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Von der Physik der Töne zum Konzert der Neuronen Wenn wir etwas mögen, ist es Musik in unseren Ohren, wer den Ton angibt, spielt die erste Geige, und wem der Marsch geblasen wird, der pfeift auf dem letzten Loch. Die Verbindung von Neurobiologie, Medizin und Psychologie mit der Musik ist alt. Neu ist die Tatsache, dass sich Musik und Hirnforschung gegenseitig befruchten. Wer ein Instrument erlernt, verbringt tausende von Stunden damit und vollzieht immer wieder die gleichen oder sehr ähnliche Bewegungsabläufe. Lernen und Gehirn lassen sich also kaum besser studieren als im Bereich Musik. Für das Hören, Ausüben und Genießen von Musik ist die Kenntnis der neuronalen Maschinerie zwar nicht notwendig, der Musiker wird aber vieles besser verstehen, wenn ihm die physikalischen und psychologischen Grundlagen von Musik geläufig sind. Wir alle - und die meisten von uns, ohne viel darüber nachzudenken - gehen ständig und sogar bereits in der Zeit vor unserer Geburt mit Musik um. Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, diesen Umgang besser zu verstehen. KEYWORDS: Musik, Gehirn, Hörsinn, Musizieren, Singen, Gesang, Instrument, Gehör, Neurowissenschaften, Psychologie, Tanz, Musikalität
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Seitenzahl: 925
Manfred Spitzer
Musik im Kopf
Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk
2. Auflage
Mit 148 Abbildungen und 17 Tabellen
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer
Universität Ulm
Psychiatrische Klinik
Leimgrubenweg 12–14
89075 Ulm
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2. Auflage
© 2002, 2014 by Schattauer GmbH, Hölderlinstraße 3, 70174 Stuttgart, Germany
E-Mail: [email protected]
Internet: www.schattauer.de
Lektorat: Danielle Flemming, Dr. Beatrix Spitzer, Susanne Spitzer
Umschlagabbildung: Kokopelli. © Viktoriia Protsak, www.fotolia.de
Satz: am-productions GmbH, Wiesloch
ISBN 978-3-7945-6902-1 (ePub)
Für meine Mutter Maria
Der Erfolg dieser Einführung in die spannenden Zusammenhänge zwischen Musik, Psychologie und Neurobiologie hat mich überrascht und sehr gefreut. Zwei Preise für das Buch – 2010 Preis der Dr. Margrit Egnér-Stiftung und 2012 die Leo-Kerstenberg-Medaille des Verbandes der Deutschen Schulmusiker e.V. – machen deutlich, dass es bei den Interessierten „angekommen“ ist und gern aufgenommen wurde. Von allen meinen Büchern ist Musik im Kopf dasjenige, das mir beim Schreiben am meisten Spaß gemacht hat und bei dessen Abfassung ich selbst am meisten gelernt habe. Meine Begeisterung für die Musik und die Wissenschaft, so schrieben mir viele Leser in unzähligen Briefen und E-Mails, sei auf jeder Seite zu spüren – was mich ganz besonders freut.
Bemängelt wurde von Anfang an das etwas antiquierte formale Layout, die Typographie, die „Bleiwüsten“, wie sich mancher Kenner ausdrückte. Dies alles ist allein mein Verschulden, denn damals machte ich bei meinen Büchern noch alles selbst: das Cover, die Abbildungen und eben nicht nur die Sätze, sondern auch den Satz. Typographie war seit mehr als 10 Jahren schon zu meinem Hobby geworden, und bis heute ärgere ich mich darüber, dass ich noch nicht die Zeit gefunden habe, einmal darüber ein Buch zu schreiben. Denn es gibt neben der langen Tradition der Typographie (einer Kunstform) auch die empirische Psychologie des Lesens und die Neurobiologie des Sehens – und wieder liegt vieles unverbunden und damit auch letztlich unverstanden vor. – Ein traumhafter Ausgangspunkt für ein Buch!
Das anhaltende Interesse am Buch einerseits und die Unzufriedenheit (nicht zuletzt des Verlags selbst) mit dessen Form andererseits hat nun zur zweiten Auflage geführt, mit der Musik im Kopf nun endlich erwachsen geworden ist und hoffentlich für den Leser (noch) leichter zugänglich. Bücher zum Thema gibt es mittlerweile ja sehr viele, meist jedoch behandeln sie Spezialgebiete in vertiefter Form, wie etwa die ebenfalls bei Schattauer erschienene MusikerMedizin1 oder die englischsprachigen Bücher zu Takt und Rhythmus2 oder zu den Emotionen in der Musik3.
Selbstverständlich ist heutzutage „alles“ im Netz. Was aber gerne übersehen wird: Googeln kann nur derjenige, der schon etwas weiß, denn wer gar nichts weiß hat auch keine Frage, und wer sehr wenig weiß, kann die Spreu nicht vom Weizen trennen. Ihm fehlt der „Filter“, das Vorwissen, um die „10.000 Hits in 0,1 Sekunden“ zu bewerten, die eine Suchmaschine liefern mag. Eigentlich ist dies seit mehr als 150 Jahren klar, denn wie Verstehen funktioniert, wurde von einer Reihe von Denkern unter dem Fachbegriff der Hermeneutik schon im 19. Jahrhundert herausgearbeitet. Wissen wird durch das Internet nicht überflüssig, sondern stellt überhaupt erst die Voraussetzung dar, es zu benutzen. Daher braucht man nach wie vor – und im Grunde jetzt erst recht (!) – Einführungen in ein Thema, in denen ein Autor einen Leser gleichsam an der Hand nimmt und ihn zu Neuem führt, mit dem Ziel, ihm Lust auf (noch viel) mehr zu machen. Eine solche Einführung ist dieses Buch, jetzt in neuem und schönerem Kleid. Ich danke dem Verlag – den Herren Dieter Bergemann und meinem Freund Wulf Bertram – für den Einsatz um diese Neuauflage herum und insbesondere Frau Ruth Becker für ihr unermüdliches Arbeiten an deren Realisierung!
Anlässlich des Erscheinens von Musik im Kopf vor gefühlten hundert Jahren hatte Wulf die Idee, bei den Lindauer Psychotherapiewochen nicht nur über Musik zu reden, sondern auch Musik zu machen. Und so spielten wir zu zweit (Klarinette und Gitarre) ein Paar (groß geschrieben, denn es waren nur zwei) Stückchen. Daraus wurde dann eine kleine Band4, zusammen mit Joram Ronel (dem Dritten im Bunde), die bis heute existiert (siehe Abbildung). So hat ein Buch über Musik ursächlich zu noch mehr Musik geführt! Hoffentlich war und ist dies kein Einzelfall, sondern die Regel, denn noch schöner als über Musik zu lesen ist, sie zu machen! Nach wie vor gilt daher: A one, a two, a-one-two-three-four …
Ulm, am Schwörmontag 2014 Manfred Spitzer
Warum machen Menschen Musik? Was ist überhaupt Musik? Wie wirkt Musik auf uns und warum wirkt sie so? Was geschieht, wenn wir Musik hören, machen oder verstehen? Was ist Talent und was geschieht beim Üben? – In diesem Buch geht es um Fragen wie diese. Die Antworten werden im Kopf gesucht, das heißt da, wo Musik „eigentlich“ stattfindet. Gewiss, auch ein Gemälde wird letztlich im Kopf gesehen, nachdem es mit dem Kopf (der den Pinsel lenkte) gemalt wurde; aber es hängt an der Wand, auch wenn keiner hinsieht. Musik hingegen ist nur da, wenn sie erlebt wird. Die Schwingungen in der Luft, die Rillen in der Schallplatte oder die Nullen und Einsen auf einer CD sind ebenso wenig schon Musik wie die im Schrank liegenden Noten. Musik ist zeitliche Gestalt und bedarf des Erlebens und des aktiven Hervorbringens solcher Gestalt. Selbst eine so einfache Melodie wie Hänschen klein entsteht erst dadurch, dass Töne gehört und als Musik erlebt werden.
Wie aber macht unser Gehirn, das Organ des Wahrnehmens, Erlebens, Handelns und Verstehens, in unserem Kopf Musik? – Von allen höheren geistigen Leistungen scheint sich Musik am wenigsten für neurowissenschaftliche Untersuchungen zu eignen. Das Musikhören stellt eine sehr persönliche Erfahrung dar, die oft nur schwer zu beschreiben ist. Der Hörer reagiert emotional auf die vom Komponisten erdachten und den Musikern ausgeführten Bewegungen der Luft. Diese Reaktionen sind stark abhängig von den jeweiligen Vorerfahrungen des Hörers, seinem Interesse, seiner (musikalischen) Erziehung, seiner Kultur und seiner Persönlichkeit. Das gleiche Musikstück kann den einen tief bewegen und den anderen völlig kalt lassen. Wie soll man in Anbetracht dieser Individualität und problematischen Kommunizierbarkeit von Musik zu wissenschaftlichen, d.h. allgemein gültigen Aussagen über Musik gelangen? Da Neurobiologie zu den Wissenschaften gehört, muss man also die Frage stellen, ob die hier angestrebte Naturwissenschaft der Musik überhaupt sinnvoll und durchführbar ist.
Musik kommt einerseits in allen Kulturen vor, ist jedoch andererseits nicht wie die Sprache praktisch lebensnotwendig, weswegen es auch eine deutlich größere Variationsbreite musikalischer Fähigkeiten im Vergleich zu sprachlichen Fähigkeiten gibt. Fast jeder hört Musik, das aktive Musizieren ist jedoch hierzulande eine hoch spezialisierte Aktivität, die von einer kleinen Minderheit aller Menschen mit großer Perfektion ausgeübt wird. Die Frage danach, wie unser Gehirn Musik hervorbringt oder wahrnimmt, scheint also zunächst wissenschaftlich recht hoffnungs- bzw. aussichtslos. Dieser Frage nachzugehen ist jedoch seit einigen Jahren möglich. Die Erforschung des Gehirns hat in den vergangenen etwa zehn Jahren einen beispiellosen Aufschwung genommen. Gerade weil Musik eine so besondere Fähigkeit ist, lassen sich durch das neurowissenschaftliche Studium dieser Fähigkeit wichtige Einsichten in die Funktionsweise unseres Gehirns gewinnen, die keineswegs nur für den Bereich der Musik gelten. Man kann also den Spieß gleichsam herumdrehen: Nicht nur die perzeptuellen oder sprachlichen Aspekte von Musik, sondern auch und gerade deren Individualität und Emotionalität machen neurobiologische Untersuchungen zur Musik überhaupt erst so richtig spannend!
