Moses und das Mädchen im Koffer - Ortwin Ramadan - E-Book

Moses und das Mädchen im Koffer E-Book

Ortwin Ramadan

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Beschreibung

In Hamburg-Rissen wird ein alter Überseekoffer ans Elbufer gespült. Sein Inhalt: die Leiche eines sorgsam geschminkten Mädchens in einem Prinzessinnenkleid, gebettet auf einem roten Samtkissen. Moses und seine junge Kollegin Katja Helwig nehmen die Ermittlungen auf, geraten aber schnell an ihre Grenzen. Die Identität des Mädchens kann einfach nicht festgestellt werden. Gleichzeitig wird Moses von Alpträumen geplagt, die ihn in seine Kindheit in Afrika zurückführen, an die er keine Erinnerung hat. Umso fassungsloser ist er, als er in einer Ausstellung das Foto eines zum Tode verurteilten afrikanischen Mannes entdeckt, der das gleiche seltsame Narbenzeichen trägt wie er. Doch bevor er sich weiter dem Rätsel seiner Herkunft widmen kann, verschwindet ein weiteres Mädchen. Moses erkennt, dass er es mit einem Serientäter zu tun hat, dessen perfides Spiel gerade erst begonnen hat …

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Seitenzahl: 311

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Ortwin Ramadan

Moses und das Mädchen im Koffer

Kriminalroman

1

Stille. Nirgendwo gab es ein Fenster. Nur eine Tür aus grauem Stahl. Sie schrie und hämmerte panisch dagegen. Niemand antwortete. Dabei hätte sie schwören können, dass sie jemanden atmen hörte. Verwirrt blickte sie sich um. Der gut ausgeleuchtete Raum bot kein Versteck, das man nicht hätte einsehen können. Weder hinter den rosa lackierten Holzmöbeln noch unter dem schlichten weißen Kinderbett. Auch in der gekachelten, mit Bärchenstickern verzierten Waschecke und hinter der durch eine halbhohe Wand abgetrennten Kindertoilette konnte sich niemand verbergen.

Sie sah nach oben. An der Zimmerdecke aus nacktem Beton hing eine Kamera, die auf sie gerichtet war. »Machen Sie die Tür auf! Sofort!«

Sie hämmerte erneut dagegen. Plötzlich vernahm sie ein leises Kichern. Es klang wie das Glucksen eines fröhlichen Kindes.

»Hallo, Claire. Wie geht es dir?«

Sie erschrak. Es war die Stimme eines Fremden, sie klang jedoch weich und liebevoll. Es musste einen versteckten Lautsprecher geben.

Sie ließ ihren Blick über die mit Tierpostern und Kinderzeichnungen beklebten Wände wandern. Aber sie konnte ihn nicht sehen.

»Was wollen Sie von mir?«, stieß sie zitternd hervor. »Wer … wer sind Sie?«

»Du weißt doch, wer ich bin.«

Für einen Moment vergaß sie ihre Angst: Sie war einfach nur wütend. »Ich bin nicht Claire! Und ich kenne auch keine Claire«, schrie sie zornig. »Machen Sie die Tür auf! Ich will nach Hause!«

»Du bist zu Hause, Claire.«

»Mein Name ist nicht Claire!«, brüllte sie aus Leibeskräften. Sie rannte hinüber zum Bett und warf sich auf die weiche Federbettdecke.

Als sie den Kopf wieder hob, bemerkte sie entsetzt, dass ihr das Auge der Deckenkamera gefolgt war. Wieder erklang das Kichern.

»Natürlich ist er das. Und es ist ein sehr schöner Name.«

Ihr lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie stand auf, riss einen Plüschpinguin aus dem Regal neben dem Bett und schleuderte ihn in Richtung Kamera. »Sie sind ja komplett irre! Was wollen Sie überhaupt von mir?«

»Ich will dein Glück, Claire. Und dass dir niemals etwas passiert.«

Sie trat gegen die Stahltür. So fest, dass ihr Fuß zu schmerzen begann. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Lassen Sie mich raus«, flehte sie. »Meine Eltern haben bestimmt schon längst die Polizei gerufen.«

Der Unsichtbare lachte. »Möchtest du singen, Claire?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er mit sanfter Stimme zu singen. Die Melodie kam ihr bekannt vor, es war ein Kinderlied:

 

Wohl ein einsam Röslein stand

Welk und matt am Wege

Von des Sommers Glut verbrannt

Armes Röslein unbekannt

Ohne Lieb und Pflege

 

Sie presste sich die Hände auf die Ohren und setzte sich auf den Rand des Bettes. Sie wollte das nicht hören. Sie wollte, dass es aufhörte. Sofort!

Aber das tat es nicht.

2

Moses musterte den Horizont. Was er sah, gefiel ihm nicht. Anders als vorhergesagt, schob sich von See her eine dunkle Wolkenwand heran, und sie hielten genau darauf zu. Noch bevor sie die Elbmündung erreichten und Segel setzten, würde es vermutlich eine Sturmwarnung geben.

Der Wind hatte bereits merklich aufgefrischt.

»Sieht so aus, als könnte unser Törn ungemütlich werden«, rief ihm Juliane vom Bug aus zu.

Sie hantierte an der Persenning des Focksegels. Ihre geöffnete weiße Jacke blähte sich im Wind und die halblangen dunkelblonden Locken umtanzten ihr Gesicht. Sie drehte sich um und musterte konzentriert den Himmel.

Wieder einmal fielen Moses ihre feinen Gesichtszüge und die Anmutigkeit ihrer Bewegungen auf. »Willst du lieber umkehren?«, rief Moses über das Motorengeräusch hinweg. Er drehte am Steuerrad der Katharina, um mehr Abstand zum Ufer zu gewinnen.

