der Unbekannte nachts einen Sack mit Sand an Bord gebracht und versucht, diesen in den Einfüllstutzen für das Getriebeöl zu kippen. Irgendwer hatte ihn dabei überrascht und ihn vermutlich mit einem riesigen Schraubenschlüssel niedergeschlagen.
Einem Werkzeug, das sich seit Jahrzehnten im Maschinenraum befunden hatte und das nun fehlte. Dennoch stellte sich Nina die Frage nach dem Warum.
„Sag mal, Krischan, hast du eigentlich irgendwelche Feinde? Schadest du jemandem mit deinem Schiff? Bist du jemandem ein Dorn im Auge? Vielleicht der Konkurrenz?“, erkundigte Nina sich.
Krischan blickte sie einen Moment an und schüttelte dann energisch den Kopf. Dennoch hatte er einen Moment gezögert. Irgendein Gedanke war ihm bei ihrer Frage in den Sinn gekommen.
„Überleg noch mal genau“, gab sie ihm eine zweite Chance.
Krischan wackelte mit dem Kopf.
„Na ja … da waren letztens welche, die haben mir Briefe geschrieben … und dann das mit der Farbe an der ANNE II“, gestand er.
„Welche Briefe? Und was meinst du mit Farbe?“, hakte Nina nach.
Kapitel 2
Sonntag, 5. Juni 2022, 11:38 UhrHafen/Insel Langeoog
So schnell wie heute war Willi Bogner noch nie an einem Tatort gewesen. Zumindest nicht an einem, der auf einer der Ostfriesischen Inseln lag. Eigentlich war dieses sein freies Wochenende. Doch Dinge wie Wochenende oder pünktlichen Feierabend hatte er noch nie so eng gesehen. Die Arbeit war ein Teil seines Lebens, und es ging ihm derzeit so gut wie lange nicht mehr. Er war bester Laune und fühlte sich, als könnte er Bäume ausreißen. Daran konnte auch der erschlagene Mann im Maschinenraum der ANNE II nichts ändern. Nein, die Wendung, die Willis Leben vor etwas über einem halben Jahr genommen hatte, ließ ihn immer noch auf Wolke sieben schweben. Kurzum, Willi war verknallt wie seit seiner Jugend nicht mehr.
Seit er Tilde Schmilke, so hieß die neue Frau in Willis Leben, kennengelernt hatte, war alles anders.
Okay, er war auch früher schon mal an seinen freien Wochenenden gerne auf eine der Inseln gefahren, um dort von dem Stress, den sein Job so mit sich brachte, auszuspannen. Willi brauchte keine Reisen in ferne Länder. Nach Italien, Spanien oder sonst wohin, wo es ihm auch meist viel zu warm war. Zu viel Sonne hatte er eh noch nie gut vertragen. Seine letzte Kurzzeitperle Brigitte hatte ihn damals mal dazu überredet, mit ihr gemeinsam nach Ibiza zu fliegen. Es war ihr erster und auch zugleich letzter gemeinsamer Urlaub gewesen. Okay, es hatte nicht wirklich an der Mittelmeerinsel gelegen, dass sie beide nach der Rückkehr wieder getrennte Wege gegangen waren. Dennoch hatte sich dieses doch negative Reiseerlebnis irgendwie in Willis Kopf eingenistet.
Mit Tilde war alles anders. Die war auch noch nie in ihrem Leben in Urlaub gewesen und hatte es in absehbarer Zeit auch nicht vor. Gut, wer sollte sich in der Zeit, in der sie weg war, auch um ihre Viecher kümmern? So ein Pferdehof auf einer Nordseeinsel verwaltete sich nicht von alleine. Da musste man sich ständig um irgendetwas kümmern. Dies war auch der Grund, warum sie Willi in dessen Wittmunder Wohnung noch nie besucht hatte. Wenn sie sich trafen, dann bei ihr auf dem Hof. Und das war auch gut so.
