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Der neue Roman von Nummer-1-SPIEGEL-Bestsellerautorin Ildikó von Kürthy: mitreißend, warmherzig und witzig. Ein lebenskluger Roman für und über Frauen, die aus dem Schatten treten, zerstörerische Beziehungen beenden und endlich die Bühne ihres eigenen Lebens erobern. Ein zerrissenes Foto bringt die Wahrheit ans Licht. Es ist die Momentaufnahme eines Verrats, der vier Schicksale miteinander verbindet, sie zusammenführt und mit den unbequemen Fragen der Lebensmitte konfrontiert: loslassen oder festhalten? Wer bin ich, wenn ich niemandem mehr gefallen will, und wo will ich hin, wenn ich mir von niemandem mehr sagen lasse, wo es langgeht? Ruth flieht mit dem Foto und ihrem viel zu großen Hund in die alte Villa der Großeltern. Dort trifft sie nach Jahren des Schweigens auf ihre Schwester, erkennt die Lüge, die sie entzweit, und das Verbrechen, das ihr Leben bestimmt hat. Sie schließt Rudi in ihr Herz, der sich im ersten Stock mit sanftmütiger Tapferkeit auf seinen Tod vorbereitet, aber vorher noch ein letztes Mal für Ordnung sorgen will. Sie begegnet Erdal, der unter Wechseljahresbeschwerden leidet und aus Versehen eine folgenschwere Entscheidung trifft, als er seine Cousine in die Villa einlädt. In schneller Abfolge gehen eine Nase und etliche Illusionen zu Bruch. Ruth tritt aus dem Schatten ihrer Vergangenheit. Und das Ende ist eigentlich erst der Anfang. «Ein Buch für alle, die Sehnsucht nach Freiheit haben!» Maria Furtwängler «Ildikó vermittelt in ihren Texten, wie auch im Leben, immer das berauschende Gefühl von Lebensfreude und Zuversicht. Sie nimmt sich ernst, aber nicht zu ernst. Sie wagt neue Wege und lädt uns dazu ein, sie zu begleiten. Ihre Botschaft: Lasst es uns probieren! Aufbruch und Neubeginn. Morgen kann kommen!» Bettina Böttinger
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Seitenzahl: 448
Ildikó von Kürthy
Roman
«Dieses Buch ist ein Befreiungsschlag! Mitreißend und bewegend, klug erdacht und ebenso warmherzig wie witzig geschrieben. Ein Roman für alle, die nicht länger gefallen wollen.» Maria Furtwängler
Ein zerrissenes Foto bringt die Wahrheit ans Licht.
Ruth flieht mit ihrem viel zu großen Hund in das Haus ihrer Kindheit und wird von der Erinnerung eingeholt an den Tag, an dem sich ihr Leben verändert hat. Sie trifft auf Menschen, deren Schicksale schon seit Langem unsichtbar mit ihrem eigenen verwoben sind: den gutmütigen, todgeweihten Rudi und den ichvergnügten Erdal, die überwältigende Fatma, die geheimnisvolle Wanda und natürlich Gloria, ihre große Schwester, die Verräterin, die ihr trotzdem all die Jahre so sehr gefehlt hat.
Was ist damals wirklich geschehen?
Die Schwestern erkennen die Lüge, die sie entzweit hat, und als das Schicksal schließlich zuschlägt, schlagen sie zurück.
In schneller Abfolge gehen dabei eine Nase, zwei Beziehungen und etliche Illusionen zu Bruch.
Und das Ende ist erst der Anfang.
Morgen kann kommen.
Ildikó von Kürthy ist Rheinländerin, Mutter von zwei Söhnen, Journalistin und Kolumnistin bei der Brigitte. Sie lebt mit ihrem Mann und den Kindern in Hamburg, und besonders an Karneval hat sie schlimme Sehnsucht nach ihrer alten Heimat. Ildikó von Kürthys Romane wurden mehr als sechs Millionen Mal gekauft und in 21 Sprachen übersetzt. Sie ist eine der meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen, ihr erster Roman «Mondscheintarif» wurde fürs Kino verfilmt, und auch ihre Sachbücher, «Unter dem Herzen», «Neuland» und «Hilde» waren allesamt Bestseller. Zuletzt erschien ihr Roman und Nummer-1-Bestseller «Es wird Zeit».
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn Sie sich darüber informieren möchten, gehen Sie bitte auf die jeweilige Produktseite auf unserer Homepage www.rowohlt.de.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Seite 5 Madonna, The Power of Good-Bye, Text: Madonna, Richard W. Nowels
Seite 198 Gipsy Kings, Bamboleo, Komponisten Jahloul Bouchikhi, Tonino Antoine Baliardo, Simon Diaz. Text von Nicolas Reyes, Jahloul Bouchikhi, Simon Diaz
Seite 241 Irene Cara, Fame, Komponist Michael Gore. Text von Dean Pitchford
((Hinweis Contentnote))
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg, nach einem Entwurf von büro ident
Coverabbildung Illustrationen: Peter Pichler
ISBN 978-3-644-01166-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Es geschah an dem Tag, an dem ich neu anfangen wollte. Ich dachte, ich hätte das Schlimmste hinter mir. Der Gedanke sollte sich als falsch herausstellen. Denn das Schlimmste lag unmittelbar vor mir. Das Schicksal spannte sich wie ein nahezu unsichtbarer Draht über meinen Weg, es lockte mich in die Falle an einem Ort, der an Gewöhnlichkeit nicht zu überbieten war. Der Angriff traf mich entsprechend unvorbereitet und wehrlos.
Ich stolperte, ich fiel und schaffte es nicht mal mehr, meine Hände schützend vor mein Gesicht zu halten. Ich fühlte, wie ich innerlich zerbrach, jener kümmerliche Rest von mir, der nach all dem, was geschehen war, dennoch heil geblieben war. Diesmal, das wurde mir im selben Moment klar, würde ich es alleine nicht wieder auf die Füße schaffen.
Und ich wusste auch, mit seltsamer, mich selbst überraschender Überzeugung, dass es nur eine Person gab, die mir würde helfen können. Keine Ahnung, warum ihr Bild mir plötzlich so deutlich vor Augen erschien, als stünde sie neben mir, um mir ihre helfende Hand zu reichen.
Ausgerechnet sie. Nach all dem, was passiert war.
Immer noch unfassbar. Unverzeihlich. Unvergessen.
Kein Tag war in den letzten fünfzehn Jahren vergangen, an dem ich nicht daran gedacht habe, was sie mir angetan hatte. Kein Tag, an dem ich sie nicht verflucht habe, fassungslos über ihren schäbigen Verrat, kein Tag, an dem ich nicht innerlich vor Wut geschäumt habe und vor Kummer zerrissen war. Kein Tag, an dem ich sie nicht vermisst habe, so sehr, dass ich manchmal dachte, mir fehlt ein Teil von mir selbst.
Ich glaube, am meisten habe ich ihr übel genommen, dass sie mich gezwungen hat, ohne sie zu leben. Sie hat mich hinter sich gelassen und dafür gesorgt, dass es keinen Weg zurück gab. Sie hat nie um Verzeihung gebeten. Warum auch. Sie wusste, dass ich ihr nie verzeihen würde.
Daran hat sich in all den Jahren nichts geändert.
Trotzdem muss ich mich jetzt auf den Weg zu ihr machen.
Wohin sonst.
Ich stehe im Drogeriemarkt zwischen den Fotoecken, den Handseifen und den Haarfärbeprodukten mit einhundertprozentiger Grauabdeckung und strahlender Farbintensität, als ich beschließe, wieder glücklich zu werden. Oder wenigstens glücklicher. Ich sehe mich um, beschwingt von meiner Entscheidung und von der Banalität meiner Umgebung, die in angenehmem Kontrast zu meiner gloriosen inneren Verfassung steht.
Ich hatte mir seit Wochen leidgetan, mit meinem unglücklichen Los gehadert und mich vor diesem Tag gefürchtet. Mein einundfünfzigster Geburtstag und mein fünfzehnter Hochzeitstag. Meine Angst vor diesem schwarzen Doppeljubiläum war so groß gewesen, ich hatte so viele Nächte wach gelegen, so viele Stunden geweint, dass ich heute Morgen beim Aufwachen lieber sofort liegen geblieben war. Ich hatte vor, den Tag reglos unter meiner Decke zu verbringen, zu versuchen, ihn zu ignorieren, und darauf zu hoffen, dass er mich ebenfalls einfach übersehen würde. Erst gegen Mittag hatte ich erstaunt festgestellt, dass alle Angst aufgebraucht und für das Ereignis selbst keine mehr übrig geblieben war.