Als Psychiater, Psychologe und Neurowissenschaftler habe ich die Entwicklung der Gehirnforschung beruflich mitverfolgt bzw. mitvertreten und habe – zu einem winzigen Teil – auch daran mitgewirkt. Als musikbegeisterter Nicht-Musikwissenschaftler habe ich zugleich die Ignoranz, die es mir erlaubt, über Musik zu schreiben ohne in – mir gar nicht bekannten – Detailproblemen zu versinken. So erklärt sich die Entstehung dieses Buchs aus einer zunehmend spannungsgeladenen Mischung von beruflichem Erkenntnisgewinn und privatem Enthusiasmus, und es bedurfte lediglich eines Zündfunkens, um diese Mischung zur Entladung (d.h. das Buch zur Entstehung) zu bringen. Dieser bestand in der Einladung meines Ulmer Kollegen Horst Kächele, einen Vortrag über Musik und das Gehirn anlässlich des 13. Workshops zur musiktherapeutischen Forschung im Februar 2001 zu halten. Die Vor- und vor allem Nachbereitungen hierzu uferten gleichsam aus und das Ergebnis liegt vor Ihnen.
Die Verbindung von Neurobiologie und Medizin einerseits sowie Musik andererseits ist ungewöhnlich, jedoch keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Die Seele und die Nerven werden seit Jahrhunderten mit der Metaphorik der Schwingung beschrieben, und Ärzte haben – den Gründen sei hier nicht weiter nachgegangen – einen Hang zur Musik, was nicht zuletzt die vielen Ärzteorchester bezeugen. (Kennt jemand ein Juristen-, Wirtschaftswissenschaftler- oder Informatikerorchester?) Die Schnittmenge aus der Gruppe von Menschen, die sich für das Gehirn interessieren, und der Gruppe von Menschen, die sich für Musik interessieren, ist also gar nicht so klein, wie man bei der Verschiedenheit der Sachgebiete zunächst annehmen könnte.
Es ist wohl auch kein Zufall, dass sehr viele Ergebnisse zur Neurobiologie des Lernens beim Menschen sich auf Musik und Musiker beziehen, denn wo sonst wird mit so viel Hingabe an Zeit und Aufwand geübt wie in der Musik? Wer ein Instrument erlernt, verbringt tausende von Stunden mit immer wieder den gleichen oder ähnlichen Bewegungsabläufen und hat entsprechende klangliche Wahrnehmungen, so dass sich die Effekte des Lernens auf das Gehirn des Menschen kaum irgendwo besser studieren lassen als im Bereich der Musik.
Im Hinblick auf das Hören und Machen von Musik ist die Kenntnis der dies ermöglichenden neuronalen Maschinerie zwar nicht notwendig, der Musiker wird aber dennoch vieles besser verstehen, wenn die physikalischen und physiologischen Grundlagen klar sind. So folgt beispielsweise das Design vieler Instrumente ebenso aus der Physik und der Physiologie wie die Tonleiter oder die Architektur von Konzertsälen. In diesem Buch geht es somit um Musik als einem Spezialfall von Wahrnehmen, Denken, Lernen und Handeln, an dem sich viele Einsichten besonders klar verdeutlichen lassen. Musik wird hier zu einer Art Brennpunkt, in dem sich erhellende Strahlen der Erkenntnisse aus verschiedensten Disziplinen (von Psychologie und Philosophie über die Physik zur Neurobiologie und wieder zurück) schneiden, in dem sich Einsichten aus den entferntesten Sachgebieten gegenseitig befruchten und Erfahrungen aus den entlegensten Winkeln unseres Seins überschneiden oder miteinander verschmelzen. Wir gehen ja immer schon, meist ohne viel darüber nachzudenken, mit Musik um, und dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, diesen Umgang besser zu verstehen.
Was das konkrete Lehren und Lernen von Musik anbelangt, kann die Bedeutung der Forschungsergebnisse aus der jüngeren Zeit in Neurobiologie und Psychologie wahrscheinlich gar nicht überschätzt werden. Das Gehirn ist das Organ des Lernens und das Verständnis seiner Funktionsprinzipien sollte daher für Lehrer und Schüler etwa die Bedeutung haben wie das Verständnis der Funktion eines Motors für den Automechaniker. Im Hinblick auf den Musikunterricht an den Schulen wurde dies erst kürzlich von Ortwin Nimczik (2001, S. 3), Professor an der Hochschule für Musik in Detmold und Mitherausgeber der Zeitschrift Musik und Bildung, formuliert: „Für eine notwendige Neukonzeption [des Unterrichts] bedarf es unabdingbar der verstärkten Berücksichtigung von Erkenntnissen der Musikpsychologie und der neurobiologischen Forschung.“
Die Bedeutung der Physik schwingender Körper für Musik ist seit Pythagoras und Helmholtz jedem geläufig, der sich mit der Materie befasst. Sie ist Gegenstand sehr vieler guter Bücher zu den Grundlagen von Musik. Die Bedeutung der Physiologie, also der Wissenschaft vom lebendigen Körper, und insbesondere der Psychologie und Neurobiologie, der Wissenschaften vom Gehirn, für Musik ist ebenfalls heute sehr deutlich, findet sich jedoch bislang kaum zusammengefasst und für Jedermann zugänglich dargestellt. Diese Lücke soll das vorliegende Buch schließen. Es soll klar werden, was man weiß, wie man es weiß und was man nicht weiß, in einer möglichst einfachen und klaren Sprache.
Das Buch sollte sowohl für den musikalischen Laien als auch für den neurowissenschaftlichen Laien lesbar sein, weswegen ich vereinfachen musste, allerdings immer in dem Bestreben, die Dinge nicht bis zur Unkenntlichkeit oder gar Falschheit zu vereinfachen. Bei Experten auf dem Gebiet der Musik oder Neurobiologie möchte ich mich jedoch an dieser Stelle für die zuweilen für deren Geschmack vielleicht zu starken Vereinfachungen entschuldigen. Ich hoffe dennoch, dass auch ihnen die Lektüre gewinnbringend ist, zumal ich kein entsprechendes Buch auf dem deutschen bzw. internationalen (sprich: englischsprachigen) Markt finden konnte.
Ich habe viele Abbildungen gezeichnet, am Computer generiert oder fotografiert, weil auch im Bereich der Akustik und Musik manchmal ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Es soll Spaß machen, dieses Buch zu lesen! Wer bei der Lektüre abstürzt, z.B. bei den Details in den Kapiteln 2 oder 3, sollte es einfach an einer anderen Stelle des Buchs wieder versuchen, vielleicht bei den Babys in Kapitel 6, dem Tanz in Kapitel 8, dem Singen in Kapitel 10, den singenden Buckelwalen und Neandertalern in Kapitel 14, den Wiegenliedern in Kapitel 15 oder der Filmmusik in Kapitel 16. Es ist meine Hoffnung, dass beim Lesen vor lauter Bäumen (sprich: interessanten Details) auch der Wald (der Grundgedanke) nicht untergeht, sondern im Gegenteil immer deutlicher hervortritt: Es geht immer wieder um die Musik im Kopf, also um das an uns und in uns, was Musik überhaupt erst entstehen lässt. Die zum Teil persönlichen Details mögen zum Ausdruck bringen, dass Musik nicht ohne die musizierenden Menschen denkbar ist und daher immer auch eine persönliche und private Seite hat. Es soll damit – wenigstens in diesem Buch – so oft wie möglich gleichsam die Gegenposition zu der heute großen Anonymität der allermeisten Musikerlebnisse der allermeisten Menschen zu Worte kommen.
Um die Verständlichkeit des Buchs zu verbessern, habe ich Verwandte, Freunde und Mitarbeiter gebeten, eine Vorabversionen von Kapiteln kritisch durchzugehen. Für diese Mühe möchte ich mich sehr herzlich bei Renate Campos, Bernhard Connemann, Karl Enders, Susanne Erk, Ulrike Gässler, Georg Groen, Markus Kiefer, Thomas Kammer, Holger Ohl, Anne Pfoh, Martin Schuster, Ulla Spitzer, Friedrich Uehlein, Matthias Weisbrod, Anne Wietasch, Matthias Wittfoth und Tatjana Zimmermann bedanken. Julia Ferreau und Gerlinde Troegele halfen manchmal beim Schreiben des Manuskripts. Birgit Sommer besorgte Literatur und Bärbel Herrnberger hat bei den Einzelheiten der Physiologie ebenso geholfen wie beim Layout. Thomas Merz hat mich bei typographischen und drucktechnischen Fragen beraten. Wulf Bertram vom Schattauer Verlag hat das Buchvorhaben von Anfang an unterstützt und mit begleitet, Birgit Fiebiger, Danielle Flemming und Bernd Burkart hatten die Materialisierung des Projekts unter ihren Fittichen. Allen sei an dieser Stelle für ihre Mühe mit einem manchmal etwas eigenwilligen Autor sehr herzlich gedankt. Für das Endlektorat bedanke ich mich bei meiner Frau und meiner Schwester Susanne sehr herzlich. Für alle verbliebenen Fehler und unausgemerzten Verständnishürden bin allein ich selbst verantwortlich.
