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Die Blettsworthys, meine Familie, sind allezeit sehr gewissenhafte und vornehme Leute gewesen, die Blettsworthys aus Wiltshire vielleicht sogar in noch höherem Maße als die aus Sussex. Man möge es mir verzeihen, wenn ich einiges über sie sage, ehe ich meine eigene Geschichte beginne. Ich bin stolz auf meine Ahnen und auf die guten Sitten und die heitere Lebensart, die sie mir vererbt haben. Der Gedanke an sie hat mich, wie ich erzählen werde, in so mancher schwierigen Lage gestützt und aufrecht erhalten. "Was", so habe ich mich stets gefragt, "soll ein Blettsworthy tun?" Und ich habe es zumindest versucht, mich durch meine Haltung meiner Familie würdig zu zeigen. Es hat allezeit Blettsworthys in England gegeben, und zwar im Süden und im Westen des Landes, und sie sind stets so ziemlich dieselbe Art von Menschen gewesen. Zahlreiche Grabschriften und ähnliche Aufzeichnungen, die weit hinter die Zeit der Tudors zurückreichen, legen Zeugnis für ihre Tugenden ab, für ihr Wohlwollen, ihre Rechtschaffenheit und ihren unaufdringlichen Reichtum. Es soll auch im Languedoc einen Zweig der Familie geben, doch weiß ich darüber nichts Bestimmtes. Einige Blettsworthys sind nach Amerika, insbesondere nach Virginia ausgewandert, scheinen aber dort verschluckt worden zu sein und sind verlorengegangen. Doch zeichnet sich meine Familie durch eine zähe Eigenart aus, die nicht so leicht verschwindet. Vielleicht weiß irgendein amerikanischer Leser etwas über das Schicksal dieses Zweiges der Blettsworthys. Dergleichen Zufälle gibt es. In der Kathedrale von Salisbury steht die Alabaster-Statue eines Bischofs Blettsworthy; sie wurde aus der Kirche des alten Sarum dahin gebracht, als man dieses Städtchen dem Erdboden gleichmachte und Salisbury errichtete; das Marmorantlitz könnte als ein Bildnis meines Oheims, des Rektors von Harrow Hoeward, gelten, und die feinen Hände gleichen völlig den seinen. Es muß Blettsworthys in Amerika geben, und ich kann es kaum begreifen, daß man nichts von …
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DemunvergänglichenAndenkenCANDIDESgewidmet
berichtet, wie Mr. Blettsworthy auf eine Seereise geschickt wird, um den Stand seiner Gesundheit zu verbessern, und gibt einigen Aufschluß über seinen damaligen Geisteszustand.
Die Blettsworthys, meine Familie, sind allezeit sehr gewissenhafte und vornehme Leute gewesen, die Blettsworthys aus Wiltshire vielleicht sogar in noch höherem Maße als die aus Sussex. Man möge es mir verzeihen, wenn ich einiges über sie sage, ehe ich meine eigene Geschichte beginne. Ich bin stolz auf meine Ahnen und auf die guten Sitten und die heitere Lebensart, die sie mir vererbt haben. Der Gedanke an sie hat mich, wie ich erzählen werde, in so mancher schwierigen Lage gestützt und aufrecht erhalten. »Was«, so habe ich mich stets gefragt, »soll ein Blettsworthy tun?« Und ich habe es zumindest versucht, mich durch meine Haltung meiner Familie würdig zu zeigen.
Es hat allezeit Blettsworthys in England gegeben, und zwar im Süden und im Westen des Landes, und sie sind stets so ziemlich dieselbe Art von Menschen gewesen. Zahlreiche Grabschriften und ähnliche Aufzeichnungen, die weit hinter die Zeit der Tudors zurückreichen, legen Zeugnis für ihre Tugenden ab, für ihr Wohlwollen, ihre Rechtschaffenheit und ihren unaufdringlichen Reichtum. Es soll auch im Languedoc einen Zweig der Familie geben, doch weiß ich darüber nichts Bestimmtes. Einige Blettsworthys sind nach Amerika, insbesondere nach Virginia ausgewandert, scheinen aber dort verschluckt worden zu sein und sind verlorengegangen. Doch zeichnet sich meine Familie durch eine zähe Eigenart aus, die nicht so leicht verschwindet. Vielleicht weiß irgendein amerikanischer Leser etwas über das Schicksal dieses Zweiges der Blettsworthys. Dergleichen Zufälle gibt es. In der Kathedrale von Salisbury steht die Alabaster-Statue eines Bischofs Blettsworthy; sie wurde aus der Kirche des alten Sarum dahin gebracht, als man dieses Städtchen dem Erdboden gleichmachte und Salisbury errichtete; das Marmorantlitz könnte als ein Bildnis meines Oheims, des Rektors von Harrow Hoeward, gelten, und die feinen Hände gleichen völlig den seinen. Es muß Blettsworthys in Amerika geben, und ich kann es kaum begreifen, daß man nichts von ihnen hört. Gewisse Züge ihrer Wesensart zeigen sich, wie man mir sagt, in der Landschaft Virginias, die weit, warm und freundlich sein soll, gleich unserem englischen Downland an sonnigen Tagen.
Die Blettsworthys sind eine Familie der Bodenkultur. Mit dem Handel haben sie sehr wenig zu tun gehabt, weder en gros noch en detail, auch haben sie in der unmittelbaren Entwicklung dessen, was man Industrialismus nennt, keine Rolle gespielt. Sie haben die Theologie der Jurisprudenz vorgezogen, noch lieber aber sich klassischen, botanischen und archäologischen Studien gewidmet; doch haben sie, wie das Domesday Book, jenes alte, unter Wilhelm dem Eroberer angelegte große Reichsgrundbuch Englands, beweist, ihre Pflicht dem Lande gegenüber wohl erfüllt, und Blettsworthy’s Bank ist in unserem Zeitalter der Verschmelzung eine der letzten bedeutenden Privatbanken. Sie spielt im Leben Westenglands immer noch eine wichtige Rolle. Die Blettsworthys wandten sich, dessen mag der Leser sicher sein, nicht aus Gier nach Wuchergewinn dem Bankwesen zu, sondern einfach nur, um den Bedürfnissen und Forderungen der weniger vertrauenswürdigen Nachbarn in Gloucestershire und Wiltshire entgegenzukommen. Der Zweig in Sussex ist vielleicht nicht ganz so frei von kaufmännischem Geist wie der in Wiltshire; während der Kriege mit Frankreich übte er »Freihandel«, was damals genau genommen ungesetzlich und überdies ein recht gefährliches Abenteuer war. Doch trotz des gewaltsamen Endes von Sir Carew Blettsworthy und seines Neffen Ralph infolge einer Meinungsverschiedenheit mit einigen Zollbeamten, die zu einem Blutvergießen in den Straßen von Rye führte, erwarb dieser Zweig durch seine Tätigkeit beträchtlichen Reichtum und örtlichen Einfluß und hat seine Beziehungen zur Einfuhr von Seidenstoffen und Branntwein bis auf den heutigen Tag nicht völlig gelöst.
Mein Vater war ein Mann von echtem Wert, aber exzentrischem Handeln. Viele seiner Taten bedurften der Erläuterung, ehe die Stichhaltigkeit seiner Beweggründe klar zutage trat, und manche konnten infolge der räumlichen Entfernung von der Heimat und aus gewohnheitsmäßiger Nachlässigkeit oder aus anderen Gründen niemals völlig geklärt werden. Es liegt den Blettsworthys nicht, Erklärungen abzugeben. Sie verlassen sich in der Regel auf ihr Ansehen. Da mein Vater der fünfte Sohn seiner Eltern war, keinerlei Aussichten auf ein Vermögen hatte und auch keinerlei leicht in Geld umzusetzende Fähigkeiten besaß, rieten ihm Freunde und Verwandte, sein Glück im Auslande zu versuchen; er verließ Wiltshire in jungen Jahren, um, wie er sagte, Gold zu suchen; er suchte es, das muß ich zugeben, ohne jedwede Gier und überdies zumeist an völlig ungeeigneten Plätzen. Gold kommt, wie ich höre, nur in ganz wenigen bestimmten Erdstrichen vor und wird in der Regel nicht von einzelnen, sondern im Rahmen eines »Goldrausches« gefunden; mein Vater aber hatte eine Abneigung gegen Menschenmengen und deren Verhalten; er zog es vor, das seltene und edle Metall in einer angenehmen Umgebung zu suchen, in der ihm der häßliche Wettkampf mit unkultivierten Menschen erspart blieb; inzwischen lebte er von den sehr bescheidenen Mitteln, die ihm seine wohlhabenderen Freunde und Verwandten zur Verfügung stellten. Seine Aussichten, eine Goldmine zu entdecken, wurden, das wußte er, durch sein Verhalten kaum gefördert, doch meinte er, daß es ihm die Hoffnung gewährte, irgendeinen anderen glücklichen Fund, den er machen mochte, für sich allein auszunützen. Bezüglich der Ehe war er leichtsinniger, als es unter den Blettsworthys üblich ist: Er ging mehrere Heiraten ein, einige davon in ziemlich formloser Weise – doch sind wir Blettsworthys alle ziemlich unvorsichtig im Abschließen von Verträgen. Meine Mutter war halb portugiesischer, halb syrischer Abstammung und hatte auch einen Tropfen madeirischen Blutes in den Adern. Madeira ist auch mein Geburtsort.