Willi setzte sich auf eine der Bänke an Deck der ANNE II und betrachtete den dänischen Personalausweis von Torben Pedersen in seinen Händen. Gerade mal fünfundzwanzig Jahre war der Bursche alt geworden. Es war schlimm, wenn solch junge Menschen so dermaßen brutal aus dem Leben gerissen wurden. Aber was hatte dieser Lausebengel auch bloß im Maschinenraum der ANNE II gemacht? Wobei … was er da getan hatte, war ja klar wie Kloßbrühe. Torben Pedersen hatte Sand in den Einfüllstutzen für das Getriebeöl geschüttet. Die Frage müsste daher eher lauten, warum er das getan hatte. Wenn man, wie in solchen Fällen, eins und eins zusammenzählte, wäre der Täter auch schnell gefunden. Jeder Kriminalist würde sofort auf den Eigner des Schiffes als möglichen Mörder kommen. Der Besitzer hatte einen Saboteur auf frischer Tat überrascht und ihn dann erschlagen. Leider war dies in diesem Fall wohl mitnichten so. Krischan und Lotta, die Willi beide sehr schätzte, hatten ein wasserdichtes Alibi. Sogar eines, welches ihnen eine erfahrene und unbescholtene Beamtin gab. Kriminalhauptkommissarin Nina Moretti und ihr Mann Klaus hatten beide angegeben, während der vermutlichen Tatzeit mit Krischan und Lotta in der Sauna gewesen zu sein.
Darüber hinaus könnte sich Willi Krischan als Täter auch gar nicht vorstellen. Nein, der Bursche würde noch nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun. Es blieb Willi also nichts anderes übrig, als sich auf die Suche nach dem wahren Täter zu begeben.
„Wir wären dann fertig“, riss ihn Daniel Junker, ein junger Beamter im weißen Papieroverall der Spurensicherer, aus seinen Gedanken.
„Ähm, ja … in Ordnung. Ihr könnt dann auch wieder in Richtung Festland abrücken“, entschied Willi und freute sich insgeheim darüber, dass er auch die nächsten Tage auf der Insel bleiben durfte. Normalerweise hätte er nämlich spätestens morgen früh die erste Fähre aufs Festland nehmen müssen, um pünktlich um acht seinen Dienst in Wittmund anzutreten. Ja, manchmal ertappte Willi sich schon dabei, dass er es sich wünschte, die nächsten drei Jahre würden mit einem einzigen Wimpernschlag vorübergehen. Dann nämlich wäre er endlich Pensionär und könnte komplett nach Langeoog ziehen. Einen Plan, den er im Übrigen auch schon gehabt hatte, als er Tilde noch gar nicht kannte.
„Sollen wir den Tatort noch versiegeln oder …?“, erkundigte sich Daniel weiter. Willi überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf.
„Nein, wenn ihr alles habt, muss das nicht sein. Der Eigner verdient schließlich seinen Lebensunterhalt mit dem Schiff. Ich denke mal, die Herrschaften werden da schnellstens mit den Reparaturarbeiten beginnen mögen“, überlegte er laut und erntete von dem Mann im Overall ein zustimmendes Nicken.
Während die Kollegen ihre Koffer vom Schiff trugen und auf einem Handkarren verstauten, setzte er sich wieder an die Reling und sah hinaus auf das Wasser. Wer außer Krischan hätte ein Interesse daran, Torben Pedersen zu erschlagen? Das private Umfeld des Verstorbenen, welches er ja auch noch gar nicht kannte, würde er erst einmal außer Acht lassen. Nein, er würde eher vermuten, dass der Tod des Mannes mit dem Schiff und dem, was Pedersen da unter Deck desselbigen getrieben hatte, zusammenhing. Wer also wäre über die Sabotage der ANNE II so erzürnt, dass er dafür einen Mord begehen würde? Da fielen Willi gleich mehrere Verdächtige ein. Zum einen Krischans rechte Hand und einziger Angestellter Käpt’n a. D. Piet Dönges. Aber war der Greis tatsächlich körperlich dazu imstande, eine solche Tat auszuführen? Ja, im Grunde gehörte ja auch nicht viel Kraft dazu, jemanden hinterrücks mit einem Schraubenschlüssel zu erschlagen. Er würde dennoch recherchieren müssen, wie schwer solch ein Werkzeug war. Laut Krischan fehlte der Schraubenschlüssel mit der Schlüsselweite vierundfünfzig Millimeter. Das hörte sich im ersten Moment für ihn als Nichtmechaniker nicht sonderlich groß an. Vierundfünzig Millimeter war ja noch nicht einmal so lang wie sein Zeigefinger. Andererseits bezog sich das Maß ja auch nicht auf den Schraubenschlüssel, sondern auf den Durchmesser des Schraubenkopfes … und da waren mehr als fünf Zentimeter schon sehr groß.