Es war wie bei meinem Bio-Referat über den Zitronensäurezyklus in der zehnten Klasse. Ich hatte mich von dem Tag an davor gefürchtet, als mich unsere Biologielehrerin Frau Opitz mit strengem Blick dafür ausgewählt hatte. Ich wollte die Schule wechseln, ausreißen oder wahlweise sterben. Und als ich endlich, schlotternd, von wochenlanger Furcht gezeichnet und einem Nervenzusammenbruch nahe, vor die Klasse trat, sagte ich: «Der Citratzyklus ist ein Teil der Atmungskette von Pflanzen und Tieren, bei der Energie durch den Abbau von organischen Substanzen bereitgestellt wird.» Und nichts geschah. Die Erde tat sich nicht auf, um mich zu verschlucken, meine Mitschüler lachten mich nicht aus, da sie sich für meinen Vortrag nicht interessierten, und Frau Opitz war an dem Tag krank, und der Vertretungslehrer, der normalerweise Kunst und Pädagogik unterrichtete, gab mir, wohl eher aus Unkenntnis als aus Wertschätzung, eine Eins.
Damals lernte ich, dass Vorfurcht die schlimmste Furcht ist. Ihr helles Pendant ist die Vorfreude, die ebenfalls oft größer ist und länger dauert als das freudige Ereignis selbst. Was ich leider nicht lernte, war, wie es gelingen kann, sich die Angst für den Moment aufzusparen, wo man sie zu Recht hat. «Wir überqueren die Brücke dann, wenn wir sie erreichen», hatte mein Vater oft gesagt, wenn es mir bereits im Herbst vor den Bundesjugendspielen im Sommer gruselte. Er hoffte, mich dadurch zu beruhigen. Das misslang zuverlässig.
Den Buchtitel Sorge dich nicht – lebe! habe ich stets als Verhöhnung meines komplexen Charakters empfunden, da die Sorgen für mich zum Leben gehören wie Wolken am Himmel, Krümel im Bett oder Kopfweh nach einigen Wodka Lemon. Und ich kenne eigentlich keine Frau, die sich durch die beschämende Schlichtheit von Songs wie Don’t Worry, Be Happy nicht in ihrer vielfältigen Weiblichkeit abgewertet fühlt.
Würde ich so weit gehen zu behaupten, dass ich mir gerne Sorgen mache? Darüber muss ich nachdenken, aber für ausgeschlossen halte ich es nicht. Was wäre ich ohne meine Sorgen? Eine öde Geschichte, ein Kardiogramm ohne Ausschläge, ein Jahr ohne Jahreszeiten. Jedenfalls würde mich ein Buch mit dem Titel Sorge dich – lebe! wesentlich mehr ansprechen.
Manchmal beneide ich natürlich jene stoischen Gemüter, die sich nur die Sorgen machen, die sich zu machen lohnen, und nur die Gefühle fühlen, für die es einen entsprechenden und zeitnahen Anlass gibt. Aber ich hätte völlig umsonst mehrere Tausend Euro in ein jahrelanges Coaching investiert, wenn ich immer noch glauben würde, in mir verberge sich eine Frau, die die Brücke erst dann überquert, wenn sie sie erreicht.
Ich hatte dem heutigen Schreckensdatum also mit entsprechendem Schrecken entgegengesehen, dann aber bis zum Nachmittag einen geradezu leidenschaftlichen Tatendrang und das dringende Bedürfnis entwickelt, meine Haare umzufärben, meinen ganzheitlich orientierten Personal-Life-Coach Carlos Weber-Stemmle um einen Notfalltermin zu bitten und mein Leben und meinen Mann zurückzuerobern. In genau dieser Reihenfolge. Ich würde nicht zulassen, dass dieses Datum ein Datum des für immer konservierten Grauens und dass die kommenden Monate verlorene werden würden. Ich würde mir meine kostbare Zeit nicht vom Schicksal stehlen lassen. Und auch nicht von sonst jemandem.
«Ruth Westphal geht mutig ihren eigenen Weg.» Ich hatte gelesen, dass man sich mit vollem Namen ansprechen soll, wenn man von sich selbst ernst genommen werden möchte.
Vom Hochgefühl der kommenden Veränderung beflügelt, schwebe ich eilig durch den warmen Mairegen zum nächstgelegenen Drogeriemarkt. Ich würde die Weichen für meine Zukunft stellen und mich über die neuesten Trends auf dem Haarfarbenmarkt informieren. Das letzte Jahr hatte mich diesbezüglich gezeichnet, und der Grauschleier, der sich über mein Leben gelegt hatte, hatte auch vor meinem Haaransatz nicht haltgemacht. Ein halbes Jahrhundert lang war ich honigblond und von schlanker Gestalt gewesen. Beides war zugegebenermaßen vom Schöpfungsplan her ursprünglich anders vorgesehen, denn ich war ein moppeliges Kind mit einem tristen Naturton gewesen. Aber dank Farbe und Ernährungsdisziplin musste ich mich mit meinem eigentlichen Selbst nie anfreunden.
Dem global anerkannten Leitsatz «Liebe dich so, wie du bist!» hätte ich nicht zu widersprechen gewagt, ihm still jedoch einige Fußnoten hinzugefügt. Ja, ich liebe mich so, wie ich bin. Es sei denn, ich fühle mich gerade mal wieder durch eine Nichtigkeit nachhaltig gekränkt. Oder ich will mich in großer Runde über die populistischen Thesen der AFD ereifern und nenne sie versehentlich PDF. Oder ich gerate in Panik, statt einen kühlen Kopf zu bewahren, und verschlimmere meine Situation dadurch noch. Oder ich breche meine Meditation nach wenigen Minuten ab, weil mir in meinem Gedankenkarussell schwindelig wird. Oder ich esse ein zweites und ein drittes Stück Kuchen. Oder ich entdecke am Haaransatz erste Anzeichen der Person, die ich eigentlich wäre, wenn ich mich nicht vor Urzeiten für eine blonde Version von mir entschieden hätte. Meine Selbstliebe ist – das gebe ich zu, natürlich nicht öffentlich oder in meiner Meditationsgruppe – an gewisse Bedingungen geknüpft. Die Zusammenrottungen grauer Haare auf meinem Kopf empfinde ich als inakzeptabel, und ich werde mich ihnen mit putinhafter Null-Toleranz und einer Packung Brond-Blond entgegenstellen. Ich werde in die Schlacht ziehen und will dabei nicht aussehen wie ein Schlachtfeld. Heute ist mein einundfünfzigster Geburtstag, und das Letzte, was ich in meinem fragilen Zustand will, ist, so alt auszusehen, wie ich bin und wie ich mich fühle.
Schon mein Fünfzigster war nicht meinen Vorstellungen entsprechend verlaufen. Ich hatte mit meinem Mann und meiner Schwiegermutter feiern müssen. Ein Candle-Light-Dinner in ihrem Pflegeheim. Schonkost. Von 17 Uhr 30 bis 19 Uhr 30, um den Betrieb nicht durcheinanderzubringen. Mein Mann hatte darauf bestanden mit dem Hinweis, dass es womöglich der letzte meiner Geburtstage sein könnte, den ich mit seiner Mutter würde feiern können.
«Rechnest du im nächsten Jahr mit meinem Ableben?», hatte ich mit fröhlichem Sarkasmus gefragt, aber der Scherz war auf taube Ohren gestoßen. Mein Mann liebt seine eigenen Witze und seine Mutter über alles, und ich möchte weiß Gott nicht hartherzig klingen, aber den Satz «Vielleicht ist es das letzte Mal» habe ich in zwanzig Jahren an jedem Geburtstag, jedem Weihnachten und meist auch an Ostern und Silvester gehört, es sei denn, wir waren im Skiurlaub.
Irgendwann hatte ich die Hoffnung aufgegeben, in diesem Leben noch mal ein Fest ohne meine zänkische Schwiegermutter zu feiern, der ich für ihren Sohn nicht gut genug war und die keine Gelegenheit ausließ, mich darauf hinzuweisen. Obwohl sie ständig krank und unleidlich war, hatte sie sich als außerordentlich zähe Kreatur erwiesen. Dass meine Schwiegermutter dann ausgerechnet am Abend meines fünfzigsten Geburtstags mit fünfundneunzig Jahren sanft entschlafen war, hatte irgendwie ein ungünstiges Licht auf mich und mein rundes Jubiläum geworfen. Mein Mann hatte sich von diesem Schicksalsschlag nicht richtig erholt, und ich werde den heutigen Geburtstag nicht nur ohne Schwiegermutter, sondern auch ohne Mann feiern. Er befindet sich in einer Auszeit, angeblich, um sich selbst zu finden. Was aber, wenn er eigentlich etwas ganz anderes sucht? Diesen Gedanken schiebe ich energisch beiseite. Dieser 15. Mai wird unvergesslich werden.
Ich hatte ja keine Ahnung, wie recht ich behalten sollte.
Eine mollige Frau drängt sich an mir vorbei, streift mich mit ihrem Einkaufskorb und murmelt eine Entschuldigung. Ich blicke nicht auf. «Brond-Blond», so entnehme ich dem Herstellerhinweis auf der Packung, «ist die neue Trendfarbe, die durch Jessica Alba, Giselle Bündchen und Jennifer Aniston an Bedeutung gewonnen hat. Es handelt sich um einen hypnotisierenden Look, eine Mischung aus Wagnis und Dezenz. Brond-Blond schmeichelt jedem Hauttyp und macht aus seiner Trägerin eine Frau von Format.»
