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Die Autorin schildert ihr Leben als Musikerin zwischen den Welten des Ostens und des Westens, ihre ganz persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse mit den jeweiligen Partnern sowie den daraus entstandenen Folgen mit allen Konflikten. Von Anfang an war die Musik das zentrale Thema von Agnes Kauer, der Sinn ihres Lebens sozusagen. In ihrer anrührenden Autobiografie bleibt die Musik, trotz all der schweren und tragischen Ereignisse ihres Lebens, der zentrale Mittelpunkt. Ihre Erfüllung erfährt sie durch ihre Arbeit als Chorleiterin und als Dirigentin bedeutender chorsinfonischer Werke.
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Seitenzahl: 419
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„Se ingva, se törve, menj, menj, menj...!“
„Nicht schwankend, nicht zerbrechend, geh, geh, geh...!“
W.W. Majakowski (1893-1930)
Vorwort
Jahre der Kindheit
Schuljahre bei fremden Familien
Budapest – Studienjahre
Ausreise nach Kuba
Verflüchtigte Träume
Keine Chance – Sehnsucht nach Glück
Der gigantische Chor mit 2500 Sängern - Treffen mit Fidel Castro
Die Gründung meines ersten Laienchores
Vorbereitungen zur endgültigen Ausreise aus Kuba
Ankunft in der Heimat und Suche nach Arbeit einer Wohnung in Budapest
Neuer Start, neue Hoffnung
Ausreise nach Deutschland
Langsam aufziehendes Unglück
Albträume einer Komapatientin
Der Tag des Abtauchens
Vor dem obersten Gericht der Hölle
Die Geburt und das Abschlachten des Osterlämmchens
Der Umzug in ein anderes Krankenhaus und der neue Bettnachbar
Kriegsausbruch
Die Stimme meiner Tochter
Mein Todesurteil
Französisches Fernsehen mit Nachrichten über den abenteuerlichen Tod meiner zwei Kinder
Der Besuch meines jüngsten Sohnes
Die Untreue meiner Tochter
Die Angst um meine geliebte Enkeltochter
Die schwarz gekleideten Pfleger und die geheimen Räume
Nächtliche Beobachtung der Sterne
Die Unterschrift unter dem Pakt zwischen dem Krankenhaus und mir
Die Todesanzeige meines Mannes
Ein herbstlicher Traumgarten
Aufwachen und weiter leben
Erfolglose Kommunikationsversuche
Zähneputzen und das erste Frühstück
GBS? Was ist das?
Das Ende der Nachbarin
Besuch einer Freundin
Von der Intensivstation zur Normalität
Mein Sohn wird beerdigt
Die erste Physiotherapie – gleich zwei Frauen
Krankenumzug
Rehabilitation
Nachtrag
Endlich zu Hause
Aber auch das private Leben ging weiter
Rückblick
Nachwort
Kurzlebenslauf
Sie ist ein rebellisches Kind, weshalb ihre Eltern auch keine Geschwister für sie planen.
Dafür haben die Eltern sehr genaue Vorstellungen über die Zukunft ihres Kindes. Sie soll es später auf jeden Fall einmal besser haben als sie selbst in ihrer Kindheit.
Das musikalische Talent der Tochter wird schon sehr früh erkannt; sie muss täglich Klavier üben und wird schon im Alter von zehn Jahren bei einer weit entfernten, fremden Familie untergebracht, um dort ihr Musikstudium ernsthaft zu betreiben. Mit vierzehn Jahren kommt sie in ein Internat und kehrt nie wieder in ihr Elternhaus zurück. Nach dem Abitur und dem Abschlussdiplom des Konservatoriums studiert sie an der Musik-hochschule Budapest.
Ihrer ersten Liebe wegen wandert sie nach Kuba aus und dort beginnen Himmel und Hölle für sie. Das Leben in Havanna ist wie eine Droge. Alles Wunderbare genießt sie in vollen Zügen, dafür lauern im täglichen Leben Grausamkeiten, Gefahren und unvorstellbare Nöte. Ihre musikalische Laufbahn ist aber so wunderbar, dass sie es dort elf Jahre aushält, auch wegen der dort so talentierten Studentenschar.
Sie muss von dort fliehen, sogar mit gefälschten Ausweispapieren, damit sie ihre Kinder in ihre ungarische Heimat mitnehmen kann. Zurück in ihrer sozialistischen Heimat resigniert sie zunächst, ohne Arbeit, ohne Zukunft, ohne eigene Bleibe für sich und ihre Kinder.
Mit vierzig Jahren wagt sie einen neuen Anfang und geht nach Deutschland. Der unvergleichliche Reichtum in diesem für sie neuen, kapitalistischen Land, aber auch die Fremdenfeindlichkeit dort stellen sie erneut auf eine harte Probe. Mit ihrem rebellischen und sehr starken Charakter beginnt sie ihr Leben ein drittes Mal und zeigt, was mit konditionsloser Liebe und Hingabe zur Musik zu schaffen ist.
Kurz vor Erreichen des Rentenalters erkrankt sie schwer, liegt drei Wochen im Koma und erwacht in völliger Lähmung. Vier Monate Rehabilitation bringen sie wieder auf die Beine und sie verfolgt ihre musikalische Laufbahn mit noch härterem Willen als zuvor. In der Zeit Ihres Komas stirbt der älteste Sohn.
Sie gründet wieder zwei neue Chöre und dirigiert die schönsten a-capella Werke dieser Welt.
„Tod, wo ist dein Stachel? Hölle wo ist dein Sieg?“ Das Zitat aus der Bibel in ihrem Lieblingswerk „Ein deutsches Requiem“ von J. Brahms, welches sie so gern dirigiert hat.
Das vor dem Vorwort benannte Zitat des Dichters W.W. Majakowski war der Name und Leitspruch ihres Internates. Es zierte den Raum, in welchem sie mit 16 Jahren ihren ersten Mädchenchor im Konservatorium dirigierte.
In diesem Zitat findet man tatsächlich ihr Leben wieder.
In den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges wurde ich in Ungarn, in einem kleinen nördlichen Ort nahe der tschechoslowakischen Grenze geboren. Meine hochschwangere Mutter wollte nach einem Sirenenalarm den Luftschutzbunker in einer nah gelegenen Felshöhle erreichen, als sie durch den Explosionsdruck einer Bombe auf unser Haus gegen die Bunkertür geschleudert wurde. Dies war wohl der Auslöser meiner Geburt, denn ich fiel dann einfach so aus dem Schoß meiner Mutter heraus, ohne Hilfe einer Hebamme und ohne Beisein meines Vaters, der an der Front beim Rundfunkdienst war. Ich war schon einige Monate alt, als mein Vater mich zum ersten Mal sah. Er war zu Fuß vom polnischen Kriegsschauplatz nach Ungarn geflüchtet, verdreckt, voller Läuse und mit einem riesigen Bart. Das kenne ich natürlich nur vom Hörensagen.
Meine ersten angenehmen Erinnerungen beginnen im Alter zwischen vier und sechs Jahren, als ich mein erstes, handgefertigtes, schneeweißes Lammfellmäntelchen bekam. Ich musste nicht mehr frieren, also ein sehr einprägsames Erlebnis, denn es gab auch bei uns in den Jahren nach dem Krieg kaum Heizung im Winter. Mein Vater ging ständig auf die Suche nach Kohle zu einer kleinen Schmalspureisenbahn bei der nahe gelegenen Kohlegrube, wo er heruntergefallene Kohlenstücke in einem Eimer sammelte, um zu Hause etwas heizen zu können. Das war zur damaligen Zeit streng verboten und wer erwischt wurde, musste hohe Strafe zahlen. Aber der Wunsch nach ein wenig Wärme im Heim war größer als die Angst vor Strafe. Noch heute liebe ich kuschelige, fellähnliche Kleidungsstücke über alles.