Des Weiteren wären da als mögliche Täter dann auch noch Annemarie Hansen und ihr Lebensgefährte Martin von Schlechtinger. Die beiden waren allemal kräftig genug, einen jungen Mann niederzustrecken.
Annemarie hatte Krischan großgezogen. Warum dem so war, wusste Willi nicht genau. Nur so viel, dass es sich wohl bei dem Burschen um den Sohn von Annemaries Schwester handelte. Wo diese Schwester abgeblieben war, ob sie überhaupt noch unter den Lebenden weilte, entzog sich seiner Kenntnis. Was er jedoch genau wusste, war, dass Annemarie alles für ihren Ziehsohn tun würde. Rabiat genug war die auch.
Ihr Partner Martin, ein Kölner im Inselexil, war ebenfalls ganz dicke mit Krischan. Die beiden betrieben zusammen sogar eine Schnapsbrennerei im Nebengewerbe. Ganz legal war die Herstellung des Alkohols wohl anfangs nicht gewesen. Zumindest hatte Willi so etwas mal gehört. Sicherheitshalber würde er aber auch dies noch einmal überprüfen. Andererseits konnte er sich aber auch nicht vorstellen, dass Martin etwas mit dem Tod des Dänen zu tun haben könnte. Der Kölner war ein gutmütiger Tollpatsch. Nicht mehr und nicht weniger. Aber egal. Er würde sich alle drei vorknöpfen müssen. Allerdings ohne direkt mit der Türe ins Haus zu fallen. Als zukünftiger Bewohner der Insel musste er mit den dreien ja auch nach Klärung des Falls noch auskommen. Es wäre unklug, es sich in einem so kleinen Dorf, wie Langeoog eines war, mit den Einheimischen zu versauen. Zumindest nicht, wenn man hier noch seinen Lebensabend verbringen wollte.
*
Annemarie Hansen besaß schon immer ein sehr gutes Näslein. Und das nicht nur, wenn es ums Geschäft ging. Nein, sie merkte oder vielmehr sie roch es meist sofort, wenn etwas im Argen war. So wie gerade bei Martin, der zielsicher an ihrem Schreibtisch vorbei in Richtung der kleinen Teeküche schlurfte und einen ihr doch sehr vertrauten Geruch in der Luft hinterließ.
„Sag mal, Martin“, sagte sie und erhob sich aus ihrem Chefsessel.
„Ja, Schätzelein … wat gibt et denn?“, fragte Martin, der, als sie die Küche betrat, gerade auf den Startknopf der neuen Kaffeemaschine drückte.
„Kann es sein, dass du schon am frühen Morgen Bier getrunken hast?“, erkundigte sie sich und bemerkte, wie er augenblicklich rot anlief.
„Jep … hab ich … aber nur zwei klitzekleine Fläschlein … und dat war auch quasi ein medizinischer Notfall“, antwortete er und grinste verlegen.
„Ach so, ein medizinischer Notfall“, wiederholte sie und war nun wirklich neugierig, welcher Art genau dieser Notfall gewesen sein könnte. Im Grunde hatte sie nichts dagegen, wenn Martin mal ein Bier trank. Er tat dies ja nicht regelmäßig und hatte auch kein Alkoholproblem oder etwas in der Art. Wenn Martin etwas trank oder aß, dann weil es ihm schmeckte. Sie würde ihn als einen Genussmenschen sehen, der allerdings meist nur solche Dinge genoss, die für ihn, seine Gesundheit und seine Leibesfülle eher ungesund waren.