Meine Geburt war durchaus legitim; gewisse Verwirrungen in den ehelichen Verhältnissen meines Vaters entstanden erst später, und zwar als eine Folge der außerordentlich wandelbaren Natur der Ehe in tropischen und subtropischen Landstrichen.
Meine Mutter war, das schließe ich aus Briefen meines Vaters, eine Frau von leidenschaftlicher Selbstvergessenheit, in meiner Veranlagung aber scheint ihre Wesensart keineswegs völlig ausgemerzt. Ihr ist es, wie ich glaube, zuzuschreiben, daß ich mehr zu umfassenden als zu knappen Aussagen neige und unter gleichen Umständen die Realität dem reizvollen und ausgiebigen Gebrauch der Sprache unterzuordnen vermag. »Sie spricht viel«, schrieb mein Vater, als sie noch lebte, an meinen Onkel. »Kein Thema gelangt jemals zu einem Abschluß.« Sie empfand die Dinge so fein und scharf, daß sie instinktiv zu schützenden Worten Zuflucht nahm; ihr Gemüt konnte sich nicht zufrieden geben, solange eine Feststellung in irgendwelcher Hinsicht unvollkommen blieb. Sie feilte aus, sie retouchierte. Wie gut ich das verstehe! Auch ich weiß, daß Gedanken und Gefühle, die man unausgesprochen läßt, unerträglich werden können. Überdies ist ihr ohne Zweifel etwas dem Blettsworthyschen Blute noch Fremderes in mir zuzuschreiben: mein Gefühl für den inneren moralischen Konflikt. Ich bin mit mir selbst uneins – in welchem Maße, muß dies Buch erweisen. Ich habe keine innere Harmonie, lebe nicht in Frieden mit mir selbst, wie die richtigen Blettsworthys es tun. Ich kämpfe gegen den Blettsworthy in mir. Neben der vom Vater ererbten Vielfältigkeit des Wesens habe ich auch noch die Neigung zur Selbstbetrachtung. Wie der Leser wohl bemerken wird, betone ich immer wieder, daß ich ein Blettsworthy bin. Kein vierundzwanzigkarätiger Blettsworthy würde das tun. Ich bin bewußt ein Blettsworthy, weil ich mir dessen nicht völlig sicher bin. Wesentliche Teile meines Wesens stehen in keinem rechten Zusammenhang mit mir selbst. Vielleicht bin ich den Traditionen meiner Familie um so treuer ergeben, weil ich ihnen auf eine objektive Art treu sein kann.
Meine Mutter starb, als ich fünf Jahre alt war, und meine wenigen Erinnerungen an sie sind hoffnungslos verquickt mit einem Wirbelsturm, der die Insel verheerte. Zwei Wolken der Furcht vermischten sich miteinander und barsten, um schreckliche Wandlungen hervorzubringen. Ich erinnere mich an den Anblick entwurzelter Bäume und eingestürzter Häuser und weiß auch noch, daß ich verwundert eine Menge roter Blumenblätter in einem Straßengraben schwimmen sah; diese Bilder verknüpfen sich auf verworrene Art mit der Mitteilung, daß meine Mutter im Sterben liege, und schließlich mit der, daß sie tot sei. Wenn ich nicht irre, empfand ich damals weniger Kummer als basses Erstaunen.
Mein Vater schrieb an Verwandte meiner Mutter in Portugal und an einen reichen Onkel in Aleppo, doch brachte dieser Briefwechsel keinen Nutzen; schließlich gelang es ihm, einen unerfahrenen jungen Priester ausfindig zu machen, der von Madeira nach England reiste: Diesem vertraute er mich an und bat ihn, mich bei meiner Tante in Cheltenham, Miss Constance Blettsworthy, abzuliefern, die auf solche Art zum erstenmal von meiner Existenz erfuhr. Mein Vater hatte seinen Boten mit Schriftstücken versehen, die keinen Zweifel an meiner Identität zuließen. Ich entsinne mich dunkel, in Funchal ein Dampfschiff bestiegen zu haben, meine Erinnerungen an die darauf folgende Seereise jedoch sind glücklicherweise aus dem Gedächtnis entschwunden. Vom Wohnzimmer meiner Tante in Cheltenham habe ich eine genauere Vorstellung.
Sie war eine würdige Dame, die entweder eine blonde Perücke trug oder ihr Haar auf so kunstvolle Weise ordnete, daß es einer solchen glich; ihre Gesellschafterin ähnelte ihr, war jedoch größer, umfangreicher, war überhaupt eine außerordentlich umfangreiche Person, deren Büste auf mein kindliches Gemüt großen Eindruck machte. Ich erinnere mich, daß die beiden mich hoch überragten, während ich auf einer Matte vor dem Feuer saß, und daß das Gespräch mit dem jungen Geistlichen bedeutsam genug war, um einen starken Eindruck in mir zu hinterlassen. Die beiden Damen waren offenbar der Meinung, daß er schlecht beraten worden sei, mich nach Cheltenham zu bringen, und legten ihm nahe, noch etwa eine Stunde Bahnfahrt auf sich zu nehmen, um mich im Hause meines Onkels, des Rektors von Harrow Hoeward, abzuliefern.
Meine Tante bemerkte wiederholt, sie sei durch das Vertrauen meines Vaters gerührt, ihr Gesundheitszustand mache jedoch meine Aufnahme unmöglich. Sie und ihre Gesellschafterin unterrichteten den jungen Geistlichen über ihren Gesundheitszustand, soweit das schicklich war, ja, sie ließen sich, wie ich glaube, sogar auf die Schilderung heikler Einzelheiten ein. Sie mochten wohl fühlen, daß die Lage der Dinge ein so entschlossenes Vorgehen erfordere. Trotz des Mitleids, das der Geistliche von Berufs wegen empfinden mußte, war er offenkundig bemüht, diesen Geständnissen auszuweichen, zumindest insoweit, als sie die betreffende Angelegenheit beeinflussen konnten. Mein Vater habe ihm über diesen Bruder in Harrow Hoeward nichts gesagt, habe vielmehr nur von meiner Tante Constance gesprochen, seiner älteren Schwester, die ihm als ein Fels in der Brandung in Erinnerung sei. Er fühle sich, so erklärte der junge Geistliche, nicht berechtigt, von seinen Instruktionen abzuweichen. Seine Aufgabe sei erfüllt, behauptete er, da er mich in die Obhut meiner Tante gebracht habe; und er wünsche nur noch die Regelung gewisser kleinerer Ausgaben während der Reise, für die mein Vater nicht vorgesehen habe.
Ich für meinen Teil saß gleichmütig auf meiner Matte und betrachtete mit vorgetäuschter Aufmerksamkeit den Kamin, der von anderer Art war als die mir bekannten von Madeira, hörte dabei aber dem Gespräch aufmerksam zu. Ich war nicht sehr begierig, bei meiner Tante zu bleiben, doch wünschte ich sehnlichst, den jungen Geistlichen loszuwerden, so daß ich seinen Bemühungen, mich nunmehr verlassen zu können, guten Erfolg wünschte, und erfreut war, als er sein Ziel schließlich erreichte.
Er war ein dicker junger Geistlicher mit einem weißen runden Gesicht und einer gepreßten hohen Tenorstimme, die besser zu lautem Beten als zu Alltagsgesprächen taugte. Unsere Bekanntschaft hatte mit warmen und sehr gewinnenden Versicherungen der Zuneigung seinerseits begonnen, und ich hatte auf seinen Vorschlag hin an Bord des Dampfers eine Kabine mit ihm geteilt; als ich dann aber nicht imstande war, die Bewegungen des Schiffes mit Zurückhaltung zu ertragen und betreffs des Ergebnisses meines Verhaltens wenig Einsicht an den Tag legte, verschlimmerte sich unsere Beziehung zueinander, die eine so schöne zu werden versprochen hatte. Als wir Southampton erreichten, hatten wir eine gegenseitige Abneigung gefaßt, die nur durch die Aussicht auf eine baldige und dauernde Trennung gemildert wurde.
