Müssen wir da auch noch hin? - Dietmar Bittrich - E-Book

Müssen wir da auch noch hin? E-Book

Dietmar Bittrich

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Beschreibung

Reisen ist schön – vor allem wenn man wieder zu Hause ist Ja, Verreisen ist etwas ganz Wunderbares. Es gibt viele glückliche Momente. Zum Beispiel bei der Planung. Und natürlich im Rückblick, wenn alles überstanden ist und man wieder heil zu Hause gelandet ist. Auf der Reise selbst begegnen wir hingegen erstaunlich vielen Störungen, Ärgernissen, Unzulänglichkeiten – und lauter Menschen, auf deren Nähe man gerne verzichtet hätte. In seinen Kolumnen erzählt Dietmar Bittrich von eben diesen Erfahrungen; kenntnisreich, mit viel Witz und hohem Wiedererkennungswert.

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Seitenzahl: 190

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Dietmar Bittrich

Müssen wir da auch noch hin?

Kurze Geschichten vom Reisen

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Können wir uns nicht jetzt schon ein schönes Leben machen?

Reisen macht glücklich. Klar. Zumindest etwas glücklicher als Alltag. Der Blick aufs Meer ist erholsamer als der Blick auf das Haus gegenüber, wo die Leute sich noch immer nicht das Rauchen abgewöhnt haben. Und die Begegnungen in einem orientalischen Basar sind abenteuerlicher als die Begegnungen in unserem Treppenhaus, wenngleich wir zwischen Parterre und drittem Stock seltener übers Ohr gehauen werden. Und das Erklimmen eines alpenfrischen Gipfels macht mehr Spaß als das Zirkeltraining im Fitnessstudio, in dem die Ventilation nie ganz die Ausdünstungen der Mitgeplagten abzusaugen vermag.

Und deshalb fahren wir weg. Um rauszukommen. Um leichter zu atmen. Um den Blick zu erfrischen. Um was Originelleres zu essen. Notfalls haben wir Rescuetropfen dabei. Wir müssen die Sitten und Gebräuche fremder Völker nicht studieren, wie uns das in der Schule eingebimst wurde. Aber ein bisschen Befremden ist ganz schön. Eine Prise Irritation macht wach. Und darin besteht ein guter Teil der Erholung: dass all die ungewohnten Erfahrungen unsere Wahrnehmung beschäftigen. Die Gedanken können nicht mehr um die Schrecken des heimischen Alltags kreisen. Das Staunen beansprucht die ganze Aufmerksamkeit. Was uns zu Hause beschäftigte, hat keinen Platz mehr. Uns bleibt nichts anderes übrig, als genau da zu sein, wo wir laut Therapie oder Philosophie ständig sein sollten: ganz und gar im Hier und Jetzt.

Zumindest in den ersten Tagen in der Fremde. Später kommen auch andere Tage. Und dann gibt es sogar Momente, da möchten wir keine Sekunde länger im Hier und Jetzt bleiben. Etwa wenn sich die Erholung vom heimischen Stress nur darauf beschränkt, dass der Stress ein bisschen anders ausfällt. Wenn wir nicht im morgendlichen Stau auf dem Weg zur Arbeit stecken, sondern im mittäglichen Stau der Leihwagen in Richtung Cap Formentor. Wenn wir statt schlaflos zu Hause zu liegen, weil die greise Witwe über uns nachts die Möbel verschiebt, nun in einem südlichen Badeort schlaflos uns wälzen, weil es so heiß ist und weil im Nachbarhotel bis fünf Uhr früh gefeiert wird. Anschließend lärmen die Gäste unter unserem Fenster weiter. Und dann können wir auch schon aufstehen.