»Nein, auf keinen Fall!«, erwiderte Juliane. »Vielleicht haben wir Glück, und es zieht vorüber.« Sie zurrte den Knoten fest, dann balancierte sie über das Deck und sprang leichtfüßig zu ihm in das tiefer liegende Heck. Lächelnd gab sie ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie die Stirn wieder in Falten legte. »Ich will nicht schon wieder zurück in die Stadt, ich brauche mal einen Tag ohne Studenten, die einem Löcher in den Bauch fragen und trotzdem alles besser wissen.«

»Ich dachte, dir gefällt dein Job an der Uni«, erwiderte Moses, ohne das gewaltige Containerschiff aus den Augen zu lassen, das ihnen auf der Elbe entgegenkam. »Immerhin bringen dich deine Sprachforschungen um die halbe Welt. Dann hättest du nicht Linguistin werden dürfen.«

»Ich beschwer mich ja gar nicht, aber …« Juliane fasste mit den Händen ihre fliegenden Haare zusammen und band sie mit einem Haarband zu einem Pferdeschwanz. »Jeder braucht mal eine Pause zum Durchatmen. Das gilt übrigens auch für dich.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog ihm die Wollmütze ins Gesicht. »Deswegen mache ich uns jetzt einen Kaffee. Es wird Zeit für ein Frühstück.«

Moses schob die Mütze wieder hoch. Nachdem Juliane in die Kajüte hinabgestiegen war, warf er einen Blick über die Schulter, ohne das entgegenkommende Containerschiff aus den Augen zu verlieren. Seitdem sie die Jacht im Morgengrauen startklar gemacht hatten, verbarg sich die Sonne hinter einem milchigen Schleier. Dabei hatte der Wetterbericht gestern noch einen strahlenden Herbsttag vorhergesagt, perfektes Segelwetter also. Und nun versprach ihr lange geplanter Ausflug zu einer ziemlich nassen Angelegenheit zu werden. Nicht gerade ideale Bedingungen, um die neue Ruderanlage zu testen. Sie hatte Moses eine ganze Stange Geld gekostet, und nicht zum ersten Mal hatte er mit dem Gedanken gespielt, das Boot zu verkaufen. Er musste sich eingestehen, dass die Arbeit bei der Mordkommission ihm kaum Zeit fürs Segeln ließ. Trotzdem brachte er es einfach nicht übers Herz, die Katharina zu verkaufen. Nicht nur, weil die dreißig Jahre alte, von Sparkman & Stephens entworfene Jacht eine echte Rarität war, die obendrein über herausragende Segeleigenschaften verfügte. An ihr hingen einfach zu viele Erinnerungen. Auf ihr hatten sein Bruder Henning und er die ersten Segelhandgriffe gelernt. Moses musste unwillkürlich lächeln, wenn er daran zurückdachte. Bei den gemeinsamen Ausflügen mit ihrem Vater hatte er zum ersten Mal das Gefühl gehabt, endlich angekommen zu sein, vergessen zu können, dass ihr Vater eigentlich nur Hennings leiblicher Vater war, ihre Mutter nur Hennings leibliche Mutter, Henning weiß war, er schwarz, Henning in Hamburg geboren war und er irgendwo in Afrika. Obwohl Moses’ Adoptiveltern immer versucht hatten, ihn den Unterschied zwischen seinem Bruder und ihm nicht spüren zu lassen, gab es Momente, in denen er trotzdem offensichtlich war. Beim Segeln hatte Moses all das ausblenden können. Die Weite des Wassers hatte ihn vieles vergessen lassen.

Er wischte sich einen Sprühstoß aufgepeitschten Elbwassers aus dem Gesicht und umfasste wieder das Steuerrad. Er konnte spüren, wie das Boot gegen die vom Meer her einlaufende Flut ankämpfte. Bis sie den Nord-Ostsee-Kanal passiert hatten und das offene Meer erreichten, würde es noch dauern. Sie hatten gerade einmal den Bishorster Sand hinter sich gelassen. Moses korrigierte ein wenig den Kurs, um dem Schlepper mehr Raum zu geben, der den unter chinesischer Flagge fahrenden Containerriesen auf seinem Weg in den Hamburger Hafen begleitete.

In dem Niedergang zu seinen Füßen erschien Julianes Kopf. Statt eines dampfenden Bechers Kaffee streckte sie ihm sein klingelndes Handy entgegen.

»Wer ist denn dran?«, fragte er, obwohl er die Antwort schon an ihrer finsteren Miene ablesen konnte.

»Wer wohl«, sagte sie grimmig.

»Das können die nicht ernst meinen, ich habe heute frei!«

»Offenbar hast du vergessen, das deinen Kollegen mitzuteilen …«

Moses schüttelte energisch den Kopf. »Der Urlaubstag ist offiziell beantragt und genehmigt.« Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu: »Lass es klingeln.«

Juliane sah ihn ungläubig an.

Moses wich ihrem Blick aus. »Was macht der Kaffee?«

»Der ist gleich so weit«, sagte Juliane. Sie schüttelte den Kopf und verschwand wieder unter Deck – nur um wenige Minuten später erneut aufzutauchen. »Es klingelt schon wieder«, schimpfte sie. »Kann ich es ausstellen?«

Moses stieß einen Fluch aus. Heute vor zwei Jahren hatten Juliane und er sich kennengelernt. Er hatte ihr diesen Segeltörn versprochen.

»Was ist denn jetzt? Es klingelt immer noch!«, rief Juliane. Sie kam die Leiter herauf und drückte ihm das Handy in die Hand. Ihr Blick sagte alles.

Moses fluchte erneut. »Kannst du mal übernehmen? Nur ganz kurz.«

Ohne sie anzusehen, übergab er Juliane das Steuerrad und sah auf das Handydisplay. Kurz entschlossen nahm Moses das Gespräch entgegen. »Ich habe Urlaub«, sagte er bestimmt.

»Mann! … Warum … nicht ans Telefon?«

Wegen des starken Windes war sein Chef kaum zu verstehen. Moses hielt sich das andere Ohr zu. »Ich habe frei«, wiederholte er und brüllte dabei fast.

»Jetzt nicht mehr. Ich brauche Sie. Und zwar sofort!«

»Das wird kaum möglich sein. Ich bin auf einem Boot in Richtung Deutsche Bucht unterwegs.«

»Dann drehen Sie verdammt noch mal um! Ich brauche Sie hier vor Ort!«

»Was ist passiert?« Moses drückte das Handy fester ans Ohr und hörte konzentriert zu. »… In einem Koffer? Wo?«

In dem Moment dröhnte das Schiffshorn des vorbeifahrenden Containerschiffs. Moses warf Juliane einen genervten Blick zu. »Bin gleich wieder da«, sagte er. Dann stieg er in die windgeschützte Kajüte hinab.