Nein, es machte sie eben heute nur stutzig, da es sonst so gar nicht seine Art war, bereits am Vormittag Alkohol zu trinken.
„Jo, wegen dem Schwiegerdoktor … dem musste ich nämlich beistehen … also so quasi wegen dem Schock“, sprach Martin ziemlich wirr. Sollten etwa bereits die zwei Flaschen geschummelt sein und er schon viel mehr getrunken haben? Andererseits neigte Martin gelegentlich dazu, sich kompliziert auszudrücken.
„Wegen Jan … was ist mit dem?“, erkundigte sie sich also neugierig. Annemarie schätzte den jungen Arzt sehr. Auch Martins Tochter, die hier bei ihr im Kontor arbeitete, war ihr in den letzten beiden Jahren außerordentlich ans Herz gewachsen.
„Mit dem Jan is nix. Aber der junge Kerl, bei dem der vorher gerade war … der is leider futsch. Mausetot … hinerrücks erschlagen“, erklärte er.
„Erschlagen? Ein junger Kerl? Wer? Wo?“, feuerte sie direkt eine ganze Salve Fragen hinterher.
Martin wackelte mit dem Kopf. Das tat er immer, wenn er nicht wusste, wie er ihr Dinge, die eher unangenehm waren, beibringen sollte. Kannte sie den Toten etwa?
„Ja … dat war wohl su … Der Krischan wollte heute Morgen mit der ANNE II raus bei die Seehundbänke“, druckste er herum.
„Krischan? Ist etwas mit Krischan?“, erschrak sie.
„Nä, Annemariechen, jetzt loss mich doch ma ausschwätzen“, schimpfte er und begann von Neuem.
„Also … wie jesat … der Krischan, der wollte mit der ANNE raus bei die Seehundbänke. Und noch im Hafen, da gibt dat einen Schlag, und der Motor is aus. Sand im Getriebe … ganz klarer Fall“, schilderte er für Annemaries Empfinden viel zu ausführlich, anstatt endlich auf den Punkt zu kommen.
„Sand im Getriebe? Bei der ANNE II?“, fragte sie noch einmal.
„Jo! Den hat da nämlich nachts einer reingeschüttet“, wusste Martin.
„Wer macht denn so was?“, war Annemarie entsetzt.
„Dat war vermutlich der Bengel, der noch tot daneben lag“, antwortete Martin.
„Neben der ANNE II?“, hakte sie noch einmal nach.
„Jo … nä … quasi direkt neben dem Motor. Im Maschinenraum. Irgendwer hät den wohl überrascht und dem eins übergezogen … Schlüsselweite vierundfuffzig … dat hält kein Kopp aus“, berichtete Martin, und Annemarie bemerkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
„Im Maschinenraum der ANNE II wurde jemand erschlagen?“
„Jo … quasi … genau su“, bestätigte Martin.
„Ja und, wer ist der Tote?“, wollte sie wissen.
„Nix Genaues weiß man nit. Der war wohl nit von hier. Vermutlich Ausländer oder su jet … aber wie jesagt, nix Genaues weiß man nit“, meinte Martin, nippte dann an seinem Kaffee, während sie bereits die Nummer von Lotta wählte. Die Inselpolizistin würde wohl Genaueres wissen. Dummerweise war der Anschluss aber besetzt.
*
„Das war Willi. Die Kollegen von der Spurensicherung sind durch und haben die ANNE II bereits wieder freigegeben“, erklärte Lotta, nachdem sie das Gespräch beendet hatte.
Nina stutzte.
„Hui, das ging aber fix“, musste sie jetzt einmal loswerden, da seit dem Auffinden des Toten ja gerade einmal ein paar Stunden vergangen waren.
„Ja, das hab ich so auch noch nicht erlebt. Aber Willi sagt, dass sie sich extra beeilt hätten, damit Krischan zügig mit der Reparatur beginnen könne. Immerhin verdient er mit der ANNE II ja unsere Brötchen“, meinte Lotta.
„Futsch is aber nu futsch. Wie soll das denn gehen mit so einem kaputten Getriebe? So etwas bekommt man nicht mal eben im Supermarkt“, jammerte Krischan derweil. Und ja … Nina wurde gerade das Gefühl nicht los, als würde der große, schlaksige Kerl bereits lallen. Krischan hatte eindeutig schon einen zu viel getrunken.