Meine zweite, sehr große Freude, an die ich mich erinnere, war das Kinderfest einer Wohltätigkeitsorganisation. Ich war wohl fünf oder sechs Jahre alt und trank zum ersten Mal Kakao. Bisher kannte ich nur Milch, und das auch nur zwei Mal pro Woche, da Lebensmittel rationiert und nur auf Bezugsscheine zu erhalten waren.
Das erste große Problem tauchte mit meiner Einschulung, also mit sechs Jahren auf. Ich hatte nur ein Paar stiefelähnliche Schuhe, die mir überdies auch schon viel zu klein geworden waren; größere Schuhe zu kaufen war meinen Eltern nicht möglich, also wurde das Oberleder des Vorderteils meiner Stiefelchen herausgeschnitten und so passten die Schuhe, auch wenn meine Zehen nun vorn weit herausschauten.
Uns gegenüber wohnte der Direktor des Stahlwerkes, mein Vater arbeitete dort inzwischen als Buchhalter, mit einer Tochter in meinem Alter, nun also auch schulpflichtig. Es hatte sich herumgesprochen, dass dieser für seine kleine Elisabeth ganz neue, schicke schwarze Lackschuhe zum ersten Schultag gekauft hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich todtraurig. Warum war ich so arm?
Am nächsten Morgen kam die große Überraschung. Vor meinem Bett standen fast gleiche, schicke Schuhe, noch viel glänzender als die Lackschuhe der kleinen Nachbarin. Mein lieber Papa hatte die ganze Nacht geputzt, geschmiert, gewienert, die Löcher in der Schuhsohle waren verschwunden und mit einer Pappsohle ausgebessert; alles sah aus wie neu aus dem Schuhgeschäft. Mein kleines Herz pochte, und ich konnte kaum den nächsten Tag, den Tag der Einschulung abwarten, um vergleichen zu können, welches der beiden Schuhpaare mehr glänzen würden. Ich hatte gewonnen, dank meines Papas.
Vom Unterricht selber in den vier Jahren der Grundschule hat sich nur ein einziges Bild stark eingeprägt. Jeden Tag vor der ersten Unterrichtsstunde mussten wir Blumen niederlegen vor den Bildern von Josef Stalin und Mátyás Rákosi, um die Rückwand des Klassenraumes zu schmücken. Wir wussten noch gar nicht, wer diese Personen in Wirklichkeit waren, aber wenn man jeden Tag Blumen für sie niederlegte, mussten sie schon ganz liebe Onkel sein.
Und noch etwas Wichtiges ist da: Meine Hefte waren die saubersten und ordentlichsten von allen, meine Lehrerin der ersten Klasse hat diese Hefte vierzig Jahre lang aufbewahrt und mir später übergeben. Sie wohnte drei Häuser von meinem Elternhaus entfernt. Auf Bitte meiner Mutter besuchte ich sie; ich selbst war inzwischen geschieden und Mutter mit drei Kindern. Sie war schon sehr alt und krank, und bei dieser unglaublichen Begegnung drückte sie mir mein erstes Heft in die Hand mit dem Kommentar, dass sie eine so schöne Handschrift in ihrer ganzen Zeit als Lehrerin nie wieder gesehen habe. Schade, dass ich dieses Heft nicht mehr wiederfinde, es ist wohl irgendwann verloren gegangen.
Ich liebte meine Eltern sehr, hatte aber auch großen Respekt vor ihnen. Ganz besonders mochte ich es, wenn mein Vater mir schöne Märchen vorlas, nach seiner Arbeit in der Stahlfabrik, die von sechs Uhr morgens bis vierzehn Uhr am Nachmittag dauerte. Er las mir vor, während ich in meinem kleinen Kinderbettchen lag und den Nachmittagsschlaf machen sollte. Dieses Bettchen hatte Räder und erleichterte das Einschlafen durch das ständige Hin- und Herschieben. Des Öfteren schlief mein Vater dabei vor mir ein. Mit vor Müdigkeit herabfallendem Kopf nach vorne erzeugte er dann mit offenem Mund komische Töne und schnarchte laut dabei. Ich sagte dann oft ganz laut: „Papa, weiter.“
Dann schreckte er hoch und las weiter, allerdings meist aus einem anderen, vollkommen unpassenden Märchen. Es entstanden dadurch sehr witzige neue Geschichten, z. B. dass der gestiefelte Kater in die Hütte der sieben Zwerge eintritt und von der bösen Hexe einen vergifteten Apfel bekommt und so weiter. Daher wartete ich immer ganz gespannt darauf, dass mein Vater vor mir einschlief und dann die langweiligen Einzelmärchen in ein spannendes Potpourri verwandelte. Damit konnte sich mein Vater ausschlafen, und ich amüsierte mich köstlich.
Ein oder zwei Jahre später machte es mir keinen Spaß mehr, das kleine, weiße Lammfellmäntelchen anzuziehen, weil es langsam zu eng wurde. Hinzu kam ein besonderes Erlebnis. In der Schule kamen viele Kontakte zu anderen Kindern zustande, mit denen ich dann auf unserer langen Straße in den angrenzenden Grünanlagen spielte, wo um vierzehn Uhr Hunderte von Stahlarbeitern dem Nachhauseweg folgten und wo mein Vater mich auch oft entdeckte und wir zusammen nach Hause fuhren. Dort passierte dann der „Unfall“.
Gazsi, ein gut gebräunter, schwarzhaariger Romajunge wollte mich küssen. Dabei bedrängte er mich so sehr, dass wir beide auf den Boden fielen, wo der geschmolzene und von der Industrieasche verdreckte Schnee mein Lammfellmäntelchen sehr schmutzig machte. Danach wollte ich diesen Mantel nicht mehr tragen. Das Risiko, für diesen Schmutz eine größere Strafe zu bekommen, war mir zu groß. Meine Mutter war, was Ordnung und Sauberkeit betraf, sehr pingelig, und so wurde ich ja auch erzogen. Sie erzählte mir später, dass ich niemals auf meine Kleider oder auch sonst wohin gekleckert habe und meine Hände immer sehr sauber waren. Das heißt natürlich nicht, dass ich nicht im Sand oder auf der Erde gespielt hätte.
Auf Initiative meiner Mutter erhielt ich mit fünf Jahren in einer kleinen Gruppe gleichaltriger Kinder Ballettunterricht. Diese Übungen gefielen mir sehr, obwohl ich nicht besonders gelenkig oder besonders flink war, aber es hat mir Spaß gemacht. Der Tante dort, die unsere Bewegungen mit dem Klavier begleitete, fiel bei dieser Gelegenheit mein sehr präzises Rhythmusgefühl auf. Sie sprach deshalb meine Mutter darauf an, ob ich nicht Klavierunterricht bekommen sollte. Dieser Gedanke wurde dann auch in die Tat umgesetzt, und so gab sie mir jede Woche eine Stunde Unterricht – damit begann eigentlich meine „musikalische Karriere“.
Wir hatten zu Hause ein Klavier der Marke Bösendorfer und so war auch das Üben zu Hause möglich. Die musikalische Oberaufsicht oblag meinem Vater, der immerhin fünf Instrumente auf sehr hohem Niveau beherrschte. Er hatte zwar kein Abschlussdiplom auf diesem Gebiet machen können, dafür reichte das Geld seiner Eltern mit ihren vier Kindern nicht. Mein Vater spielte Geige und war als Konzertmeister im Orchester meiner Geburtsstadt tätig und blies Trompete und Tenor-Saxophon in einer örtlichen Bigband, außerdem kam er gut mit Schlaginstrumenten zurecht. Mein Vater beendete dann nach der ungarischen Revolution 1956 mit einundfünzig Jahren noch sein Musikstudium und wurde diplomierter Musiklehrer.
