Musik für die Toten und Auferstandenen - Valzhyna Mort - E-Book

Musik für die Toten und Auferstandenen E-Book

Valzhyna Mort

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Beschreibung

Eine pointierte, harte, rhythmische Diktion zeichnet Valzhyna Morts Poesie aus. Ihr Ton hat etwas Unerbittliches. Mit Belarus, dem Land ihrer Herkunft, in dem die Stille auch die Stille ist, die über Gräberfeldern liegt, wird sie nicht fertig. In einer Stadt aufgewachsen zu sein, in der »Straßen die Namen von Mördern« tragen – das kontaminiert die Erinnerung. Nur weil man »sie mal mit einem Skalpell in der Hand gesehen hat, glauben manche schon, dass die Zeit Wunden heilt«.

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Seitenzahl: 89

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Titel

Valzhyna Mort

Musik für die Toten und Auferstandenen

Gedichte

Deutsch von Katharina Narbutovič und Uljana Wolf

Suhrkamp

Widmung

Für Korah

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Für Antigone, eine Depesche

[

Антыгоне

,

дэпеша

]

Прыпынкі

: Ars Poetica

Haltestellen: Ars Poetica

An Attempt at Genealogy

1

2

3

4

5

6

7

8

9

(whisper)

10

11

12

Versuch in Ahnenforschung

1

2

3

4

5

6

7

8

9 (

Flüstern

)

10

11

12

Песенька

для

кішэннага

ножыка

Taschenmesserlied

Little Song for a Pocketknife

Kleines Lied für ein Taschenmesser

Waschtag

[Washday]

Kleine Lieder

[Little Songs]

Genesis

[

Быццё

]

Эпідэмія

ружаў

1

2

3

Rosenepidemie

1

2

3

New Year in Vishnyowka

Silvester in Wischnjowka

Psalm 18

[

Псалм

18]

Singer

[

З

i

нгер

]

Musikunterricht

[Music Practice]

Gammastrahlen

[

Гамма

вылучэнн

i]

1

2

Lied für laute Stimme und Schraubenzieher

[A Song for a Raised Voice and a Screwdriver]

Baba Bronja

[

Баба

Броня

]

Gast

[Guest]

Selbstporträt mit Madonna auf der Prawda-Allee

[Self-Portrait with Madonna on Pravda-Avenue]

Ода

да

Бранкі

Ode an Branka

Nocturne for a Moving Train

Nocturne für einen fahrenden Zug

Stand des Lichts: 1986

[

Стан

святла

: 1986]

1

2

Musik für Mädchenstimme und Bison

[Music for Girl's Voice and Bison]

I

II

Spurentexte

Selbstporträt mit Palast der Republik

Über mein zweisprachiges Schreiben

Im Bann des Verlusts

Biobibliographische Notiz

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Für Antigone, eine Depesche [Антыгоне, дэпеша]

allegro die Polizei verjagen

adagio den Körper waschen

scherzo leise lachen und weinen

rondo den Toten mit Erde bedecken

Antigone,

mit Blick auf die Toten ist alles klar.

Doch was uns Lebende betrifft:

Nimm mich zur Schwester.

Auch ich ehre das Bestattungswesen,

das feierliche Waschen und Weinen,

    den Ritus von Bahre, Sarg, Amt.

Als Grundbesitzerin

drehe ich Runden

zu unseren kostbarsten Gütern,

    den Gräbern.

Auf dem Marterinstrument

griff ich kniffligste Akkorde,

um die Finger zu spreizen

bis zur Spanne der Hexenhand.

Ich leerte meine innersten Winkel

wie den Akkordeonbalg

für schöneren Klang.

Nicht Geheimnisse

teilen wir miteinander,

sondern Tat und Strafe.

Erst beklagen wir deinen Bruder,

dann zeig ich dir

ganze Wälder unbegrabener Körper.

Wir räumen auf, wie nur zwei Schwestern

aufräumen können daheim:

Kampf den Knochen, die liegen, wie Krimskrams, herum.

Kampf der Asche am Knieknorpelgrund.

Warum mit Männern streiten über schmutzige Teller –

Wir könnten Berge von Schädeln polieren im Keller.

Von Statuen erzogen,

ist meine Statur die von Arbeitstier und Hure.

Bin in Tränen aufgelöster Stein.

Meine Gräber sind schon von fern zu erkennen,

makellos wie die Haut eines Kinds.