Nachdem er aufgelegt hatte, kehrte er schlecht gelaunt zurück an Deck.

»Was ist los?«, fragte Juliane. »Du machst ein Gesicht, als würdest du gleich über Bord springen.«

»Manchmal ist mir auch danach zumute«, erwiderte Moses tonlos, während er wieder das Steuer übernahm. »Das war der Direktor persönlich.«

»Und was wollte er?«

»Das willst du nicht wissen …«

»In diesem Fall schon.« Juliane sah ihn eindringlich an. »Immerhin ist heute nicht irgendein Tag. Und ich wüsste gern, was uns gerade diesen besonderen Tag versaut.«

Moses seufzte. Julianes Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. »Sie haben ein Mädchen gefunden«, begann er zögerlich. »Es wurde …«

»Stopp!« Juliane hob abwehrend die Hände. »Ich will es doch nicht wissen. Ich will nicht auch noch Albträume haben. Deine reichen mir.«

Moses schwieg. Er musterte erneut die sich nähernde Wolkenbank am Horizont. Sie war noch dunkler geworden und würde definitiv nicht vorüberziehen.

»Du bist doch nicht der Einzige bei der Polizei«, sagte Juliane, während sie seinem Blick folgte und den Reißverschluss ihrer Jacke hochzog. »Was ist denn mit deinen Kollegen? Warum kann nicht einer von denen einspringen?«

»Weil Bonnekamp der Meinung ist, dass ich für diesen Fall der Richtige bin.«

Juliane ließ seinen Blick nicht los. »Und? Bist du das?«

Moses blickte schweigend aufs Wasser, wo eine Autofähre die Spitze von Rhinplate passierte.

»Und was hast du Bonnekamp gesagt?« Julianes Ton ließ erahnen, dass sie die Antwort bereits kannte.

»Dass ich erst morgen wieder da bin«, sagte Moses und fixierte weiter die Fähre.

Eine Weile standen sie wortlos beieinander. Dann schüttelte Juliane langsam den Kopf. »Lass uns umkehren.«

Moses sah sie überrascht an. Er wollte etwas entgegnen, aber Juliane schnitt ihm das Wort ab. »Ich kenn dich doch«, sagte sie seufzend. »Du hast jetzt sowieso nur noch diesen neuen Fall im Kopf. Dann können wir auch gleich zurückfahren. Unser Törn ist ohnehin schon ins Wasser gefallen.« Sie reckte ihr Kinn in Richtung der dunklen Wolken. »Vielleicht schaffen wir es ja noch zurück, ohne nass zu werden.«

Moses war für einen Moment sprachlos. Natürlich hatte Juliane recht. Seine Neugier war längst geweckt, sein Ermittlerinstinkt angesprungen – was Bonnekamp am Telefon gesagt hatte, klang verstörend und nahezu unglaublich. »Also gut«, entschied er. »Aber gib mir nicht die Schuld.«

»Natürlich tue ich das!« Juliane lachte bitter. »Aber ganz unschuldig bin ich auch nicht. Das hätte ich wissen müssen, als ich mich mit einem Bullen einließ, der glaubt, ohne ihn würde das Böse die Welt regieren.«

Moses schluckte bei dem Wort Bulle. Juliane war die Einzige, der er das ungestraft durchgehen ließ. Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. »Danke, dass du das verstehst.« Der Dank kam von Herzen. Gleichzeitig beschlich ihn ein beunruhigendes Gefühl. War er wirklich so leicht zu durchschauen? Sie waren seit zwei Jahren ein Paar, aber über seinen Beruf und sein Arbeitsethos hatte er mit Juliane kaum gesprochen.

Moses wirbelte das Steuerrad herum, um die Jacht zu wenden. Dann steuerte er zurück nach Hamburg. Mit der auflaufenden Flut und dem Wind im Rücken kamen sie schnell voran. Nach nicht einmal einer halben Stunde kam der Wedeler Jachthafen in Sicht. Seit dem Umdrehen hatten sie geschwiegen, jeder hatte seinen eigenen Gedanken nachgehangen.

»Wie alt war sie?«, fragte Juliane kurz vor der Einfahrt in den Hafen.

Moses stutzte, dann verstand er. »Das weiß ich noch nicht. Warum willst du das wissen?«

Juliane überging seine Frage. »Und wo hat man sie gefunden?«

»Gar nicht weit von hier«, sagte Moses und deutete flussaufwärts. »Am Rissener Elbstrand. Offenbar direkt am Leuchtturm.«

Juliane kniff die Augen zusammen, ihr Blick folgte dem Fluss hoch Richtung Stadt, den rot-weißen Leuchtturm konnte man von hier aber noch nicht erkennen. »Schon irgendwie komisch …«, sagte sie.

»Was?«

»Na ja, allein der Gedanke, dass gar nicht weit von uns eine Leiche im Wasser schwamm. Oder dass vielleicht sogar der Mord ganz in der Nähe passiert ist.«

Moses sah sie erstaunt an. »Warum denkst du, dass es Mord war?«

»Sonst hätte dich dein Chef sicher nicht persönlich angerufen.« Juliane wandte sich ab, um erste Vorbereitungen zum Anlegen zu treffen. Mit etwas mehr Schwung als nötig warf sie den ersten Fender über die Reling. »Die holen dich doch immer, wenn es besonders schlimm ist.«

Moses hätte ihr gern widersprochen und sie dann wenigstens auf ein gemeinsames Abendessen vertröstet, aber er musste zugeben, dass sie richtiglag. Sollte sich bewahrheiten, was er bereits ahnte, war es tatsächlich wieder »besonders schlimm«. Nachdenklich sah er Juliane nach, die sich weiter nach vorne in den Bug begab, um auch dort die Plastikpuffer auszuwerfen. Dann drosselte er die Geschwindigkeit, und die Katharina glitt durch die Hafeneinfahrt in einen Wald aus Stegen und dicht an dicht liegenden Segeljachten. Als sie den Liegeplatz erreichten, der sich seit einer halben Ewigkeit im Besitz der Familie Moses befand, ließ er die Schiffsschraube rückwärtslaufen, um Fahrt herauszunehmen. Dummerweise tat er das zu spät. Das Boot hatte viel zu viel Schwung und rammte den Steg. Der Aufprall war so heftig, dass Juliane stolperte und gegen den Mast knallte. Sie stieß einen schrillen Schrei aus.