Das spricht mich total an, denn als Frau von Format würde ich mich schon gern sehen, auch wenn mir für ein echtes Giselle Bündchen ungefähr anderthalb Meter Körpergröße fehlen. Ich straffe die Schultern und erinnere mich daran, dass ich ja beschlossen hatte, ab heute eine glückliche und in sich selbst ruhende Frau zu sein. Ein wenig Brond-Blond kann bei dieser Transformation nicht schaden. Es ist wie die Prise Muskatnuss am Brokkoli. Nicht notwendig, aber hilfreich.
Ich gehe in Richtung Kasse, vorbei an dem Wickeltisch und dem Sofortdrucker für Fotos, als ich hinter mir ein anklagendes, volltönendes Seufzen höre. Ich drehe mich um und sehe eine hagere Drogeriemarkt-Mitarbeiterin vor dem Apparat stehen. «Jetzt hat hier schon wieder jemand ein Foto vergessen», sagt sie halblaut und wendet sich dann vorwurfsvoll an mich. «Ist das Ihres?»
Ich schüttle erleichtert den Kopf. Ich bin immer froh, wenn ich an etwas keine Schuld habe und die Verantwortung für einen Fehler weit und überzeugt von mir weisen kann. Wahrscheinlich, weil ich immer bereitwillig Verantwortung übernommen habe für sämtliche Fehler, die in meinem Umfeld gemacht wurden, inklusive für das schlechte Wetter an den Wochenenden, unpünktliche Züge und die unbefriedigende Wassertemperatur von Meer und Badeseen an Ferienorten.
«Dann muss das die Kundin von eben gewesen sein», murmelt die Angestellte. «Hat einen riesigen Haufen Bilder ausgedruckt und das hier wohl übersehen. Selber schuld. Ich hab jetzt Feierabend.» Mit einer energischen Bewegung, in der mehr Aggression zutage kommt, als dem Anlass angemessen ist, zerreißt sie das Foto, wirft es in den Papierkorb neben dem Drucker und trottet erbost in Richtung Damenhygieneartikel. Selbst ihr Rücken signalisiert Gereiztheit.
Ist es harmlose Neugier, eine nebulöse Ahnung, einfach Zufall oder schlicht Schicksal? Ich trete einen Schritt näher, vergewissere mich, dass mich niemand beobachtet, und fische die vier Foto-Fetzen aus dem Abfall. Ich bekenne mich zu meinem Interesse am Leben anderer Leute. Ich folge ihnen auf Instagram und Facebook, ich lese ihre Todes- und Geburtsanzeigen, ich schaue mir in Wohnzeitschriften ihre Häuser an, und ich liebe es, durch dunkle Straßen zu spazieren und in erleuchtete Fenster zu spähen, winzige Ausschnitte aus dem Alltag Fremder zu erhaschen. Familien beim Abendbrot, Menschen am Schreibtisch, Freunde beim Essen, Paare vor dem Fernseher. Einmal beobachtete ich in einer großen Wohnküche im ersten Stock in der Zeppelinstraße zwei tanzende Frauen. Die Musik konnte ich nicht hören, aber ich sah ihre Zuneigung und ihre Freude und dachte, dass dort wohl das Glück zu Hause sein müsste. Ich stand minutenlang auf der gegenüberliegenden Straßenseite und fragte mich, was Menschen denken würden, wenn sie in unsere Fenster blicken könnten. Aber wir haben elektrische Rollläden, die sich mit der Dämmerung zwischen uns und die Welt draußen senken. Es gab einiges zu verbergen. Getanzt haben wir nie.
Die fröhlichen Frauen in der Küche. Ewig her. Alles, was länger als zwei Wochen zurückliegt, kommt mir ewig her vor. Wie absurd, dass ich bis dahin ständig andere Menschen für glücklicher hielt als mich selbst. Ich habe so viel Zeit vertan mit unzufriedenem Hadern und schmallippigem Vergleichen. Ich befand mich in einer beständigen Konkurrenz, insbesondere zu anderen Frauen. Karriere, Figur, Frisur, Intelligenz, Schönheit, Einrichtungsstil, Ferienhäuser. Sind die Kinder wohlgeraten, studieren sie im Ausland, in welchem Zustand befindet sich der Vorgarten, das Souterrain, das Gesicht, der Stoffwechsel und die Ehe der betreffenden Person? Ich fand, dass ich häufig im direkten Vergleich schlechter abschnitt, und tat selbstverständlich alles dafür, um von den Frauen beneidet zu werden, die ich beneidete. Das war anstrengend, aber ich denke, es ist mir im Großen und Ganzen recht gut gelungen.
Was ich darüber aus den Augen verloren hatte, war, dass ich tatsächlich beneidenswert gewesen war und allen Grund dazu gehabt hätte, glücklich zu sein. Vergangen. Vorbei. Mit einem Schlag. Heute vermisse ich sogar meine Schwiegermutter, und mich beneidet niemand mehr. Die meisten haben Mitleid. Manche wechseln die Straßenseite. Als sei «Auszeit» chronisch und ansteckend.
Ich setze das Foto langsam und ehrfürchtig auf dem Wickeltisch zusammen, gespannt auf den Lebensausschnitt, der sich hier vor mir auftun wird. Eine Landschaft vielleicht, ein Haus oder ein Schnappschuss aus dem letzten Urlaub? Werde ich in ein Gesicht blicken? In fremde Augen? Was für eine Geschichte werden sie mir erzählen?
Eine Zehntelsekunde später entgleitet mir mein Leben. Ich starre auf das Foto, kehre mir die einzelnen Teile wie Brotbrösel in die Handfläche und haste los wie von Sinnen. Aus dem Geschäft, durch die Fußgängerzone, über die Isarbrücke bis zu meinem Parkplatz. Ich werfe meine Handtasche und das zerrissene Foto auf den Beifahrersitz.
Einmal tief durchatmen, um wenigstens einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Ich gebe wie ferngesteuert die Adresse ins Navi ein. Ich kann sie natürlich auswendig, auch wenn ich ewig nicht mehr dort gewesen bin. Ohnsorgweg. Das Haus ohne Hausnummer. Heimat. Acht Stunden und sechzehn Minuten. Siebenhundertsiebenundneunzig Kilometer. Die Karte zeigt zäh fließenden Verkehr im Münchner Stadtgebiet und einen Stau vor Leipzig an, der Elbtunnel ist ab 22 Uhr nur zweispurig befahrbar. Ich werde voraussichtlich gegen Mitternacht in Hamburg sein.
Ob sie zu Hause ist? Wohnt sie überhaupt noch dort? Wir haben seit jener Nacht nie wieder voneinander gehört. Sie hat nicht mal versucht, ihre Tat zu erklären oder runterzuspielen. Kein Wort. Keine Nachricht. Keine Entschuldigung. Sie war einfach verschwunden und hatte eine Spur der Verwüstung und Verzweiflung hinterlassen. Sie hat so viel kaputt gemacht.
Sie hat mir auch Hamburg weggenommen, diese Stadt, die ich mal geliebt habe wie ein zweites Zuhause, wo ich meinen ersten Kuss und meinen letzten Liebeskummer erlebt habe. Ich erinnere mich an Dachschrägen und geblümte Tapeten, an Weihnachts-Lebkuchen, Sonnentage an der Elbe, Picknick im Park und Kuchen vom Blech in Blankenese.
In meiner Erinnerung roch es im Haus immer nach Möbelpolitur, alten Büchern und Hausmannskost. Wenn wir kamen, waren die Betten frisch bezogen und der Boiler im Badezimmer voll mit heißem Wasser. Frisch gebadet unter gestärkte, duftende Bettwäsche schlüpfen, die auf der warmen Haut allmählich ihre Kühle und Festigkeit verliert, um schließlich den ganzen Körper mit Frische und Wärme freundlich und schützend zu umhüllen. Rosafarbene Vorhänge. Ein kleiner Kronleuchter an der Decke. Eine pastellgrüne Kommode. Und dann einschlafen in meinem Prinzessinnenzimmer mit dem wunderbaren Wissen: Es sind Ferien, und ich darf Nutella direkt aus dem Glas essen! Das ist Kindheit bei Oma und Opa.
Wie habe ich das geliebt. Wie fehlt mir das bis heute.
Und ich konnte nicht mal Abschied nehmen.
Steht das Haus noch? Und wenn ja, wird sie mich reinlassen, anschreien, auslachen, mit den altbekannten Vorwürfen überhäufen oder gleich wieder wegschicken? Die Fragen schießen mir wie Querschläger durch den Kopf. Für Antworten habe ich keine Kraft mehr. Ich muss los.