Bei einem der folgenden örtlichen Konzerte mit dem kleinen Orchester meines Vaters trat eine Solopianistin auf, und in dieser Begegnung wurde die Idee geboren, ich als „sehr talentierte“ Klavierschülerin könne doch später vielleicht bei ihr dieses Fach studieren. Das geschah dann auch tatsächlich. Zunächst jedoch erhielt ich in meinem Geburtsort noch zwei bis drei Jahre privaten Klavierunterricht. Die Solopianistin selbst arbeitete rund 300 Kilometer von uns entfernt an einem Musikkonservatorium. Dort besuchte ich im Alter von zehn Jahren die Musikschule und ging mit vierzehn Jahren zu ihr in das Konservatorium. Aus diesen ganzen Überlegungen folgte für mich eine schwere Konsequenz. Jetzt musste ich täglich mindestens zwei Stunden Klavier üben. Das Bösendorfer-Instrument mit seinem etwas härteren Anschlag, unerträglich für die Finger einer Siebenjährigen, wurde später ausgetauscht gegen einen Bechstein-Flügel mit wunderbarem, in allen Lagen ausgeglichenem Klang und weicherem Anschlag.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen viele Künstler ohne Arbeit von Haus zu Haus durch das Land, und sie boten ihre Künste an, etwa um ein Portrait des Hausherrn, der Dame des Hauses oder des Nachwuchses gegen ein bescheidenes Entgelt anzufertigen. Auch bei uns tauchte eines Tages ein hagerer Mann auf. Er hatte leicht rötliche Haare, einen Bart, und er bot uns an, Portraits zu einem sehr verlockenden Preis zu malen. Monatlich mussten wir nur so viel zahlen, wie es uns möglich war und bis die vereinbarte Summe erreicht war. Meine Mutter, voller Stolz auf ihren einzigen, aber „talentierten“ Nachwuchs, war der Meinung, ich müsse nun sofort verewigt werden. Mein Vater war ja Alleinverdiener, und so gab es einen heftigen Streit, als er erfuhr, dass für so etwas das wenige Geld verschwendet werden sollte, das er für unseren Lebensunterhalt verdiente.
Aber der Vertrag wurde dennoch geschlossen, und so durfte ich dann mit meinen sieben Jahren nach den zweistündigen Klavierübungen nochmals zwei Stunden mucksmäuschenstill vor einer Leinwand sitzen, posieren und mich still ärgern. Mutter sorgte nun dafür, dass ich die hübschesten Kleidchen bekam und diese dann auch trug. Dieses Mal war es ein sehr schönes, hellblaues Kleidchen, dazu bekam ich eine Puppe in die Hand gedrückt, wie das bei Mädchen eben sein musste.
In den ersten Tagen machte ich alles ganz brav mit, doch dann bekam ich Wutanfälle, wollte nicht mehr Klavier spielen oder versteckte mich an den entlegensten Stellen des Hauses. Als der Maler mal wieder ankam, riss ich die schwere Gardinenstange mit brokatähnlichem, schwerem Vorhang herunter und verletzte ihn damit am Kopf. Von nun an rebellierte ich nur noch, doch letztlich ohne Erfolg. Ich musste tun, was meine Eltern von mir verlangten.
Leider haben auch einige Schatten unser kleines Familienleben getrübt. Mein Vater war sehr viel älter als meine Mutter. Sie war bei der Hochzeit neunzehn Jahre alt, er vierunddreißig; sie steckte noch voller Träume für das Leben, dachte an Bälle, Ausflüge oder Tanz, aber Vater wollte nichts davon wissen. Jeder Tag bedeutete für ihn acht Stunden Arbeit, und dann musste er noch zusätzlich Geld verdienen mit seinem Saxofon bei den Auftritten mit der Bigband, die bei Hochzeiten und Feiern aufspielte. Hinzu kam, dass er auch mit seiner Trompete in einer Blaskapelle bei Beerdigungen und staatlichen Feierlichkeiten spielte. In der wenigen restlichen Freizeit reparierte er alte Musikinstrumente, um diese dann weiter zu verkaufen und noch etwas zusätzliches Geld zu erwirtschaften. Wenn dann noch ein wenig Freizeit blieb, las und las er begierig. Es gab wohl auf dieser Welt damals nicht viele Bücher, die er nicht gelesen hatte. Das war auch eine schöne und erholsame Freizeitbeschäftigung, aber meine Mutter sehnte sich eben sehr nach Leben.
Sie sagen immer die Wahrheit
Mein Papa weiß, wenn ich nicht die Wahrheit sage.
Meine Mama weiß es auch, wenn ich nicht die Wahrheit sage.
Papa weiß, wenn Mama nicht die Wahrheit sagt.
Mama weiß auch, wenn Papa nicht die Wahrheit sagt.
Gut, dass ich nicht wissen muss,
wenn Papa oder Mama nicht die Wahrheit sagen.
Sie sagen mir immer die Wahrheit.
Sehr oft war mein Vater auswärts in Nachbardörfern, wo er bei Hochzeiten musizierte. In einer solchen Nacht wurde ich einmal wach und fand meine Mutter im Wohnzimmer mit einem fremden Mann! Meine Mutter kommentierte dieses Geschehen überhaupt nicht, sie gab mir nur zu verstehen, dass ich darüber nichts meinem Vater erzählen dürfte. So hielt ich brav meinen Mund. Bei einem anderen Mal musste der Fremde ganz schnell aus dem Wohnzimmer verschwinden und sich im kleinen Kellerabstellraum verstecken. Jede Wohnung verfügte über einen solchen abschließbaren Kellerraum. Meine Mutter schloss ihn dort ein.
Vater kam nach Hause und ahnte wohl etwas; ein heftiges Frage- und Antwortspiel zwischen meinen Eltern ließ auf eine heftige Auseinandersetzung schließen. Der Kellerschlüssel war von Mutter versteckt worden, und so gingen wir dann doch alle schlafen.
Im Laufe der Nacht kam meine Mutter zu mir, weckte mich und drückte mir den Kellerschlüssel in die Hand. Ich sollte in den Keller gehen und den fremden Mann herauslassen. Ich folgte brav und unter großem Zittern schlich ich in den Keller, schloss die Tür auf, doch… der fremde Mann war gar nicht mehr dort. Am Tage darauf, als mein Vater außer Haus war, inspizierte meine Mutter den Keller und stellte fest, dass die Drähte vor dem Kellerfenster gelöst worden waren und er so entkommen konnte. Er hatte aber noch in der Nacht alles wieder mit feuchter Erde und Kohlenstaub beschmiert und so konnte keinem etwas auffallen.
Ich liebte Vater und Mutter, aber diese Geheimnisse beschäftigten und bedrückten mich noch lange Zeit sehr. Was sollte ich tun? Ich wusste es nicht. Meine Mutter wollte ich nicht verraten, meinen Vater aber auch nicht belügen! Diese geheimen Verhältnisse gingen über eine lange Zeit, meine Mutter nahm mich sogar mit, und ich wurde Teilnehmerin bei derartigen Treffen und Spaziergängen, bis ich dann endgültig mit 10 Jahren mein Elternhaus verließ, um meine musikalische Ausbildung weiterzuführen.
Während der vierjährigen Grundschulzeit waren in jedem Jahr wandernde Musiktheater und andere Künstler von Stadt zu Stadt gezogen, so auch in unsere Stadt mit damals kaum 30.000 Einwohnern. Sie machten hier ihre Aufführungen, etwa Schauspiele, Opern, Operetten und Konzerte. Für Opernabende kaufte meine Mutter Eintrittskarten. So konnte ich bereits in jungen Jahren Madame Butterfly, Tosca, La Traviata und viele andere schöne, für mich als Kind bezaubernde und verführerische Musikaufführungen erleben, mitsamt den bunten Kostümen, und es waren so ganz anderen Geschichten als die, die ich von den Märchen meines Vaters kannte.
Ich glaube, dass ich im Alter von sechs oder sieben Jahren bei der ersten Aufführung nach einer Stunde eingeschlafen war. Mein Interesse an weiteren und wiederholten Aufführungen wurde aber dadurch nicht geschmälert. Heute bin ich froh, dass mir meine Mutter das alles geboten hat. Sie nahm mich in alle Ausstellungen und Ausflüge in die Wälder mit, auch zu organisierten Gruppenreisen in Kleinstädte, mit Besichtigungen der Sehenswürdigkeiten wie der dort vorhandenen Schlösser, Seen, Museen und so weiter.