Es klappt nicht immer mit dem Glück auf Reisen. Irgendwas wird schon stören. Natürlich nicht, solange wir uns den Ferienort lediglich vorstellen, solange wir durch Webseiten klicken und uns im Halbschlaf die Bilder ausmalen. Auch im Rückblick stört rein gar nichts, wenn wir uns gegenseitig die Erinnerungen wachrufen oder Freunde mit reichhaltigen Übertreibungen beeindrucken. Doch live, unterwegs, mischt sich häufig eine grummelnde Unruhe ins Erleben. Wird es klappen mit dem Anschluss? Liegt das Zimmer auf der richtigen Seite? Kommt das Essen heute noch? Und müssen wir neben diesen Leuten sitzen?

Wir sind störanfälliger in der Fremde. Ohne das Polster der Gewohnheiten erleben wir uns in guten Momenten als jovialer, großzügiger, neugieriger, in anderen als nervöser, unsicherer und verzagter.

Den Slogan von der schönsten Zeit des Jahres haben nicht wir erfunden. Doch er treibt unsere Phantasie an und hält die Erwartungen hoch. Der Urlaub soll die erlebnisreichste, erfüllendste, zugleich entspannendste Zeit sein. Es ist wie mit Weihnachten als dem Fest des Friedens und der Liebe. Die Wirklichkeit kann den Ansprüchen nicht genügen.

Das wissen wir. Und trotzdem. Wir müssen los. Wir sind auf der Suche nach dem Glück, und das muss anderswo sein. Da, wo die Pinien stehen oder wo die Wellen gegen die Klippen schlagen oder wo die Wüste uns mit ihrer Stille umfängt.

Alles Leiden des Menschen kommt daher, dass er nicht ruhig auf seinem Zimmer bleiben kann, notierte der Philosoph Blaise Pascal. Es wurde sein meistzitierter Satz. Zu noch mehr Ruhm hat es ein antiker Kollege gebracht, der ruhig und gelassen in seinem Zimmer blieb, in seiner Bretterbude, seiner Tonne: Diogenes. Bekanntlich bekam er Besuch vom viel reisenden Alexander. Der war bereit, dem genügsamen Philosophen einen Wunsch zu erfüllen. Diogenes soll geantwortet haben: Geh mir nur ein bisschen aus der Sonne. Worauf Alexander laut Überlieferung seufzte: Könnte ich nur wie dieser Mann so bedürfnislos an einem einzigen Ort zufrieden sein!

Konnte er nicht. Und können wir auch nicht. Wollen wir auch gar nicht, vorläufig! Wir erzählen uns nur gern solche Weisheitsgeschichten vom inneren Frieden und glücklicher Einfachheit. Da nicken wir und liken. Wir teilen die Reiseanekdote, die über denselben Alexander und seinen Hofnarren erzählt wird. Der zufolge fragte der Narr den König: »Exzellenz, da Ihr Euch nun Griechenland und Kleinasien unterworfen habt, was wollt Ihr als Nächstes tun?« – Alexander antwortete: »Syrien und Palästina sind dran und werden leicht zu erobern sein.« – »Und danach?«, forschte der Hofnarr. – »Danach erobern wir Ägypten!« – »Und nach Ägypten, Herr?« – »Da ziehen wir nach Persien und plündern Persepolis!« – »Ah! Und kommt womöglich noch etwas?« – »Aber ja! Wir besiegen Afghanistan und erobern Indien!« – Der Hofnarr hakte vorsichtig nach: »Und was erwartet Ihr als Lohn für all Eure Siege?« – »Ganz einfach!«, frohlockte Alexander. »Am Ende lassen wir uns nieder und machen uns ein schönes Leben!« – Worauf der Narr zu bedenken gab: »Können wir uns nicht jetzt schon ein schönes Leben machen?«

Nein. Ging nicht. Geht nicht. Alexander konnte das nicht. Wir könnten es natürlich. Aber wir tun es ebenfalls nicht. Wir wollen keine Meister der häuslichen Genügsamkeit werden. Wir bleiben lieber Reiseweltmeister. Wir machen es wie der eroberungsfreudige König, bleiben allerdings friedfertig und hundertprozentig umweltschonend. Nachhaltig, energiebewusst, verpackungsfrei und in vollendeter Harmonie mit Natur und Kosmos haken wir ein Land nach dem anderen ab. Ach, übrigens Natur: Alexander fing sich in Indien etwas ein, einen Virus oder eine bakterielle Infektion. Was immer es war, er wurde es nie wieder los. Ganz im Gegenteil. Friede den Mineralien, zu denen er geworden ist. Wir werden das besser machen.