Kurz, er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben …
Ich blieb bei meiner Tante.
Cheltenham war kein sehr glücklicher Zufluchtsort für mich. Ein kleiner Junge von fünf Jahren sucht emsig nach Beschäftigung, ist taktlos in der Wahl seiner Unterhaltungen und destruktiv, wenn er versucht, die gebrechlicheren unter den vielen interessanten Gegenständen rings um ihn zu erforschen und kennenzulernen. Meine Tante sammelte mit Begeisterung Figürchen aus Chelsea und anderes altenglisches Porzellan. Sie liebte diese sonderbaren alten Dinge. Trotzdem vermochte sie eine verwandte Leidenschaft in mir nicht zu begreifen, als ich mit reger junger Einbildungskraft Kämpfe und Dramen unter ihren Schätzen in Szene zu setzen begann. Auch meine Versuche, mit zwei großen, blauschwarzen Perserkatzen, die das Haus schmückten, zu spielen und ihr Leben etwas bewegter zu gestalten, mißfielen ihrer reiferen Einsicht. Ich konnte nicht begreifen, daß eine Katze, mit der man spielen möchte, nicht allzu heftig verfolgt werden darf und auch durch die bestgezielten Schläge nur selten fröhlich gestimmt wird. Meine Heldentaten im Garten, wo ich die Dahlien und Astern als wohlbewaffnete feindliche Scharen auffaßte und behandelte, trugen mir auch nicht einen Funken Beifall seitens meiner Tante ein.
Die beiden ältlichen Dienstmädchen und der bucklige Gärtner, die Behaglichkeit und Würde meiner Tante und deren stattlicher Gesellschafterin förderten, teilten die Ansicht ihrer Arbeitgeberin, daß die Kindererziehung vollkommen repressiv gestaltet werden müsse. So blieb mir nichts anderes übrig, als ein möglichst wenig aufdringliches Dasein zu fristen. Wenn ich mich recht entsinne, wurde ein junger Erzieher aufgenommen, der möglichst lange Spaziergänge mit mir unternahm und mir möglichst unhörbare Unterweisungen erteilte. Mein Gedächtnis bewahrt kein klares Bild von ihm, ich weiß eigentlich nur, daß er abnehmbare Manschetten trug, die ich bis dahin noch an niemandem gesehen hatte. Cheltenham erschien mir als ein Wirrsal endloser, ziemlich breiter Straßen mit blaßgrauen Häusern unter einem blaßblauen Himmel. Den größten Eindruck machten auf mich die Trinkhalle, die zahlreichen Liegestühle und das Fehlen jedweden lebhaften Farbtons, sowie jedweden erheiternden Vorfalls, wodurch sich der Ort von Madeira stark unterschied.
Ich verzeichne diese Monate in Cheltenham – vielleicht waren es nur Wochen, in meiner Erinnerung aber sind es endlose Monate – als eine Art Interregnum in der Leere vor dem Beginn meines wirklichen Lebens. Ober- und außerhalb des Bereiches meiner Aufmerksamkeit müssen meine Tante und ihre Gesellschafterin sehr angestrengt bemüht gewesen sein, mich in eine andere Umgebung zu versetzen, denn von dem trüben Hintergrund meiner Cheltenhamer Erinnerungen hebt sich eine Anzahl noch verschwommenerer Gestalten ab, lauter Blettsworthys, die kamen, mich weder liebevoll noch feindselig betrachteten, wobei sich aber sehr rasch der Entschluß in ihnen auszubilden schien, daß sie nichts weiter mit mir zu tun haben wollten, und wieder verschwanden. Ihre Bemerkungen lassen sich, glaube ich, in drei Hauptgruppen einteilen: Erstens wurde gesagt, daß ich meiner Tante gut tue, weil sie durch mich aus sich selbst herausgerissen werde – aber sie wollte offenkundig nicht aus sich selbst herausgerissen werden. Wer will das schon? Zweitens, daß man mich meinem Vater zurückschicken solle, was aber unmöglich war, da er Madeira mit unbekannter Adresse in Rhodesien verlassen hatte und die englische Post kleine Buben, die man postlagernd nach entfernten Kolonien schicken will, nicht annimmt; und drittens, daß die ganze Angelegenheit meinem Onkel unterbreitet werden solle, dem Reverend Rupert Blettsworthy, Rektor von Harrow Hoeward. Alle stimmten darin überein, daß ich für einen Blettsworthy von sehr kleiner Statur sein würde.
Mein Onkel war damals gerade in Rußland, wo er im Verein mit etlichen anglikanischen Bischöfen eine mögliche Wiedervereinigung der anglikanischen und der orthodoxen Kirche diskutierte – es war lange vor dem Weltkrieg und dem Aufkommen des Bolschewismus. Briefe, die meine Tante ihm schrieb, erreichten ihn nicht. Da, mit einem Male, als ich mich eben in ein rein negatives Leben im Hause meiner Tante zu Cheltenham unter der Leitung eines Erziehers mit abnehmbaren Manschetten zu ergeben begann, erschien mein Onkel.
Im allgemeinen ähnelte er meinem Vater, war aber kleiner, rosiger und runder, auch kleidete er sich, wie es einem wohlhabenden und glücklichen Rektor ziemt, während ich meinen Vater stets in zu weitem und verwaschenem Flanell gesehen hatte. Auch an ihm gab es vieles, was der Erklärung bedurfte, doch trat diese Notwendigkeit in seinem Fall nicht so deutlich zutage. Sein Haar war silbergrau. Er trat mit einem Mal und in vertrauenerweckender und angenehmer Weise aus dem verschwommenen Hintergrunde hervor. Er setzte seine randlose Brille auf die Nase und betrachtete mich mit einem sanften Lächeln, das mir außerordentlich anziehend dünkte.
»Nun, mein Junge«, sagte er mit einer Stimme, die mir fast die meines Vaters schien, »sie wissen offenbar nicht recht, was sie mit dir anfangen sollen. Würdest du denn gerne zu mir kommen?«
»Ja, bitte«, sagte ich, sobald ich den Sinn seiner Frage verstanden hatte.
Meine Tante und ihre Gesellschafterin begannen, mir ein Loblied zu singen. Sie ließen plötzlich jede Verstellung beiseite. Ich hatte nicht im entferntesten geahnt, wie viel Gutes sie von mir hielten. »Er ist so lebhaft und so klug«, sagten sie; »er hat Interesse für alles und jedes. Wohlversorgt und gut genährt, wird er ein netter kleiner Junge werden.«
Und somit war mein Schicksal entschieden.
Mit meiner Niederlassung in Harrow Hoeward hob, so glaube ich, mein Leben erst richtig an. Von den vorhergehenden Jahren bewahrt mein Gedächtnis nur flüchtige Bilder und Bruchstücke; vom Tage meiner Ankunft aber in jenem so traulichen Heim gelangt meine Erinnerung zu einer Kontinuität. Ich könnte, so scheint mir, vom Haus des Rektors und ganz gewiß vom Garten Karten in genauem Größenverhältnis zeichnen, ich vermag mir den ganz bestimmten dumpfigen Geruch des Brunnens im Hofe jenseits des Hintergebäudes in Erinnerung zu rufen und sehe die neun Ringelblumen, die in gleichen Abständen voneinander vor der grauen Steinmauer standen, deutlich vor mir. Jahr für Jahr ersetzte sie Blackwell, der alte Gärtner, durch neue. Ich könnte eine Chronik der Katzen schreiben und darin den Charakter jeder einzelnen schildern. Hinter der Pferdekoppel lag ein Graben, und dahinter der steile offene Hügel, der sich zum Himmel erhob. Ich pflegte sowohl an schneeigen Wintertagen wie auch im heißen Sommer auf einem Brett den Hügel hinunterzurutschen, denn das trockene Gras des Sommers war noch schlüpfriger als Eis. Vor dem Pfarrhaus befanden sich ein sauberer Rasenplatz und eine Taxushecke, zu unserer Linken die Häuser der Pferdehändler, dann bei der Straßenbiegung das Postamt und der Gemischtwarenhändler. Auf der anderen Seite grenzten wir an Kirche und Kirchhof.