Ein paar Minuten später, am Friedensengel, fällt mir ein, dass ich meinen Hund vor dem Drogeriemarkt vergessen habe. Ich wende in wilder Panik. Das gutmütige Tier begrüßt mich, als habe es mich Jahre nicht gesehen und schon lange nicht mehr mit meiner Rückkehr gerechnet. Das tut dieser Hund allerdings immer, auch wenn ich nur auf der Toilette war.
Ich habe ihn erst seit einer Woche und gegen den ausdrücklichen Rat meines Coaches Carlos Weber-Stemmle angeschafft. «Ein gedankenloser und unnötiger Befreiungsschlag auf Kosten eines unschuldigen Tieres», hatte er mein Vorhaben genannt. «Es ist eine kindische Provokation, die Sie da planen. Wenn Ihr Mann irgendwann zurückkommt, was machen Sie dann? Sie wissen, dass er Angst vor Hunden hat. Dann heißt es: er oder das Tier.»
«Wenn es dazu kommt, kann ich meinen Mann bestimmt in gute Hände abgeben», versuchte ich einen Scherz, der sich meinem Gegenüber anscheinend nicht erschloss. «Ich werde einen kleinen, harmlosen, lieben Hund aussuchen», sagte ich besänftigend. «Einen, der meinem Mann genauso wenig Angst macht wie ich.»
Mir hatte ein handtaschengroßes, pflegeleichtes Tier vorgeschwebt, gerne mit hypoallergenem Fell, nicht haarend und von unkompliziertem Charakter. Ein Hund, wie ihn die Eltern in den wohlhabenden Stadtteilen ihren kleinen Töchtern zum Geburtstag schenken. Hunde, die wie ihre kleinen Frauchen Frieda, Paula oder Lotta heißen, in rosafarbenen Hundebettchen schlafen, farblich aufeinander abgestimmte Halsbänder und Leinen tragen und einen eigenen Account bei Instagram haben.
Ich beschrieb der Frau im Tierheim sehr genau, was für eine Vorstellung ich von meinem zukünftigen Mitbewohner hatte. «Es sollte ein Mädchen sein und sich freuen, wenn ich nach Hause komme, mich trösten und freundlich, ruhig und gemütlich sein. Der Hund darf nicht viele Ansprüche und keine Starallüren haben. Ich möchte mich in seiner Gegenwart entspannen und ganz ich selbst sein können», hatte ich gesagt und im Stillen hinzugefügt: Er soll einfach das genaue Gegenteil von meinem Mann sein.
Die Tierheim-Angestellte betrachtete mich einen Moment lang kritisch und sagte dann: «Sie erwarten ja eine ganze Menge von einem Hund. Was haben Sie ihm denn im Gegenzug zu bieten?»
Die Frage überraschte mich, und nach kurzem Nachdenken antwortete ich: «Ich habe viel Platz, viel Zeit und ein großes Herz für Tiere. Ich bin mit Hunden aufgewachsen, ich habe meine Kindheit in der Hütte unseres Boxers Imperator verbracht. Hunde gehören für mich zu einem kompletten Leben dazu.»
«Und bis jetzt war Ihr Leben nicht komplett?»
«Die Situation hat sich geändert.» Mein Ton machte der Dame deutlich, dass ich an dieser Stelle keine weiteren Nachfragen mehr wünschte.
Sie hatte mich an vielen Zwingern vorbeigeführt, und das Herz war mir immer schwerer geworden. So viele ungewollte, eingesperrte Hunde. Wer würde sich ihrer erbarmen? Manche hatten nicht einmal den Kopf gehoben, als wir vorbeigingen, andere hatten zaghaft mit dem Schwanz gewedelt und waren schüchtern zur Tür getrottet. Ich neige zur inneren Melodramatik und war mir, während ich durch das Tierheim ging, auf einmal selbst wie eingesperrt vorgekommen. Als würde ich von einem Käfig in den anderen schauen, während sich die Frage stellte, wer hier eigentlich wen retten könnte und ob es nicht sinnvoller wäre, einen gemeinsamen Ausbruch zu planen. Denn trotz bester Lage am Englischen Garten, lichtdurchfluteter Zimmer mit Intarsienparkett, trotz Wohlstand, Sicherheit, Personal Coach und einer privaten Pilatesgruppe war aus meinem Leben irgendwie ein stetig schrumpfender Zwinger geworden. Aber wer hatte mich hineingezwungen, wer hatte den Schlüssel, und wer würde mich befreien?
Ein kleiner Terrier hatte sich förmlich gegen das Gitter geworfen und in die Luft geschnappt wie nach einem unsichtbaren Angreifer. «So kommst du hier nie raus», hatte ich gedacht, «du musst dir schon ein wenig Mühe geben zu gefallen. Du machst den Leuten ja Angst.» Der Terrier bellte wütend, als würde er sich gegen sein Schicksal auflehnen wollen und zeigen, wie viel Wut und wie viel Leben noch in ihm steckten. Ich war schnell und beschämt weitergegangen. Ich war, hatte ich kurz gedacht, schon viel zu lange nicht mehr wütend gewesen.
Und dann sah mich Dagmar. Sie war würdevoll, aber zügig zu ihrer Zwingertür galoppiert, hatte mich kurz inspiziert, sich entschieden und keinen Widerspruch geduldet. Und ich hatte zum ersten Mal seit Tagen wieder gelächelt. Eine halbe Stunde später verließ ich das Tierheim mit einer sabbernden, sanften Riesin. Dagmar, die karamellfarbene Dogge mit den melancholischen Augen, hatte ihre Wahl getroffen und sich darangemacht, mich aus meinem Zwinger zu befreien.
Ich hetze mit Dagmar zurück zum Auto, und sie wundert sich über das forsche Tempo, scheint aber zu spüren, dass es sich nicht um grundlose Eile handelt. Dagmar geht die Dinge lieber langsam an. Als ich vorgestern mit ihr durch den Englischen Garten joggen wollte, setzte sie sich nach dem ersten Kilometer einfach mitten im Lauf hin und weigerte sich mit jedem Gramm ihrer siebzig Kilo Körpergewicht, auch nur einen weiteren Schritt in die Richtung zu tun, die sie immer weiter von ihrem Körbchen entfernte.
Den Rückweg trat sie dann leichtfüßig wie eine Gazelle an.
Die neue Ankunftszeit im Ohnsorgweg in Hamburg beträgt nun 0 Uhr 28. Ich starte den Motor, und bevor ich mich auf den Weg mache, werfe ich noch einen Blick auf die vier Einzelteile des verhängnisvollen Fotos. Das Gesicht des Mannes darauf ist heil geblieben. Nur briefmarkengroß. Aber unverkennbar. Er lächelt mich an wie ein Beifahrer, der lieber am Steuer säße. Ein Fahrlehrergrinsen. Besser wissend, vorsichtig, immer bereit, mir ins Lenkrad zu greifen oder auf die Bremse zu treten.
Das ist nicht das Gesicht eines Fremden. Und diese Augen erzählen mir mehr, als ich jemals wissen wollte: von Lüge und Betrug, von Niedertracht und von meiner eigenen grenzenlosen Einfältigkeit.
Ich gebe Gas.
Mein Mann lächelt.
Sie hat das Gefühl, dass heute noch etwas passieren wird. Der Tag hatte noch nicht mal richtig begonnen und schon einen schlechten Eindruck gemacht. Sie ist heute Morgen ungewöhnlich früh aufgewacht und hat sich gefühlt, als wäre sie unvermittelt ins Visier des Schicksals geraten. Gloria glaubt allerdings nicht an Vorahnungen. Dazu ist sie zu oft direkt in die weit ausgebreiteten Arme ihres eigenen Verderbens gerannt, ohne dass sie vorher auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt hätte. Meistens hatte ihr Unglück einen männlichen Vornamen, war angeblich unbefriedigend verheiratet oder hatte eine pathologische Mutterbeziehung.
Sie ist zu oft neben den falschen Männern aufgewacht. Hat immer wieder ihr Herz an bindungsunwillige Vagabunden oder destruktive Patriarchen gehängt. Breitschultrig, dominant, hartherzig, unnahbar. Wie ihr Vater. Er war der erste in einer ziemlich langen Reihe von falschen Männern gewesen.
Sie denkt beispielsweise ungern an Dieter zurück, der ihr eine Ehe zu dritt nahegelegt hatte, allerdings sollte seine Frau in das Arrangement nicht eingeweiht werden. Und Tobias hatte sie final in die Flucht geschlagen, als seine tyrannische Mutter aus dem Altenheim, wo ihr wegen schlechten Betragens und fortgesetzten Mobbings gekündigt worden war, in die gemeinsame Dreizimmerwohnung ziehen sollte. An Christian, den Spießer, hatte sie zwar auch kaum gute Erinnerungen – ihre Beziehung war ein einziger zermürbender Machtkampf gewesen –, aber immerhin ist daraus vor fast zwanzig Jahren ihr Sohn entstanden.