Die London School of Economics hat eine sonderbare Studie veröffentlicht zum Verhältnis von Glück und Reisen, eine Studie, in der die Gewohnheiten verschiedener Völker verglichen wurden. Demnach sind die glücklichsten Völker ausgerechnet diejenigen, die überhaupt nicht reisen. Die Isländer gehören dazu, die Thai und eine Anzahl kleinerer Völker, deren Namen uns völlig fremd sind, denn sie lagen bislang nicht auf unserer Reiseroute. Die Londoner Forscher sind sich nicht einig über den kausalen Zusammenhang von Glück und Reisen. Offenbar reisen diese Völker nicht, weil sie bereits glücklich sind, da, wo sie wohnen. Oder es ist anders: Sie sind glücklich, weil ihnen so viele enttäuschende Reiseerlebnisse erspart bleiben. Freilich wissen sie nicht, was ihnen erspart bleibt, es sei denn, sie haben dieses Buch gelesen. Am wahrscheinlichsten scheint die dritte Erklärung: Diese Leute behaupten nur deshalb, dass sie glücklich sind, weil sie sich das Reisen nicht leisten können. Die Armen!

Wahr ist aber wohl, dass Einwohner entspannter Länder wenig oder gar keinen Urlaub benötigen. In einem dicht besiedelten Land wie unserem ist das Grundrauschen der Unzufriedenheit lauter. Um ihm zu entkommen, reisen wir. Und der kleine Trick gelingt! Sobald der Flieger abhebt oder der Zug aus dem Bahnhof gleitet, sobald wir im Auto die Stadt hinter uns gelassen haben oder vom Parkplatz losgewandert sind, fühlen wir uns schon leichter. Beinahe sind wir schon frei. Was später kommt, unterwegs oder am Reiseziel, das ist – nun ja, zumindest im Rückblick ist es lustig! Und zuweilen richtig abenteuerlich. Und absolut erzählenswert. Und davon handelt dieses Buch.

Steinhuder Meer wird nicht reichen

Es gibt diesen Spruch: Wohnen, wo andere Urlaub machen. Das trifft nicht gerade auf unsere Straße zu. Wohl auch nicht auf den Stadtteil. Aber in der näheren Umgebung ist es recht lauschig. Wir müssten nicht Hunderte oder Tausende von Kilometern zurücklegen, um uns zu entspannen und uns wohlzufühlen. Wir könnten uns erholen, ohne Unmengen von Feinstaub oder Kerosin zu verteilen. Wir könnten einfach die Landschaften in der Nähe erkunden. Wir müssten nicht in einem empfindlichen Urlaubsland die Natur ruinieren. Wir würden uns darauf beschränken, sie bei uns zu ruinieren.

Aber, nein, das geht nicht. Wir müssen weiter weg. Denn wir haben ein Problem. Und das sind unsere Freunde und ihre glanzvollen Traumreisen. Aschenbergs beschicken uns alle paar Wochen mit Selfies vor besonnten Sehenswürdigkeiten. Jetzt gerade lehnen sie an der Reling einer handgebürsteten Jacht oder stehen bis zum Nabel im Pool und liften das Sektglas, ohne dass es ihnen peinlich zu sein scheint. Demnächst wollen sie Spiegeleier an der heißen Flanke eines hawaiianischen Vulkans braten und mit einem Pelikan in seinem unverfälschten Biotop schnäbeln.