Mein Onkel nahm mich als ein noch unbestimmtes und bildsames Geschöpf bei sich auf, aus dem alles mögliche hätte werden können. In seinem Hause aber wurde ich unvermeidlich der Blettsworthy, der ich heute bin.
Vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft an war er für mich das wirklichste und beruhigendste Wesen der Welt. Ihn nur zu sehen, war, als ob man an einem hellen Morgen erwachte. Bis zu seinem Erscheinen war alles in meinem Leben verschwommen, bedrohlich und noch ohne Überzeugungskraft gewesen; ich hatte das Gefühl, daß ich mich nicht richtig verhielt, unsicher war, daß ich von schattenhaften und doch zerstörenden Mächten umgeben war und von Triebkräften gelenkt wurde, die ebenso unheilvoll werden konnten, wie sie unkontrollierbar waren. Hinter dem Alltagsleben tobte ein Wirbelsturm. Ich hatte schon in der Kindheit das Gefühl, als ob der Tagtraum, in dem ich lebte, sich jederzeit in böses Alpdrücken verwandeln könnte, trotz des stoischen Widerstandes, den ich ihm entgegensetzte; diese Gefahr war für viele Jahre gebannt. »Alles rings um dich scheint ein wenig in Unordnung geraten«, sagte mein Onkel im Cheltenhamer Wohnzimmer zu mir, »in Wirklichkeit aber, und grundsätzlich, ist alles in bester Ordnung.«
Und solange er lebte, war entweder wirklich alles grundsätzlich in bester Ordnung, oder er vermochte durch einen besonderen Zauber seines Wesens alles in Ordnung scheinen zu lassen. Ich kann heute noch nicht sagen, wie es sich wirklich verhielt.
An meine Tante Dorcas habe ich keine so lebendige Erinnerung wie an meinen Onkel. Ich erinnere mich tatsächlich weniger deutlich an sie als an den alten Blackwell oder die Köchin. Das ist sonderbar, denn sie muß sich ziemlich viel mit mir beschäftigt haben. Aber sie war eine emsige, zurückhaltende Frau, die ihre Obliegenheiten mit solchem Nachdruck verrichtete, daß sie nicht so sehr als ihr Tun, sondern vielmehr als etwas Notwendiges im Gang des Weltalls erschienen. Ich glaube, sie hatte sich stets eigene Kinder gewünscht und mag betrübt gewesen sein, als ihr klar wurde, daß ihre Familie aus einem einzigen, halb fremden Neffen bestehen sollte, einem zweifelhaften, vom Forscherdrang besessenen Wesen, das über das Babyalter schon hinaus war und seinen begrenzten englischen Wortschatz durch dunkle portugiesische Brocken ergänzte. Eine gewisse geistige Fremdheit blieb wohl immer zwischen ihr und mir bestehen. Sie verriet niemals irgendwelchen Mangel an Zuneigung; sie erfüllte in jeder Weise ihre Pflicht mir gegenüber, doch ist es mir, wenn ich heute auf jene Tage zurückblicke, völlig klar, daß wir nicht wie Mutter und Sohn zueinander standen. Ihr eigentliches Innenleben hatte überhaupt nichts mit mir zu tun. Um so mehr wandte sich mein Herz meinem Onkel zu, der rings um sich Güte zu verbreiten schien, so wie eine Wiese bei gutem Wetter Duft verbreitet; in meiner kindlichen Vorstellung herrschte er nicht nur über das Haus, die Kirche und alle Seelen von Harrow Hoeward, sondern auch über das weite kahle Hügelland, ja sogar über den Sonnenschein. Es ist erstaunlich, in welchem Maße er meinen Vater aus meinem Gemüt verdrängt hat.
Meine Vorstellung von Gott ist noch heute mit ihm vermengt. In Madeira hatte ich viel von Dios gehört, wenn man ihn verfluchte oder beschwor, von einem subtropischen, leidenschaftlichen Dios, einem hitzigen und donnernden Gott. Doch erst als ich alt genug geworden war, um Vergleiche anzustellen, verband ich die beiden Gottheiten miteinander. In England nun zeigte sich mir Gott als der verbündete Schatten meines Onkels, ein lieber englischer Gentleman, ein alles beherrschender Super-Blettsworthy, ein Gott des Taues und der sonnigen Morgenfröste, hilfreich und ohne Groll, dessen besondere Feiertage Ostern, Weihnachten und das Erntedankfest waren. Er war der Gott einer Welt, die sich auf dem rechten Wege befand, ernst nur, um gleich wieder zu lächeln; selbst durch die feierliche Strenge des Karfreitags hindurch leuchtete die Versicherung meines Onkels, daß der junge Gentleman am Sonntag wohlbehalten und gesund zurückkehren werde. Eine ernste Zeit selbstverständlich, ein Anlaß zu tiefgründigen Betrachtungen, der uns aber auch die heißen Kreuzsemmeln bescherte.
Es gab Kreuze in der Kirche meines Onkels, aber kein Kruzifix, keine Dornenkrone, keine Nägel.
Mein Onkel schüttelte die Ärmel seines Chorrocks von seinen wohlgeformten Händen zurück, neigte sich über die Kanzel und sprach freundlich zu uns von der freundlichen Macht, die die Welt regiert, zwanzig Minuten höchstens, denn Gott darf den schwächeren Brüdern nicht langweilig werden. Er bedurfte zuweilen der Rechtfertigung, dieser Gott der Blettsworthys, sein Tun und Lassen mußte den Menschen erklärt werden, aber beileibe nicht auf langweilige Art. Mein Onkel sprach in seinen Predigten besonders gern vom Regenbogen, von der Arche und von dem Bunde Gottes mit den Menschen. Er war schrecklich anständig und ehrbar, dieser Gott, wie mein Onkel ihn schilderte, und Er und mein Onkel erweckten den Wunsch in mir, ebenfalls anständig und ehrbar zu sein. In einer Welt, in der es immerzu hieß: »ganz recht«, »alles in bester Ordnung« und »sehr wohl, Sir«. Ich lebte in dieser Welt und fühlte mich all die Jahre sicher. War es nichts weiter als ein Traum?
Das Böse lag fernab, die Hölle war vergessen. »So etwas tut man nicht«, sagte mein Onkel, und man tat es nicht. »Vorwärts, los«, sagte mein Onkel, und man machte sich ans Werk. »Nur immer gerecht sein«, sagte mein Onkel; »man darf nicht hart gegen die Leute sein. Geduld mit den Unbegabten! Wie können wir wissen, ob sich der Bursche nicht nach Kräften bemüht?« Selbst die Zigeuner, die durch das ruhige Hügelland zogen und mitunter meinem Onkel kraft seiner weltlichen Richtermacht über nebensächlichere Fragen des Betragens Rede stehen mußten, waren tiefgläubige Anglikaner; wenn sie auch gelegentlich eine Kleinigkeit entwendeten, so waren sie doch weder Räuber noch gewalttätig. Liebes England! Soll ich dich niemals mehr wiedersehen, wie ich dich in jenen unversehrten und glücklichen Tagen sah? Auch das Languedoc und die Provence sollen milde Landstriche sein, ebenso Sachsen; und es heißt, daß man in Skandinavien da und dort gesegnete Gebiete findet, die man ohne Vorbehalt liebt. Ich kenne diese Gegenden nicht. Mein Herz wendet sich immer wieder dem englischen Downland zu.