Zum Schluss noch eine Bitte an den Leser: Auf den folgenden 440 Seiten warten einerseits sehr viele Details, die ohne den großen Zusammenhang vielleicht schwer verständlich oder zumindest in ihrer Interpretation nicht ganz klar sein könnten. Das Gesamtbild erschließt sich jedoch erst demjenigen, der das Buch ganz gelesen hat, und dieser Zusammenhang wiederum sollte das Verstehen der vielen Details erleichtern und zudem auch verdeutlichen, warum diese oder jene Kleinigkeit gerade an dieser oder jener Stelle angeführt ist. Der Ausweg aus dieser unter dem Namen hermeneutischer Zirkel bekannten Paradoxie, dass man ein Buch zwar lesen, aber eigentlich gar nicht verstehen kann (zum Verständnis des Ganzen braucht man die Einzelheiten, die man wiederum nur versteht, wenn man das Ganze schon kennt) besteht darin, dass man irgendwo anfängt und sich dann immer weiter und tiefer mit den Dingen beschäftigt. Daraus leitet sich meine Bitte ab, das Buch zweimal zu lesen. Ich hoffe, es ist dann wie bei einem guten Film, den man zum zweiten Mal sieht: Man befindet sich nicht mehr ohne Distanz mittendrin, denn man weiß ja schon, wie die Geschichte ausgeht und kann sich genüsslich zurücklehnend den Details widmen.
Das Buch ist meiner Mutter gewidmet. Sie hatte schon als kleines Mädchen auf dem Akkordeon ihres älteren Bruders herumprobiert, bekam irgendwann von meinem Vater eines geschenkt und spielte darauf Volkslieder – immer lächelnd, aber zugleich mit senkrechten Falten auf der Stirn, denn das Auswendigspielen ohne jegliche Übung (die fünf Kinder zu verhindern wussten) bedurfte der Konzentration. Auch die Wiegenlieder, die mir meine Mutter vorsang und an die ich mich nur in Form der in meinem Kopf fest verankerten Struktur der Dur-Tonleiter erinnern kann, sind Grund genug, ihr dieses Buch zu widmen, das sicherlich mein persönlichstes ist und zugleich dasjenige, an dem ich am liebsten geschrieben habe.
Ulm, im November 2001 Manfred Spitzer
1 Götter und Gefühle, Wirtschaft und Wissenschaft
China, Babylon, Ägypten und das Abendland
Mythos, Zauber und staatliche Kontrolle
Musik im Abendland: Zahlen, Sterne und Sphärenmusik
Hohe, schöne und niedere Kunst
Engelsharfen und Teufelsgeigen
Musik – überall und eigenartig
Was ist Musik?
Vom Hören und Machen zum Verstehen: der Plan
Teil I Musik hören
2 Luftbewegungen
Schall
Geräusch und Ton
Klangfarbe
Hüllkurven
Resonanz: vom Kürbis zur Stradivari
Fazit: Schall erzeugen, hören und sichtbar machen
Postscript: Chaos und Kartoffelchips
3 Vom Ohr zum Gehirn
Die akustische Landschaft
Das Ohr, von außen nach innen
Räumlich hören
Die Hörbahn ist keine Bahn
Zwei Kodes im Kortex
Fazit: Aus Schall wird Information
Postscript für Fortgeschrittene: Schallerkennung im Netz
4 Melodie und Harmonie
Intervalle
Melodie und Tonleiter
Das Komma und Kopfweh des Pythagoras
Harmonie hat Seltenheitswert
Schwebung und kritische Bandbreite
Die Töne unserer Tonleiter: Bausteine für Melodien
Harmonie
Harmonie in der Spannung von Zahl und Ohr
Jenseits unserer zwölf Töne
Fazit: Musik – Kultur gewordene Natur
5 Zeitstruktur und Gedächtnis
Gedächtnisprozesse: ein Crash-Kurs
Echogedächtnis und Ereignisbildung
Gruppierung
Kurzzeitgedächtnis: Motiv und Phrase
Langzeitgedächtnis: Erfahrung und Kultur
Fazit: Das Gedächtnis macht Musik
Postscript: der Mozart-Effekt
Teil II Musik erleben
6 Musik vor und nach der Geburt
Vorgeburtliches Erleben
Lärm im Mutterleib
Opa soll singen
Die Entwicklung des Gehörs
Neuigkeit und Gewohnheit
Musik in der Gebärmutter
Musik und Gehör nach der Geburt
Fazit: der musikalische Säugling
7 Platz für Töne
Repräsentationen
Neuroplastizität
Methoden: Hineinschauen mit und ohne Öffnen
Karten im Kortex
Musiker: mehr Platz für Töne im Kopf
Amusie: wenn die Musik nicht mehr spielt
Musikmodule: doppelte Dissoziationen
Zu viel Musik: Ohrwürmer, Halluzinationen und Anfälle
Module in funktionellen Bildern
Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk
Strukturbildung
Fazit: Repräsentation und Neuroplastizität
8 Rhythmus und Tanz
Eigenfrequenz und Kindermaskenbälle
Subjektive Rhythmisierung
In Kopf und Körper
Tanz: Der Körper wird Musik
Gruppenarbeit
Applaus für Physiker
Fazit: Der Körper schwingt
Postscript: Tanzmusik, Siliziumchips und genetische Algorithmen
9 Absolutes und relatives Gehör
Absolutes Gehör bei Mozart, einem Papagei und im Test
Informative Oktaven und andere Probleme
Kritische Periode oder warum nicht jeder ein Absoluthörer ist
Gelernt oder vererbt?
Wo sitzt das absolute Gehör?
Farben hören: Synästhesie
Vom relativen Gehör bis zur Tontaubheit
Fazit: Das absolute Gehör ist relativ, das relative recht perfekt
Teil III Musik machen
10 Singen
Die Stimme
Sprechen
Die Atmung: Stütze beim Singen
Phonation: den Schall erzeugen
Artikulation: den Schall formen
Die Tricks der OpernsängerInnen
Das Gehirn singt mit
Die eigene Stimme
Vibrato
Stimmbruch
Wenn die Stimme ihren Dienst aufgibt
Fazit: ein kompliziertes Instrument
11 Mit Instrumenten spielen
Technik und Ausdruck
Konflikt mit dem Durchschnitt
Hände
Was Fehler verraten
Vom Blatt spielen
Von innen zuschauen
Das Gehirn macht Musik: funktionelles Neuroimaging
Frauen musizieren in der Regel anders
Fazit: Handspiel, das Wissen schafft
12 Musizieren lernen
Lernen, üben und üben lernen
Wechselwirkungen: Talent und Übung
Ist jeder musikalisch?
Das Lernen von Bewegungsabfolgen
Motivation: unverzichtbar schon im Tierversuch
Lehrer und Schüler
Eltern: Was können oder sollen sie tun oder lassen?
Aus dem Netz in die Schule
Fazit: Übung macht den Meister
13 Gemeinsam musizieren
Orchesterphysik
Orchesterpsychologie und -soziologie
Singen im Chor
Improvisieren
Angst und Lampenfieber
Authentizität und Aufführungspraxis
Hausmusik
Fazit: Musik ist gelebte Gemeinsamkeit
Teil IV Musik verstehen
14 Evolution
Musik nur beim Menschen?
Archäologie: fossile Musik
Musik und Sex
Fazit: uralte Musik
15 Emotion
Zur Wissenschaftsfähigkeit von Emotionen und Musik
Musik in Auschwitz
Herrscher und Beherrschte, Musik und Macht
Liebeslieder
Wiegenlieder
Darling, they’re playing our tune
Gänsehaut – wissenschaftlich betrachtet
Emotionen im Experiment
Bilder vom emotionalen Gehirn
Fazit: Wer fühlen will, muss hören
16 Funktion
Wirtschaft, Werbung und Supermärkte
Ware Musik
Musikalische Architektur
Räume klingen
Filmmusik
Gesteigerte, verarmte Realität
Fazit: Am besten funktioniert es unbemerkt
17 Gesundheit, Medizin und Therapie
Wenn die Seele lacht
Was ist Musiktherapie?
Einsatzbereiche der Musiktherapie
Musiktherapie in der Psychiatrie
Musik kann Musiker krank machen
Fazit: Musik und Medizin
Postscript: Musik bringt Leben
Literatur
Sachverzeichnis
Musik bewegt die meisten Menschen tief. Sie ist so schön, dass weder die Töne noch die Instrumente von Menschen erfunden oder gemacht sein können. Der Ursprung der Musik muss daher bei den Göttern liegen – so oder so ähnlich wird in vielen Kulturen das Verhältnis des Menschen zur Musik bestimmt.
Vieles spricht dafür, dass Musik in früherer Zeit ganzheitlich erlebt wurde und mit Tanz und anderen Aktivitäten eng verbunden war. Ihre Wirkung auf den Menschen wurde von Priestern und Politikern früherer Hochkulturen klar gesehen. So erklärt sich die mitunter starke Reglementierung all dessen, was mit Musik zu tun hatte, durch den Staat. Auch im Christentum spielt Musik eine wichtige Rolle: Die heilige Messe ist unter anderem ein Liederreigen; die Engel spielen in der christlichen Bildkunst Harfe, der Teufel spielt in der Volkskultur Geige.
Die breite Einbettung der Musik in die Gedanken und den Lebensvollzug der Menschen muss jedoch verwundern, denn Musik erscheint auf den ersten Blick völlig überflüssig und dem sich damit beschäftigenden Menschen sogar abträglich, denn schließlich „vertut“ er seine Zeit. Dies wirft letztlich die Frage auf, was Musik überhaupt ist, warum es sie gibt und worin die Bedeutung von Musik für den Menschen besteht.
Bereits die Frage nach Entstehung und Geschichte der Musik hat mehrere Antworten. Die ältesten archäologisch identifizierten Musikinstrumente sind etwa 50.000 Jahre alt, und es gibt eine Reihe solcher Funde über den Erdball verstreut. Dies legt nahe, dass es überall lokale Musiktraditionen gab, dass Musik also nicht an Hochkulturen gebunden ist, sondern zum „einfachen Menschen“ von Anfang an dazugehörte (vgl. Kapitel 14).