Als Gloria ungeplant schwanger wurde – ihrem etwas chaotischen Naturell entsprechend, hatte sie mindestens eine Pille vergessen –, war sie drauf und dran gewesen abzutreiben. Mit vierunddreißig hatte sie nicht einmal ansatzweise das Gefühl gehabt, ihr Leben im Griff zu haben, hatte als mies bezahlte Buchhändlerin gearbeitet, hätte allerdings lieber einen Roman geschrieben, ein Café eröffnet oder mit ihrer waghalsigen Freundin Eva auf La Gomera Kunst aus Treibgut verkauft. Gloria war voller wirrer Sehnsüchte und unausgegorener Pläne gewesen und hatte eigentlich nur gewusst, was sie definitiv nicht wollte: heiraten und Kinder kriegen. Das klang für sie nach Selbstaufgabe und Isolation, einer Art freiwilliger Quarantäne, in der die eigenen Träume und Wünsche langsam ausbluteten wie ein ausgeweidetes Kaninchen. Sie hatte ihre Mutter und ihre Schwester neben dem Vater verblassen und verstummen sehen, sie wollte nicht das gleiche Schicksal erleiden.
Gloria hatte sich letztlich nicht für das Kind entschieden, sondern bloß nicht dagegen. Irgendwann war der Zeitpunkt verpasst gewesen, und Christian und sie hatten beschlossen, kein Paar zu bleiben, aber Eltern zu werden. Das ist ihnen insgesamt gut gelungen – und Glorias Sohn ist zu ihrem größten Glück und im Laufe der Jahre zu einem freundlichen jungen Mann geworden, den sie keiner Frau gönnen, aber jeder Frau wünschen würde. Er studiert Architektur in Aachen und wohnt dreißig Kilometer außerhalb auf einem wunderschönen alten Hof, den ein Freund von Gloria vor ein paar Jahren gekauft und restauriert hat.
Christian war Glorias letzte, große, schwierige Liebe gewesen. Ein finaler, von vornherein zum Scheitern verurteilter Versuch, in Sachen Beziehung dem bürgerlichen Standard zu entsprechen, der in Glorias Vorstellungen stets mit Unterordnung und Selbstverleugnung einherging. Sie war immer hin- und hergerissen gewesen zwischen ihren heimlichen, sie oft genug selbst beschämenden Träumen von sogenannten geregelten Verhältnissen und ihrer wilden und trotzigen Sehnsucht nach Ungebundenheit. «Du bist beziehungsunfähig.» Sie hatte diesen Vorwurf dutzendfach gehört. Nach jeder Trennung und außerdem in unschöner Regelmäßigkeit von ihrem Vater, von ihrer Schwester und sogar von ihrer Mutter, die noch hinzugefügt hatte, das Geheimnis einer guten Ehe sei Kompromissbereitschaft und Anpassungsfähigkeit.
«So kompromissbereit und anpassungsfähig wie Papa?», hatte Gloria bitter zurückgefragt, woraufhin ihre Mutter, diese schmale, graue Gestalt, die zu Hause stets eine Kittelschürze getragen hatte, die Lippen zusammengepresst und sich wieder dem Abwasch zugewendet hatte.
Beziehungsunfähig. Was sollte das eigentlich heißen? Gloria hatte viele funktionierende Beziehungen. Zu Freundinnen und Freunden, zu Kollegen, Kunden und zu dem Konditor in der Waitzstraße, der seit zehn Jahren zu Augusts Geburtstagen eine unvergleichliche Buttercremetorte mit wechselnden, der jeweiligen Lebenssituation angepassten Motiven backt. Natürlich ist sie nicht beziehungsunfähig. Sie ist nur unfähig, eine Beziehung zu führen, die nicht auf Augenhöhe ist – zieht aber leider emotionale Volltrottel, Besserwisser, Blutsauger und Egomanen magisch an. Ein ständiges Ringen um die Oberhand. Wer geht zu Boden? Wer steht nicht wieder auf? Wer verlässt das Schlachtfeld als Gewinner? Gloria hatte einmal verloren und wäre danach fast nicht wieder auf die Beine gekommen. Das war lange her. Es würde ihr nicht wieder passieren.
Sie muss an das Schild an ihrer Schlafzimmertür denken. «This pass is dangerous.» Johann, ihr Dauer-Mitbewohner, hatte es an einer berüchtigten Uferstraße in Cornwall geklaut und in der Nacht zu ihrem fünfzigsten Geburtstag an ihre Schlafzimmertür montiert. Sie lächelt jedes Mal, wenn sie daran vorbeigeht, und wünscht sich gleichzeitig, sie hätte ein ähnliches Schutzschild schon ihr Leben lang besessen.
Gloria war, das musste sie zugeben, eine Spezialistin gewesen für Irrungen und Wirrungen, für Sackgassen und Serpentinen, für Steinschlag, Seitenwind und Stau, für Wildwechsel, gefährliches Gefälle, starke Steigung und unbeschrankte Bahnübergänge. Sie würde nicht sagen, dass sie das Unglück angezogen hat. An so was glaubt sie nicht. Aber Gloria hat das Unglück gezielt gesucht. Weil es ihr vertraut war. Das Unglück kannte sie von zu Hause. Das Glück war ihr fremd. Und sie hat einfach ziemlich lange gebraucht, um sich selbst auf die Schliche zu kommen und so was Ähnliches wie erwachsen zu werden.
Mittlerweile hält sie sich bewusst und meist recht erfolgreich fern von allzu unebenen Wegen, von unheilbaren Egomanen und Frauen, die behaupten, sie könnten essen, was sie wollen, und ihre Kinder hätten vom ersten Tag an durchgeschlafen. Gloria ist dreiundfünfzig, sie isst, was sie will, und das sieht man ihr auch an, sie kennt ihre Schwächen, sie tröstet sich selbst und tappt nicht mehr in jede Falle, die sie sich stellt.
Inzwischen wacht sie meistens in einem leeren Bett auf und genießt morgens das Gefühl, allein und in bester Gesellschaft zu sein. Sie hat sich schließlich daran gewöhnt, bei Hochzeiten so gezielt mit Brautsträußen beworfen zu werden, dass es einem Attentat gleichkommt. Bei Festen wird sie gerne am Single-Tisch, heißt zunehmend neben Kindern platziert, wahlweise auch neben Witwern, Asexuellen oder unvermittelbaren Vollneurotikern, Verschwörungstheoretikern, radikalen Impfgegnern oder unerträglich erleuchteten Esoterikern mit massiven Bekehrungsambitionen.
Ab und zu wird sie immer noch das Opfer schamloser Verkupplungsversuche oder der zuckersüßen Aufmunterung: «Du findest schon noch den Richtigen.» Als sei sie als Frau ohne Mann ein Mängelwesen, wie ein Auto ohne Motor, eine Uhr ohne Zeiger. Das Wichtigste fehlt. Single-Frauen sind bemitleidenswerte Kreaturen, denen man automatisch unterstellt, sie wären unbedingt darauf aus, den bedauernswerten Zustand der Unbemanntheit zu beenden. Und zwar ohne Rücksicht auf Verluste.
Für verheiratete Frauen ist Gloria der Staatsfeind Nummer eins. Sie sehen in ihr ein verzweifeltes, wildes Weib, das über Leichen, bevorzugt Frauenleichen, gehen würde, um endlich einen eigenen Mann zu bekommen. Auf Partys wird sie argwöhnisch beobachtet, und sobald sich Gloria auf ein Gespräch mit einem liierten Mann einlässt, dauert es keine zwei Minuten, und entweder die Ehefrau persönlich oder eine eilig losgeschickte Freundin gesellt sich dazu, um das Revier als besetzt zu markieren.
Besonders unerträglich wird es immer dann, wenn Glorias Mitmenschen sich bemüßigt fühlen, über den Grund für Glorias Singledasein zu spekulieren. «Kann es sein, dass du zu anspruchsvoll bist?» steht dabei regelmäßig ganz oben auf der Hitliste der Vermutungen. Dicht gefolgt von «Die Guten sind alle vergeben» und «Starke Frauen wie du haben es einfach schwer, einen passenden Partner zu finden».
Glorias Standardantwort «Ich möchte keinen Mann», je nach Situation noch mit dem Zusatz «Und Ihren Mann möchte ich ganz besonders nicht», erntet immer ungläubige bis verärgerte Reaktionen. Denn so panisch die Gattinnen ihre Männer einerseits bewachen, so unwohl ist ihnen andererseits der Gedanke, eine Frau könnte ohne so ein Prachtexemplar von Mann tatsächlich ein reiches, zufriedenes und buntes Leben führen, an dem sie nichts, aber auch gar nichts ändern möchte.
Glorias engste Freundin Olga, seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet, hatte es nach der zweiten Flasche Wein einmal so auf den Punkt gebracht: «Wir hassen dich alle. Weil wir dich beneiden. Aber das würden wir niemals zugeben, weil es das brüchige Fundament, auf dem fast jede lange Ehe steht, zum Einsturz brächte. Du bist das fleischgewordene Mahnmal, das uns an die vielen Kompromisse erinnert, die wir jeden Tag machen müssen. Du bist frei.»