Mein Onkel schüttelte die Ärmel seines Chorrocks zurück, lehnte sich mit überzeugendem Lächeln über sein Kanzelpult und ließ alles so klar und milde erscheinen wie die englische Luft. Mir war immer wieder, als würde ich, wenn mir nur durchdringende Sehkraft gegeben wäre, hoch über dem blauen Äther noch einen so gütigen Vater erblicken, der seine glückliche Welt belehrt. Unter ihm saßen gleichsam in Kirchenbänken, das Antlitz zu ihm emporgerichtet, Fürsten, Herrscher und Machthaber, denen man allen die besten Absichten zuzugestehen hatte, solange es keinen sicheren Beweis für das Gegenteil gab. Die Königin Victoria, einfach, gut und weise, einem runden Laib Brot mit einer Krone darauf gleichend, nahm den höchsten Platz unter ihnen ein und war meinem Gefühl nach nicht so sehr eine Königin oder Kaiserin als vielmehr die Stellvertreterin Gottes auf Erden. An Sonntagen hatte sie den großen kaiserlichen Kirchenstuhl direkt unter Gottes Kanzel inne und lud Ihn ohne Zweifel zum Mittagessen ein. Sie pflegte dunkelhäutigen Potentaten, die sie meist besser kannten und höher achteten als Gott, ein Exemplar der autorisierten Ausgabe der englischen Bibel zu schenken und verwies sie allezeit großmütig an ihren Freund und Oberherrn. Sie schrieb ihm ganz gewiß sehr ernste Briefe, in denen sie ihre besonderen Wünsche unterstrich, just wie sie ja auch Lord Beaconsfield und dem Deutschen Kaiser mitteilte, was ihr feiner Instinkt, ein wenig belehrt durch Baron Stockmar, als nützlich für das Königreich, für Gottes Welt und für ihre Familienverbindungen erkannt hatte. Unter ihr bestand ein System hierarchischen Wohlwollens. Unser örtlicher Magnat war Sir Willoughby Denby, der für die Bewässerung subtropischer Landstriche, für den Anbau von Baumwolle, die in den Webereien von Manchester benötigt wurde, und für die Bedürfnisse der Menschheit im allgemeinen aufs trefflichste wirkte. Ein Mann von rötlicher Gesichtsfarbe und recht wohlbeleibt, pflegte er auf einem kräftigen kleinen Pferd durch das Dorf zu reiten. Mehr gegen Devizes zu, lagen die Besitztümer und die Einflußsphäre des Lord Penhartingdon, eines Bankiers und Archäologen, mütterlicherseits ein Blettsworthy. Von Downton bis Shaftesbury und nach der andern Seite hin bis Wincanton saßen Blettsworthys auf ihren Erbgütern.
In dieser wohlwollenden Welt, die der Gott meines Onkels und seine eigene Güte im Hochland von Wiltshire aufgebaut hatten, wuchs ich vom Kind zum Jüngling heran, und der dunkle Einschlag des mütterlichen Blutes in mir, eines zu Traurigkeit neigenden und doch abenteuerlichen Blutes, floß unbemerkt durch meine Adern. Vielleicht war ich für einen Blettsworthy ein wenig zu geschwätzig und sprachbegabt. Anfänglich hatte ich eine Gouvernante, eine Miss Duffield aus Boars Hill bei Oxford; sie war die Tochter eines Freundes meines Onkels, ein blondes junges Mädchen, das ihn innig verehrte und mich mit gutem Erfolg im Französischen und im Deutschen unterrichtete. Dann kam ich als Wochenpensionär in die ausgezeichnete Schule zu Imfield, für die Sir Willoughby Denby so viel getan hatte: Er hatte sie mit Gottes und des Kirchenverwaltungsrates Hilfe neu aufleben lassen und reich dotiert. Sie war außerordentlich modern für jene Tage: Wir hatten Zimmerhandwerkskurse, betrieben an Pflanzen und Froschlaich experimentelle Biologie und lernten babylonische und griechische Geschichte anstatt griechischer Grammatik. Mein Onkel gehörte dem dieser Schule vorstehenden Kollegium an und kam von Zeit zu Zeit, um uns einen Vortrag zu halten.
Er sprach etwa fünf bis zehn Minuten zu uns, sagte uns ohne vorherige Vorbereitung, was ihm bei unserem Anblick in den Sinn kam; er war dabei kaum bestrebt, uns Respekt vor irgendeiner höheren Macht einzuflößen, er wollte vielmehr unserer Jugend und erwartungsvollen Strebsamkeit ein aufmunterndes Wort sagen, das uns über Schwierigkeiten hinweghelfen sollte.
»Zivilisation«, pflegte er zu uns zu sagen. »Werdet hier tüchtig und kräftig und geht dann hinaus, um die Welt zu zivilisieren.«
Das war der Zweck der Imfielder Schule. »Zivilisation« war sein Lieblingswort; ich glaube, ich habe es sechsmal so oft aus seinem Munde gehört wie »Christentum«. Die Theologie war seinem Geiste ein Spiel, ein ziemlich müßiges Spiel. Er war für die Wiedervereinigung der ganzen Christenheit im Interesse der Zivilisation und setzte große Hoffnungen auf die heiligen Männer, die in der Troitzko-Sergijevskaja Lavra bei Moskau hausten und niemals zur gemeinen Wirklichkeit herabstiegen. Er wünschte einen Austausch orthodoxer und anglikanischer Priester. Seine Neigung, eingebildete Ähnlichkeiten zu sehen, war weit größer als seine Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen. Unter dem langen Haar und Bart eines russischen Priesters vermochte er sich sehr gut die Mentalität eines sanftmütigen englischen Hilfsgeistlichen vorzustellen. Er glaubte, daß der russische Landadel binnen kurzem dem englischen gleichen und ein Parlament in St. Petersburg errichten werde. Er stand mit mehreren Kadetten in Briefwechsel. Und der Streitpunkt zwischen dem lateinischen und dem griechischen Glaubensbekenntnis, die sehr wesentliche Meinungsverschiedenheit nämlich betreffs Filioque, galt ihm, so fürchte ich, nur als Wortklauberei.
»Im Grunde sind wir alle gleich«, sagte er, als er mich zur Konfirmation vorbereitete. »Man darf Formen und Formeln nicht zu wichtig nehmen. Es gibt nur eine Wahrheit auf der Welt, und alle guten Menschen kennen sie.«
»Darwin und Huxley?« wandte ich ein.
»Sind beide gute Christen im wahren Sinne des Wortes«, erwiderte er. »Das heißt nämlich, ehrliche Menschen. Kein Glaube ist gesund, wenn er sich nicht in die frische Luft wagt, sich Bewegung verschafft, sich um und um dreht und gelegentlich auch einmal auf dem Kopfe steht.«
An Huxley, diesem Athleten des Geistes und durch und durch rechtschaffenen Mann, haben die Bischöfe im Oberhaus viel verloren, versicherte er mir. Jedermann würde sein Wort vor dem so manchen Bischofs gelten lassen. Aus der Tatsache, daß Wissenschaft und Religion zwei Seiten der Medaille der Wahrheit seien, folge keineswegs, daß sie in Gegensatz zueinander stünden, und unbewußt ein Christ zu sein, bedeute vielleicht die Quintessenz des wahren Christentums.
»Wer da meint, er stehe«, zitierte mein Onkel, »sei auf der Hut, daß er nicht falle.«
Alle Menschen meinten im Grunde dasselbe, und jeder sei im innersten Herzen gut. Manchmal aber vergäßen sich die Leute. Oder verstünden nicht recht, wie die Schwierigkeiten des Daseins zu erklären seien. Wenn der Ursprung des Bösen meinem Onkel nicht viel Kopfzerbrechen bereitete, so brachte ihn die sittliche Lässigkeit seiner Mitmenschen doch mitunter aus der Fassung, glaube ich. Er pflegte beim Frühstück mit seiner Frau, Miss Duffield und mir Zeitungsnachrichten zu besprechen, und unterhielt sich mit den Tischgästen, die wir häufig hatten, über Verbrechen, über das unbegreifliche Verhalten kläglich gottloser Individuen, Mörder, Betrüger und dergleichen.
»Ach, ach«, pflegte er beim Frühstück auszurufen. »Das ist nun wirklich schimpflich.«
»Was ist denn schon wieder geschehen?« fragte Tante Dorcas.
»Was ich nicht begreifen kann, ist die gottlose Torheit solch eines Menschen«, meinte er.
Miss Duffield lehnte sich in Bewunderung auf ihrem Stuhl zurück und wartete, die Tante jedoch frühstückte weiter.
»Muß da dieser arme, alberne, wirrköpfige Kerl seine Frau vergiften. Versichert sie auf eine ansehnliche Summe – wodurch man auf die ganze Sache aufmerksam wurde – und gibt ihr dann Gift. Noch dazu sind drei nette kleine Kinder da. Als bei der Gerichtsverhandlung davon die Rede ist, wie sehr die Frau litt und daß sie ihr Schicksal beklagte, bricht der arme Teufel in Tränen aus. Der bedauernswerte Narr! Blödheit! Er steckte sein Lebtag in Geldsorgen … Ein Jammer!«
»Die Frau aber hat sterben müssen«, meinte Tante Dorcas.
»Wenn einer in solche Not gerät, verliert er jeden Sinn für das wahre Wertverhältnis. Ich habe das als Richter so oft mit eigenen Augen angesehen. Keinerlei Zuversicht mehr, kein Lebensmut und schließlich ein moralischer Zusammenbruch. Höchstwahrscheinlich wollte er ursprünglich nur zu Geld kommen, weil er es nicht ertragen konnte, seine Frau darben zu sehen. Und dann wurde das Verlangen nach Geld übermächtig in ihm. Er mußte sich um jeden Preis Geld verschaffen und vergaß darüber seine Frau und Kinder.«
Miss Duffield nickte zum Zeichen des Verständnisses und der Erbauung heftig mit dem Kopfe, Tante Dorcas aber schien noch nicht überzeugt.