Die Geschichte der Musik im Sinne der Geschichte eines wesentlichen Bestandteils unserer Kultur beginnt irgendwo zwischen China und Babylon (geographisch etwa im heutigen Iran und Irak) vor mehr als 5000 Jahren. Man kann dies aus Gemeinsamkeiten schließen wie beispielsweise der, dass Abbildungen alter Saiteninstrumente aus China solche mit fünf und solche mit sieben Saiten zeigen. Auf einem babylonischen Vasenfragment aus dem vierten Jahrtausend v. Chr. sind entsprechend zwei Instrumente mit fünf und sieben Saiten zu sehen. Auch die Intervalle Oktave, Quinte und Quarte und sogar die Einteilung der Oktave in zwei Abschnitte, entsprechend etwa C–F und G–C, wurden in beiden Kulturen beschrieben (Sachs 1928). Bei den Griechen spielten diese Abschnitte – Tetrachorde genannt – später ebenfalls eine wichtige Rolle. Selbst die Überzeugung von nicht zufälligen Zusammenhängen zwischen Musik und Himmelsmechanik war den Chinesen und Babyloniern (von den Griechen gar nicht zu reden) gemeinsam: Fünf war die Zahl der alten Planeten, sieben die der Wochentage.
Vor etwa viertausend Jahren wurde in Ägypten mit den unterschiedlichsten Instrumenten ganz offensichtlich sehr differenziert musiziert, wie Statuen und Abbildungen vor allem aus Grabfunden nahelegen (vgl. Abb. 1-1). Von Ägypten kam diese Musikkultur nach Griechenland und von dort ins gesamte Abendland.
Abb. 1-1 Ägyptische Malerei aus einem Grab in Theben, die links eine Doppeloboe, in der Mitte eine Laute und rechts eine Harfe zeigt. E.M. von Hornbostel hat durch genaue Betrachtung der Grifflöcher der Oboe und der Bünde der Laute sogar Rückschlüsse auf die gespielten Tonstufen gezogen (zitiert nach Sachs 1928, Tafel 1 und S. 5; vgl. auch Dullat 1990).
Die Ursprünge der Musik liegen so weit zurück, dass sie nicht in der Geschichte, sondern in der Mythologie vieler Völker ihren Ausdruck gefunden haben. Betrachten wir einige Beispiele. Der Gott Apollo und die Musen gaben den Menschen die Musik – so die griechische Mythologie, der zufolge auch die Musikinstrumente göttlicher Herkunft waren: Der Götterbote Hermes brachte die Lyra, die Kriegsgöttin Athene erfand Trompete und Schalmei, und auf den Hirtengott Pan geht die Flöte zurück. Die indische Göttin Sarasvati erfand der dortigen Mythologie zufolge die Tonleiter, deren einzelne Töne wiederum auf andere Götter zurückgeführt wurden. Den Chinesen wurde die Tonleiter von einem Wundervogel gebracht, und in Japan wurde das Koto, ein Saiteninstrument (vgl. Abb. 1-2), von einem Gott erfunden, um die Sonnenkönigin aus ihrem Versteck zu locken (Engel 1876/1977, S. 75).
Abb. 1-2 Das Koto (deutsch: Wölbbrettzither) ist ein japanisches Saiteninstrument, das zunächst nur sechs Saiten hatte und dessen hier abgebildete zeitgenössische Version mit 13 Saiten bespannt ist. Mit seiner Länge von 180cm klingt das nicht gerade handliche Instrument weniger wie eine Zither, sondern eher wie eine Harfe. Man spielt es mit drei Fingern der rechten Hand, über die Plektren aus Papier und Elfenbein gestülpt werden. Die Stimmung ist durch die für jede Saite einzeln frei zwischen Korpus und Saite geklemmten beweglichen Stege variabel, wird jedoch in Japan wie folgt vorgenommen (nach Yoshizaki 1994):
Aufgrund der für japanische Musik charakteristischen unterschiedlichen Schrittweiten der Tonstufen klingt es „japanisch“, was auch immer man auf einem derart gestimmten Koto spielt. Die linke Hand kann durch Hinunterdrücken der Saite links vom Steg deren Ton erhöhen sowie Vibrato erzeugen.
Die Menschen verbanden Musik seit alters her mit besonderen Kräften, wahrscheinlich, weil sie selbst von Musik auf ganz besondere Weise bewegt wurden. Dieses Bewegtwerden war dabei in aller Regel emotional positiv (vgl. Kapitel 15), wie am Beispiel eines Gottes aus der Neuen Welt illustriert sei.
Im Südwesten der USA, vor allem im Staat New Mexico, finden sich an sehr vielen Orten, zumeist Klippen oder Höhlen, in Felsen geschlagene oder geritzte Bilder eines Flöte spielenden, leicht buckligen Männchens, das bei den Hopi- und Zuni-Indianern unter dem Namen Kokopelli bekannt ist (Abb. 1-3). Sein Name leitet sich möglicherweise aus der Sprache der in Arizona lebenden Hopi-Indianer ab, wo „Kookopölö“ so viel wie „Holzbuckel“ heißt. Eine andere Quelle besagt, dass Koko ein in der Wüste namens „pelli“ lebender Gott der Zuni-Indianer sei, es sich also um einen Wüstengott handelt. Heute findet sich das Motiv auf vielen touristisch vermarkteten Gegenständen wie Töpferwaren, Decken (Bildmitte), Teppichen oder Fußmatten. Seit eineinhalb Jahrtausenden ist Kokopelli das Sinnbild für Musik, Tanz, gute Laune und auch Fruchtbarkeit, und das Zeichen wurde schriftähnlich auf so genannten Newspaper-Rocks, also Zeitungsfelsen, verwendet.
Abb. 1-3 Der „Party-Gott“ Kokopelli taucht in sehr vielen Variationen auf Felsen auf – stehend, sitzend oder mit übereinandergeschlagenen Beinen (nach Slifer u. Duffield 1994 sowie Walker 1998; vgl. auch Malotki 2001), erstmals bereits etwa um 200 n. Chr.
Im Unterschied zu den politisch korrekten zeitgenössischen Darstellungen Kokopellis ist dieser auf den Originalen oft mit langem Schwanz und Penis als Fruchtbarkeitssymbol abgebildet. Wie in anderen Kulturen auch wird damit die Musik mit der Reproduktion und Fruchtbarkeit in enge Verbindung gebracht.
Musik war keineswegs immer die nette Freizeitbeschäftigung, jedem selbst überlassen, beliebig in Rhythmik, Tonalität und Form, die sie heute zu sein scheint. Gewiss, Musik hat auch, gerade heute, gesellschaftlich bedeutsame emotionale Auswirkungen und sogar ökonomische Funktionen (siehe die Kapitel 15 und 16). Dies alles geschieht jedoch mehr oder weniger zufällig und unterliegt beispielsweise nicht unbedingt wissenschaftlicher Logik oder gar staatlicher Kontrolle. Das war nicht immer so.
In China galt es für den Staat als unbedingt erforderlich, dass der Grundton der Musik richtig festgelegt war und bestimmten kosmischen Maßen entsprach. Auch hielt man den Einfluss der Musik auf den Charakter und die moralische Haltung der Menschen für groß und achtete entsprechend von Staats wegen auf die richtige Musik (Lachmann 1929).
Die Zumessung bestimmter Kräfte der Musik ging so weit, dass man bestimmten Melodien eine Zauberwirkung zuschrieb, ähnlich wie primitive Stämme die Ausübung von Musik mit der Einflussnahme auf andere Menschen und auch die Natur verbanden. So erzählt die griechische Mythologie von Orpheus, der nicht nur wilde Tiere, sondern auch Felsen, Wälder, Flüsse, Hagel und Schnee durch seinen Gesang besänftigte. Die Sage vom Rattenfänger von Hameln stößt ins gleiche Horn, und auch indische Erzählungen berichten von der Macht bestimmter Melodien über die Elemente und Naturkräfte. Die Râgas, bestimmte Tonleitern und daraus improvisierte Melodien der indischen Musik, wurden und werden zum Teil noch heute bestimmten Tages- und Jahreszeiten zugeordnet, vor allem aber bestimmten Emotionen und Göttern. Nicht anders steht es um die Mâquâmat der Araber, bei denen es sich um ursprünglich der Volksmusik entstammende Melodiegestalten handelt, die wegen der ihnen zugeschriebenen Wirkungen ebenfalls nur zu bestimmten Zeiten und für bestimmte Menschen gesungen oder gespielt werden durften.
Bender (2000) bringt das Beispiel der traditionellen Musik in Guinea, Afrika, aus der Zeit vor der Kolonialisierung, die unter anderem als Initiationsmusik Bestandteil der Erziehung und Ausbildung eines jeden jungen Mannes war.
Am weitesten trieb es wohl der griechische Philosoph Platon (427 bis 347 v. Chr.), was die Ausarbeitung eines Systems der Wirkungen von Musik auf den Menschen und der daraus abgeleiteten gesellschaftspolitischen Konsequenzen anbelangt. Mit Musik war nicht zu spaßen! Dafür war sie für die harmonische Ausbildung der Seele und für die Modulation der Emotionen, wie wir heute sagen würden, von viel zu großer Bedeutung.
Die Griechen unterschieden in ihrer ausgefeilten Musiktheorie (systema teleion genannt) sieben verschiedene Tonleitern mit entsprechend unterschiedlich verteilten Ganz- und Halbtonschritten (vgl. Tabelle 1-1) und ordneten jeder eine bestimmte Wirkung auf den Menschen zu. Analog wie wir heute etwa eine Moll-Tonleiter als traurig und eine Dur-Tonleiter als fröhlich erleben können, galt für Platon die eine Tonleiter als verweichlichend (und sollte daher der Jugend nicht vorgespielt werden) und die andere als stählend.
Tab. 1-1 Griechische Tonleitern, zur einfacheren Darstellung und besseren Vergleichbarkeit ausgehend vom Grundton C aufwärts dargestellt (modifiziert nach Dahlhaus und Eggebrecht 1998, S. 220), und deren vermeintliche Wirkung auf den Menschen (nach drei mittelalterlichen Quellen, zusammengefasst im New Groves, Bd. 12, S. 398, vom Autor übersetzt und vereinfacht). Das griechische System bildete später die Grundlage der mittelalterlichen Kirchentonarten, aus denen sich wiederum ab dem 17. Jahrhundert (Barock) das (vergleichsweise einfache) Dur-Moll-System herausbildete, in dem nur noch die hypolydische (ionische, Dur) und die hypodorische (äolische, Moll) Tonleiter übrig blieben. Bei den „hypo“-Tonarten werden die drei höchsten Töne der Skala unten aufgereiht, der Grundton ist somit F, was die traurige, weinerliche Wirkung des heutigen Dur erklärt.