„Mensch, Krischan, nu lass dich doch mal nicht so hängen. Das kann doch nicht so schwer sein, so ein Teil zu reparieren. Das ist bestimmt auch nichts anderes wie bei meinem alten VW Bus. Da hab ich den Motor auch fast ganz alleine repariert“, mischte Klaus sich nun ein.
Nina musste schlucken. Nur zu gut konnte sie sich an die Reparaturversuche ihres Göttergatten im letzten Winter erinnern. Klaus hatte sich in den Kopf gesetzt, den Motor seines Siebzigerjahre-Bullis selbst zu überholen. Sein Glück war es gewesen, dass er Freunde hatte, die etwas von der Materie verstanden und ihm geholfen hatten, den alten Karren wieder flottzumachen. Ansonsten läge der betagte Motor nämlich immer noch in eintausend Teile zerlegt auf der Werkbank in der heimischen Garage.
„Jo … meinst du? Ich weiß ja nicht. Vielleicht wäre es doch besser, den Kutter zu verkaufen … der Pott bringt doch nur Unglück ... Erst geht der Onkel Heiner über Bord und nu auch noch der tote Mann im Maschinenraum … das is so ein richtiges Unglücksschiff … die ANNE II“, jammerte Krischan.
„Sag mal, spinnst du jetzt total?“, schrie Lotta und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Da kann doch das Schiff nichts dafür, dass dein Onkel Heiner unvorsichtig war und von Deck gespült wurde. Unser Eike ist an Bord geboren worden – das war doch ein unfassbares Glück“, fügte sie hinzu.
„Du wirst sehen, mein Lieber, das wird schon wieder werden“, meinte nun auch Klaus, griff sich die Flasche hinter Ninas Stuhl und goss Krischan doch noch einen Vater Heins Birne ein.
„Okay … einer noch … aber dann ist Schluss“, musste Nina nun doch mal ein Machtwort sprechen.
Lotta nahm derweil erneut ein Gespräch auf ihrem Mobiltelefon entgegen, und wenn Nina nicht vollkommen falschlag, dann schien es sich wohl um Annemarie Hansen zu handeln, der die Freundin nun brühwarm berichtete, was am Morgen geschehen war. Und da hieß es immer, die Friesen seien eher verschlossen und überhaupt nicht redselig. Auf Lotta und Annemarie traf diese Eigenart bestimmt nicht zu.
*
Es hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis Onno endlich einen dänischen Kollegen am Telefon hatte, der Deutsch sprach und der ihm Auskunft über Torben Pedersen geben konnte. Der Bursche war, das konnte man ohne Umschweife so sagen, ein richtiges Früchtchen gewesen. Es lag sogar ein Haftbefehl gegen den jungen Mann vor. Vermutlich war dies einer der Gründe, warum er sich fern der Heimat hier auf Langeoog aufgehalten hatte.
Torben Pedersen war ein sogenannter Umweltaktivist. Wobei Onno in diesem Fall eher die Bezeichnung Umweltterrorist sinniger finden würde. Er hatte nichts gegen Menschen, die sich für Natur und Umweltschutz einsetzten. Nein, so etwas war im Grunde sogar sehr löblich. Heikel wurde die Sache allerdings, wenn diese Aktivisten die Grenzen des Legalen verließen und sich am Eigentum ihrer Mitmenschen vergriffen. Bei Sachbeschädigung hörte der Spaß eindeutig auf.
Onno lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, schloss die Augen und dachte nach. Torben Pedersen musste irgendwo hier auf der Insel ein Quartier besitzen. Eine Ferienwohnung, ein Hotelzimmer oder ein Zimmer in einer der zahlreichen Pensionen. Die Frage war nur, wo sich dieses Quartier befand. Langeoog verfügte über zehntausendzweihundertfünfzig Gästebetten. Hinzu kamen die etwa zweitausend Betten, in denen die Einheimischen schliefen. Wobei dies auch nicht richtig war, da ja Besucher wie Nina Moretti nebst Familie und auch sein Kollege Willi nicht in offiziellen und registrierten Urlauberbetten nächtigten. Aber mal egal! Es waren alles in allem viel zu viele Betten, um sie zu kontrollieren.