«Ich bin allein», hatte Gloria geantwortet.
«Na und? Sei doch froh. Wir sind alle allein. Bloß ist das Alleinsein in einer Beziehung viel schwerer zu ertragen. Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe habe ich folgende Theorie erarbeitet.» Olga hatte einen Schluckauf bekommen und mehrmals tief durchatmen müssen. «Die Ehe ist ein gesamtgesellschaftlicher Irrtum, der auf der Annahme beruht, Männer und Frauen würden zusammengehören und sollten als Paar zusammenleben. Das ist aber falsch. Und es hat ja schon bei Adam und Eva nicht funktioniert. Die beiden waren uns als warnendes Beispiel gedacht. Eva, neugierig, kommunikativ veranlagt, immer hungrig und an weiterführender Selbsterfahrung interessiert. Adam, wortkarg, karriereorientiert, ein Regelkonformist, der es lieber seinem Chef als seiner Frau recht machen will. Sie gehören zwei völlig unterschiedlichen Spezies an, die durch Zufall miteinander Nachkommen zeugen können.»
«Und was ist mit den ganzen Frischverliebten, die Hand in Hand durch den Jenischpark und vor meiner Haustür entlangspazieren und sich ewige Liebe schwören?», hatte Gloria maulig gefragt und großzügig nachgeschenkt.
«Die Biologie lenkt uns anfänglich absichtlich auf die falsche Fährte und schüttet uns haufenweise Dopamin in den Körper, um unseren Fortbestand zu sichern. Es hat schon seinen Grund, warum Kinder in der Regel in den ersten Jahren einer Beziehung zur Welt kommen und die Scheidungsrate nach dem siebten Jahr explodiert. Dann wird uns nämlich klar, dass wir nicht zusammenpassen. Das Dopamin ist futsch, und wir landen auf dem Boden der Tatsachen.»
«Ich dachte, du liebst deinen Mann?»
«Natürlich liebe ich meinen Mann. Aber muss ich deswegen mit ihm zusammenleben? Nein. Er macht mir das Leben unnötig schwer. Er ist total anders als ich. Er spricht so wenig. Während der Tagesschau redet er überhaupt nicht. Am Telefon beschränkt er sich auf den puren Austausch allernotwendigster Informationen. Manchmal sagt er noch nicht mal ‹Tschüss›, weil das ja nichts zur Sache tut. Er ruft mich nie zurück, weil er auf dem Standpunkt steht, wenn es wichtig ist, würde ich es sicher noch mal bei ihm versuchen. Er hat noch niemals von sich aus um ein Beziehungsgespräch gebeten. Er leidet nicht unter zu wenig Nähe, er wünscht sich keine gemeinsamen Hobbys, kein Yoga-Retreat auf Ibiza, kein Verwöhnwochenende mit Ganzkörperpeeling an der Ostsee, und auf meinen Vorschlag, eine Paartherapie zu besuchen, hat er sehr lange geschweigen und dann wortlos den Raum verlassen. Das war vor fünf Jahren. Ich kenne nur Frauen, die ständig überlegen, wie sie ihre Männer oder sich selber verändern können, um das Zusammenleben für beide Seiten erquicklicher zu gestalten. Statt sich einmal einzugestehen: Wir sind gar nicht fürs Zusammenleben gemacht! Das Ganze ist ein einziges, riesengroßes Missverständnis! In Wahrheit lebst du, liebe Gloria, nämlich genau so, wie die Natur es für uns vorgesehen hatte, ehe vor achthundert Jahren fatalerweise von irgendeinem homosexuellen Minnesänger die romantische Liebe erfunden wurde. Du bist uns und deiner Zeit voraus.»
«Interessant, so habe ich das noch nie gesehen», hatte Gloria geantwortet und sich ein wenig geschmeichelt gefühlt.
«Du lebst mit Menschen zusammen, die du magst und mit denen du dich gut verstehst, und sparst dir die ganze Kraft, die unsereins in sogenannte Beziehungsarbeit steckt. Ich will mir gar nicht vorstellen, was aus mir alles hätte werden können, wenn ich mich nicht ständig mit meinem Mann auseinandersetzen müsste. In der Zeit, in der ich mich gefragt habe, was ich mal wieder falsch gemacht habe, hätte ich Quantenphysik studieren können.»
«Du hast recht. Ich finde, das wirklich Tolle am Älterwerden ist, dass ich endlich all die Zeit, die ich früher mit Sex, Baucheinziehen, Liebeskummer, Beziehungsstreitigkeiten, Warten auf Anrufe oder Nachrichten und eintönigen Abenden zu zweit verbracht habe, in alles Mögliche stecken kann. In meine Buchhandlung, in mein Leben, in mein Haus und in die Menschen, die darin immer mal wieder eine Heimat auf Zeit finden. Früher dachte ich, ein Mann müsste mich glücklich machen. Jetzt erledige ich das lieber selbst.»
«Das, liebe Gloria, bringt es sehr schön auf den Punkt. Und genau deswegen hassen wir dich», hatte Olga abschließend strahlend gesagt und angeregt, noch eine weitere Flasche Wein zu öffnen.
Gloria blickt in die Baumkronen vor dem Fenster ihres Arbeitszimmers. Normalerweise beruhigt sie die Aussicht auf die Kastanie am Ende des Gartens, da, wo der Park beginnt und wo sie zwischen den Bäumen den See und ein paar Spaziergänger sieht.
Weiche, warme Mailuft. Ein friedlicher Nachmittag. Alles so, wie es sein soll. Eigentlich. Aber heute stellt sich die gewohnte Ruhe nicht ein. Gloria hat das ungute Gefühl, dass sich irgendwas zusammenbraut. Kaltfront. Von innen.
Was ist nur los?
Sie lässt ihren Blick durchs Zimmer wandern und wartet darauf, dass die geblümten Tapeten, die vor fünfzig Jahren modern waren und es heute wieder sind, ihre beruhigende Wirkung entfalten – jene wohltuende Zusammensetzung aus Sentimentalität und Wehmut, die von den lang geliebten Dingen ausgeht, die sich in Jahrzehnten nicht verändert haben und schon damals gut und richtig waren. Früher war dieser kleine Raum unter dem Dach ihr Urlaubszimmer, wie sie es nannte, mit einem Kojenbett unter der Dachschräge. Glorias eigenes Reich im Haus der Großeltern, wo sie viele Sommer und später, als sie in der Nähe ins Internat gegangen war, auch die Wochenenden verbracht hatte.
Die Villa war immer Glorias eigentliches Zuhause gewesen. Das große, herrschaftliche Haus am Hamburger Jenischpark, mit den hohen Räumen im Erdgeschoss, der geschwungenen, weißen Holztreppe, die über drei Stockwerke ins Dachgeschoss mit seinen verwinkelten Zimmern und Kammern führte.
Bis zuletzt hatte Großmutter Auguste Pütz hier gewohnt, ihre unerschütterliche Oma mütterlicherseits. «Die gute Oma», wie Gloria sie früher, sehr zum Ärger ihres Vaters, genannt hatte. Denn seine Mutter, die sie, natürlich hinter ihrem Rücken, «die kalte Sophie» genannt hatte, hatte Gloria stets als herrische Stinkstiefelette empfunden. Oma Sophie hatte ihr schon als Kind das Gefühl gegeben, sie würde nichts als Unruhe, Unglück und Zerstörung in die Familie einschleppen. Wie ein menschliches Virus, dessen Erwähnung die Menschheit in Angst und Schrecken versetzt.
Das Haus ihrer Großeltern in Hamburg war wie eine Lebens-Raststätte für Gloria gewesen. Durchgängig geöffnet, stets wunderbar nach Putzmittel, Pfeifenrauch, Kaminfeuer und deftiger Kost duftend. Eine verwunschene, bezaubernde, heimelige, knarzende Villa, die keine Hausnummer braucht, weil sie einen eigenen Namen hat. Haus Ohnsorg, benannt nach Richard Ohnsorg, dem Gründer des gleichnamigen Theaters, einem Großonkel von Oma Pütz.
Noch kurz vor ihrem Tod hatte Auguste Pütz das Bett für Gloria frisch bezogen und, so wie sie es immer tat, eine Packung Printen der Firma Lambertz auf das Kopfkissen gelegt. Wenig später war Oma Pütz im Flur über die Schnur des Staubsaugers gestürzt, hatte den Notruf gewählt und mit den Rettungssanitätern munter über den kürzesten Weg zum Altonaer Krankenhaus debattiert. Sie war der Meinung gewesen, sie kenne eine Abkürzung. Oma Auguste war noch auf dem Weg an einer Hirnblutung gestorben.