Tonart
Wirkung
dorisch: c-d-es-f-g-a-b-c
ernst, ehrenvoll, offen
phrygisch: c-des-es-f-g-as-b-c
aufregend
lydisch: c-d-e-fis-g-a-h-c
fröhlich
mixolydisch: c-d-e-f-g-a-b-c
theatralisch
hypodorisch (äolisch): c-d-es-f-g-as-b-c
traurig, ernst
hypophrygisch (lokrisch): c-des-es-f-ges-as-b-c
mäßig, schmeichelnd
hypolydisch (ionisch): c-d-e-f-g-a-h-c
traurig, weinerlich
Neben den Tonleitern waren für Platon auch unterschiedliche Rhythmen mit verschiedenen Effekten verbunden, so dass sich insgesamt ein sehr komplexes Lehrgebäude ergab. Dieses hatte seine Wurzeln im vorderen Orient und Ägypten, also dort, wo man auch Astronomie betrieb und die Sterne mit der Musik verband. Diese Verbindung war bereits vor Platon von Pythagoras in ausgefeilter Weise ausgearbeitet worden.
Der Grieche Pythagoras (570–497 v. Chr.) ist hierzulande vor allem durch sein Theorem bekannt, demzufolge bei jedem rechtwinkligen Dreieck die Flächen der Quadrate über den kürzeren Seiten mit dem Quadrat über der langen Seite identisch sind. Wer kann sich nicht an a2 + b2 =c2 erinnern? Wer würde jedoch denselben Herrn mit der Gründung einer Art Orden in Verbindung bringen, dessen Anhänger die Seelenwanderung (und daher Respekt vor allen Lebewesen) predigten, ihren Körper und Geist durch Diät günstig zu beeinflussen suchten (Bohnen waren streng verboten) und die erstmals Musik und Mathematik miteinander verbanden?
Obwohl man heute nicht mehr daran zweifelt, dass Pythagoras tatsächlich gelebt hat, ist nicht immer klar zwischen Legende und Tatsachen zu unterscheiden, zumal von Pythagoras selbst keinerlei Schriftzeugnisse erhalten sind. Dennoch ist nicht unwahrscheinlich, dass Pythagoras selbst die Experimente gemacht hat, die ihm wichtige Erkenntnisse zum Zusammenhang von musikalischer Wahrnehmung einerseits und Zahlenverhältnissen andererseits brachten. Er verwendete hierzu ein Monochord, also einen Resonanzkörper mit einer einzigen Saite und einem verschiebbaren Steg (vgl. Abb. 1-4).
Abb. 1-4 Monochord. Gegenwärtig wird dieses Instrument nur noch selten z.B. im musiktherapeutischen Kontext eingesetzt (vgl. auch van der Maas 1985). In diesem Kontext machen Monochorde ihrem Namen wenig Ehre, denn sie haben für gewöhnlich mehr als nur eine Saite. Die Abbildung verdanke ich meinem Freund Helmut Seibert von der „Werkstatt für Musik und Klang“ im hessischen Oberhof. Unten ist schematisch dargestellt, welche Intervalle bei welcher Teilung einer Saite entstehen.
Seine Entdeckung bestand darin, dass den grundlegenden Intervallen der Musik – Oktave, Quinte und Quarte – einfache Zahlenverhältnisse der Längen einer schwingenden Saite entsprechen. Bei der Oktave verhalten sich die Längen der Saite wie 1 zu 2, bei der Quinte wie 2 zu 3, und bei der Quarte wie 3 zu 4. Diese Einsicht mag manchem heute nicht sehr wichtig erscheinen, sie stellte in der damaligen Zeit jedoch einen Durchbruch dar. Konnte doch erstmals sehr klar gezeigt werden, wie Musik (und damit Phänomene der Wahrnehmung von Natur) auf einfachen mathematischen Strukturen beruht (siehe auch Kapitel 4). Diese Einsicht hatte Folgen, denn was den Tönen recht war, das sollte anderen Naturgegenständen billig sein. Auch sie sollten sich mathematisch beschreiben lassen. Damit war zum ersten Mal – anhand der Entdeckung aus dem Bereich der Musik – das Programm naturwissenschaftlicher Forschung formuliert. Nahezu zwei Jahrtausende später wird von Galileo Galilei prägnant ausgedrückt: „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.“
Ob die astronomischen Spekulationen zu den Zahlenverhältnissen der Planetenbahnen ebenso auf Pythagoras zurückgehen, ist nicht geklärt. Seine Anhänger waren jedoch davon überzeugt, dass auch die himmlische Natur einfachen Zahlenverhältnissen folgt. Man dachte sich damals den Nachthimmel als ein die Erde umgebendes System von Kugeln (Sphären), die zur Erklärung der Bewegungen der Planeten und der Fixsterne herangezogen wurden (vgl. Aristoteles, Vom Himmel II 9. 290b 12ff, in Capelle 1968, S. 491f). Viel später erst kam die Phantasie hinzu, dass durch die Bewegung der Kugeln gegeneinander Töne entstehen, die Sphärenmusik. Diese sei jedoch für den Menschen unhörbar, weil sie permanent vorhanden sei und wir uns daher an ihre immerwährende Existenz (heute würde man hinzufügen: durch Adaptation) gewöhnt hätten.
Pythagoras war sowohl genialer Wissenschaftler als auch spirituelle Leitfigur und begründete eine ganze Bewegung, die Pythagoräer. Diese Bewegung spaltete sich bald nach seinem Tod in ein Lager der Mathematiker und eines der Akousmatiker. Dies waren Spiritualisten, die Riten und mystische Inhalte pflegten und tradierten. Pythagoras war „Guru eines Ashram und zugleich Direktor eines Forschungsinstituts“, wie ein philosophisches Wörterbuch treffend zusammenfasst (Flew 1979, S. 294, Übersetzung durch den Autor).
Wie oben bereits ausgeführt, war Musik für die Griechen des Altertums ein wesentlicher Teil der Welt und des gesellschaftlichen Lebens. Im Erziehungs- bzw. Bildungssystem stand Musik, wie Platon in seinem Werk Der Staat näher ausführt, neben der Gymnastik: Das eine sei gut für den Körper, das andere für den Geist; für die richtige Erziehung brauche es beides wohldosiert.
Platon lässt beispielsweise Sokrates seinen Gesprächspartner Glaukon fragen: „Bemerkst du nicht, in welchen Geisteszustand diejenigen geraten, die ihr Leben lang sich mit der Gymnastik beschäftigen, ohne sich irgendwie musisch zu bilden? Oder diejenigen, mit welchen das Gegenteil der Fall ist?“ Und als Glaukon nicht recht weiß, worauf die Frage hinausläuft, gibt Sokrates selbst die Antwort: „Auf Rauheit und Härte einerseits, auf Weichheit und Milde andererseits“ (vgl. Platon, Staat III, 410cd). Musik und Gymnastik haben mithin unterschiedliche Effekte auf den heranwachsenden Menschen, die sich gegenseitig zum Teil aufheben, aber in ihrer Verbindung für die richtige Erziehung sorgen.
Nach den Ausführungen zu Pythagoras verwundert es nicht, wenn im Griechenland der Antike die Musik zusammen mit der Arithmetik, der Geometrie und der Astronomie zu einem Lehrprogramm zusammengefasst war. Im späten Griechenland und im antiken Rom wurden hieraus, zusammen mit Grammatik, Rhetorik und Logik, die sieben freien Künste, die artes liberales. Bis weit ins Mittelalter hinein hielt sich die Einteilung dessen, was man heute Bildung nennen würde, in das Quadrivium der höheren Künste, das dem Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Logik, den niederen Künsten, entgegengestellt war. Diese Künste waren deshalb nieder, weil sie ja nur mit Worten zu tun hatten (daher bis heute der Ausdruck trivial für etwas Einfaches, Niederes) und nicht wie die Musik und die anderen höheren Künste mit Zahlen (genau genommen mit Zahlenverhältnissen).
Das oft als finster bezeichnete Mittelalter brachte in musikalischer Hinsicht eine Reihe ganz wesentlicher Fortschritte. Am Ende des sechsten Jahrhunderts sammelte Papst Gregor die einstimmigen Kirchengesänge. Aus der Notwendigkeit, diesen Gregorianischen Kirchengesang aufzuschreiben, entstand um die Jahrtausendwende die erste Notenschrift, zunächst mit vier und später mit fünf Linien (man experimentierte mit bis zu 20 Linien).
Ab dem elften Jahrhundert kam in Frankreich (durch die Troubadoure) und später in Deutschland der Minnesang auf, eine Form der weltlichen Musik, die von Adligen und Rittern zur Verherrlichung des anderen Geschlechts gesungen wurde. Aus der Tradition des Minnesangs entwickelten sich in der zunehmend wohlhabenden Gesellschaft des ausgehenden Mittelalters die bürgerlichen Singschulen und Meistersänger. Neben kirchlicher und höfischer Musik gab es im Mittelalter auch die Musik für die einfachen Leute, oft auf der Drehleier gespielt (Abb. 1-5). Sie wurde von Menschen am Rande der Gesellschaft gemacht, die dafür oft abgetragene Kleider als Lohn erhielten. Ab dem zwölften Jahrhundert war daher sehr bunte Kleidung ein Kennzeichen dieser nicht sesshaften Spielleute, denen später in einer der frühesten deutschen Reichspolizeiordnungen ausgefallene Kleider sogar vorgeschrieben wurden (Bergmann 2000).