Moses stellte sofort den Motor ab, eilte herüber und half ihr wieder auf die Beine. Besorgt sah er sie an. »Tut mir leid. Bist du verletzt?«

Juliane hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die linke Schulter. »Weiß nicht, aber es tut verdammt weh.« Sie biss die Zähne zusammen. »Vielleicht gehts ja gleich wieder.«

»In Rissen gibts eine Klinik«, sagte Moses. »Am besten fahre ich dich sofort dahin. Sicher ist sicher.«

»Das schaffe ich schon noch«, erwiderte Juliane schnaufend und betastete vorsichtig ihre Schulter. »Ich komm schon klar.«

»Vielleicht ist ja etwas gebrochen«, wandte Moses ein.

»Wenn es nicht gleich besser wird, fahre ich ins Krankenhaus. Ich muss ja sowieso ein Taxi nehmen.«

Sie klang verärgert, und Moses wusste, dass er bei ihr bleiben sollte. Gleichzeitig zählte bei diesem neuen Fall womöglich jede Minute. »Okay«, sagte er. »Dann mache ich noch das Boot fest und warte mit dir aufs Taxi. Aber wenns schlimmer wird, rufst du mich an, versprochen?«

»Versprochen«, murmelte Juliane. Sie setzte sich auf das Deck und blickte zu ihm hoch. »Aber dann verschwinde und kümmere dich um das Mädchen. Finde den, der das getan hat!«

3

Mit jedem Schritt drang mehr feiner Sand in seine Segelschuhe. Moses versuchte das Scheuern zwischen den Zehen zu ignorieren und schloss den Reißverschluss seiner Jacke. In der kurzen Zeit, die er vom Wedeler Jachthafen bis ins Naturschutzgebiet und zum Parkplatz am Rissener Ufer benötigt hatte, hatte es zu regnen begonnen. Schwere Tropfen klatschten ihm ins Gesicht und hinterließen in dem fast weißen Sand winzige Schlammfontänen. Missmutig stapfte er weiter. Seinen Alfa hatte er auf dem Parkplatz bei dem Einsatzfahrzeug der DLRG stehen lassen, und nun erkannte er, dass der Elbstrand an dieser Stelle viel breiter war, als er ihn in Erinnerung hatte. Am Ende des Strands, unterhalb des rot-weißen Leuchtturms, entdeckte er Katja Helwig sowie drei Kriminaltechniker, die unter einem Zeltdach um etwas herumwuselten, das nah am Wasser lag. Auf den Steinen unterhalb des Leuchtturms langweilten sich zwei Streifenbeamte. Vermutlich hatten sie ebenso wie ihre Kollegen auf dem Parkplatz die Aufgabe, Schaulustige fernzuhalten. Schaulustige, die es hier definitiv nicht gab, denn der Strand und die weit in den Fluss hineinragende Landungsbrücke waren menschenleer. Stattdessen bevölkerte ein Schwarm Seeschwalben den schwimmenden Schiffsanleger. Ihr Geschrei mischte sich mit dem Rauschen der Baumkronen und dem Plätschern der Wellen, die sich an den aufgeschütteten Buhnen brachen. Am anderen Ende des Strands stolzierte ein Weißstorch durch das flache Uferwasser, und der Stückgutfrachter, der sich draußen auf der Elbe flussaufwärts schob, wirkte wie aus einer fernen Welt. Obwohl er in Blankenese aufgewachsen war, hatte Moses diesen Strandabschnitt selten besucht. Wenn man nicht in Richtung Hamburger Hafen sah, wähnte man sich fast in der freien Natur. Zumindest an diesem verregneten Herbstmorgen.

Als Helwig Moses erblickte, kam sie ihm über den Strand entgegen. Wie immer trug sie Lederjacke, Jeans und Schnürstiefel, um die er sie zum ersten Mal beneidete. Seine junge Kollegin trug ihre blonden Haare nicht mehr so kurz wie bei ihrem ersten Zusammentreffen vor wenigen Monaten, als Direktor Bonnekamp sie ohne Absprache in Moses’ Team abgeladen hatte. Helwigs schroffe und ungestüme Art, die sicher aus ihrer Zeit beim Mobilen Einsatzkommando stammte, hatte Moses zu Anfang einige Nerven gekostet. Und das tat sie noch heute. Aber dann hatte ein schwieriger Fall sie gemeinsam an ihre Grenzen gebracht, und seitdem hatte er zu Helwig in gewisser Weise Vertrauen gefasst.

»Ich dachte schon, Sie kommen nie!«, rief sie ihm von Weitem zu. Ihre feuchten Haare hingen in Strähnen wirr um ihr zierliches Gesicht, aus dem Moses große blaue Augen entgegenblickten.

Als Moses sie erreichte, musterte sie seine verschmutzten Segelschuhe und die Bordhose mit hochgezogenen Augenbrauen: »Waren Sie bei dem Schietwetter etwa segeln?«

»Ich hatte heute frei«, erwiderte Moses knapp und wandte den Blick ab, während er unbeirrt an ihr vorbeiging. »Bringen Sie mich einfach auf den Stand der Dinge.«

Helwig schloss zu ihm auf, ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich.

»Ist Ihnen nicht gut?« Moses hielt inne und musterte sie. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Kollegin ungewöhnlich blass war.

»Doch, doch«, sagte Helwig hastig. »Alles okay.«

Sie setzten sich wieder in Bewegung.

»Die SpuSi ist schon seit einer Stunde zugange«, sagte Helwig, während sie auf das provisorische Zelt zugingen. »Ich konnte die Kollegen schließlich nicht tatenlos rumstehen lassen, bis Sie auftauchen.«

Moses überging den Vorwurf. »Sind Sie allein hier?«

»Leitner ist drüben an der DLRG-Hütte.« Helwig deutete zu einem auf Stelzen gebauten Holzhaus hinüber, das seitlich der Landungsbrücke am Strand stand. »Er nimmt die Personalien der Zeugen auf. Da ist es natürlich schön trocken …«

»Es gibt Zeugen?«, fragte Moses sofort.