Das war vor zehn Jahren gewesen, und seither reiste Gloria einmal im Jahr nach Aachen zum Grab der Eheleute Auguste und Roman Pütz, um dort neue Blumen zu pflanzen und eine Printe zu vergraben. Ein Ritual, das sie in Erinnerung an ihren Opa beibehielt, der aus Aachen gestammt und bei der Printen- und Schokoladenfabrik Lambertz seine Ausbildung zum Kaufmann gemacht hatte. Das Heimweh nach seiner rheinländischen Heimat hatte ihn zeitlebens nie verlassen, und es war Oma Gustes letzter großer Liebesbeweis gewesen, dass sie sich bereit erklärt hatte, ein Doppelgrab auf dem Friedhof «Hand» in Aachen-Laurensberg mit ihm zu beziehen. Einen Grabstein in Form einer Printe hatte sie ihm ausreden können.
Oma hatte Lebkuchen generell und insbesondere Printen gehasst, aber ihrem Mann zuliebe darauf verzichtet, das zu erwähnen. «Was dir jemand aus Liebe tut, das darfst du nicht mit Kritik vergelten», war ihr Standpunkt dazu gewesen, was zur Folge gehabt hatte, dass sie zu jedem Weihnachtsfest von ihm eine Printenmischung de Luxe in einer Motivtruhe in limitierter Auflage für Sammler bekommen hatte.
In einer solchen Blechdose – Motiv «Aachener Dom im Weihnachtsglanz» – hatte Gloria neben anderen persönlichen Unterlagen auch das Testament ihrer Großmutter gefunden. Beim Nachlassgericht war der verschlossene Umschlag geöffnet worden, und nachdem die zweite im Testament genannte Person das Erbe offiziell ausgeschlagen hatte, war Gloria die alleinige neue Eigentümerin des Hauses Ohnsorg geworden.
Sie war mit ihrem zehnjährigen Sohn August, den sie nach seiner liebreizenden Uroma benannt hatte, in den Ohnsorgweg gezogen. Das war der Tag gewesen, an dem sie ihre Suche aufgegeben und sich entschlossen hatte, an dem Ort zu bleiben, der ihrer Vorstellung von Heimat schon immer am nächsten gekommen war.
Glorias Unruhe wächst, und sie fragt sich, ob sie zu einer drastischen Beruhigungsmaßnahme greifen soll: Socken sortieren, Blusen bügeln oder Flecken vorbehandeln? Tätigkeiten aus dem hauswirtschaftlichen Bereich eignen sich optimal zur Eindämmung von Nervosität und klammer Erwartung. Gute Erfahrungen hat Gloria auch mit dem Reinigen von Fugen und dem Sortieren und Beschriften von Gewürzgläschen gemacht. Ein Spaziergang mit Johann wäre schön, aber der ist für ein paar Tage nach Berlin gefahren. Er fehlt ihr.
«Ich glaube nicht an Vorahnungen», schreibt Gloria in ihr Tagebuch. «Oder vielleicht doch? Es ist wie Nebel von innen. Du siehst kaum die Hand vor Augen, hörst Schritte, ohne genau zu wissen, ob sie weit entfernt sind oder ob jemand direkt hinter dir ist. Die vertraute Umgebung wird plötzlich fremd, auf der altbekannten Blumentapete wuchern giftige Pflanzen, und du fühlst dich wehrlos und beobachtet. Irgendetwas wird heute noch passieren. Ich schreibe das nur auf, damit ich, sollte heute wirklich noch etwas passieren, nachher beweisen kann, dass ich es vorher gewusst habe.»
Gloria stellt das Tagebuch zurück ins Regal und wirft noch einen schnellen Blick in ihren Laptop und auf ihren Online-Kalender. Die Samstage hält sie sich eigentlich immer komplett frei, aber ein kleiner Punkt zeigt heute einen Eintrag an. Wahrscheinlich ein eigenartiger Feiertag in Baden-Württemberg oder der Geburtstag eines längst vergessenen Bekannten. Aus unerfindlichen Gründen tauchen in Glorias Kalender immer wieder kuriose Gedenk- und Geburtstage auf, was vermutlich mit ihrem uralten AOL-Account zusammenhängt, den sie aus nostalgischen Gründen behalten hat. Erst letzte Woche Mittwoch fand sie den Eintrag Eisprung!, der aus der grauen Vorzeit stammte, als sie sich noch für Verhütung oder wahlweise Empfängnis interessierte.
Gloria klickt auf den heutigen Tag.
Geburtstag Ruth
Natürlich. Der 15. Mai. Wie hatte sie das vergessen können? Eine Glanzleistung in Sachen Verdrängung und Selbstschutz. Gloria hatte seit Jahren nicht mehr an Ruths Geburtstag gedacht und auch nicht an das Verbrechen, das an diesem Tag geschehen war und das ihre Familie endgültig zerstört hatte. Heute war der 15. Mai. Ein Schicksalstag. Verdrängt. Aber eben nicht vergessen. Natürlich nicht.
Sofort ist alles wieder da. Scham, Ekel, Verzweiflung. Das Entsetzen über das, was geschehen war, und schließlich, schlimmer als alles andere, die Erkenntnis, dass ihr, Gloria, niemand glauben würde. Die Lüge hatte sich wie eine Erdspalte aufgetan und alles auseinandergerissen. Gloria war fast daran zerbrochen.
Sie klappt entschlossen den Computer zu. Alte Wunden. Scheiß Nostalgie. Sie hatte längst beschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Leider hatte ihr Kalender das noch nicht begriffen. Vielleicht sollte sie sich doch einen neuen Account zulegen.
Gloria verlässt ihr Büro und bleibt kurz vor der Tür des gegenüberliegenden Zimmers stehen. Bis zu ihrem Tod hatte Oma Auguste auch in diesem Raum nichts verändert. Geblümte Tapeten, ein gemütliches Alkovenbett unter der Dachschräge. Eine uralte Messinglampe mit drei mintgrünen Stoffschirmchen im Fenster. Ob die noch funktionierte? Manchmal hatte Oma Pütz auch dieses Bett noch frisch bezogen, so als hätte sie bis zum Schluss gehofft, dass alles wieder gut werden und Ruth zurückkehren würde.
Ruth war nie zurückgekehrt. Sie hatte keinen von Glorias Briefen beantwortet und sogar ihre Handynummer gewechselt. Und Gloria hatte das Zimmer seit dem Verbrechen nicht mehr betreten. Irgendwann hatte Oma Auguste sicherheitshalber den Stecker der Messinglampe gezogen und das etwas morsche schwarze Stoffkabel säuberlich neben die Leuchte ins Fenster gelegt. «Ich werde mich nicht zwischen dir und Ruth entscheiden, mein Liebchen», hatte sie gesagt. «Ihr seid hier beide immer willkommen.» Sie hatte sich nicht entscheiden müssen und Ruth nie wiedergesehen.
Gloria widersteht dem selbstzerstörerischen Drang, die Klinke herunterzudrücken.
Was ist heute nur los mit ihr?
Sie geht leise in die Küche, um Rudi im ersten Stock nicht bei seinem Mittagsschlaf zu stören, und setzt Kaffee auf. Im Rest des Hauses herrscht Stille. Es könnte ein ganz normaler, friedlicher Samstagnachmittag sein. Es ist kurz vor drei.
Zur selben Zeit vergisst eine Frau fast achthundert Kilometer entfernt ein Foto im Drucker eines Drogeriemarktes. Sie lächelt der Dogge zu, die vor dem Geschäft angebunden ist, und geht eilig weiter.
Drinnen, beim Regal mit den Haarfarben, greift eine Frau nach einer Packung Brond-Blond und beschließt, ein neues Leben zu beginnen. Die Drogeriemarkt-Angestellte fragt: «Ist das Ihres?»
In der Küche des Hauses Ohnsorg breitet sich Kaffeeduft aus, während im ersten Stock ein Mann auf die blühende Kastanie vor dem Fenster blickt und lächelnd seinen Todestag in seinen Kalender einträgt.
Dagmar wartet, gefühlt seit Jahren.
Das zerrissene Foto landet im Papierkorb, und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
«Ich bin kurz davor, alles hinzuschmeißen! Es ist grauenvoll hier!»
«Reg dich ab. Das hast du bisher jedes Mal gesagt. Und dann hast du dich doch nach ein paar Tagen daran gewöhnt. Und nachher warst du stolz, dass du durchgehalten hast.»
«Diesmal ist es was ganz anderes.»
«Das sagst du auch jedes Mal.»
«Das ist nicht hilfreich, Fatma. Ich habe Hunger, und ich bin einsam. Meine Familie wird mich verlassen. Du könntest wirklich etwas feinfühliger mit mir umgehen. Ich leide.»
«Deine Familie wird dich nicht verlassen, Erdal. Red nicht immer so einen Quatsch. Dein Mann will mit den Kindern drei Wochen im Sommer auf dem Mittelmeer segeln. Und du bleibst zu Hause, weil du Angst vor offenem Wasser hast und schon kotzen musst, wenn du in einer Hollywoodschaukel sitzt.»