Natürlich gönnen wir ihnen das, ist ja klar. Aber noch viel mehr ärgern wir uns. Wieso können die es sich leisten, unablässig unterwegs zu sein? Wenn sie mal vorübergehend zu Hause Station machen, wollen sie gleich eingeladen werden, um von ihren exotischen Highlights zu berichten und unseren Bildschirm für ihre Fotos zu missbrauchen.

Mit Flottaus ist es kaum besser. Wenn ihre Nummer im Display auftaucht, wissen wir schon: Die wollen sich jetzt fernmündlich für ihren Wagemut bewundern lassen. White Water Rafting, Nepal Trekking, Powerkiten am Zuckerhut. In der Antarktis, beim Übersetzen von der Expeditionsjacht zu den Kaiserpinguinen ist glatt einer vom Schlauchboot ins Polarmeer gerutscht. Volker konnte ihn gerade noch herausfischen. Ist jetzt auch schon wieder ein paar Wochen her.

Gestern sind sie über die Harbour Bridge in Sydney spaziert. Nicht bürgerlich auf dem Streifen für Fußgänger neben dem rauschenden Verkehr. Sondern oben im Brückenbogen, mit Kletterhelm und Seilsicherung, unter Führung eines wettergegerbten Bridge Climbers. »Ist ja irre!«, äußern wir höflich. Sogar ein Zertifikat haben sie bekommen, ist aber noch nicht gerahmt. »Ihr müsst euch das vorstellen«, erklären sie uns, »wie diese Stockholm Roof Tour, die kennt ihr ja!« – »Ach so, ja, klar«, stottern wir. Stockholm Roof Tour? Was ist das denn schon wieder? »Aber dieser Bridge Climb hier, der ist noch viel besser«, ereifern sie sich, »den müsst ihr unbedingt auch mal machen!« – »Setzen wir gleich auf die Liste!«, versprechen wir. – »Oder«, forschen sie, »was habt ihr vor?«

Ja, was eigentlich? Mit dem Fichtelgebirge können wir jetzt jedenfalls nicht kommen. Auch Ahrenshoop, Oberes Donautal oder Wetterstein fallen aus. Südtirol, Dänemark, Amsterdam, das würde alles nicht reichen. Theoretisch schon. Klar. Warum sollen wir nicht zu unserer klimafreundlichen Bescheidenheit stehen? Ganz einfach: weil unser Selbstbewusstsein dafür nicht ausreicht. Wir sind nicht frech genug, nicht aufmüpfig, nicht widerborstig genug. Wir fühlen uns unangenehm genötigt, beizeiten etwas halbwegs Spektakuläres entgegenzusetzen. »Wir sind gerade noch in der Planung!« Das muss erst mal genügen.

Alles Übel beginnt mit dem Vergleichen. Das wissen wir. Und können es trotzdem nicht lassen. Bereits während unserer harmlosen Kreta-Rundfahrt beginnen wir zu überlegen, was wir später erzählen wollen, was wir jetzt schon posten und was wir wohl besser verschweigen. Wir werden keine Essensfotos herumbeamen, das ist schon mal hundertprozentig klar. So banal sind wir nicht. Aber dann sieht der Oktopus doch so eigentümlich aus, dass wir unser Smartphone bemühen, und der Wein funkelt so elegant vor dem Libyschen Meer, dass wir es einfach dokumentieren müssen. Ja. Es ist nicht zu ändern. Wir posten Essensfotos. Wir sind einfach nicht so originell, wie wir in unserer Blütezeit dachten.