»Spaziergänger. Ein Rentnerpaar, das hier in der Nähe wohnt, und noch ein Hundebesitzer. Sie haben das Ding aus dem Wasser gezogen und aufgemacht.«

Moses verzichtete auf weitere Fragen und beschleunigte seinen Schritt, denn der Regen wurde immer heftiger. Je schneller er die Sache hinter sich brachte, desto besser. Also bereitete er sich innerlich auf das vor, was ihm bevorstand. Auch wenn er es rational nicht erklären konnte, die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass der erste Eindruck entscheidend war. Umso mehr wurmte ihn, dass er diesmal viel zu spät am Tatort eintraf. Auch wenn dies vermutlich gar nicht der Tatort war, wie er beim Näherkommen erkannte. Denn jetzt konnte er sehen, was sich zu Füßen der Kriminaltechniker unter dem Zeltdach befand: ein riesiger, antik anmutender Koffer.

Moses trat unter das Zeltdach. Der Deckel des alten, mit Holzleisten und Messingbändern beschlagenen Überseekoffers war geschlossen. Den immer noch leicht erkennbaren Schleifspuren am Ufer nach zu urteilen, musste der truhenähnliche Koffer ein Stück weit auf den Strand gezogen worden sein. Neben ihm lagen eine Eisenkette und ein geöffnetes Vorhängeschloss. Wie Moses annahm, war die Kette um den Koffer gewickelt gewesen. Im gleichen Atemzug stellte er fest, dass die Kriminaltechniker ihre Arbeit offenbar bereits beendet hatten. Auch Janssen, der Leiter des Teams, stand auf und zog sich bereits die Latexhandschuhe von den Fingern.

»Ah, der Herr Kommissar!«, begrüßte er Moses. Der Regen prasselte auf die Zeltplane dicht über ihren Köpfen. »Sie kommen diesmal reichlich spät. Wir sind hier so gut wie fertig. Alle weiteren Untersuchungen machen wir lieber im Trockenen.« Er hatte die Kapuze seines weißen Overalls tief ins Gesicht gezogen und machte wie seine beiden Kollegen den Eindruck, als habe er es eilig, die Arbeit nach drinnen zu verlegen.

Moses starrte auf den geschlossenen Koffer. Er wusste natürlich längst, was sich darin befand, und deshalb versuchte er sich innerlich für den Anblick zu wappnen. Dennoch kostete es ihn Überwindung, Janssen um das Öffnen des Koffers zu bitten. Wie jeder Polizist fürchtete er sich vor den Bildern, die man nicht mehr loswurde. Und in seinem Kopf gab es bereits genug davon.

»Diesmal ist es wirklich, äh, ungewöhnlich«, sagte Janssen. »Also machen Sie sich auf etwas gefasst!« Er streifte sich neue Latexhandschuhe über und öffnete den Koffer.

Moses atmete tief ein. Auf diesen Anblick hätte ihn nichts und niemand vorbereiten können.

In dem mit wasserdichter Teichfolie ausgekleideten Koffer lag ein etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre altes Mädchen mit zwei geflochtenen blonden Zöpfen. Es war auf rote Samtkissen gebettet und hielt einen Stoffhasen im seinem verdrehten Arm. Das Mädchen trug ein weißes Rüschenkleid mit Goldsternmuster. Seine Fuß- und Fingernägel waren rot lackiert, das Gesicht dick mit Make-up überzogen. Der noch kindliche Mund war mit blutrotem Lippenstift bemalt. Man konnte die Leiche fast für eine lebensgroße Puppe halten.

Moses fuhr sich über das nasse Gesicht. In über siebzehn Jahren bei der Mordkommission war ihm nichts Vergleichbares begegnet. Und wie immer, wenn Kinder oder Jugendliche betroffen waren, verspürte er tiefe Wut in sich aufsteigen, gepaart mit schrecklicher Hilflosigkeit.

Er ließ sich von Janssen einen Overall und Latexhandschuhe reichen. Nachdem er beides übergezogen hatte, näherte er sich dem Koffer, um die Leiche näher in Augenschein zu nehmen. Dank der wasserdichten Folie war die Leiche trocken, das dicke Make-up nicht verwischt. Äußere Verletzungen konnte er nicht erkennen. Auch keine Fesselspuren an den Handgelenken. An einem Handgelenk trug sie nur ein feines goldenes Armband. Als er erst den einen, dann den anderen nackten Arm vorsichtig anstieß, stellte er fest, dass sich die Leichenstarre bereits zu lösen begonnen hatte. Demnach musste der Tod vor mindestens achtundvierzig Stunden eingetreten sein. Dass die Unbekannte dem Drogen- oder Prostituiertenmilieu angehörte, hielt er für unwahrscheinlich. Der sportliche Körperbau, die makellose Haut und die weißen Zähne ließen auf eine gesunde Lebensweise schließen. So sah niemand aus, der im Elend lebte. Was ihn ebenfalls irritierte, war das übertriebene Make-up in dem kindlichen Gesicht der Toten. Jemand hatte großen Aufwand darauf verwendet. Mit einem Mal stutzte er. Er beugte sich näher über die Leiche und drehte mit zwei Fingern ihren Kopf leicht zur Seite. Eine Schnittwunde zog sich quer über die linke Wange und war sorgfältig genäht worden.

»Stammt vermutlich von einem nicht sehr scharfen Gegenstand«, bemerkte Janssen, der Moses’ Tun mit dem Unbehagen eines Kriminaltechnikers verfolgte. »Vielleicht eine Scherbe oder ein Stück Metall. Aber das weiß die Gerichtsmedizin besser.«

Nach Moses’ Empfinden passte die Narbe nicht ins Bild. Sie störte das perfekte Antlitz des Mädchens. Gleichzeitig deutete sie auf eine Moses noch unbekannte Geschichte, die längst nicht zu Ende war.

»Was habt ihr sonst noch gefunden?«, fragte er über die Schulter hinweg und merkte, dass Helwig reglos hinter ihm stand.