Ihr war es als Kind selbst nicht vergönnt gewesen, diese Erfahrungen machen zu können. Sie hasste ihre Jugend als einziges Mädchen unter drei Geschwistern ihrer Eltern, meiner Großeltern. Beide Brüder mussten damals schon als Kinder mit den Eltern auf den Feldern arbeiten, und sie selbst sollte mit 10 Jahren bereits die Kochkünste erlernen, um das Mittagessen zu kochen und dieses dann mit dem Fahrrad zu ihrer Familie auf die Felder bringen. Oder sie musste die Gänse, Schweine oder Hühner auf dem Bauernhof füttern und hüten.
Später erzählte sie mir, dass dies der Hauptgrund gewesen war, einen viele Jahre älteren Mann, meinen Vater also, überstürzt zu heiraten – um so schnell wie möglich ihren Geburtsort verlassen zu können, in eine größere Stadt zu gelangen und die Arbeit auf dem Bauernhof gründlich zu vergessen. Ich denke heute, dass sie wohl auf der einen Seite gewonnen hat, aber glücklich war sie mit meinem Vater wohl nie, obwohl beide die Ehe bis zum Tod meines Vaters aufrechterhalten haben. Er selbst hat wenig mit mir anfangen können, es gab eigentlich keine Spiele, nur die Märchenstun-den sind in meiner Erinnerung geblieben. Lesen liebte er über alles.
In unserem Haus gab es auch einen Plattenspieler, dort wurden die schönsten Musikwerke abgespielt. Dazu übte mein Vater mit seiner Geige jeden Tag zwei Stunden (für das ihm damals noch fehlende Abschlussdiplom!). Seine Lieblingswerke waren die Violinkonzerte von Mendelssohn-Bartholdy, Tschaikowski und Beethoven. Diese wurden jede Woche mindestens einmal aufgelegt, und ich trällerte dazu aus voller Kehle die Melodien. Heute würde ich behaupten, damals alle Haupt- und Neben-themen jedes einzelnen Satzes beherrscht zu haben. Ich bin meinem Vater noch jetzt dankbar, dass er auf diese Weise meinen musikalischen Geschmack mit so hochkarätigen Werken geformt hat und er mir nicht die Freiheit gab, im Radio „niveaulosen“ Stücken anderer Kunstrichtungen zu „verfallen“.
Das sentimentale Konzert
Mein Papa spielt viele Instrumente.
Wenn es ruhig ist, spielt er auf der Violine.
Wenn Zank ansteht, bläst er kräftig auf der Trompete.
Wenn er glücklich ist, ist das Saxophon an der Reihe.
Ich muss vormittags und nachmittags immer Klavier üben.
Ich soll Musikerin werden.
Das größte Problem tritt auf, wenn Mama anfängt zu singen.
Nach Papas Meinung singt meine Mama sehr schön schief.
In solchen Momenten möchte mein Papa am liebsten
alle Instrumente gleichzeitig spielen.
So verlebte ich also meine Grundschuljahre. Vom Schulunterricht selbst ist mir eher wenig in Erinnerung geblieben. Es waren mehr die außerschulischen Aktivitäten, die sich mir eingeprägt haben und die dann auch meine berufliche Richtung und Zukunft bestimmten.
Wunderschöne Erinnerungen über die Ferien auf dem Bauernhof meiner Großeltern mütterlicherseits haben sich außerdem bei mir eingebrannt. Meine Mutter nahm mich in allen Ferien und oft auch an Wochenenden zu den Großeltern mit. Sie lebten nicht weit entfernt von unserem Wohnort, etwa 22 Kilometer.
Eine Bummelbahn verkehrte zwischen den Orten, mit nicht weniger als 15 Haltestellen dazwischen. Zahllose Menschen stiegen dort ein und aus, stets voller Leben. Diese Fahrten habe ich immer sehr genossen. Ständig erlebte ich so neue Leute mit ihren Körben und Rucksäcken, vollgestopft mit allem Möglichen, sogar lebenden Kaninchen, Hühnern oder stark duftenden, geräucherten Schlachtprodukten, deren Genuss ich schließlich selbst bei Oma und Opa anlässlich des Schlachtfestes im Winter erlebt habe. Die im Zug reisenden Frauen hatten auch für diese kurze Strecke eine Menge Dinge mitgebracht. Es wurde ausgepackt und Picknick im Zug abgehalten. Dazu gehörten selbstverständlich auch ein oder mehrere Schlucke Wein aus den 5- oder 10-Liter-Korbflaschen. Dazu wurden lustige Geschichten erzählt, viel gelacht, und auch mir wurden Häppchen angeboten, die ich annehmen durfte.
Ich sah ebenfalls viele Männer unter den Reisenden, junge und alte, zumeist in ihren Arbeitsanzügen, vollgeschmiert mit Kohlenstaub aus den nahe liegenden Kohlegruben. Nicht nur die Anzüge, sondern auch die Hände und Gesichter waren häufig verschmiert.
Ich genoss auch an den Haltestellen die kleinen Bahnhöfe mit ihren typischen und immer gleichen Gebäuden und das Gewusel der hin und her laufenden Menschen auf der Suche nach freien Sitzplätzen im Zug. Die Waggons waren immer voll besetzt, sogar auf den Gängen stauten sich die Menschen mit ihren Bündeln, Taschen und Körben. Und immer wieder konnte ich feststellen, dass die jüngeren Mitreisenden, ob Mann oder Frau, respektvoll ihren Sitzplatz den Älteren anboten. Kinder kamen zumeist auf den Schoß der Eltern.
Noch heute, mit über sechzig Jahren, stehe ich in öffentlichen Verkehrsmitteln ganz unwillkürlich auf und biete meinen Platz den noch älteren Menschen oder Müttern mit Kleinkind an. Die modernen Jugendlichen bleiben leider meistens sitzen. Wen interessiert das denn heute noch? Mir ist es eine Pflicht geblieben. Eine Pflicht, die ich als Kind zwar nicht ganz verstand, aber meine Eltern und Lehrer haben es mir so beigebracht und stets von mir erwartet.
Heute verstehe ich das ganz genau und freue mich, wenn dann doch, leider sehr selten, Jugendliche ohne elterliche Anmahnung ihren Sitzplatz den Mitreisenden anbieten, die ihn nötiger haben. Ich kann dann meinen Mund oft nicht halten: „Du bist ja ein sehr gut erzogener, mitfühlender Mensch, bravo, solche 'Exemplare' wie dich findet man nicht oft“.
Wenn ich danach darüber nachdenke, finde ich, dass mein lautes Lob vor den anderen Menschen diesem Jugendlichen peinlich gewesen sein könnte und ich ihn dadurch eventuell motiviere, das in Zukunft nicht mehr zu tun. Aber vielleicht ist es andererseits auch ein Ansporn dafür, weiterhin so gutes Benehmen zu zeigen? Vielleicht habe ich auch nur die Anregung zum Nachdenken gegeben!
Zurück zu meiner eigenen Kindheit:
Ankunft im Ort meiner Großeltern. Ich freue mich riesig, nehme meinen kleinen Beutel selbst in die Hand, um meiner Mutter zu helfen, und wir machen uns auf den Weg. Noch vier Kilometer vom Bahnhof bis zu dem geliebten Bauernhof. Haus, Hof, Tiere, Verwandtschaft, menschliche Wärme und Abenteuer. Unterwegs grüßen uns manche bekannte Einwohner liebevoll, meine Mutter wechselt einige Worte mit ihnen. Aber ich bin voller Neugier und Tatendrang, zerre ungeduldig an der Hand meiner Mutter. Jede Pause wird zur Unsicherheit, nicht rechtzeitig an diesem von mir geliebten Ort anzukommen.