Wo also sollte er da anfangen zu suchen?
Klar, früher oder später würde es einem der Gastgeber auffallen, dass ein Gast fehlte. Doch so lange konnte und wollte Onno nicht warten.
Er schrak aus seinen Gedanken auf, als, ohne dass es zuvor klopfte, die Tür der Wache aufschwang.
„Und, mein lieber Onno, hast du schon etwas über unser Opfer herausgefunden?“, erkundigte sich sein alter Freund und Kollege Willi Bogner. Sie beide kannten sich schon seit der Ausbildung. Nur zu gut konnte Onno sich an ihren ersten gemeinsamen Tag auf der Polizeischule erinnern. Sie beide auf einer Stube. Immer wieder hatten sich seitdem ihre Wege gekreuzt. Und ja … Onno war gelegentlich schon ein bisschen neidisch, dass der alte Freund es in der Hierarchie der Polizei bis zum Kriminalhauptkommissar geschafft hatte, während er, der Polizeihauptmeister, sich noch immer mit Fahrradunfällen herumschlagen musste. Andererseits hätte er aber auf den Stress, den Willis Stellung gelegentlich mit sich brachte, auch keine Lust.
„Der Herr Pedersen ist … war … ein gesuchter Mann. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Sogar per Haftbefehl“, gab Onno sein Wissen preis.
„Aha. Was hat er denn angestellt, der Herr Pedersen?“, wollte Willi wissen.
„Er und seine Tierschutzfreunde sind bei einem Landwirt eingebrochen, haben sich von dem Mann erwischen lassen und ihn dann brutal zusammengeschlagen. Schlimme Sache. Der Bauer lag mehrere Tage in einer Klinik“, berichtete Onno.
„Ach, der war so ein militanter Umwelt- oder Tierschützer?“, hakte Willi noch einmal nach.
„Genau so einer. Lotta hat letztens erzählt, dass Krischan von dieser Sorte Leute ziemlich angefeindet worden wäre. Drohbriefe, Schmierereien und solche Sachen. Anscheinend passt es diesen Herrschaften nicht, dass Krischan mit Feriengästen zu den Seehundbänken fährt“, berichtete Onno, was die Kollegin ihm vor einigen Tagen erst erzählt hatte.
„Na, das ist ja dann doch ein sehr klares Motiv für die Tat dieses Burschen“, meinte Willi, während er, als gehöre er zum Team der Inselwache, ganz selbstverständlich den Wasserkessel befüllte. Tee kochte hier normalerweise nur einer … und das war Onno selbst. Lotta bevorzugte nämlich, genau wie Onnos Lebensgefährtin Tine, Kaffee. Die Zugezogenen wussten eben nicht, was gut war.
„Ja, das sehe ich genau wie du. Dieser Torben Pedersen wollte Krischan daran hindern, mit dem Schiff rauszufahren. Der wollte die Fahrten zu den Seehundbänken ein für alle Mal unterbinden“, bestätigte Onno, ohne auf Willis Hantieren am Wasserkocher einzugehen. Im Grunde war ja nichts dabei, wenn der sich hier einen Tee kochte. Solange der nicht Onnos Stelle einnehmen wollte und nach dem Lösen des Falles wieder nach Wittmund abdampfte, war alles in Ordnung. Einen dritten Inselpolizisten, den konnten sie hier weiß Gott nicht gebrauchen. Wobei sie ja eigentlich auch noch nicht einmal zu zweit waren, da Lotta ja nur eine halbe Stelle innehatte.
„Das Motiv von Torben Pedersen Mörder dürfte auch ziemlich eindeutig sein. Irgendwer wollte Herrn Pedersen daran hindern, die ANNE II zu beschädigen“, sinnierte Willi weiter.