»Auf den ersten Blick nichts«, erwiderte Janssen. »Falls es Spuren an der Leiche oder dem Koffer gibt, finden wir die vermutlich erst im Labor. Am besten transportieren wir den Koffer, so wie er ist, in die Gerichtsmedizin. Und zwar so schnell wie möglich!« Er reckte das unrasierte Kinn nach oben, wo sich das Zeltdach unter der Last des Regenwassers bereits gefährlich durchbog.

»Ich bin gespannt, was die Obduktion ergibt«, sagte Moses gedankenverloren. Er ließ den Kopf des Mädchens behutsam in seine ursprüngliche Lage zurücksinken.

»Von so einem bizarren Mord habe ich noch nie gehört«, sagte Helwig tonlos. Sie starrte auf die Leiche. »Wer tötet bloß ein kleines Mädchen, richtet es so her und schmeißt es dann in einem Koffer ins Wasser?«

Moses schloss den Kofferdeckel und stand auf. »Am besten warten wir erst einmal die Obduktion ab. Wenn wir die Todesursache kennen, wissen wir vielleicht mehr. Alles andere ist im Moment reine Spekulation.«

Insgeheim stimmte er seiner jungen Kollegin jedoch zu. Auch er vermutete, dass sie es mit einem Verbrechen zu tun hatten. Obgleich mit einem sehr befremdlichen. Der gewöhnliche Mörder bettete sein Opfer nicht auf Samtkissen und legte Kuscheltiere dazu. Und gewalttätige Psychopathen, die ihre Taten inszenierten, wollten in der Regel, dass ihr abscheuliches »Werk« Beachtung fand. In diesem Fall deutete jedoch einiges darauf hin, dass die versenkte Leiche nur deshalb wieder an die Oberfläche gekommen war, weil die Beschwerung für den abgedichteten Koffer nicht ausgereicht hatte. Zumindest ging Moses im Moment davon aus. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hatte offenbar den Auftrieb des hölzernen Koffers und der darin eingeschlossenen Luft unterschätzt, denn die schwere Eisenkette hatte zweifellos dafür sorgen sollen, dass der Koffer für alle Zeiten auf dem Grund der Elbe blieb. Das Ganze erinnerte ihn an ein ebenso liebevolles wie makabres Begräbnis.

»Kann ich mich jetzt um den Abtransport kümmern?«, erkundigte sich Janssen ungeduldig.

»Ja, tun Sie das«, sagte Moses. »Und bestellen Sie Dr. Kleinhues einen Gruß von mir: Ich will so schnell wie möglich die Todesursache wissen. Das gilt übrigens auch für Sie und Ihre Kollegen: Wenn Sie im Labor etwas finden, das auch nur im Geringsten nach einem Hinweis aussieht, will ich das nicht erst im Abschlussbericht lesen!«

»Schon klar.« Janssen drehte sich zu seinen Kollegen, die sich ebenfalls unter das Zeltdach quetschten, und gab ein paar Anweisungen. Moses wandte sich an Helwig. »Sie bleiben bitte hier, bis die Leiche verladen ist. Ich werde mal mit den Leuten reden, die den Koffer gefunden haben.«

Helwigs Gesichtsfarbe hatte immer noch keinen gesunden Farbton angenommen.

»Aber ich …« Helwig hielt eine Hand vor den Mund und fuhr herum. Sie rannte zum Wasser und übergab sich an den Rand der Buhnensteine.

»Ihre junge Kollegin ist wohl noch nicht lange dabei«, sagte Janssen, der die Szene beobachtet hatte. Er warf Helwig einen mitfühlenden Blick zu. »Vielleicht wäre sie bei der Sitte besser aufgehoben. Unser Job ist wirklich nichts für so eine zarte Deern …«

»Sie muss es nur ein paar Mal mitmachen«, sagte Moses, »dann wird sie sich daran gewöhnen. So wie wir alle.« Er wandte den Blick ab und versuchte das flaue Gefühl im Magen zu ignorieren, das seine Lüge enttarnte. Das Mädchen war praktisch noch ein Kind gewesen. Sie hatte ihr Leben gerade erst zu leben begonnen, und jetzt lag sie tot in einem Koffer. Ausstaffiert wie ein Püppchen.

Es gab Dinge, an die gewöhnte man sich nie.

4

Nele zitterte am ganzen Körper. Das alles konnte nur ein wahnwitziger Albtraum sein. Aber es war kein Traum, denn aus Träumen wachte man irgendwann auf. Sie musste der Realität ins Gesicht blicken: Sie war entführt worden. Sie befand sich in der Gewalt eines Verrückten.

Ihr Herz hämmerte wie wild. Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Was sie jetzt brauchte, war ein klarer Kopf. Sie durfte sich nicht von der Panik verschlingen lassen, die wie eine monströse Welle über sie hereinzubrechen drohte. Sie zwang sich, tief durchzuatmen. So wie es ihre Mutter immer tat, wenn sie im Wohnzimmer auf ihrer Yogamatte saß. So wie sie selbst es vor jedem Auftritt tat, um die eigene Mitte wiederzufinden. Aber es gelang nicht. Ihr Herz pumpte wie wild. Dann krampfte sich plötzlich der Magen zusammen, und sie verspürte eine unbeschreibliche Übelkeit. Nur mit Mühe schaffte sie es noch rechtzeitig in die Badezimmernische, wo sie sich in die Kindertoilette erbrach.

Die Bauchkrämpfe ließen nach, Nele sank erschöpft zu Boden. »Bitte …«, stammelte sie schwach. »Lassen Sie mich gehen. Bitte …«

Sie wusste nicht, ob der Entführer sie beobachtete, denn sie erhielt keine Antwort. Auch die mit einer Plexiglaskuppel geschützte Kamera an der Decke bewegte sich nicht. Als sie schon zu hoffen begann, nicht beobachtet zu werden, erfüllte erneut die unheimliche Stimme den Raum.

»Bitte zieh das Kleid an!«

Allein der vertrauliche Ton der Stimme versetzte Nele einen glühenden Stich. »Niemals!«, schrie sie mit dünner Stimme. Dann übergab sie sich erneut.