Endlich – das große Holztor. Die kleine Tür für Menschen ist immer offen, das große Tor hingegen, mindestens fünf Meter breit, wird nur geöffnet, um die Pferdekutsche herein- und herausfahren zu lassen. Das Tor ist aus Naturholz, nicht gestrichen, und es trägt schon hier und da die Spuren des Wetters. Das Holz ist gespalten, Ecken und Kanten sind abgebrochen, kleinere und größere Löcher weisen auf ehemalige Verästelungen hin. Diese ständigen Veränderungen sind für mich so schön, so aufregend, so vertraut und seidenweich, so …
Kaum sind wir durch die Tür gelangt, da bellen schon Bobbi oder Bundás oder beide gleichzeitig, wedeln mit ihren Schwänzen und lecken meine Hände. Bobbi ist ein Mischling, aber dieses Wort kannte ich damals noch nicht. Er ist ganz grau, nicht besonders hübsch, aber liebevoll und treu. Bundás (deutsch: Fellknäuel) ist trotz der vielen Haare – man weiß nie, wo vorn und hinten ist – sehr beweglich und springt und spielt genauso wie Bobbi. Das ist schon einmal die erste liebevolle Begrüßung. Mama und ich, wir wissen, dass alle Erwachsenen und arbeitsfähigen Mitglieder des Haushaltes bereits seit dem frühen Morgen auf den Feldern sind. Nur meine Uroma und vielleicht meine Tante sind noch zu Hause. Jemand muss ja kochen und das Essen am frühen Nachmittag zu den Menschen auf die Felder bringen, meistens geschieht das mit Hilfe des Fahrrades.
Meine Uroma ist zwar schon sehr alt, sie erledigt aber immer noch wichtige Aufgaben auf dem Hof. Da sind die vier Schweine und etwa dreißig Hühner zu füttern, das Fallobst zu sammeln, zu sortieren und in Behälter zu füllen, in denen daraus der Schnaps gemacht wird. Die insgesamt fünf Urenkel, ich bin die älteste davon, sind zu versorgen, mit ihnen sind Wanderungen im Dorf zu machen und neue unbekannte Winkel zu zeigen. Wir kannten ja diese noch nicht, und so waren sie für uns faszinierend.
Es sind etwa auch die im Schulgarten spazierenden Pfauen zu suchen, die irgendwo im eingezäunten, verwilderten Gelände im hohen Gras sitzen und uns die wunderschöne Farbenpracht ihrer Federn zeigen. Meine Uroma singt uns schöne alte Lieder und imitiert mit ihrer Stimme den Klang einer Blockflöte. Sie ist winzig klein, kaum größer als wir Kinder, und sie trägt immer grau-schwarze Bekleidung mit einem engen Oberteil, verschlossen mit tausend kleinen Knöpfchen. Wie viele Röcke sie trägt, wissen wir nicht. Wir denken, dass es mindestens fünf sind, weil diese nach unten immer breiter werden und plisseeartig aussehen. Auf dem Kopf trägt sie ein schwarzes Kopftuch.
Oft sitzt sie auf einem kleinen Schemel, den Rosenkranz in ihren Händen, und murmelt ihre Gebete. Sie hatte acht Kinder geboren, davon lebte nur noch meine Oma, alle anderen waren im Kindesalter verstorben. Als ich dann neunzehn Jahre alt wurde und meine Oma starb, hatte die Uroma alle ihre Kinder überlebt. Ich liebte diese meine Uroma über alles. Nicht etwa, dass ich meine Großmutter nicht liebte... aber Uroma war einfach die Person, die die meiste Zeit mit mir verbracht hat und das hat sich in die Erinnerung an meine Kindheit sehr stark eingeprägt.
Nur ich kenne ihr Geheimnis
Des Öfteren träume ich, dass ich gestorben sei.
Ich liege auf meinem Bett und meine Augen sind geschlossen.
Alle um mich herum weinen und ich bin glücklich,
dass ich von den anderen beweint werde.
Aber ich weiß sehr wohl, dass ich nur im Spiel tot bin.
Meine Oma lag in der vergangenen Woche auch in einem Bett,
ihre Augen waren geschlossen.
Alle um sie herum haben geweint, auch ich,
und sie war glücklich, dass sie von anderen beweint wird.
Sicher hat auch sie geträumt, dass sie nur im Spiel tot ist.
...deswegen war auf ihren Lippen ein kleines Lächeln.
Wir Urenkel staunten nicht schlecht, wenn sie plötzlich stehen blieb, sich breitbeinig hinstellte und unter den vielen Röcken etwas plätscherte. Wir rätselten, warum sie nie zu diesem Zweck in die Knie ging oder die Latrine auf dem Hof aufsuchte. Und wenn sie müde war, legte sie sich auf eine schmale, gerade dreißig Zentimeter breite Holzbank ohne Rückenlehne. Sie lag auf dem Rücken, und wir Kinder wunderten uns, dass sie niemals von der Bank auf den Boden fiel. Sie konnte dort sogar ihre Position wechseln und sich auf die Seite legen. Es passierte ihr nichts, und sie schlief seelenruhig weiter.
Ihr Mann war früh gestorben, sie heiratete nicht wieder und war bis zum Ende ihres Lebens auf dem Hof meines Großvaters und meiner Tante. Ein bisschen Geld hat sie immer gehabt und hat uns Urenkeln stets ein wenig Kleingeld, aber manchmal auch kleine Geldscheine in die Händchen gedrückt. Wir fragten sie immer wieder, woher sie denn das Geld habe. Sie hat uns dann erzählt, dass sie das von meinen Großeltern für den Schnaps sortierte Obst nochmals sortiert habe und die noch fast einwandfreien, gesunden Stücke zum Markt gebracht und dort billig verkauft habe. Das so verdiente Geld hat sie dann zwischen uns verteilt.
Die Grille
Auf einem Holzwagen sitzend, beladen mit frischem Heu,
kehrte ich zurück von den Feldern,
zusammen mit meiner Uroma und Janosch,
einem Studenten der Tiermedizin aus Szeged.
Meine Uroma fragte Janosch:
„Kannst Du schon Grillen kastrieren, mein Junge?“
Janosch lachte und antwortete: „Nein!“
In diesem Moment entschloss ich mich dazu,
Musikerin zu werden.
Es ist sicher einfacher, die Gesänge der Grillen zu verstehen,
als diese zu kastrieren.
Jetzt bin ich bald fast so alt wie meine Uroma damals und so, wie ich diese in meiner Erinnerung habe. Ich suche jedes Mal nach einer Möglichkeit, ihr Grab zu besuchen und ihr frische Blumen zu bringen, wenn ich in meine Heimat fahre. Dabei denke ich unter großem Weinen und immer an die beste Uroma der Welt, die meine Kindheit um so viel Liebe, Einfachheit und Menschlichkeit bereichert hat. Auch jetzt noch, wo ich diese Zeilen schreibe, schüttelt mich ein heftiger Weinkrampf, ich will und kann ihn nicht bremsen.
Meine Erinnerungen an die Uroma werden dadurch noch schöner und lebendiger.
Liebe Uroma, du fehlst mir sehr!
Da war ich nun, auf diesem Bauernhof, der mir damals riesig groß erschien: All die vielen Gebäude, Ställe, Räume für Getreide und Obst, der Weinkeller, sehr große Dachböden zum Trocknen von Gras und Heu als Winterfutter für das Vieh; es gab separate Räume für Eingemachtes, für hängende Räucherschinken etwa, Sülze, Speck und Würste, und einen riesigen Backofen zum Brotbacken. Brot, das auch nach einem Monat noch knusprig und wohlriechend war. Hier hatte ich das Paradies zu meiner Verfügung.
Mit Eifer suchte ich versteckte Eier, welche die Hühner nicht immer dort legten, wo es vorgesehen war. Zur Freude meiner Tante suchte und fand ich auch welche in den offenen, nur mit losen Brettern bedeckten Überdachungen für Gartengeräte, Körbe und Zaumzeug. Diese Suche nach Eiern an „nicht normalen Orten“ war meine Lieblingsbeschäftigung, mit Ausnahme der Kletterübungen auf den Heuhaufen, 4 bis 5 Meter hoch, die als Streu für den Pferde- und den Kuhstall auf dem Hof lagerten.