„Was ihm aber nicht gelungen ist. So wie Krischan sagt, ist das Getriebe der Antriebswelle nämlich hin“, erwiderte Onno. Die Tatsache, dass der alte Kutter Schaden genommen hatte, tat ihm leid. Fast mehr noch als das Ableben dieses Dänen. Nein, mit dem hatte Onno kein Mitleid. Der war doch selbst schuld gewesen. Hätte der Bursche seine Finger von anderer Leute Eigentum gelassen, dann wäre er jetzt noch quicklebendig. Wer mit dem Feuer spielte, kam eben schnell darin um. Zumindest sagte man das ja immer so.
„Hast du eine Ahnung, wer versucht haben könnte, den Herrn Pedersen an der Zerstörung des Getriebes zu hindern?“, fragte Willi und setzte sich auf Lottas Stuhl an ihren Schreibtisch. Ein Anblick, der Onno irritierte. Nein, der Willi gehörte hier eindeutig nicht hin.
Sie beide – also Onno und Lotta – waren ein eingespieltes Team. Da brauchte es kein drittes Rad am Fahrrad.
„Nein, woher soll ich wissen, wer diesen Herrn daran gehindert haben könnte?“, antwortete Onno mit einer Gegenfrage.
„Überleg doch mal. Wer, mein lieber Onno, wäre bereit, einen Menschen zu töten, um diesen alten Kahn zu schützen?“, bohrte Willi weiter.
Onno schüttelte den Kopf. Nein, da fiel ihm niemand ein. Dass Willis Frage eher hypothetischer Natur und eine Anspielung auf einige seiner besten Freunde war, war ihm allerdings ziemlich klar. Doch von denen würde niemand einen anderen Menschen umbringen. Auf gar keinen Fall.
„Nein, Willi, da fällt mir niemand ein“, erwiderte er deshalb entschlossen.
„Laut Doktor Bechersheim trat der Tod gegen Mitternacht, plus/minus eine Stunde ein. Krischan und Lotta scheiden daher erst einmal aus. Die beiden besitzen nämlich ein wasserdichtes Alibi für den Tatzeitpunkt“, ließ Willi ihn an seinen abstrusen Gedanken teilhaben.
„Die beiden würden so etwas auch niemals machen“, musste Onno jetzt einfach einmal einwerfen.
Willi wackelte mit dem Kopf, als sei er da nicht ganz Onnos Meinung.
„Auf alle Fälle müssen wir überprüfen, wie es um die Alibis von Annemarie Hansen, Martin von Schlechtinger und dem Kapitän a. D. Piet Dönges bestellt ist“, meinte er nun auch noch, und Onno glaubte sich verhört zu haben.
„Wie bitte? Du denkst, dass Martin, Annemarie oder der Käpt’n zu solch einer Tat fähig seien?“, empörte er sich und hieb, ohne es zu wollen, mit der Faust auf den Tisch. Das war ja wohl das Allerletzte. Nie und nimmer wären seine Freunde zu so etwas imstande. Wobei er sich bei Onkel Piet da nicht so sicher war. Der alte Seemann hatte es, wie Onno glaubte, faustdick hinter den Ohren. Dennoch galt auch für Onkel Piet die Unschuldsvermutung.
„Also, ich würde für niemanden die Hand ins Feuer legen. Weder für einen Freund noch für meine Familie“, erwiderte Willi.
„Vermutlich, weil du weder das eine noch das andere hast“, rutschte es Onno heraus. Noch bevor er den Satz beendet hatte, tat es ihm bereits schon leid, weshalb er sich sofort um Schadensbegrenzung bemühte.
„Entschuldige, Willi, das war nicht so gemeint. Es ist nur … weil … na ja … wir beide sind ja auch Freunde … und ich könnte mir das bei dir auch nicht vorstellen, dass du so etwas tust“, versuchte er sich zu erklären.
Willi winkte ab.
„Schon gut, mein Lieber. Du musst dich nicht entschuldigen“, fand der alte Kollege und schien tatsächlich in keiner Weise beleidigt zu sein. Dennoch wirkte er plötzlich sehr nachdenklich. Die anschließende Stille im Revier war fast bedrückend.