»Was aber willst du mit dem Mann anfangen, mein Lieber?« meinte sie. »Man kann ihn doch nicht freisprechen, damit er hingeht und jemanden anderen vergiftet.«
»Du kannst ja nicht wissen, ob er das tun würde«, erwiderte mein Onkel.
»Christus würde ihm verziehen haben«, sagte Miss Duffield leise – die Stimme versagte ihr fast.
»Er müßte wohl gehängt werden«, meinte der Onkel, der sich intensiv mit der Frage meiner Tante auseinandersetzte. »Ja, er muß gehängt werden. (Dieser Bückling ist ausgezeichnet. Ich glaube, das sind die besten Bücklinge, die wir seit langem gehabt haben.)«
Er betrachtete die Sache von allen Seiten. »Ich würde ihm wohl seine Sünde verzeihen, nicht aber die Strafe erlassen. Nein. Um der Schwachen willen, die so leicht der Versuchung erliegen, muß er gehängt werden, ich gebe es zu. Ja. Er muß gehängt werden.« Er seufzte tief. »Jedoch im Geiste der Zivilisation. Verstehst du, es sollte jemand zu ihm gehen und ihm klar machen, daß es eine Strafe ohne Gehässigkeit ist, daß wir erkennen, welch arme, sündige, der Versuchung ausgesetzte Wesen wir alle sind, kein bißchen besser als er, kein bißchen, Sünder einer wie der andere; daß er aber gerade deshalb sterben muß. Denn der Gedanke an die unvermeidliche Strafe rettet so manche. Daher stirbt er trotz des schmählichen Todes, den er nun auf sich nehmen muß, ebensosehr zum Heil der Welt wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld. Das sollte man ihm klar machen … Ich wünschte, es stünde nicht der Tod durch den Strang auf seinem Verbrechen. Der Henker ist barbarisch. Ein Schierlingsbecher wäre weit zivilisierter, ein besonnener Zeuge, der dabei sitzt, und eine freundliche Stimme, die tröstenden und stärkenden Zuspruch leistet.«
»Wir werden so weit kommen«, sagte mein Onkel. »Fälle dieser Art werden immer seltener – in dem Maße eben, als wir toleranter werden und unser System sich bessert. Je zivilisierter wir werden, desto weniger Sorge, Kummer und Hoffnungslosigkeit wird es geben – desto weniger Ärmlichkeit, aus der solche Krisen entstehen. Aber auch weniger Strafen, wie wir sie jetzt verhängen. Es wird alles besser. Wenn du erst so alt sein wirst wie ich, Arnold, wirst du erkennen, daß alles stetig besser wird.«
Er blickte auf seine Zeitung, schüttelte traurig den Kopf und schien unentschlossen, ob er weiter lesen sollte.
Nein, er hatte einstweilen genug von der Zeitung. Er stand zerstreut auf, schritt zum Büfett und nahm sich noch einen Bückling …
Er behauptete immer wieder, daß er während der ganzen Zeit seiner richterlichen Tätigkeit niemals einen wirklich schlechten Mann noch eine wirklich schlechte Frau verhört habe, sondern nur unwissende, in moralischer Hinsicht beschränkte und hoffnungslos verwirrte Geschöpfe. Der innere Widerspruch in seinem Wesen ist mir heute klar. Die Theologie, zu der er sich von Berufs wegen bekannte, war auf die Lehre vom Sündenfall aufgebaut, und er leugnete diesen Sündenfall jeden Tag. Was bedeutete Sünde für ihn? Die Sünde wich seiner Meinung nach vor der Zivilisation. In der Vergangenheit mochte es wirklich gottlose Sünden gegeben haben, doch war solches Unkraut so lange niedergehalten worden, daß es jetzt nur mehr sehr selten, wirklich nur mehr ganz selten vorkam. Die praktischen Belehrungen, die er erteilte, waren nicht vom Gedanken der Sünde, sondern von dem des unabsichtlichen Irrtums durchdrungen. Deshalb predigte er nicht. Die Menschen aufzuklären, dünkte ihn weit besser.
Er lehrte mich, das Leben nicht zu fürchten. Furchtlos, ja völlig unbekümmert um die dunkelsten Ecken zu biegen. Die Wahrheit zu sagen und den Teufel zu beschämen. Den verlangten Preis wortlos und ohne Feilschen zu bezahlen. Man mochte dann und wann betrogen werden, mochte da und dort auf Roheit stoßen, im großen und ganzen aber würde man nicht verraten werden, wenn man den Menschen traute, sich ihnen anvertraute. Auch ein Hund beißt einen ja nur, wenn man ihm droht, ein Pferd schlägt nur dann aus, wenn man es erschreckt. Nur wer herausforderndes Mißtrauen oder einladende Furcht an den Tag legt, wird angegriffen. Solange die Bewegungen eines Menschen klar und selbstverständlich sind, wird selbst ein Hund ihn nicht beißen. Hätte man meinem Onkel vorgehalten, daß es nicht nur Hunde, sondern auch Tiger und Wölfe auf der Welt gebe, so würde er erwidert haben, man treffe diese letzteren in einer zivilisierten Welt so selten an, daß man ihnen keine Beachtung zu schenken brauche. Wir lebten in einer zivilisierten Welt, die täglich zivilisierter werde. Praktisch betrachtet, seien Übel, die man nicht beachtet, so gut wie ausgerottet. Es geschähen wohl Unglücksfälle, und zwar nicht nur solche materieller, sondern auch solche moralischer Art, doch gebe es genug anständige Menschen und genug guten Willen, daß man die bösen Zufälle außer acht lassen und unbewaffnet umhergehen könne. Ein Mensch, der eine Waffe bei sich trug, galt meinem Onkel als Raufbold oder als Feigling. Er konnte es nicht leiden, wenn einer Vorsichtsmaßregeln irgendwelcher Art gegen seine Mitmenschen gebrauchte. Deshalb haßte er Kassenregister. Er haßte es, wenn einer die Leute aushorchte, haßte Geheimnistuerei und Irreführung. Jedes Geheimnis war ihm eine Verdunkelung des Daseins, jede Lüge eine Sünde.
Die Menschen sind gut, solange sie nicht bedrängt, gereizt, hintergangen, bedrückt, erschreckt oder in Furcht versetzt werden. Die Menschen sind wirklich Brüder. Dies klarzulegen und überzeugend zu lehren, und vor allem es selbst zu glauben und danach zu handeln, galt meinem lieben Onkel als Zivilisation. Man müsse die ganze Welt zivilisieren, dann werde jeder glücklich sein.
Dank seinen Lehren und seinem überzeugenden Beispiel wurde ich, was ich, wie ich hoffe, trotz der entsetzlichen Abenteuer, die ich erlebt habe, und trotz der Furchtsamkeit und anderer niedriger Züge meines Wesens heute noch bin: ein wirklich zivilisierter Mensch.
Ich hörte in jenen glücklichen Tagen des Viktorianischen Zeitalters, die ich im Hügellande von Wiltshire verlebte, nur wenig von den Kriegen und sozialen Konflikten, die drohend über uns schwebten. Der letzte große Krieg war der deutsch-französische gewesen, und mein Onkel behauptete, daß die aus ihm entsprungenen Feindseligkeiten mit jedem Jahre geringer werden. Daß Deutschland und England jemals gegeneinander Krieg führen würden, war seiner Meinung nach in Anbetracht der Gesetze der Blutsverwandtschaft ausgeschlossen. Es heiratet keiner seine Großmutter, noch weniger aber wird er es sich einfallen lassen, gegen sie zu kämpfen, und unsere Königin war die Großmutter der Welt im allgemeinen und die des deutschen Kaisers im besonderen.
Revolutionen dünkten meinen Onkel noch unwahrscheinlicher als Kriege. Der Sozialismus galt ihm als ein sehr nützliches Mittel, um einer gewissen Härte, einer gewissen arithmetischen Voreingenommenheit von Fabrikanten und Geschäftsleuten entgegenzuwirken, die ihre Ursache in der sozialen Unerfahrenheit dieser Menschen hatten. Aus Unwissenheit taten sie Unrecht. Er gab mir Ruskins ›Unto this Last‹ zu lesen, später auch ›News from Nowhere‹ von William Morris. Ich stimmte den Ideen dieser Bücher begeistert zu und blickte in gelassener Zuversicht einer Zeit entgegen, da jedermann sie verstehen und gelten lassen würde.