Vor diesen großen Tieren hatte ich allerdings einen Riesenrespekt und Angst. Ohne Erwachsene traute ich mich nicht in die Ställe und wenn, dann erst spät am Nachmittag, wenn sie immer paarweise zu einem ausgehöhlten Baumstamm als Tränke geführt wurden. Das war in der Nähe des Wohngebäudes, und ich habe mich immer hinter einem Terrassenzaun versteckt und von dort die Tiere beobachtet.
Manchmal gab es auch große Aufregung, wobei wir Kinder uns überflüssig vorkamen. Das war dann der Fall, wenn eine Kuh Nachwuchs bekam und wir uns dem Stall nicht nähern durften, bevor das Kalb nicht auf seinen Beinchen stand. Einmal bekam meine Tante plötzlich zu Hause Wehen, und das Kind wurde dort auch geboren. Wir Kinder wurden mit der Uroma auf einen Spaziergang geschickt, aber später durften wir unseren neuen Cousin ansehen. Besonders begeistert waren wir damals nicht von diesem schrumpeligen, kleinen Wesen inmitten einer blutverschmierten Kulisse im Schlafzimmer von Onkel und Tante.
Mit dem langsamen „Erwachsenwerden“ als älteste Ur- und Enkelin nahm die Zahl unserer Besuche auf dem Hof der Großeltern rasch ab. Ich hatte mich nun mit meiner Zukunft auseinanderzusetzen.
… oder das …
Wenn ich immer ein Kind bleiben könnte
würde ich über dem Heuhaufen wohnen, um immer den vollen Geruch
der grünen Wiese einatmen zu können
oder auf dem warmen Dachboden, wo die Spinnen so wunderbare Netze
weben und wo so viel Kram versteckt ist, dass ich gar nicht alles entdecken
kann
oder im Schuppen meines Opas, wo ich mich wie eine Heldin fühle zwischen
all den Holzstücken, Wagenrädern, Pferdegeschirren, geflochtenen
Körben, Weinpressen und Bütten, wenn ich es geschafft habe, die von den
Hühnern versteckten Eier einzusammeln
oder neben dem verräucherten Ofen und dem großen Kessel, aus dem
immer wieder verführerisch frische Krusten und Schlachtereigerüche entströmen
oder unter den Bäumen am Ufer des kleinen Bächleins, wo ich so viele
Veilchen sammeln und zu Sträußen binden kann, während mein Opa die
Felder pflügt
oder …
Nach Beendigung der vierten Klasse wurde in den darauf folgenden Sommerferien mein Weg in die Richtung „Musikstudium“ konkret. Die Pianistin und Klavierlehrerin, Tante Irma, mit der mein Vater seinerzeit während der Begegnung in meiner Heimatstadt gesprochen hatte, empfahl, in den Sommerferien für sechs bis acht Wochen mit meiner Mutter nach Budapest zu fahren. Dort sollten wir uns bei einer Familie mit Klavier einquartieren, damit ich täglich zwei bis drei Stunden üben konnte. Es wurde dann auch so gemacht.
Meine Klavierlehrerin hatte mich schon, wenn auch nicht so professionell, mit einigen klassischen Werken vorbereitet, so gut sie dies konnte. Und nun kamen diese sechs Wochen harte Arbeit in Budapest. Ich hatte wenig Lust so viel zu üben, aber ich musste es tun. Ich wurde immer wieder darüber belehrt, wie viele Opfer meine Eltern gebracht hatten, um das alles zu bezahlen. Dieses Zimmer hatte ein Doppelbett, in dem ich mit meiner Mutter schlief (nebenbei bemerkt: Voller Wanzen, die uns am ganzen Körper bissen). Dazu kamen die Mietkosten für das Klavier. Dieser ganze Aufwand nur mit dem Ziel, mir die richtige Ausbildung für meine Zukunft als „musikalisch Hochbegabte“ zu sichern, mir den Abschluss zu ermöglichen, den mein Vater einst nicht geschafft hatte. Dies war die Möglichkeit für mich, keine Landarbeiterin, Küchenmagd oder Gänsehüterin zu werden. Das war immerhin auch für mich plausibel, und so zog ich diese sechs Wochen brav durch, ging jeden zweiten Tag zu meiner neuen Klavierlehrerin, die weiter zwei Stunden hart mit mir arbeitete.
Ihrer Meinung nach machte ich sehr gute Fortschritte, und wir stellten ein ziemlich anspruchsvolles, gemischtes Programm zusammen. Dies war auch nötig, um in die berühmte Musikschule in Szeged in Südostungarn aufgenommen zu werden, die notwendige Prüfung für diese Aufnahme zu bestehen und dort mit einer dritten, ebenfalls sehr guten Klavierlehrerin weitere vier Jahre zu arbeiten. Es war auch die Voraussetzung, um die achte Klasse dort abzuschließen und sodann in einem Musikgymnasium und im Konservatorium die Aufnahmeprüfung zu schaffen. Ab meinem elften Lebensjahr musste ich außerdem zuerst an örtlichen, dann an bezirklichen Wettbewerben teilnehmen, bei denen ich auch stets einen ersten oder zweiten Platz erreichte.
Zunächst aber musste ich in dieser Stadt eine Bleibe finden und vor allen Dingen ohne meine Eltern auskommen. So gelangte ich also mit neun Jahren in eine Familie mit einer Tochter und ein Jahr später in eine andere Familie mit vier Kindern und setzte sowohl die Schule als auch die nun ernst gewordene Musikausbildung fort. Die Entscheidung zu diesem Schritt war meinen Eltern natürlich nicht leicht gefallen, aber in meinem Heimatort gab es einfach nicht die Möglichkeit, eine solche Musikausbildung zu erhalten.
Die Kosten für meinen Aufenthalt bei der fremden Familie betrugen immerhin zwei Drittel des väterlichen Monatseinkommens. Die schwierige wirtschaftliche Situation in Ungarn führte dann auch des Öfteren dazu, dass ich selbst die Ferien bei der Gastfamilie verbringen musste, da das Geld für eine Bahnfahrkarte nach Hause einfach nicht vorhanden war. Es gab auch Monate, in denen das Gehalt meines Vaters nur teilweise ausgezahlt wurde und deshalb schon das Geld für meine Unterkunft und Verpflegung bei der Gastfamilie fehlte. Dann bügelte ich im Alter von zehn bis elf Jahren die Wäsche dieser ganzen Familie, immerhin drei Männer mit vielen Oberhemden. Diese Übungen machten aus mir eine „Weltmeisterin“ im Bügeln von Hemden, das kann ich noch heute in kürzester Zeit und faltenfrei. In meiner kindlichen Vorstellungskraft war ich der Meinung, die fehlende Summe auszugleichen zu müssen.
Das nächste große Ereignis in meinem Leben war dann mit vierzehn Jahren der Einzug in das Mädcheninternat dieser Stadt in Südostungarn. Wir waren dort in riesigen Räumen mit jeweils vierzig Betten untergebracht. Die Internatszeit brachte meinen Eltern einige finanzielle Entlastung, da die Unterbringung dort viel preiswerter war als zuvor in der privaten Unterkunft. Zudem orientierten sich die Kosten an den Leistungen der jeweiligen Schülerin: für die besten wurden die Kosten sogar vom Staat übernommen. So konnte ich meinen Eltern helfen und sie Stück für Stück von den riesigen finanziellen Aufwendungen entlasten.
Natürlich hatte das Internat auch eine Menge Nachteile. Warmes Wasser floss etwa nur an den Samstagen – in dem einzigen Bad mit zehn Duschen und zehn Waschbecken, das es für etwa zweihundert Mädchen gab. Wer nur etwas zu spät kam, der bekam eben kein warmes Wasser mehr. In der Woche selbst wurde nur kalt gewaschen oder geduscht. Dies ist vielleicht eine Ursache für meine heutigen chronischen Nierenprobleme. Die Bettgestelle im Internat waren so ausgeleiert, dass man sofort bis zum Untermann (hier also Unterfrau) durchsackte und sozusagen vertikal und im rechten Winkel schlief. Der dabei entstandenen Wirbelsäulenverkrümmung verdanke ich heute noch meine Rückenprobleme. Alles im Leben hat irgendwo seine Ursachen!