Die wichtigste musikalische Entwicklung im Mittelalter war die Mehrstimmigkeit. Zwar gab es an anderen Orten und zu anderen Zeiten auch gelegentlich zusammenklingende (beispielsweise überlappende) Gesänge; aber dass in einem Chor verschiedene Sänger ganz unterschiedliche Melodien gleichzeitig sangen, war neu. Harmonie (das gleichzeitige Erklingen verschiedener Töne) ist viel anfälliger gegen Fehler, fragiler, störbarer als Melodie (Töne erklingen nacheinander). Entsprechend war das Singen in Harmonie eine größere Kunst. Sie provozierte auch die Entwicklung einer Notenschrift, in der Gleichzeitigkeit durch untereinander stehende Noten ausgedrückt wurde.
Abb. 1-5 Links: Darstellung aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift, die irrtümlich dem Ritter Rüdiger Manesse zugeschrieben wurde und daher auch Manesse-Handschrift genannt wird. Man sieht ein Paar in liebender Pose vor einer Blumenranke. Rechts: Drehleier, gebaut von Helmut Seibert. Dieses heute nahezu ausgestorbene Instrument hatte im Mittelalter gerade bei den Spielleuten weite Verbreitung. Durch das Rad werden alle Saiten wie durch einen „unendlichen Bogen“ kontinuierlich angestrichen. Die Melodiesaite wird mit Tasten verkürzt, drei oder mehr zusätzliche Saiten schwingen mit immer gleichem Ton mit. Man nennt diese Töne, die heute fast nur noch vom Dudelsack her bekannt sind, Borduntöne (vgl. Bröcker 1977, Delfino u. Loibner 1997 sowie Abb. 1-6).
Auf die immer komplizierter werdende Mehrstimmigkeit des ausgehenden Mittelalters folgte die klare Musik der Renaissance, an deren Ende die Oper (im Rückgriff auf die antike Tragödie) erfunden wurde. Aus der Begleitmusik des Operngesangs wurde im Laufe der Zeit eigenständige Instrumentalmusik, gespielt von einem großen Orchester. Die Sinfonie entstand, ihre vorklassische Form – schnell, langsam, schnell – war noch immer dem Tanz entlehnt.
Vom Bau immer besserer Instrumente profitierten Johann Sebastian Bach (1685–1750), Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) und Ludwig van Beethoven (1770–1827). In dieser Zeit etablierte sich nicht nur die Musik als eigenständige Kunstform unabhängig von jeglicher Sprache, sondern auch die Profession des Berufsmusikers. Wirtschaftlich eigenständige Musiker gab es zu Beginn der Neuzeit nicht. Noch Bach soll sich über die Sterbeunwilligkeit der Bevölkerung von Leipzig beklagt haben, denn er bestritt seinen Unterhalt unter anderem von dem, was heute unter Musikern als Gruftmucke bezeichnet wird: der musikalischen Begleitung von Leichenfeiern. Mozart war schon eher Künstler und Berufsmusiker, starb jedoch bekanntermaßen in Armut, wohingegen Beethoven als Pianist und Komponist ein gutes Auskommen hatte.
Mit den Berufsmusikern kam ökonomische Betriebsamkeit, die in den vergangenen knapp dreihundert Jahren zu gigantischen Ausmaßen herangereift ist: Man brauchte Verleger für die immer neuen Kompositionen, man musste Opernhäuser und Konzerthallen errichten, baute immer neue, immer bessere Musikinstrumente, gründete Musikschulen und Gesangvereine, den Studiengang der Musikwissenschaft ebenso wie später die Institutionen der Hitparaden, Musikwettbewerbe und Musiktourneen großer Künstler. Es kam die Spaltung der Musik in solche, die man ernst nannte und nahm, und solche, die nur unterhält; aber es kam auch die Überwindung dieser Spaltung bei all denen, die mit Unterhaltungsmusik ernsthaft Geld verdienen, und denjenigen, denen nur wirklich ernsthaft produzierte Musik Spaß macht.
Über die Jahrhunderte verschob sich der Akzent der Einschätzung von Musik vom Kognitiven zum Affektiven hin. Man kann zwar davon ausgehen, dass bereits Platon sich nicht so sehr um die richtige Musik für die Jugend gesorgt hätte, wenn er Musik für ein rein kognitives Geschehen gehalten hätte. Dennoch kann man behaupten, dass im Zeitraum der Romantik, in welchem Komponisten, Künstler und Philosophen den Menschen neu bestimmten, der emotionale Aspekt der Musik stärker in den Vordergrund rückte.
Parallel zu dieser Entwicklung kam es in der deutschen Sprache zu einer phonetischen Veränderung der Betonung des Wortes Musik durch französischen Einfluss, so dass nicht mehr von musica (Betonung der ersten Silbe), sondern von music (Betonung der zweiten Silbe) die Rede war. Musik in diesem neuen Sinn war neben Dichtung und Malerei Bestandteil der schönen Künste. Ihre sinnlich-praktische Seite wurde dadurch bedeutsamer. Dies zeigt sich ganz besonders auch daran, wie Musik im weiteren Zeitverlauf von bekannten Philosophen diskutiert wurde.
René Descartes wandte sich in seinem Compendium der Musik gegen eine rein mathematische Begründung der Musik und suchte nach Gründen im wahrnehmenden Subjekt (heute würde man sagen nach psychologischen Gründen) für die Wirkungen von Musik auf den Menschen. Auch er betonte damit die subjektiv-emotionale Seite der Musik gegenüber der allgemein-rationalen. Mit der Abkehr von den Sternen, von reiner Mathematik und dem immergleichen Lauf der Gestirne und der damit verbundenen Hinwendung zum Inneren des einzelnen Menschen erfolgte zugleich eine Entwertung der Musik. Aus der höchsten wurde die niederste aller Künste, wie sich am Beispiel des Philosophen Immanuel Kant illustrieren lässt.
Immanuel Kant (1724–1804) äußerte sich zur Musik in seiner Anthropologie und vor allem in der Kritik der Urteilskraft. Da Musik, sofern sie nicht Gesang ist, keine Wörter enthält und nur auf dem Spiel der Empfindungen äußerer Sinneseindrücke beruht, ist sie für ihn niedrig.
„Aber an dem Reize und der Gemütsbewegung, welche die Musik hervorbringt, hat die Mathematik sicherlich nicht den mindesten Anteil. […] Wenn man […] den Wert der schönen Künste […] schätzt, so hat die Musik unter den schönen Künsten insofern den untersten […] Platz, weil sie bloß mit Empfindungen spielt“ (Kant 1790/1924, S. 186f).
Kant vertritt damit eine Auffassung, wie sie verglichen mit Pythagoras kaum verschiedener sein könnte. Musik ist für Kant oberflächlich, äußerlich und hat nur vielleicht eine formale Bedeutung, die es rechtfertigen würde, sie nicht nur als angenehm, sondern auch als schön zu bezeichnen (denn „in aller schönen Kunst besteht das wesentliche in der Form“; Kant 1790/1924, S. 182).
Sofern Musik nicht Werte repräsentiert oder vermittelt, hält Kant nicht viel von ihr, denn sie dient dann nur noch der Zerstreuung (und was Kant hiervon hält, sagt er unmissverständlich): „… deren man desto mehr bedürftig wird, als man sich ihrer bedient, um die Unzufriedenheit des Gemüts mit sich selbst dadurch zu vertreiben, dass man sich immer noch unnützlicher und mit sich selbst unzufriedener macht“ (Kant 1790/1924, S. 182f).
Man kann vermuten, dass Kant unter Transistorradios und der heute allgegenwärtigen Musik ganz besonders gelitten hätte, denn bereits vor aller elektronisch verstärkten Musik kennt er die Möglichkeit des Gestörtwerdens durch Musik offenbar genau. Man kann wegsehen, aber nicht weghören, und wenn man zuhören muss, so kann Musik sein wie ein übler Geruch, dem man nicht entgehen kann:
„Außerdem hängt der Musik ein gewisser Mangel an Urbanität an, dass sie, vornehmlich nach Beschaffenheit ihrer Instrumente, ihren Einfluss weiter, als man ihn verlangt (auf die Nachbarschaft), ausbreitet und so sich gleichsam aufdringt, mithin der Freiheit anderer, außer der musikalischen Gesellschaft, Abbruch tut; welches die Künste, die zu den Augen reden, nicht tun, indem man seine Augen nur wegwenden darf, wenn man ihren Eindruck nicht einlassen will. Es ist hiermit fast so wie mit der Ergötzung durch einen sich weit ausbreitenden Geruch bewandt. Der, welcher sein parfümiertes Schnupftuch aus der Tasche zieht, traktiert alle um und neben sich wider ihren Willen …“ (Kant 1790/1924, S. 187).
Kurz: „Musik wird oft nicht schön empfunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden“ – dieser Reim von Wilhelm Busch aus Dideldum der Maulwurf scheint die Auffassung Kants gegenüber der Musik einigermaßen treffend zusammenzufassen. Dass er mit seiner Meinung keineswegs alleine stand, zeigt sich daran, dass immer wieder versucht wurde, dem Lärm durch Gesetze Einhalt zu gebieten, wie die tabellarische Auflistung der entsprechenden Verordnungen der Stadt Bern beispielhaft illustriert (vgl. Tabelle 1-2).
Tab. 1-2 Verordnungen gegen den Lärm, erlassen von der Schweizer Hauptstadt Bern (modifiziert nach Beyer 1999, S. 333).