«Karsten und die Jungs hätten durchaus auch mit mir verreisen können. Man kann sehr schöne Urlaube auf dem Festland verbringen.»
«Sie sind die letzten zehn Jahre mit dir in Urlaub gefahren. Cluburlaub mit deutschsprachigem Personal und All-inclusive-Verpflegung, nicht weiter als drei Flugstunden entfernt. Weil Höhenangst hast du ja auch noch. Das ist auf Dauer nicht jedermanns Sache. Deine Söhne werden größer, Erdal, die haben keinen Bock mehr auf Animateure, die in Tierkostümen stecken. Die wollen einfach mal weit weg und was erleben. Sei froh, dass du einen Mann hast, der ihnen das ermöglicht. Und hör endlich auf, dir leidzutun.»
«Du bist meine Cousine, Fatma, und solltest mich unterstützen. Hast du mich angerufen, um mir Vorwürfe zu machen?»
«Du hast mich angerufen.»
Das war Erdal im Zuge seiner Empörung entfallen, und er musste bei selbstkritischer Sicht der Dinge, die ihm eigentlich nicht lag, zugeben, dass er sich wie ein trotziger Dreijähriger benahm. Tatsächlich hatte er von seinem Therapeuten genaue Anweisungen für ebensolche Situationen erhalten: «Ihr inneres Kind braucht Ihre Zuwendung. Hören Sie auf, darauf zu warten, dass andere sich um Sie kümmern. Das ist nicht deren Aufgabe. Pflegen Sie eine liebevolle Beziehung zu sich selbst. Sie sind erwachsen, Herr Küppers, vergessen Sie das nicht. Übernehmen Sie endlich Verantwortung.»
Das war vor wenigen Wochen in einer der letzten Sitzungen mit Dr. Siemens gewesen. Nach fünf Jahren, in denen sich Erdal jeden Mittwoch um 8 Uhr 15 bei dem Analytiker eingefunden hatte, hatte der ihm das nahende Ende der Behandlung verkündet. «Unsere Wege trennen sich. Sie sind gut vorangekommen. Sie haben sich weiterentwickelt. Sie brauchen mich nicht mehr.»
«Aber ich bin doch Selbstzahler!», hatte Erdal verzweifelt gerufen.
«Therapie ist keine Pediküre. Ich habe eine lange Warteliste von Patienten, denen es schlecht geht und die mich dringender brauchen.»
«Mir geht es auch schlecht! Ich brauche Sie dringend!»
«Sie kennen die Werkzeuge, mit denen Sie sich selbst helfen können. Sie müssen sie nur noch anwenden.»
«Wollen Sie damit etwa sagen, ich sei gesund? Aber das ist doch absurd! Ich habe Angst vor Bergen, dem Meer, dem Fliegen und vor allem anderen eigentlich auch. Meine Mutter ist dominant, ich habe starke narzisstische Anteile, bin maßlos und fett, und mein inneres Kind lässt sich von mir nichts sagen.» Erschrocken hatte Erdal gemerkt, dass ihm die Tränen gekommen waren. Er hatte sich gefühlt sein Leben lang in Therapie befunden und war zudem ein guter Kunde bei Hypnotiseuren, Wunderheilern, Hexen und Chakra-Analysten gewesen. Und das sollte nun alles vorbei sein, jetzt, wo er in Dr. Siemens endlich den richtigen Therapeuten gefunden hatte? Was waren schon fünf Jahre?
«Können Sie mir denn einen Kollegen empfehlen?», hatte Erdal gefragt und sich mit großer Geste eines der bereitliegenden Taschentücher gegriffen und sich laut geschnäuzt. Der Mann sollte ruhig merken, wie verletzt Erdal war.
«Herr Küppers, ich würde Ihnen raten, nicht zum nächsten Therapeuten weiterzuziehen. Vertrauen Sie auf sich selbst. Es ist an der Zeit. Sie können das.»
«Aber ich habe immer noch sehr viele Probleme! Das Leben ist hart!»
«Selbstverständlich. Mensch zu sein, heißt, Probleme zu haben. Das Leben ist hart, das ist eine Binsenweisheit und gilt für jedes Leben. Ihr Leben allerdings, Herr Küppers, ist nicht besonders hart. Da gibt es durchaus schlimmere Fälle. Und um einen solchen würde ich mich gern von nun an mittwochs um Viertel nach acht kümmern.»
Und so war Erdal Küppers, Halbtürke mit olivfarbener Haut und strahlend blauen Kinderaugen, rührseliger Egozentriker mit Hang zu Übergewicht und Hysterie, zum ersten Mal seit dreißig Jahren therapiefrei. Ein ungewohnter, beängstigender, aber auch zunehmend befreiender Zustand.
Erdal hatte das Gefühl, als sei er mit siebenundfünfzig Jahren von zu Hause ausgezogen. Aber natürlich war es nicht leicht, sich von eingefahrenen und irgendwie auch lieb gewonnenen Charaktereigenschaften zu trennen. Der Drang zum Drama wohnte ihm inne wie ein unkündbarer Mieter, und die Strapazen der Fastenkur, die Erdal vor sechs Tagen begonnen hatte, förderten auch nicht gerade seine besten Eigenschaften zutage. Außerdem lag ihm das Ambiente nicht. Er hatte sich für zwei Wochen im gerade frisch eröffneten Millennium Medical eingebucht, einer hochmodernen Fastenklinik in Timmendorf mit Blick über die Lübecker Bucht, sehr teuer, sehr edel. Erdal fühlte sich in einer Hölle aus Glas, Edelstahl, hellen Holzböden und weißer Bettwäsche gefangen, und die Klientel war längst nicht so übergewichtig, wie Erdal gehofft hatte.
Er war umgeben von ausgepowerten und ausgemergelten Führungskräften, die hier für achthundert Euro am Tag nichts essen, entgiften und ihre Akkus wieder aufladen wollten. Einige von ihnen, Erdal hatte das in Gesprächen am Nebentisch erlauscht, waren von den Ärzten sogar gebeten worden, das Fasten zu unterbrechen und auf Reduktionskost umzustellen, da sonst der Gewichtsverlust zu groß sei.
Erdal war ein vergleichbares Angebot nicht gemacht worden.
Er hatte die Statur von seiner Mutter Renate Gökmen-Küppers geerbt, die ihm bereits als kleinem Jungen prophezeit hatte, dass er es immer leicht haben, jedoch immer schwer sein würde: «Du hast den Küppers-Stoffwechsel mitbekommen. Der arbeitet praktisch gar nicht. Aber was soll’s, mein Goldstück? Wenn du reinkommst, geht die Sonne auf. Du drehst dich um dich selbst, und alle anderen werden das auch tun. Ich bin stolz auf dich. Möchtest du noch etwas Konfekt, mein Hase?»
Erdal betrachtet betrübt seinen Bauch, diesen unerfreulich treuen Begleiter. Da er leider auch nicht besonders groß gewachsen ist, erinnert er zunehmend an eine überdimensionierte Mozartkugel, eine der vielen von ihm bevorzugten Süßspeisen. Auch wenn Erdal stets behauptet, dass er mittlerweile über den Dingen und vor allem über seinem Gewicht steht, so entspricht das ehrlicherweise nicht ganz der Wahrheit.
«Hast du denn schon abgenommen?», fragt seine Cousine Fatma, eine pragmatische, warmherzige, ebenfalls üppige Person Mitte vierzig, die ihr großes Herz an einen verheirateten Vollidioten verschenkt hatte, den Erdal nur Kermit nennt, weil Fatma seinen Namen nicht preisgeben will und dieser Mann aus Erdals Sicht ein Frosch ist, der immer ein Frosch und außerdem verheiratet bleiben wird, egal wie häufig er geküsst werden würde. Kennengelernt hatte er dieses Faktotum natürlich noch nicht, aber Erdal war fest entschlossen, den Mann, sollte es zu einer Begegnung kommen, aus vollem Herzen abzulehnen. Falls es ihn überhaupt gibt. Manchmal hat Erdal seine Cousine im Verdacht, den heimlichen Geliebten nur erfunden zu haben. Das peppt ihr ehrlicherweise etwas unglamouröses Leben als alleinerziehende Übersetzerin türkischsprachiger Gerichts- und Amtstexte etwas auf und schützt sie vor lästigen Nachfragen, warum sie immer noch Single sei.
«Es dreht sich bei dieser Kur nicht ums Abnehmen, Fatma. Ich habe mich längst so akzeptiert, wie ich bin. Es geht mir um innere Einkehr, um Entgiftung und um das Loslassen von Altlasten und längst überflüssigen Glaubenssätzen.»
«Logo. Spar dir den Scheiß für die Talkshows auf. Wie viel?»
«Zwei Kilo in sechs Tagen.»
«Das ist wenig. Hast du heimlich was gegessen?
«Natürlich nicht.»
«Erdal.»