In der Schule trat mir kaum Schlimmeres entgegen als im Heime meines Onkels. Ich habe seither oft sagen gehört, daß Schuljungen zuweilen besonders bösartige Geschöpfe und die Public-Schools in Großbritannien mitunter wahre Lasterhöhlen seien. Ein gut Teil dieses Geredes ist, dessen bin ich sicher, aufgebauschter Unsinn; in Imfield gab es jedenfalls nur sehr wenig oder gar keine Verderbtheit. Wir hatten die Wißbegier, die unserem Alter entsprach und befriedigten sie, ohne viel Aufhebens davon zu machen; gleich allen Knaben scherzten wir zuweilen über gewisse Dinge, die, spröde und aufreizend, hinter unseren gesellschaftlichen Konventionen lauern. Gott hat es in seiner unerforschlichen Weisheit für richtig befunden, gewisse Seiten des Lebens zu einem fortlaufenden Kommentar menschlicher Würde zu machen, und jedes jugendliche Gemüt erlebt in seinem Bestreben, das Weltall zu erfassen, eine Phase des entsetzten Staunens und des heilsamen Gelächters.
Von einigen solchen durchaus erklärlichen Schrullen und Zerknitterungen des Gemüts abgesehen, wuchs ich einfach, sauber und gesund heran. Ich erwarb mir die gute Kenntnis dreier Sprachen, die ich seither kaum verwertet habe, und auch sonst ein ausreichendes Wissen und wurde ein tüchtiger Cricketspieler. Ich ritt ein bißchen und versuchte mich im primitiven Tennis jener Zeit. Meine Glieder streckten sich, mein Haar und meine Haut wurden heller. Wer mich im weißen Flanellanzug auf dem Wege zum Tennisplatz in Sir Willoughby Denby’s Park getroffen hätte, würde ebensowenig vermutet haben, daß meine Mutter halb portugiesischer, halb syrischer Abstammung mit einem Spritzer Madeirablut gewesen war, wie er daran gedacht hätte, daß die Urahnen der Blettsworthys ein Fell und einen Schwanz besaßen. In so starkem Maße hatte die Assimilationskraft des Heimatlandes der Blettsworthys auf mich eingewirkt und mich zivilisiert.
Ich wuchs sauber, zuversichtlich und vertrauensvoll zum jungen Manne heran, und wenn ich den unangenehmen Tatsachen nicht ins Auge blickte, so lag das hauptsächlich daran, daß es in jenem lieblich grünen und friedlichen Teile von Wiltshire keine so unangenehmen Tatsachen gab, die sich meinem Blicke aufgedrängt hätten. Auch als ich schließlich nach Oxford in das Lattmeer College kam, erlebte ich weder dort noch auf dem Wege dahin eine bedeutsame Erschütterung. Meine Tante Constance hatte sich erbötig gemacht, die Kosten meines Universitätsstudiums zu tragen. Sie starb bald darauf und hinterließ mir ihr ganzes kleines Vermögen; allerdings mußte ich ihrer Gesellschafterin eine jährliche Rente auszahlen, die den größten Teil der Zinsen verschlang. Aus dem bestürzten Mißtrauen der beiden Damen gegen mich war eine ehrliche und offen eingestandene Zuneigung geworden, da ich mich unter meines Onkels Sorgfalt gleich einer Blume im Sonnenschein entfaltet hatte. Das Testament wurde gemacht, nachdem mein Vater im Betschuanaland getötet worden und ich als völlig unbemittelte Waise zurückgeblieben war. Er fiel in einer ziemlich verwickelten und niemals völlig aufgeklärten Affäre, in der der Burenkrieg, seine umstrittene Heirat mit der Tochter eines angesehenen Betschuanen und die Schürfrechte in gewissen, seinem angeblichen Schwiegervater gehörigen Gebieten eine Rolle spielten. Er hat weder seine Anwesenheit innerhalb der Kampflinie der Buren, wohin ihn eine mit seinem stets komplizierten, aber, wie ich glaube, niemals unehrenhaften Privatleben verbundene Mission geführt hatte, noch seine allezeit dunkle Suche nach Gold klarzulegen vermocht. Wir jedoch glaubten damals, daß er für König und Vaterland auf die zu Kriegszeiten übliche Weise sein Leben verloren hätte.
Der Burenkrieg hinterließ keinen schmerzlichen Eindruck in meinem knabenhaften Gemüt. Er war ohne Zweifel der zivilisierteste Krieg der Geschichte, wurde mit Zurückhaltung und auf ritterliche Art ausgefochten, war ein Krieg der weißen Rasse, der in gegenseitiger Hochachtung und allgemeinem Händeschütteln endete. Früher oder später werden die meisten Menschen Waisen, und wenn ein übrigens schon lange vergessener Vater, wie wir meinten, in ehrlichem Kampfe den Heldentod erleidet, so stellt das eine recht zufriedenstellende Form des herkömmlichen Verlustes dar.
Auch der Heimgang der Königin Victoria warf keinen dauernden Schatten auf mein Gemüt. Eine große Epoche schien damit zum Abschluß gelangt zu sein, und ich war nur wenig darüber erstaunt, daß sowohl der ›Punch‹ als auch die Anglikanische Kirche unverändert bestehen blieben. Aber sie blieben bestehen; allmählich erkannte jedermann, daß fast alles unverändert weiterging, ein wenig traurig vielleicht, aber nicht hoffnungslos verwitwet; König Edward trat an Victorias Stelle, ein nun schon gesetzter, aber immer noch sehr liebenswürdiger Mann, und das Gefühl der Beständigkeit aller Dinge wurde durch den Tod der Königin nur gestärkt.
Das Leben in Lattmeer festigte meinen Glauben an die Zivilisation des Weltalls. Ich fühlte mich nicht nur sicher, sondern auch privilegiert. Ich gewann Interesse am Wassersport und ruderte als Vierter im College-Boot. Ich schwamm ausgezeichnet. Ich glättete mein Haar mit Pomade und trug einen Mittelscheitel. Ich schmückte mich mit fröhlichen Farben. Meine purpurrot und blaßgelb gestreifte Strickjacke wurde nur von wenigen übertroffen. Ich lernte Weine voneinander unterscheiden. Ich schloß Freundschaften, unter denen sich einige durch Vertraulichkeit und Innigkeit auszeichneten. Ich verliebte mich in die Tochter einer Trafikantin, einer Witwe, deren Laden in nächster Nähe des Lattmeer College lag. Ich eignete mir sogar das nicht sehr große Ausmaß an klassischer Bildung an, dessen man zur Erlangung eines akademischen Grades bedarf. Auch nahm ich, ohne mich jedoch besonders hervorzutun, an den Bestrebungen der Oxford University Dramatic Society teil.
Ich hatte in jenen Tagen allen Grund, glücklich zu sein, und blicke heute auf sie zurück, wie ein lebenslänglich Gefangener an die Zeit denken mag, da er als freier und unbescholtener Mensch fröhliche Ferientage genoß. Das Erbe meiner Tante, deren Vermögen nicht sehr groß, aber doch ganz ansehnlich gewesen war, ersparte mir den pekuniären Druck, unter dem die meisten jungen Männer zu leiden haben. Ich ertrug den Tod ihrer ehemaligen Gesellschafterin, durch den der gesamte Zinsertrag des Geldes für meinen persönlichen Gebrauch frei wurde, mit mannhafter Seelenstärke, und genoß die guten Gaben Gottes voll des Vertrauens auf ihren Bestand. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, daß all dies hoffnungsreiche Glück nur eine glänzende Folie der dunklen Erfahrungen sein sollte, die sich nunmehr über mich herabsenkten.
Der erste große Schatten fiel über mein junges Leben, als meine Tante und mein Onkel kurz nacheinander starben. Mein Onkel begann früher als seine Frau zu kränkeln, starb aber nach ihr. Ich weiß nichts über die wahre Natur seiner Krankheit und glaube auch nicht, daß sie jemals klar erkannt worden ist. Die Berufsausbildung und Organisation der englischen Ärzte bewirken zwar, daß sie Würde an den Tag legen, ein bequemes Leben führen und anständig auftreten, scheinen sie aber nicht zu guten Diagnostikern zu machen. Eine Erkrankung des Blinddarms, der Niere, der Leber, der Milz, des Magens, des Nervensystems oder der Muskeln, sowie irgendwelche geheimnisvolle Infektionen wurden von dem behandelnden Arzt als mögliche Ursachen des Unbehagens und der Krankheit meines Onkels erwähnt, doch hütete sich der Mann vor einer allzu genauen Feststellung, die ihn hätte kompromittieren können. Der Totenschein nannte Herzschwäche in der Folge einer Erkältung als Todesursache. Spezialisten wurden nicht zugezogen; wahrscheinlich wären zu viele gleichzeitig vonnöten gewesen, so daß das Reisegeld für die ganze Schar die Mittel meines Onkels überschritten hätte. Die Behandlung eines Kranken in solcher Entfernung von London wurde in der Hauptsache davon bestimmt, wie weit sich der Arzt an offenkundig ähnliche Fälle in seiner Praxis erinnerte; im übrigen waren die vorhandenen Hilfsmittel der Ortsapotheke maßgebend.