Und wovon wollen wir später berichten? Von der schmalen Schotterpiste am Steilhang und der Konfrontation mit dem Kieslaster, der partout nicht zurücksetzen wollte? Oder lieber von den zauselig vergreisten Hippies in der einsamen Bucht mit ihren Wäscheleinen im Höhleneingang? Sollen wir den grünlichen Bewuchs an der Wand des Pensionszimmers verschweigen oder macht er uns zu bewundernswerten Märtyrern? Und wie ist es mit unseren kulinarischen Reinfällen? Der Wirt am Marktplatz hat uns gleich zu Freunden ernannt, aber das hat er dann eigentlich mit jedem gemacht. Und geschmeckt hat es nie.

Es ist leider so, dass wir selten gut abschneiden bei unseren Reiseberichten. Unsere Hotels, unsere Flüge, unsere Fähren sind nicht das, was sie sein könnten. Unser Wetter, unsere Mitreisenden, unsere Guides, unsere Fernblicke, unsere Gipfelkreuze, unsere Brandungswellen, unsere Vorspeisen, Hauptspeisen, Nachspeisen, selbst unsere Sonnenuntergänge fallen merklich ab gegen die glücklichen Genussfahrten unserer Freunde. Wieso haben die immer gutes Wetter? Während sie sich sonnten, von lauen Lüften umfächelt, setzte sich über uns ein Tiefdruckgebiet fest und regnete langmütig ab. Erst am Abreisetag klarte es auf.

»Nach der Rückkehr ist man ja immer ein bisschen gerädert«, lächeln wir müde. Das können sie nun überhaupt nicht verstehen. »Wieso denn das? Also, unsere Erholung wird noch Jahre vorhalten! Gott, was haben wir für Energie getankt! Ja, erzählt mal, und ihr seid fix und fertig?« Womöglich machen wir ewas verkehrt. Dank unseres Hotelzimmers haben wir immerhin erstmals begriffen, was eine Hausstauballergie ist. Obendrein raschelte es hinter den Fußleisten, und nachts rollte sich die Tapete von den Wänden. Unsere Freunde lächeln milde. Sie wurden per Upgrading in die Präsidentensuite umgebucht. Sie können es sich selbst nicht erklären, »vielleicht waren wir dem Direktor so sympathisch«.

Während wir die Reisesaison unterschätzt hatten und kaum ein stilles Plätzchen fanden, war auf ihrer ganzen Reise von Rummel nichts zu merken. Nirgends Warteschlangen, keine besetzten Tische. Strand und Pool hatten sie praktisch für sich allein. Wo immer sie auftauchten, war man glücklich, sie zu sehen. Auf dem Schiff wurden sie an den Kapitänstisch gebeten. »Der wollte sich mal niveauvoll unterhalten, hat er gesagt.« Das Essen hatte fünf Sterne, nur reiste der Koch am letzten Tag ab, schade für alle, die nach ihnen kamen. Als sie die berühmte Kathedrale betraten, herrschte vollkommene Stille, niemand sonst hielt sich dort auf, aber auf einmal hob auf der Empore der Chor an zu singen, nur für sie, und dazu brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken und leuchtete durch die alten Fenster. »Es war mystisch!«

Wir knirschen leise mit den Zähnen. Unsere Kathedralen waren ausnahmslos eingerüstet, drinnen schoben sich desinteressierte Rentner durch die Bankreihen, aus der Krypta roch es nach Verwesung, und der Steinfußboden hauchte morbide Kälte aus. »Tatsächlich?«, bemitleiden uns die Freunde. »Das ist ja schade. Wir hatten es rundum gut!« Egal, was sie erlebt haben, es war wie speziell für sie arrangiert. Sie schütteln verwundert den Kopf. »Wir wissen selbst nicht, warum es immer so gut für uns läuft.« Die Berge schimmerten. Das Wasser hatte die perfekte Temperatur. Die Stadt wirbelte fröhlich und abgasfrei um sie herum.