Die Internatsordnung war sehr streng. Ausgang in der Woche gab es überhaupt nicht. Lediglich auf dem Weg zum Musikkonservatorium, dort absolvierten wir den Musikunterricht, konnten wir mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen. Offizieller Ausgang wurde samstags bis 21 Uhr und sonntags bis 20 Uhr erlaubt. In dieser Zeit konnten wir in der Stadt bummeln, ins Kino gehen oder mal ein Eis essen. Das wenige Taschengeld, das ich von meinen Eltern damals erhielt, war von mir jedoch nicht für Pizza, Eis oder Cola vorgesehen, sondern um den Hausmeister zu bestechen, wenn ich mal in der Woche abends verschwinden wollte, um beispielsweise eine literarische oder künstlerische Veranstaltung in der Uni zu besuchen. Diese dauerten meist bis 22 Uhr, und ich klingelte danach ganz dezent an der Haupttüre um Einlass. Ein äußerst diskreter Vorgang – Geld gegen Diskretion! So konnte ich meinen Wissensdurst stillen, zwar nicht gerade sehr kindgerecht, aber der Zweck heiligte auch damals schon die Mittel.
In meiner Pubertätszeit, zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren, machte ich natürlich auch Sachen, die nicht ausschließlich meiner ernsthaften Ausbildung dienten. Ich hatte eine Rebellionsphase und auch die Sucht nach Selbstbestimmung, um meine geheimen Wünsche zu realisieren – die Suche nach Extremsituationen, um nach meinem eigenen Willen zu leben. Wenn ich zum Beispiel über ein bestimmtes Thema ein fünf- bis zehnminütiges Referat halten sollte und ich unsicher war, ob es mit der Bestnote 5 (in Ungarn war die Notenfolge umgekehrt) benotet werden würde, dann hielt ich lieber den Mund und wartete darauf, dass der Lehrer die allerschlimmste Note 1 eintrug. „Lauwarme“ Noten mochte ich nicht. Entweder – oder.
Am Abend meines 16. Geburtstages kam meine erste große Liebe mit Kosenamen Stenéz, 21 Jahre alt und Jurastudent an der Uni. Wir hatten verabredet, dass er ein wenig Alkohol einkaufte und wir diese Flasche dann an einem Seil mit Korb in den 2. Stock unseres Internats hochziehen würden, wo „mein“ Zimmer lag. Wir waren zehn Musikschülerinnen. Ich hatte vor, sie einzuladen und unsere Köpfe etwas zu benebeln. Klar, jede von uns hatte schon mal etwas Alkohol probiert. Aber dieses Mal sollte eine große Flasche Hochprozentiges uns in die richtige Stimmung bringen.
Leider hatten wir mit einem fatalen Umstand nicht gerechnet. Als mein Freund unten die Erkennungsmelodie, „l´Arlesienne“ von Georges Bizet, gepfiffen und uns etwas zugerufen hatte, ließ ich den Korb am Seil hinunter, und er wünschte mir und den anderen neun Mädchen leise einen fröhlichen Abend. Wir wussten, dass der Schulleiter im ersten Stock genau unter uns seine Dienstwohnung hatte. Dieser hatte das Ganze durch das Fenster hinter einer Gardine versteckt beobachtet. Wir hatten einen schönen Abend, tranken die Flasche aus, machten Witze und jede erzählte das Neueste vom aktuellen Liebhaber. Der Abend war ein Volltreffer in jeder Hinsicht. Um 22 Uhr kam die Frau des Nachtdienstes, löschte das Licht und wünschte uns eine gute Nacht. Danach durfte gemäß Hausordnung niemand mehr sprechen.
Als Geburtstagskind hatte ich wohl das meiste aus der Flasche getrunken, und dementsprechend sah der nächste Morgen für mich auch aus. Ich meldete mich beim Frühdienst krank und durfte dann im Bett liegen bleiben. Um 10 Uhr sollte der Schularzt kommen, um die Krankheiten zu behandeln. Dazu kam es aber bei mir nicht mehr.
Die anderen Mädchen waren alle schon auf und hatten sich angekleidet, ihre Betten mit militärischer Präzision bereitet, und sie warteten auf das Klingelzeichen zum Frühstück, als um 7 Uhr der Schuldirektor hereinplatzte und donnerte: „Wer hat in der Nacht einen Korb mit einer Flasche heraufgezogen?“
Er war ein sehr kleiner, haarloser Mann, dessen Kopf eher an einen mit Haut überzogenen Totenkopf erinnerte. Er unterrichtete als Professor Mathematik und Physik und beherrschte neun Sprachen. Ich empfand Todesangst. Alle anderen Mädchen waren mucksmäuschenstill. Ich wusste, dass ich mich eigentlich melden müsste und zu meiner Tat stehen sollte. Das entsprach so meiner Erziehung vom Elternhaus her. Die Konsequenzen dessen waren mir aber auch klar: Ich würde von der Schule fliegen und alle Opfer meiner Eltern und deren Bemühungen wären umsonst gewesen. So brachte ich kein Wort heraus.
Der Direktor drohte damit, einen Monat den Ausgang am Wochenende zu streichen, wenn sich die Täterin nicht meldete oder jemand diese nicht entlarven würde. Wir nahmen alle lieber diese Strafe auf uns. Es war wirklich eine tolle, verschworene Gemeinschaft!
Wir kannten uns ja alle sehr gut, wir tauschten Klamotten, Schuhe, und auch die Inhalte der Pakete unserer Eltern teilten wir unter uns gleichmäßig auf, etwa Süßigkeiten, selbst gebackene Kuchen und so weiter. Jede half der anderen nach ihrer eigenen Möglichkeit. Diese Gruppe war – Spitze! Vier dieser Mädchen kamen später durch Heirat mit deutschen Männern nach Deutschland. Noch heute halten wir Kontakt miteinander. Eine von ihnen ist Kinderärztin geworden, eine Cellistin, eine Mathe- und Physiklehrerin und ich selber, na, was wohl? Musikerin. Noch heute finden alle vier Jahre unsere Abiturtreffen in Ungarn statt.
Natürlich kamen in diesem Alter auch schon sehr starke Wünsche, sexuelles Verlangen danach, mit meiner großen Liebe, dem schon erwähnten Jurastudenten, etwas „Verbotenes“ zu tun. Das drücke ich so aus, weil meine ganze Erziehung, der Religionsunterricht in der Kirche und die sonntäglichen Besuche der heiligen Messe mit meiner Mutter mich stets gelehrt hatten, dass die Jungfräulichkeit bis zur Heirat bewahrt werden sollte.
Mein Vater hatte sich hingegen schon sehr früh gegen die Institution Kirche entschieden, und er erzählte mir öfter, was ihm als jungem Ministranten passiert war. Jedes Mal, wenn er den Kelch nicht richtig bis zum Hals mit Wein gefüllt hatte, bekam er nach dem Gottesdienst vom Pfarrer eine Ohrfeige. Das veranlasste ihn dazu, absichtlich weniger Wein in den Kelch zu füllen und nach der Messe schnellstens aus der Kirche zu verschwinden. Er hat schließlich auch irgendwann den Kirchendienst abgelehnt.
Für meine Mutter waren die sonntäglichen Kirchenbesuche jedoch eine gute Möglichkeit, einmal wieder ihre schicksten Kleider anzuziehen. Im Winter trug sie vorwiegend schöne Hüte dazu. Ich als ihr einziges Kind hatte auch immer die schönsten Kleider an, und ich wurde mit einer großen, schmetterlingsförmigen Schleife mitten auf dem Kopf, oder mit zwei Klemmen an den Zöpfen geschmückt. Nach dem Gottesdienst konnte sich meine Mutter vor der Kirche mit vielen Bekannten und Freundinnen unterhalten, manchmal auch in einem kleinen Bistro oder einer Eisdiele Kaffee trinken, und ich bekam meine Eisportion. Das letztere gefiel mir natürlich am meisten, und so wartete ich immer voller Ungeduld auf den nächsten Kirchenbesuch. Diese schöne Gewohnheit änderte sich dann schlagartig in der Stadt, in der ich meine Musikausbildung erhielt.