Hier

kommt die Geschichte

an ihr Ende, wie im Film,

mit den Credits der Grabinschriften

den minutenlangen Nennungen der Massengräber.

Jede Grube, jeder Hügel ist verdächtig.

Nimm mich zur Schwester, Antigone,

in diesem verdächtigen Land.

Mein Gesicht ist ein prächtiger Spaten.

Прыпынкі: Ars Poetica

Некнігі, а

вуліцаадкрыламнерот, яклыжкалекара.

Адназаадной, вуліцы

прадставілісяімёнамі

забойцаў.

Удзяржаўныхархівах

вокладкі

прыраслітромбамі

даўліковыхкнігакрываўленых.

Умаленькайкватэрыязбудавалазсябе

асобныпакой.

*

Умаленькайкватэры

язбудавалазсябе

асобныпакой,

засялілаяго

калібанамі

планаўнабудучыню.

Будучыня, штоходзіцьпараскладзеграмадскагатранспарту

адзаапаркадацырка,

будучыня.

Якітвойалібінаархівы, навуліцы, накватэры, будучыня?

*

Усумцы,

якаятрымала – празтрывайны – пасведчанні

абнараджэннімерцвякоў, бабуля

хавалаадмяне

шакалад.

Сумкаадкрывалася, якрот, штокрычыць.

*

Сумкаадкрывалася, якрот, штокрычыць.

Дзвеспражкіназіралізамнойпразсцены,

праздні,

празджаз.

Хтонавучыўцябе, сумка, быцьстрашным

тварам?

Цалуюспражкі, клянусябыцьтваімслужкам.

*

Жнівень. Яблыкі. Умяненікоганяма.

Яблыкпаспеў – восьмнеісям'я.

Ічацвераногiстолзаместката.

*

УхрамеГастраному

ястаўлюсябе,

яксвечку, учаргу

дажрыцы,

штоахоўваеведыкоштаў

намяса, цнатлівасць

упаковакзмалаком.

Маябудучыня – крыхурэшты.

Будучыня, штоходзіцьпараскладзеграмадскагатранспарту.

Вуліцыпрадставілісяімёнамі

забойцаў, аязбудавала

зсябеасобныпакой,

уякімпамяць – нелегальная

імігранткапразчас –

бясконцапрыбірае

заўяўленнем.

Упакоі, дзепамяцьздымаебялізнузложкаў –

бялізну, штотромбампрырасла

даматрацаў, яцалую

яблычкі – маебрацікі, цалуюспражкі,

штоназіраюцьзанаміпразсцены,

праздні,

празджаз;

шакаладзсумкі,

якаятрымала

         – празтрывайны –

пасведчанніабнараджэннімерцвякоў!

Трымаймяне, яблычак.

Haltestellen: Ars Poetica

Nicht Bücher, sondern

eine Straße öffnete mir den Mund wie ein Löffel Medizin.

Nacheinander

stellten die Straßen sich vor

mit ihren Mördernamen.

In den staatlichen Archiven

kleben die Aktendeckel

fest verkrustet

am Blut der Statistikbögen.

In einer kleinen Wohnung schuf ich mir, in mir

eine eigne Kammer.

*

In einer kleinen Wohnung

schuf ich mir, in mir

    eine eigne Kammer    

bevölkerte sie mit

    Calibanen,

meinen Zukunftsplänen.

Einer Zukunft, die nach dem Tramfahrplan geht

vom Zoo bis zum Zirkus

solcherlei Zukunft.

Und, liebe Zukunft, wie lautet dein Alibi für die Statistikbögen,

die Straßen, die Wohnung?

*

In der Knipsbörse

– drei Kriege hindurch

barg sie die Geburtsurkunden der Toten –

versteckte Großmutter vor mir

die Schokolade.

Die Börse öffnete sich wie der Mund zum Schrei.

*

Die Börse öffnete sich wie der Mund zum Schrei.

Ihre zwei Kullerknöpfe verfolgten mich durch die Wände,

  die Tage,

    das ganze Tamtam.

Und, liebe Börse, wer hat dir beigebracht,

das Schreckgespenst zu sein?

Ich küsse deine Knöpfe, schwöre treuen Dienst.

*

August. Äpfel. Ich bin ganz allein.

Der Apfel ist herangereift – soll er meine Familie sein.