„Ähm … ja … ich muss dann mal … auf Streife … muss ich dann mal“, stammelte Onno dann irgendwann nach einer gefühlten Ewigkeit. Er brauchte jetzt Luft. Die Stimmung in diesem Raum schnürte ihm den Hals zu. Er musste hier raus, um nachzudenken. Der Nordseewind würde ihm guttun. Willi nickte in Gedanken, und Onno sah zu, dass er schleunigst das Weite suchte. Ein Kontrollgang hinüber zum Strand würde ihm helfen, sich zu beruhigen.
Kapitel 3
Sonntag, 5. Juni 2022, 16:42 UhrHafen/Insel Langeoog
Das Wetter am heutigen Sonntag würde Klaus Schmitz als wunderbarstes Strandwetter bezeichnen. Nun gut, zum Baden war die Nordsee Anfang Juni schon noch ein wenig kalt. Zumindest nach seinem Empfinden. Andere sahen das nicht so. Als er gestern am späten Nachmittag, kurz nach ihrer Anreise, zum ersten Mal am Strand gewesen war, hatten sich dort doch schon einige Unerschrockene in die Fluten gestürzt. Klaus war ein bekennender Warmduscher und hatte keine Probleme damit, dies zuzugeben.
Dennoch wäre er heute schon gerne mit seiner Frau Nina und den Kindern zum Strand gegangen, um einfach im Strandkorb in der Sonne zu dösen und dabei den Wellen zu lauschen. Vielleicht hätte er später auch noch mit den Zwillingen eine Sandburg gebaut. Ja, das wäre toll gewesen. Stattdessen radelte er gerade mit Krischan, Martin und einem Anhänger voller Werkzeug zum Hafen. Dicht neben Martins altem Drahtesel, den der in den Farben des 1. FC Köln angemalt hatte, trottete Hündin Lumpi.
„Sag mal, Martin, meinst du nicht, es wäre besser, du würdest Lumpi anleinen?“, erkundigte er sich bei dem Kölner Urgestein.
„Nä, wieso dat dann? Dat Lumpi tut doch keinem wat tun“, erwiderte der Angesprochene.
„Ich meine gelesen zu haben, dass Hunde, außer an den ausgewiesenen Hundestränden, immer angeleint werden müssen“, äußerte Klaus seine Bedenken.
„Wie? Tut dat da wirklich stehen tun?“, erkundigte sich der Kölner und grinste schelmisch.
Klaus sagte nichts mehr. Martin wusste sehr genau, welche Regeln es hier auf der Insel gab, und scherte sich einen Kehricht darum.
Ja, Klaus wollte Krischan tatsächlich helfen, sein Schiff wieder flottzumachen. Es war ihm ernst damit gewesen, als er am Mittag meinte, dass man das doch sicher reparieren könne. Dennoch kamen ihm jetzt, wo sie den Hafen erreichten, ernsthafte Zweifel, ob sie drei tatsächlich in der Lage waren, das Getriebe an einem Schiff instand zu setzen. So wie das am Morgen geknirscht, gerumpelt und schließlich gekracht hatte, war da bestimmt einiges zu Bruch gegangen. Im Grunde hatten weder Krischan noch er selbst Ahnung von Maschinen. Wenn er an die Aktion im letzten Winter mit seinem Bulli-Motor dachte, dann wurde ihm immer noch ganz flau im Magen. Ohne seine Kumpels von den „Westerwälder Bullifreunden“ hätte er das gute Stück niemals mehr zusammenbekommen. Zum Glück hatte Martin von Schlechtinger sich bereit erklärt, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Doch der Mann war Fachmann für Heizung und Sanitär. Klaus bezweifelte, dass der Kölner jemals zuvor an einem Schiffsantrieb herumgeschraubt hatte.
Bis zum Schiff fuhren sie schweigend. Dort luden sie das Werkzeug aus dem Fahrradanhänger und trugen es an Bord. Martin schien für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Was der aber zum Beispiel mit einer elektrischen Stichsäge wollte, entzog sich Klaus’ Vorstellungskraft.
„Eieieiei … huiuiuiui … wat eine Sauerei“, fand der Kölner, als sie den Maschinenraum hinter der kleinen Kajüte betraten.