Mein Onkel ertrug erhebliche Leiden mit Mut; die Hoffnung auf Genesung erhielt ihn lange Zeit aufrecht. Als er einmal nachts von heftigen Schmerzen befallen wurde, war er sehr gerührt darüber, daß der Arzt, den wir herbeiriefen, aus seinem warmen Bette aufstand und nicht weniger als zwei Meilen im Regen zurücklegte; er entschuldigte sich, daß sein Leiden so unerklärlich sei und sich noch dazu zu so ungünstiger Zeit äußere. Er empfand es, glaube ich, als ein Unrecht, daß er keine einfache, leicht erkennbare und zu einer bestimmten Tageszeit auftretende Krankheit hatte und einen ehrlichen Freund in eine schwierige Lage brachte. »Ihr Ärzte«, sagte er, »seid das Salz der Erde. Was würden wir ohne euch anfangen?«
Meine Tante starb an einer Lungenentzündung, der Folge einer Erkältung, die sie bei der Pflege ihres Gatten übergangen hatte; er wurde seines Verlustes zwei oder drei Tage lang nicht gewahr.
Fast bis zuletzt glaubte er, daß er durchkommen würde. »Ich bin ein zäher alter Kerl«, sagte er immer wieder; so erteilte er mir keinerlei letzte Lehren über die Welt; und als er schließlich begriff – wenn er es überhaupt wirklich begriff –, daß seine Frau tot war, verfiel er in Stillschweigen. »Fort«, wiederholte er leise, als man ihm auf seine Frage, wo sie sei, taktvoll mit diesem Worte geantwortet hatte. »Fort, Dorcas fort«, seufzte er und sagte nichts mehr über sie. Er schien sich in sich selbst zurückzuziehen und nachzudenken. Er starb die dritte Nacht darauf unter dem Beistand der Pflegerin unseres Dorfes.
Gegen das Ende vergaß er alle Schmerzen, die ihn in einem sanften Delirium noch quälen mochten. Er schien mit dem Gotte, dem er stets gedient hatte, in der Welt umher zu wandern und dabei noch klarer zu sehen als jemals zuvor.
»Das Wunder der Blumen, das Wunder der Sterne«, flüsterte er, »das Wunder des menschlichen Herzens. Warum sollte ich auch nur einen Augenblick lang daran zweifeln, daß all das zum Guten beiträgt? Warum sollte ich zweifeln?«
Dann sagte er plötzlich, ohne irgendwelchen Anlaß: »Mein ganzes Leben lang bin ich umhergegangen und habe niemals über die Schönheit von Kristallen und Edelsteinen gestaunt. Blinde Undankbarkeit. Hab das alles als selbstverständlich hingenommen. Alles Gute als selbstverständlich und jede notwendige kleine Prüfung als Last.«
Es verging geraume Zeit, bis er wieder zu sprechen begann. Da hatte er Edelsteine und Kristalle bereits vergessen. Er verfiel in ausgesprochen einseitige Betrachtungen. »Es gibt keine Bürde, die man nicht ertragen könnte. Manchmal ist es vielleicht schwer … Keine wirkliche Ungerechtigkeit.«
Seine Stimme erstarb, etwas später hörte ich ihn jedoch wieder flüstern.
Meine letzte Erinnerung an ihn ist, daß inmitten der Stille des von einer Lampe erleuchteten Zimmers plötzlich seine Stimme erklang und meinen Namen nannte. Er muß meiner gewahr geworden sein, während ich in der Tür stand. Die Fenster seines Schlafzimmers waren so weit wie möglich offen, trotzdem verlangte es ihn nach mehr Luft. »Frische Luft«, wiederholte er. »Viel frische Luft. Bring alle Menschen in die frische Luft hinaus; alles in die frische Luft. Dann wird alles gut sein.«
»Laß die Fenster offen. Laß immer die Fenster offen. Ganz weit offen – ganz weit …«
»Und fürchte dich vor nichts, denn Gott ist hinter allem, wie seltsam es auch sein mag.«
»Hinter allem …«
Sein Ausdruck wurde gespannt. Gleich darauf sanken seine Augenlider herab, und er beachtete mich nicht mehr. Sein Atem wurde schwer, wurde langsamer, trocken und rasselnd.
Sehr lange war dieses geräuschvolle Atmen zu hören. Nie werde ich es vergessen. Es setzte aus, hob wieder an, und hörte dann auf. Der gespannte Gesichtsausdruck verschwand. Die Augen öffneten sich langsam und betrachteten die Welt ruhig, aber sehr starr.
Ich wartete, den Blick starr auf ihn gerichtet, daß er spreche, aber er sprach nicht. Scheu befiel mich.
»Onkel!« flüsterte ich.
Die Pflegerin zupfte mich am Ärmel.
Als ich am Morgen zu ihm gerufen wurde, war sein Antlitz schon eine heitere Maske, deren Augen für immer vor der Welt verschlossen blieben; gütig noch, aber nunmehr mit unaussprechlichen Dingen befaßt. Das Marmorbildnis im Mittelschiff der Kirche zu Salisbury ist das getreue Ebenbild des Toten, selbst in den gefalteten Händen.
Ich hatte ein heftiges Verlangen, zu ihm zu sprechen und vieles zu sagen, was ich hatte sagen wollen, aber ich sah nun, daß zwischen ihm und mir keine Worte mehr gewechselt werden konnten.
Niemals ist etwas so sehr von Abwesenheit durchtränkt gewesen wie seine Anwesenheit an jenem sonnenhellen Morgen. Ich saß an seinem Bett und betrachtete die teure Maske, die mir so vertraut gewesen und nun schon so fremd geworden war, betrachtete sie lange Zeit und dachte dabei an zehntausend Dinge, die ganze Stufenleiter des Lebens hinauf und hinab. Ich empfand Schmerz über meinen Verlust und war doch auch, ich erinnere mich dessen, niederträchtig froh, selbst am Leben zu sein.
Allmählich aber begann eine ungewohnte Kälte in der Herzgegend, zu ruhig und zu tief, um Furcht zu sein – alle anderen Eindrücke zu überragen. Ich versuchte, ihr zu entrinnen. Ich ging ans Fenster, und der Sonnenschein auf dem Rasen des Hügellandes schien etwas von dem frohen Zauber, den er bis dahin besessen hatte, verloren zu haben. Da waren das vertraute Dach des Hintergebäudes, die graue Steinmauer des Hofes, die Pferdekoppel mit dem alten, ausgedienten Pony, die Hecke und der steile Abhang des Hügels. Alles war da, aber es war nicht dasselbe.
Die Kälte, die ich beim Anblick des toten Antlitzes empfunden hatte, wurde nicht geringer, sondern größer, als ich aus dem Fenster auf die gewohnte Landschaft blickte; sie war offenbar keine physische Empfindung; war nicht eine Kälte des Herzens, sondern der Seele, war ein ganz neues Gefühl, das Gefühl, allein und ohne Hilfe in einer Welt zu stehen, die ganz anders sein mochte, als sie mir schien.
Ich wandte mich wieder meinem Onkel zu: Ein unbestimmtes Gefühl, etwas wie der Wunsch, gegen die Möglichkeit solch einer Veränderung Einspruch zu erheben, regte sich in mir.
Noch einmal ergriff mich das Verlangen, zu ihm zu sprechen, doch ich erkannte, daß ich nichts zu sagen hatte.
Einige Zeit hindurch setzte ich mein gewohntes Leben ohne wesentliche Veränderung fort. Die erste Empfindung der Einsamkeit, die mich am Totenbett meines Onkels überkommen hatte, blieb um mich schweben und verdichtete sich, anstatt zu verschwinden, doch bemühte ich mich eifrig, sie aus meinem Bewußtsein zu bannen, welches Bestreben er gewiß gutgeheißen haben würde.