Sie hatte das Kleid bereits bemerkt. Es war eines der ersten Dinge gewesen, die sie wahrgenommen hatte, als sie auf dem Kinderbett aufgewacht war. Es hing auf einem Mickey-Mouse-Kleiderbügel an dem Spiegelschrank und war zartgelb mit Rüschen aus weißer Spitze.

»Das ziehe ich nicht an«, stieß Nele erneut hervor und wischte sich mit zitternder Hand den Mund ab. Vor diesem Wahnsinnigen würde sie sich nicht ausziehen. Sie spürte den Blick der Kamera im Nacken.

»Du bist böse, Claire.«

»Und Sie sind verrückt«, rief Nele mit dröhnendem Kopf. »Ich heiße nicht Claire!«

Plötzlich war ein hoher Ton zu hören. Zuerst war er kaum wahrzunehmen, aber dann schwoll er immer weiter an. Er wurde so laut und schrill, dass Nele glaubte, ihre Schädeldecke würde zerspringen. Sie presste die Fäuste gegen die Schläfen und krümmte sich vor Schmerz auf dem kalten Fliesenboden. Der grelle Pfeifton wurde immer lauter. Unerbittlich. Wie eine glühende Nadel bohrte er sich immer tiefer in ihr Hirn. »Aufhören!«, wimmerte sie. »Bitte …!«

Plötzlich brach der Ton ab, zurück blieben rasende Schmerzen in Neles Ohren. Die Stimme des Unsichtbaren nahm sie wie durch Watte wahr.

»Du musst tun, was ich dir sage, Claire. Nur dann kann ich auf dich aufpassen. Ich will uns doch nur glücklich machen. So glücklich wie früher.«

Jetzt konnte Nele sich nicht länger zurückhalten. Sie begann hemmungslos zu weinen.

5

Das DLRG-Haus lag auf der anderen Seite der Landungsbrücke. Er musste den gesamten Strandabschnitt wieder zurück. Moses fluchte. Schon nach wenigen Schritten war er versucht, seine nassen und völlig verdreckten Schuhe auszuziehen und den Rest des Weges barfuß zurückzulegen. Aber wenn es sich bei den Zeugen tatsächlich um Blankeneser Rentner handelte, wie Helwig gesagt hatte, war ein behutsames Vorgehen ratsam. Es war gut möglich, dass die alten Leute unter Schock standen. Ein schwarzer Kommissar, der barfuß vor sie trat, könnte sie überfordern.

Als er die auf Stelzen gebaute Rettungsstation fast erreicht hatte, löste sich aus ihrem Schatten ein schwarzes Etwas. Eine haarige Bestie schoss mit gebleckten Zähnen auf ihn zu. Moses verlagerte sein Gewicht, um ihr notfalls einen gezielten Tritt zu verpassen. Aber dann bremste der schwarze Schäferhundmischling unmittelbar vor ihm ab. Er setzte sich, legte den Kopf schief und sah Moses hechelnd an.

»Nostradamus! Bei Fuß!«

Der Hund legte den Kopf noch schiefer. Dann spurtete er zurück zu seinem Herrchen.

Moses atmete langsam wieder aus. Zornig legte er die letzten Meter zurück und trat unter das Stelzenhaus. »Sie will nur spielen«, sagte der Hundebesitzer ungerührt, ein blasser Mittvierziger mit randloser Brille. Er nahm den Schäferhund endlich an die Leine und kraulte ihm den Nacken. Moses hätte ihn zu gern auf die im Naturschutzgebiet herrschende Leinenpflicht hingewiesen. Und seinem Hinweis mit einer Verwarnung Nachdruck verliehen. Aber dazu bekam er keine Gelegenheit.

»Sind Sie der, auf den wir die ganze Zeit warten mussten?«, rief der ältere Herr, der mit seiner Frau bei Oberkommissar Leitner stand. Der Mann stützte sich auf zwei Nordic-Walking-Stöcke und war von Kopf bis Fuß wie der Teilnehmer eines Survivalcamps gekleidet. Feste Wanderschuhe, Trekkinghose und ein olivgrünes Fieldjacket samt Hut. Um seinen Hals baumelte ein dickes Fernglas. Auch seine weißhaarige Frau war ausstaffiert, als ginge es an diesem Teil des Elbufers um das nackte Überleben. Allerdings wirkte die zierliche Person in dem martialischen Outfit ein wenig verloren. Nicht nur die grobe Wollmütze war ihr eindeutig zu groß.

Ihr Ehemann zielte mit einem seiner Stöcke auf Moses’ Brust: »Sie sind also hier der Chef?«

»Das ist korrekt.« Moses zückte seinen Dienstausweis.

»Dann will ich mich beschweren!«, polterte der Alte los, ohne einen Blick auf den Ausweis zu werfen. »Dieser süddeutsche Smeerbüdel da hält uns seit Stunden gefangen!« Er deutete auf Oberkommissar Leitner, der nur die Augen verdrehte.

»So lange warten wir nun auch wieder nicht«, mischte sich der Hundehalter ein. »Und wenn man bedenkt, um was es hier geht, fällt das wohl kaum ins Gewicht.« Er warf einen Blick in die Richtung, wo gerade der Abtransport der Leiche vorbereitet wurde.

»Er hat recht, Horst.« Die alte Frau versuchte ihren aufgebrachten Ehemann zu besänftigen und legte ihm eine Hand auf den Arm. Sie wirkte untröstlich. »Denk doch an das arme Kind. Das ist alles so schrecklich.«

»Nicht nur das«, brummte ihr Mann. »Mittlerweile herrschen hier ja Zustände wie bei den Hottentotten.«

Moses blieb gelassen. »Dann waren Sie also schon einmal bei den ›Hottentotten‹ und kennen sich gut mit ihnen aus?«

»Nein!« Der Alte machte eine wegwerfende Handbewegung. »Selbstverständlich nicht.«

»Dann können wir uns ja wichtigeren Dingen zuwenden. Je schneller wir fertig werden, desto eher können Sie nach Hause gehen.« Moses sah dem Ehepaar und dem Hundebesitzer in die Augen. »Sie sind Zeugen in einem Fall, bei dem ein junger Mensch sein Leben verloren hat. Deshalb benötigen wir jetzt Ihre Hilfe. Ihre Daten hat sich mein Kollege ja bereits notiert. Erzählen Sie mir bitte genau, was heute Morgen passiert ist.«

»Das haben wir diesem Jungspund doch schon alles gesagt!«, beschwerte sich der Alte.