Und der vierbeinige Tisch die Katze.

*

In der Kirche Supermarkt

reihe ich mich ein

wie eine Kerze in die Schlange

zu den Priesterinnen

sie bewahren das Wissen um die Fleischpreise

die Virginität

der Milchverpackungen.

Meine Zukunft – ein Fitzel Kleingeld.

Zukunft, die nach dem Tramfahrplan geht.

Die Straßen stellten sich vor

mit ihren Mördernamen,

ich aber schuf mir, in mir

eine eigne Kammer,

dort räumt die Erinnerung –

illegale Zeitmigrantin –

fleißig auf hinter der Einbildungskraft.

In der Kammer, wo die Erinnerung das Bettzeug abzieht –

das Laken, das fest verkrustet klebt

an der Matratze, küsse ich

die Äpfel – meine Brüder, küsse die Knöpfe

die uns verfolgen, durch die Wände,

die Tage,

das ganze Tamtam;

küsse die Schokolade

   aus Großmutters Börse,

      drei Kriege hindurch

barg sie die Geburtsurkunden der Toten!

Halt mich, Bruder Apfel.

An Attempt at Genealogy

1

Where am I from?

In black basilicas

dragged incessantly

down a cross

is a man

who here resembles

a dress

   snatched from a hanger,

there: thick clouds of muscles –

              an overcast body –

embodied weather

of one hardly known country.

(A country where I am from?)

Dragging him,

they stick their hands under his armpits.

How cozy their hands are

            in such a warm place!

Through a cut in his chest

Eve watches

with her one bloody eye.

A cut in the chest – a red eyelash!

But

where am I from?

2

Yes, a man

resembles

a dress

   snatched from a hanger.

Inside black

     alphabet

dragged incessantly down

each letter

is a man.

3

To a telephone in a long hallway

as if to a well for water.

(Well, where am I from?)

Neither mama's

nor papa's

my round face

takes after

a rotary phone:

A rotary phone is my gene pool.

My body rings as it runs

to put my head

on the strong shoulder of the receiver.

Blood is talking! Blood's connection is weak.

Inside the receiver I hear a crackling

as if fire were calling.

Who is this?

It's me, fire receiver.

But where am I from?

4

Days of merciless snow in the kitchen window –

snow was deposited like fat under our skin.

How large we grew on those days!

So much time spent at the kitchen table

trying to decide where to put commas

in sentences about made-up lives,

yet no one bothered to tell us

that words, once uttered,

crowd in the brain as in a hospital lobby.

That time is supposed to heal

only because once

it was seen with a scalpel in its hands.

You've made a mistake, you'd say mysteriously,

pointing at lines written by a child. Think

of another word with the same root.

As if words can have roots.

As if words didn't come from darkness,

cat-in-the-bag words,

as if our human roots were already

known to us.

Here's Grammar, here's Orthography,

here's a paper rag, »Bread, milk, butter.«

What roots? What morphology? What rules

of subjugation? How is it even possible

to make a mistake? Here's Physics, Chemistry,

Geometry with its atlas, now,

where are Vaclav's letters,

1946?

What to do about the etymology of us?

                 Our etymology?

1946 crowds my hospital lobby.

The face of a rotary phone,

the face of a clock,

the face of a radio on the wall –

these are my

round-faced

progenitors.

But Vaclav's face –

where?

(again a man

resembles

a dress snatched from a hanger)

And where are the letters? One

per week, in his best Sunday

handwriting?

Inside the receiver – fire.

(How cozy are my ears in such a warm place!)

But where am I from?

5

A postwar Minsk, barracks –

          the joy of a first apartment –

a coat, a jacket, a leather purse

fat with pills, but where are

the where-letters

from the where-face?

Evacuated face,

de-evacuated face,

sick-not-sick, stuck-through face,

vacuum face,

lab rat face.

This country was tested on Vaclav's face.

Now we can live in peace.

So,

where am I from?

A post-war city, barracks –

          the joy

 of a deactivated face,

vacated face.

A face snatched from a hanger.

Absence as an inner organ.

6

In a village known for a large puddle

where all children fall between the two categories

of those who hurt living things

and those who hurt non-living things,

in a village known

for being unknown

(where am I from?),

a graveyard around an old church,

the frightening alphabet

around the village,

an alphabet on gravestones,

marble letters under the moth-eaten snow.

Under the moth-eaten snow