Jahr
Verordnung
1628
gegen das Singen und Schreien auf der Straße […] an Feiertagen
1661
gegen Schreien, Weinen und das Treiben von Unfug am Sonntag
1763
gegen störenden Lärm bei Nacht
1784
gegen bellende Hunde
1788
gegen Lärm in der Nähe von Kirchen
1810
gegen jeglichen lärmenden Unfug
1878
gegen Lärm in der Nähe von Krankenhäusern und Kranken
1879
gegen das Musizieren nach 22.30 Uhr
1886
gegen das Schreinern bei Nacht
1887
gegen bellende Hunde
1906
für den Erhalt ruhiger Sonntage
1911
gegen laute Musik, gegen das Singen bei Weihnachts- und Neujahrsfeiern und gegen das unnötige Knallen von Peitschen bei Nacht
1913
gegen unnötigen Autolärm und das Hupen bei Nacht
1914
gegen Teppichklopfen und lärmende Kinder
1915
gegen Teppich- und Matratzenklopfen
1918
gegen Teppichklopfen und Musizieren
1923
für den Erhalt ruhiger Sonntage
1927
gegen lärmende Kinder
1933
gegen kommerziellen und privaten Lärm
1936
gegen das Läuten, Trompeten und laute Rufen von Verkäufern
1939
gegen unnötigen Lärm an Feiertagen
1947
für den Erhalt ruhiger Sonntage
1961
gegen kommerziellen und privaten Lärm
1967
für den Erhalt ruhiger Sonntage
Selbst das Singen von Kirchenliedern war für Kant aufgrund des damit verbundenen Lärms ein Problem:
„Diejenigen, welche zu den häuslichen Andachtsübungen auch das Singen geistlicher Lieder empfohlen haben, bedachten nicht, dass sie dem Publikum durch eine solche lärmende […] Andacht eine große Beschwerde auflegen, indem sie die Nachbarschaft entweder mitzusingen oder ihr Gedankengeschäft niederzulegen nötigen“ (Kant 1790/1924, S. 187).
Nur zwei Seiten weiter zeigt Kant allerdings, dass er musikalische Unterhaltung in Gesellschaft durchaus schätzte. Er nennt „Glücksspiel, Tonspiel und Gedankenspiel“ in einem Atemzug als absichtsloses freies Spiel der Empfindungen und fährt fort: „Wie vergnügend die Spiele sein müssen, […] zeigen alle unsere Abendgesellschaften; denn ohne Spiel kann sich beinahe keine unterhalten“ (Kant 1790/1924, S. 189).
Die Verbindung der Musik mit dem Übernatürlich-Göttlichen beschränkt sich keineswegs auf die Naturvölker und die Antike. Sie ist vielmehr auch Bestandteil christlichen Gedankenguts. Es gibt kaum ein Musikinstrument, das man nicht schon einem Engel in die Hand gedrückt hätte, wie viele kirchliche Bild- und Schriftzeugnisse zeigen. Die singenden und musizierenden himmlischen Heerscharen sind in den Texten kirchlicher Gesänge geradezu sprichwörtlich häufig. Auch wurde im Mittelalter gelegentlich die Meinung vertreten, dass Musik zugleich mit den Engeln erschaffen worden sei, da diese ja ohne Lobgesänge an Gott gleichsam nichts zu tun hätten.
Abb. 1-6 Links: Nach dem über dem Portal der Kirche in Santiago di Compostela in Stein gemeißelten Original nachgebautes Organistrum, heute noch in Heidelberg von seinem Besitzer Dr. Karl Kischka und dessen Tochter Claudia im historischen Restaurant Zum Güldenen Schaf zu besonderen Anlässen gespielt.
Rechts: Bauteil (Saitenabdeckung) eines im Nachbau (in meiner Werkstatt) befindlichen Organistrums. Die weitestmöglich dem steinernen Vorbild angeglichene Ornamentik lässt arabischen Einfluss vermuten und legt nahe, dass die ersten Drehleiern über den Orient nach Europa kamen (vgl. Böcker 1977, S. 38ff).
Ein besonders schönes Beispiel für die Bedeutung der Musik für die Liturgie stellt der Torbogen des Eingangs der Kathedrale in Santiago di Compostela dar. Auf ihm sind Mönche zu sehen, die die unterschiedlichsten und zum Teil heute kaum noch bekannten Musikinstrumente spielen. In der Mitte des Bogens findet sich beispielsweise das Organistrum (vgl. Abb. 1-6), eine Art Zwei-Mann-Drehleier (einer dreht, der andere spielt), das in der gegenwärtigen Musik längst nicht mehr vorkommt, jedoch aufgrund der genauen Abbildung im Kirchentorbogen nachgebaut werden konnte (Rault 1993). Die Abbildung stammt aus dem zwölften Jahrhundert und stellt eine der ältesten Abbildungen einer Drehleier überhaupt dar.
Sprichwörtlich für die himmlische Musik ist die Harfe, das vielleicht am meisten auf den Darstellungen von Engeln zu findende Instrument. Glaube und Aberglaube mischen sich auf eigenartigste Weise in den Meinungen, dass sich zur Adventszeit vielerorts Musik in der Luft vernehmen lasse, dass die Himmelfahrt einer verstorbenen Seele von vernehmbarer Musik begleitet sein kann oder dass Musik im Umkreis von versteckten Marienbildern zu hören sei (vgl. Bächtold-Stäubli 1935/1986, S. 674).
Aber nicht nur das Gute, sondern auch das Böse ist in christlicher Tradition mit Musik verknüpft. Im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens heißt es hierzu:
„Der Teufel gilt als vortrefflicher Spielmann, der von seiner bezaubernden Kunst Gebrauch zu machen pflegt, wenn die Menschen durch sündiges Treiben seiner Gewalt sich ausliefern. Das ist vor allem bei Tanzvergnügungen der Fall. Beginnt es lustig herzugehen, so stellt er sich ein mit seiner Fidel und reißt die Tanzenden taumelnd ins Verderben“ (Bächtold-Stäubli 1935/1986, S. 672).
Ich hatte als kleines Kind Gelegenheit, mich vor einer Teufelsgeige zu grausen, die ich beim Besuch eines Bergbauernhofs im Riesengebirge von einem älteren Mann gezeigt bekam. Wie mir meine Mutter damals erklärte, spielte der Mann nur manchmal und bei ganz bestimmten Anlässen auf dem Instrument, das einen sehr eindringlichen Klang hatte. Die Teufelsgeige (vgl. Abb. 1-7) hatte etwa die Größe und Form eines Cellos, war schwarz und leuchtend rot bemalt und wies am Ende des Halses statt der Schnecke einen Teufelskopf auf.
Abb. 1-7 Teufelsgeige, wie sie im Riesengebirge gespielt wurde (aus Richter et al. 1994, S. 268; für die Genehmigung zum Abdruck danke ich Herrn Josef Richter, Bad Liebenzell-Unterhaugstett, sehr herzlich).
Abb. 1-8 Die Hardangerfidel (auch Hardingfelle genannt) ist außerhalb Norwegens kaum bekannt. Sie hat etwa die Form einer Violine, ist jedoch etwas kürzer und meist sehr reich verziert (links). Vor allem besitzt sie vier unter dem Griffbrett verlaufende Resonanzsaiten, die dem Klang einen weichen Nachhall verleihen (Mitte). Der Kopf hat anstatt der klassischen Schneckenform die Gestalt eines Drachenkopfes und vier zusätzliche Wirbel (rechts). Die Aufnahmen links und rechts wurden vom Autor am weltweit einzigen Hardangerfidel-Institut im norwegischen Voss von alten Originalinstrumenten angefertigt (die älteste bekannte Hardangerfidel wurde 1651 gebaut).
Da Skandinavien besonders viele Geschichten von musikliebenden Naturgeistern beherbergt, wundert nicht, dass das norwegische Volksinstrument, die Hardangerfidel (Abb. 1-8), statt der Schnecke einen Drachenkopf aufweist.
Auch und gerade das professionelle Musizieren war zu früheren Zeiten mit religiösen Ritualen verknüpft. „Der Stand der Zauberer und Priester stellt die ersten Berufsmusiker“, ist im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (S. 635) zu lesen.
Ob öffentlich in Kirchen oder Diskotheken, ob privat in Küche oder Wohnzimmer, ob fröhlich zur Hochzeit oder traurig zur Beerdigung, ob leise unter dem Fenster der Geliebten oder laut marschierend – Musik begleitet unser Leben buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre. Dank der Wunder der Technik in Form von zunächst Phonograph und Verstärkerröhre, dann Transistor, Tonband und Schallplatte, später Walkman und CD und seit ein paar Jahren Internet und MP3-Standard ist Musik allgegenwärtig. Wir hören Musik während Arbeit und Freizeit, beim Autofahren, Wandern, Joggen oder Inline-Skaten und mancher sogar beim Skifahren oder Schwimmen.
Die genannten technischen Erfindungen brachten für die Musik auch insofern eine neue Ära, als diese Techniken Musik ohne einen Musikanten, d.h. ohne einen an der Reproduktion beteiligten Menschen, erlaubten. Musik wurde zu einer verfügbaren Sache und damit auch zu einer Ware mit jährlichem Milliardenumsatz (vgl. Abb. 1-9). Allein im ersten Halbjahr 2000 wurden 84,5 Millionen CDs verkauft, 4,4 Millionen mehr als im Vorjahreszeitraum (Musikzeitung 2000/10). Ganz eindeutig spiegelt sich hier das Bedürfnis der Menschen nach Musik in einem marktwirtschaftlichen System. Damit wird noch einmal die offensichtlich ganz elementare Bedeutung der Musik für den Menschen deutlich: Ganz gleich, wie die kulturellen Rahmenbedingungen aussehen, Musik gehört dazu. Von Anthropologen wird entsprechend betont, dass bisher keine menschliche Gesellschaft angetroffen wurde, in der es Musik nicht gibt (vgl. Storr 1992, S. 1).
Abb. 1-9 Umsatzentwicklung der Musikbranche am Beispiel des Verkaufs von Kassettenrecordern in den Jahren 1959–1989 (Daten aus Morton 2000).