»Dann tun Sie es eben noch einmal«, sagte Moses scharf. Er hatte nasse Füße und seine Geduld war allmählich erschöpft. »Ansonsten können wir dieses Gespräch auch gerne im Präsidium fortsetzen. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.«

Bevor ihr Mann etwas erwidern konnte, ging die Frau dazwischen. »Sie müssen meinen Mann entschuldigen, Herr Kommissar.« Sie knetete ein zerknülltes Stofftaschentuch in den Händen. »Uns nimmt das Ganze sehr mit, wissen Sie? Schließlich erlebt man so etwas Furchtbares nicht jeden Tag …« Sie stockte und presste die Lippen aufeinander.

Moses versuchte, behutsam zu klingen. »Es ist sehr wichtig, dass Sie mir jetzt alles erzählen. Soweit ich weiß, haben Sie mit Ihrem Mann den Koffer aus dem Wasser gezogen. Ist das richtig?«

Die Frau nickte. »Wir wohnen nicht weit von hier. Und wir gehen hier seit fünfzehn Jahren jeden Morgen spazieren. Bei jedem Wetter!« Sie sah Moses an, als erwartete sie eine Reaktion, aber als diese ausblieb, fuhr sie fort. »Jeden Morgen gehen wir hier am Strand spazieren. Und heute haben wir von der Landungsbrücke aus den Koffer im Wasser gesehen.«

»Von der Landungsbrücke?«, fragte Moses. »Dann müssen Sie aber bemerkenswert gute Augen haben, die ist ja einige Hundert Meter entfernt.«

»Wir sind Vogelkundler«, mischte sich ihr Ehemann ein. Er tippte auf das große Fernglas, das um seinen Hals hing.

Seine Frau nickte entschieden. »Wir beobachten Vögel. Und dabei hat mein Mann den Koffer gesehen. Er lag noch halb im Wasser.«

»Und dann sind Sie rübergelaufen, haben ihn herausgezogen und geöffnet?«, hakte Moses nach.

Die alte Frau nickte wieder und tupfte ihre Augenwinkel mit dem Stofftaschentuch.

»Darf ich fragen, wie Sie das Vorhängeschloss an der Kette geöffnet haben?«

»Hiermit!« Die Frau schniefte, griff unter ihre Wollmütze und zog eine Haarnadel aus ihrem schlohweißen Haarknoten. Man konnte erkennen, dass sie wieder gerade gebogen worden war. »Es ist ein ziemlich altes Schloss. Solche Dinger haben wir schon als Kinder geknackt.« Ihre Elendsmiene wurde von einem kurzen, entschuldigenden Lächeln unterbrochen.

»Strandgut gehört dem, der es findet!«, rief der Mann resolut. »Das ist ein uraltes Gesetz!«

»Das klären wir später«, sagte Moses scharf. Er wandte sich wieder an die Frau. »Fahren Sie bitte fort.«

»Wir waren nur neugierig«, versicherte diese eilig. »Wir wollten nur wissen, was in dem Koffer ist, Herr Kommissar! Deshalb haben wir die Kette abgemacht. Wir haben hineingesehen, und da … da lag dieses Mädchen.« Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Zu Moses’ Überraschung nahm ihr Mann sie liebevoll in den Arm.

»Und danach?«, fragte Moses. »Was haben Sie dann gemacht?«

»Wir haben alles stehen und liegen gelassen und wollten Hilfe rufen«, sagte der Rentner. »Dummerweise habe ich mein Handy vergessen, aber zum Glück kam der junge Mann hier vorbei.« Er nickte zum Hundebesitzer.

»Und ich habe Sie dann angerufen«, bestätigte dieser. »Die beiden Herrschaften kamen schreiend auf mich zugerannt. Nachdem sie mir erzählt haben, was sich in dem Koffer befindet, habe ich den Notruf gewählt.«

Moses nickte. »Wohnen Sie auch hier in der Nähe?«

»Ja, direkt in Rissen. Ich gehe hier oft mit dem Hund spazieren.« Das Tier stupste ihn ungeduldig ans Knie. »Sonst weiß ich nichts. Die beiden kamen auf mich zu, und ich habe Sie benachrichtigt. Das ist alles. Aber das habe ich Ihrem Kollegen schon gesagt.« Sein Blick wanderte zu dem Zelt am Strand. »Zum Glück hab ich es nicht selbst gesehen. Ist es wirklich ein totes Mädchen?«

»Es sieht ganz danach aus«, sagte Moses nüchtern. »Deshalb möchte ich Sie bitten, sich uns weiterhin zur Verfügung zu halten.« Er wandte sich wieder an das Rentnerpaar. »Das gilt natürlich auch für Sie. Wir werden Sie noch ins Präsidium bitten müssen, um Ihre Aussage zu Protokoll zu nehmen.«

»Ich dachte, deswegen haben wir so lange auf Sie gewartet. Damit wir das nicht machen müssen!« Der Alte klapperte aufgebracht mit seinen Wanderstöcken.

»Sie müssen nicht sofort mitkommen, aber Sie erhalten in jedem Fall noch eine Aufforderung. Danke für Ihre Mithilfe.« Mit diesen Worten beendete Moses das Gespräch und trat mit Leitner ein paar Schritte zur Seite. »Haben Sie Namen und Adresse der Leute notiert?«

»Habe ich.« Leitner zwinkerte mit seinen wachen kastanienbraunen Augen und klopfte auf das Notizbuch in der Brusttasche seines Hemdes.

Moses nickte zufrieden. Leitner war schon ein paar Jahre in seinem Team, und die Zusammenarbeit war nicht immer einfach gewesen. Er hatte leider die Angewohnheit, es mit Vorschriften nicht allzu genau zu nehmen, was für ihre Polizeiarbeit nicht gerade förderlich war. Heute hatte sein fitnessverrückter Oberkommissar aber offenbar alles richtig gemacht.