Die Schule drang regelrecht darauf, ja, zwang uns quasi, in den Verband der jungen Pioniere einzutreten, wo wir mit dem roten Dreieckstuch um den Hals anzutreten hatten. Es war uns sehr klar gemacht worden, dass es schwierig sein würde, eine Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule ohne diese Voraussetzung zu bestehen. Auch unsere Herkunft würde Einfluss darauf haben. Das hieß, dass Kinder aus Bauern- und Arbeiterfamilien nach dem Abitur leichteren Zugang zum Studium hatten als Nachwuchs aus Familien der intellektuellen Kreise. Aufgrund dieser Erkenntnisse wusste ich, dass ich sehr gute Chancen dort hatte, einfach wegen meiner Herkunft aus einer Arbeiterfamilie, dem Proletariat.
Die Kirchenbesuche sonntags setzte ich von meinem Terminkalender ab, da mir eventuelle Spitzel, die davon Kenntnis erhielten, beruflich Steine in den Weg legen könnten. Außerdem hatte sich damit auch das Problem der Beichte erledigt, und ich nahm an, ich könne vielleicht mit meinem Freund die mir bis dahin unbekannten Genüsse der Liebe auskosten, ohne dies dann „bereuen“ zu müssen.
So kam es also, dass ich mit zwei Freundinnen und deren Freunden, wir waren also insgesamt drei Liebespaare, eines Sonntagmorgens aus dem Internat verschwand. Wir landeten nach kurzer Zugfahrt in einem kleinen Dorf in der Umgebung. Dort hatten die Eltern einer dieser Freundinnen eine kleine Bauernhütte, die nur zur Erntezeit belegt war, und da probierten wir dann einiges aus, was bis dahin für uns tabu gewesen war.
Wir Mädels waren alle noch minderjährig, aber mein bereits volljähriger Freund wusste, welche Gefahren unser Unternehmen für uns bedeuten konnten. Er hatte sehr viel Alkohol mitgebracht und schenkte diesen auch reichlich aus, sodass unsere „Herren“ schließlich nicht mehr in der Lage waren, das letzte Tabu zu brechen. Ich war damals sehr enttäuscht, und mir taten alle Knochen im Leibe weh vom heftigen Petting, aber das war es auch schon.
In meinem letzten Internatsjahr, dem Jahr meines Abiturs, hatte ich neben den Pflichtfächern im Gymnasium mit jeweils drei schriftlichen und fünf mündlichen Prüfungen noch zehn Musikfächer am Konservatorium zu bestehen, ebenfalls alle mit Abschlussprüfung. Da blieb wirklich keine Zeit mehr für Liebeleien, Späße und unüberlegte Abenteuer. Wir wussten sehr genau, dass uns hauptsächlich ein Abitur mit gutem Notendurchschnitt die Türen für unsere Zukunft öffnen würde. So büffelten wir Tag und Nacht, lebten von Kaffee, Keksen und Zigaretten. Statt des Raumes zum Lernen benutzten wir die Toiletten und das Nottreppenhaus zum nächtlichen Pauken, denn nur dort konnten wir dabei rauchen, ohne erwischt zu werden.
In den letzten zwei Wochen vor dem Abitur gab ich mir noch einen großen Ruck in Mathematik. In diesem Fach war ich nie ein Genie und in dort hatte ich meine schwächste Note (eine 3). Ich holte hier aber alles Notwendige mit großem Eifer nach und verbesserte so meine Note. Mein Abiturdurchschnitt ergab dann auch eine glatte 4 (deutsch 2) und in den Musikfächern alles 5 (deutsch 1). Musik war für mich immer sehr wichtig, somit sollte dies doch auch mein Beruf werden. Und so kam es letztendlich auch.
Im Internat haben wir Mädchen natürlich auch viel getanzt, es ging ja nur miteinander, und so musste sich jede von uns auch immer einmal in die männliche Rolle hineinversetzen. Auch heute noch kann ich gut die Führungsrolle übernehmen. Es gab genug Klavierschülerinnen wie mich, und so wurde auch die richtige Musik auf dem Klavier gehämmert, Rock´n Roll, Twist, Walzer, einfach alles. Als Tanzsaal musste dann der große Speisesaal herhalten, Tische und Stühle wurden zusammengeschoben, und so war Platz genug für uns 200 Mädchen. So war es auch, wenn er als Spielraum, Ballraum oder sonstigen Freizeitbeschäftigungen diente. Dort gründete ich meinen ersten Chor. Die Mädchen des Musikzweiges hatten schulisch auf 35 Minuten verkürzte Stunden gymnasialer Fächer, um vom Nachmittag bis zum Abend, also bis 20 Uhr, genügend Zeit zu haben für die Musikfächer und um mit den jeweiligen Instrumenten zu üben.
In diesem Musikzweig waren zehn Mädchen. Der Chor, von dem ich eben sprach, hatte aber dann doch über 30 Mädchen. Wir prüften jede einzelne Stimme nach ihrer Eignung für den Chorgesang. Die Chorgründung war auf ein wichtiges Ereignis zurückzuführen. Unser Internat trug den Namen des russischen Dichters Majakowski, und man hatte meines Wissens vor, eine Feier aus Anlass irgendeines Gründungsjahres zu veranstalten. Dazu sollten wir „Musikmädchen“ unseren Beitrag leisten. So traf sich der Chor, um seine Konzertstücke im Konzertraum des Konservatoriums vorzutragen, nur wollte niemand dirigieren.
Ich weiß gar nicht mehr so richtig, was dann geschah. Wurde ich gewählt, oder hatte ich mich freiwillig gemeldet? Letztendlich spielt es keine Rolle, ich war es auf einmal. So habe ich damals den ersten Gefallen an der Chorleitung bekommen. Meine Hände wedelten nach rechts und links, gaben punktgenaue Einsätze, und nach dem letzten Stück bekamen wir riesigen Applaus vom Lehrerkollegium des Gymnasiums, von den Musikprofessoren des Konservatoriums und vom übrigen Publikum, insgesamt noch 170 Mädchen mit ihren Angehörigen. Ich glaube, dass dieses das erste Mal war, dass ich darüber nachdachte, nicht nur Pianistin zu werden, sondern auch Chorleitung zu studieren.
Meine Klavierlehrerin bestätigte mir zwar immer sehr großes Talent, aber meine jährlichen, öffentlichen Abschlusskonzerte für Beurteilung und Zeugnisnoten waren aufgrund meines großen Lampenfiebers nicht so richtig zufriedenstellend. Mir zitterten immer die Hände, alle lyrischen, also langsamen Teile klangen wunderbar, in den schnellen Passagen machte ich hingegen Patzer. Ich war schwer gedemütigt.
So dachte ich also immer häufiger an ein Chorleitungsstudium. Bei dem ersten Versuch einer Chorleitung hatte ich nämlich weder Panik noch Zittern der Hände gespürt. Meine Entscheidung stand fest: Ich machte die Aufnahmeprüfung für das vollständige Chorstudium und für Klavierpädagogik ohne Examen für Konzertpianistin.
In diesen beiden Fächern wurde ich auch aufgenommen, nach vielen praktischen Prüfungen und persönlichen Gesprächen. So musste ich z. B. die Noten eines Chorwerkes kurz ansehen und dieses dann mit dem anwesenden Hochschulchor einstudieren. Ich hatte eine große Auswahl verschiedener Werke auf dem Klavier vorzuspielen: ein Präludium und Fuge von Johann Sebastian Bach, ein romantisches und ein modernes Werk sowie eine klassische Sonate. Es waren Stücke vom Blatt zu singen (prima vista), mit den entsprechenden Solmisationssilben nach der Kodály-Methode, außerdem hatte ich einen mehrstimmigen Satz nach Anhören sofort in Notenschrift auf Papier zu bringen.