Musik ist nicht nur einfach „das Gedudel aus dem Lautsprecher“, wie man heute manchmal meinen könnte. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass Musik heute ganz leicht und überall verfügbar ist, verstellt zuweilen die Bedeutung und Kostbarkeit der Musik. Wie sehr Musik unser Leben durchdringt, erkennt man auch daran, wie oft wir sie als Metapher benutzen. Jemand spielt die erste Geige, gibt den Ton an, bläst uns den Marsch oder pfeift auf dem letzten Loch. Wenn jemand etwas Nettes sagt, ist das Musik für unsere Ohren, und wenn wir wissen, wo die Musik spielt, dann wissen wir, wo etwas los ist. Jemand redet im forte, der Singsang der Diskussion steigert sich im crescendo, und ein anderer kommt im piano daher. Metaphern aus der Musik sind so allgegenwärtig wie die Musik selbst. Je länger man über Musik nachdenkt, umso eigenartiger erscheint einem der Sachverhalt. Jeder kennt Musik, fast jeder wird von Musik berührt und sehr viele Menschen machen Musik in irgendeiner Form, vom Pfeifen oder Summen bei guter Laune, über das Singen in der Badewanne oder beim Autofahren (Motto: keiner hört mich), über das gemeinsame Singen und Musizieren bis hin zur Musik als Beruf. Warum aber bereitet uns das Erzeugen und Wahrnehmen von Schwingungen der Luft so großes Vergnügen? Man wird weder satt davon noch bringt Musik irgendeinen anderen unmittelbaren Überlebensvorteil. Im Gegenteil: Wer in grauer Vorzeit Musik machte, der war gegenüber seinen weniger musikalischen Artgenossen womöglich benachteiligt, denn er verschwendete kostbare Zeit und Energie und machte vielleicht auch noch ein Raubtier auf sich aufmerksam. Auch heute ist dies nicht anders: Wer seine Zeit mit Musik verbringt und sein Geld dafür ausgibt, dem fehlt beides anderswo, und er wird vielleicht MP3-Player-begleitet joggend eher vom Auto überfahren als der unmusikalische Nachbar.
Kurz: Musik erscheint zugleich einerseits völlig überflüssig und ist andererseits allgegenwärtig (Abb. 1-10)! Warum ist dies so?
Abb. 1-10 Die heute kaum noch bekannte Lyragitarre war auf jedem Hundertmarkschein abgebildet. Sie war eine Modeerscheinung aus der Zeit Napoleons I. und wurde vor allem in Frankreich um 1800 herum gebaut (Pfäffgen 1988). Rechts ein Nachbau nach dem Plan auf dem Zahlungsmittel, auf dessen Rückseite eine Stimmgabel und ein weiteres Musikinstrument (wissen Sie welches?) abgebildet sind.
Jeder weiß, was Musik ist, aber soll man sagen, was es wirklich ist, gerät man in Schwierigkeiten. Musik hat etwas mit Ton und Melodie, Klang und Klangfarbe, Harmonie und Rhythmus sowie mit komplexen hieraus gebildeten akustischen Strukturen zu tun. Aber es gibt Musikstücke nur für Trommeln (also ohne Töne im strengen Sinne), es gibt Musik ohne Rhythmus, und der Pianist und Komponist John Cage ist berühmt, weil sein im Jahr 1952 komponiertes Stück 4’33’’ aus einer langen Pause (vier Minuten und 32 Sekunden) und sonst nichts besteht, aufzuführen durch „any instrument or combination of instruments“ (vgl. Brown et al. 2000; S. 6). Gewiss, man kann sagen, dass nur dann, wenn man schon weiß, was Musik ist, auch solche Nicht-Musik unter musikalischem Gesichtspunkt betrachtet werden kann, dass also diese Ausnahmen die Regel – Musik ist Melodie, Harmonie, Rhythmus und Struktur – bestätigen. Dennoch ist es mit Musik ähnlich wie beispielsweise mit der Bedeutung des Wortes Spiel in dem Sinne, dass es schwer fällt, eine notwendige Bedingung dafür anzugeben. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Familienähnlichkeit geprägt, um auszudrücken, dass es zwar Überlappungen angrenzender (Bei-)Spiele gibt, nicht aber ein allen gemeinsames definierendes Merkmal.
Bei ihrer Suche nach neuen Klängen gingen Komponisten und Vortragende in die verschiedensten Extreme: Harry Partch erfand eine neue Tonleiter und entwickelte ein ganzes Orchester voller neuer Instrumente, um seine Musik zu spielen. Young und Moorman brachten den Klang einer verbrennenden Geige auf die Bühne (Pierce 1992), und Computer helfen heute nicht nur bei der Aufzeichnung und der Erzeugung völlig neuer Klänge, sondern bei praktisch allen Aktivitäten, die mit Musik in Verbindung stehen.
„Musik ist die produktive Gestaltung des Klingenden“, weiß das Brockhaus Riemann Musiklexikon (Band 3, S. 175), nicht jedoch ohne den Satz wie folgt fortzusetzen: „[Musik ist die produktive Gestaltung des Klingenden], das als Natur- und Emotionslaut die Welt und die Seele im Reich des Hörens in begriffsloser Konkretheit bedeutet, und das als Kunst in solchem Bedeuten vergeistigt zur Sprache gelangt kraft einer durch Wissenschaft (Theorie) reflektierten und geordneten und daher sinnvollen und sinnstiftenden Materialität. Die ,Sprachfähigkeit‘ der abendländischen Musik beruht auf der Geistfähigkeit der seit der griechischen Antike vom und als Logos erschlossenen Physis des tönenden Materials und begründet die Geschichtsfähigkeit der Musik.“
Hier wird in einer vielleicht etwas ungewohnten Sprache und sehr gedrängt auf die verschiedenen Facetten von Musik hingewiesen. Der oben erwähnte Komponist Cage hat diese Vielgestaltigkeit in Beliebigkeit verwandelt mit der Behauptung, dass jeder Musik nennen könne, was immer er wolle. Beim Gesang der Vögel und insbesondere der Wale wird deutlich, dass es hier wirklich ein Problem gibt, denn Versuche, Musik auf den Menschen und seinen spezifischen Geist zu beschränken, werden gerade durch neuere Untersuchungen in Frage gestellt (vgl. Kapitel 14).
Nach einer anderen Definition handelt es sich bei Musik um produzierte Schallmuster unterschiedlicher Tonhöhe und -länge zu emotionalen, sozialen, kulturellen oder kognitiven Zwecken (Gray et al. 2001). Musik ist Gestalt in der Zeit, und unser Hörsinn ist unser zeitlich genauester Sinn. Mit ihm können Zeitstrukturen erfasst werden, die anderen Sinnen verborgen bleiben. Das weiß nicht zuletzt der Neurophysiologe, der mit der Elektrode in der Hand sein Ohr am Lautsprecher hat, um auf diese Weise zeitliche Muster zu entdecken. Er hört die Nervenzellen, er erkennt Zelltypen an deren Rhythmus, und er verlässt sich auf sein Ohr beim Fortgang des Experiments. Mittlerweile gibt es Versuche, nicht nur Daten mit Zeitgestalt akustisch darzustellen: „Heutzutage werden Daten von Proteinstrukturen, Erdbeben, Gehirnströmen bis zu Gewittern auf dem Jupiter verwendet, um Musik zu generieren“, schreibt Wolman (2001, S. 30) in einer entsprechenden Übersicht. Wenn man die Dinge so betrachtet, ist alles, was irgendeine Struktur aufweist, zumindest potenziell Musik, und man denkt durchaus über den ein Erdbeben ankündigenden Singsang des Bodens nach (Ravilious 2001). Zweieinhalbtausend Jahre nach den Griechen der Antike ist das abendländische Denken damit wieder fast da angekommen, wo es seinen Ausgang nahm.
Mit Musik beschäftigen sich nicht nur Musiker, sondern auch Plattenproduzenten, Akustiker, Physiker, Instrumentenbauer, Physiologen, Psychologen, Werbefachleute, Regisseure und Ärzte. Musiklehrer an Schulen, Volkshochschulen, Musikschulen und Musikhochschulen unterrichten Schüler und Studenten im Musizieren, Musiktherapeuten verwenden Musik, um bei Patienten bestimmte Wirkungen zu erzielen, ebenso wie Sound-Designer beim Menschen durch das Hören bestimmter Klänge bestimmte Wirkungen erzielen wollen. Erzieherinnen singen im Kindergarten, um den Kindern Spaß an der Musik zu vermitteln und um auf sie emotional einzuwirken.
Diesen vielfältigen Zugangsweisen der unterschiedlichsten Menschen zur Musik entspricht eine Vielfalt von Überlegungen, die schriftlich in den unterschiedlichsten Publikationsorganen ihren Niederschlag finden. Die Kenntnis zur und über Musik ist daher unglaublich verteilt, und je mehr man weiß, umso stärker ist dieses Wissen in einer Weise verstreut, dass man große Mühe hat, sich eine Übersicht zu verschaffen.
In diesem Buch liegt der Schwerpunkt der Betrachtung im Kopf, d.h. Musik wird als ein Sachverhalt begriffen, der sich nur verstehen lässt, wenn man das Hören (Wahrnehmen), das Musizieren (als komplexes Verhalten) und das Verstehen und Erleben von Musik genauer analysiert. Man kann Musik auch anders betrachten, beispielsweise rein formal oder rein historisch. Hier wird sie unter dem Gesichtspunkt betrachtet, dass sie von Menschen gehört und gemacht wird. Gerade hierzu sind in den vergangenen Jahren interessante neue Erkenntnisse gewonnen worden, nicht zuletzt aufgrund der Fortschritte im Bereich der Neurowissenschaften.
Es geht keinesfalls darum, Musik auf das Gehirn oder auf Neurobiologie zu reduzieren. Vielmehr wird der aufmerksame Leser vielleicht umso mehr staunen und umso mehr Gefallen an Musik finden, je mehr er über das Organ der Musik, unser Gehirn, weiß. Nach diesen einführenden historischen Schlaglichtern geht es in den folgenden vier Kapiteln um die Grundlagen der Akustik und des Hörens von Musik. Wir gehen dabei von außen nach innen vor und betrachten zunächst den Schall (Kapitel 2), danach das Ohr vom äußeren Ohr zum Mittelohr und Innenohr und von dort zur weiteren zentralnervösen akustischen Informationsverarbeitung (Kapitel 3). Was leistet diese Verarbeitung? Wie ermöglicht sie die Wahrnehmung von Tönen und Geräuschen und was genau wird eigentlich wahrgenommen? Wir beginnen mit einfachen Phänomenen wie Töne und Geräusche und beschäftigen uns erst danach mit Musik im engeren Sinne, also mit Melodie und Harmonie (Kapitel 4) sowie dem Hören komplexerer zeitübergreifender Strukturen (Kapitel 5).