Mit ihrem geschmeidigen Leihwagen, ebenfalls ein kostenloses Upgrade, waren sie die Letzten, die noch auf die Fähre gelassen wurden. »Alle hinter uns mussten zurück und sich eine Übernachtung suchen.« Die Tempelanlagen von Angkor Vat hatten sie zu ihrer Überraschung ganz für sich allein. »Keine Ahnung, wo die anderen Leute alle waren.« In Disneyland wurde die Sperre direkt hinter ihnen zugeschlossen. Genau umgekehrt wie bei uns: Nach stundenlangem Anstehen wurde direkt vor uns dicht gemacht, wegen technischer Probleme. Wir bekamen einen Gutschein für einen Zeitraum, in dem wir ganz bestimmt nicht noch mal anstehen würden.

Aber haben sie nicht einen einzigen Tag trübes Wetter gehabt? Eigentlich nicht, nein. Doch, ja, aber nur an dem Tag, an dem sie sowieso ins Metropolitan Museum gingen. Während der Zeit soll es draußen geregnet haben. Und bei näherem Nachdenken, ja, ein paar, die mit ihnen reisten, die hatten Pech. Einer setzte das Mietcabrio gegen einen Poller, eine Dame wurde beklaut, eine weitere trat in einen Seeigel, einer verdarb sich den Magen, für die benachbarte Gruppe waren die Koffer nicht mitgekommen, etliche litten bis zum Ende unter der Zeitumstellung, und bei der Studienfahrt kam es zu Knöchelbrüchen zwischen antiken Säulenresten, Schlaflosigkeit in stickigen Zimmern und verpassten Anschlüssen.

Aber nicht bei unseren Freunden. »Wir haben ja immer Glück, wir wissen auch nicht wieso.« Wir wünschen ihnen nur das Beste, selbstverständlich, aber offenbar ist unser Wünschen ja nicht mehr vonnöten. Kleinlaut schildern wir unsere Whale-Watching-Tour. Es war die falsche Zeit, zu spät im Jahr oder zu früh. Bereits in den Tagen vor uns hatten Neugierige sich vergeblich über die Reling gelehnt. Wochenlang war nicht mal eine Schwanzflosse zu sehen gewesen. »Was?!« Unsere Freunde können das nicht glauben. »Also, als wir kamen, tauchte eine ganze Herde auf und vollführte die tollsten Sprünge und unglaublich kunstvolle Spiele. Der Ranger hat selbst gestaunt, so was hat er noch nicht erlebt, hat er gesagt.«

Es ist halt so, wenn unsere Freunde unterwegs sind. Der Landbevölkerung leuchten die Augen, wenn sie ins Dorf kommen. Ungläubig vor Staunen berührt man ihre Kleider. »Das ganze Dorf hat um unseren Wagen rumgestanden. So was hatten die noch nie gesehen.« Im finnischen Blockhaus kam jeden Abend ein Elch, um sein Geweih an ihrer Tür zu scheuern, offenbar eine Liebesbekundung. »Die Einheimischen halten das für ein Glückssymbol.« Auf der Safari tappten Löwen um ihr Zelt und schnaubten freundlich in den Eingang. »Und als wir in den Great Plains aufs Kliff traten, auf diese Abbruchkante bei Fort Macleod, just in dem Moment galoppierte unten eine Büffelherde vorbei, wow, und die Erde bebte!«

So was werden wir möglicherweise nie erleben. Wir können uns nur für andere freuen. Unsere Freunde haben noch den Duft der Lavendelfelder von Valensole in der Nase. Als wir dorthin kamen, war alles abgeerntet, aber der Dieselgeruch der Trecker hing noch in der Luft, immerhin. Und dann kam der Mistral und pustete und brauste und schwemmte fast unser Häuschen weg. Unsere Freunde haben so ein Unwetter auch mal erlebt, »die Straße wurde zum reißenden Wildbach«, und der Mann hat bei der Gelegenheit rasch ein altes Mütterchen über die Straße getragen. »Gott, war die dankbar!« Sie finden immer gleich Kontakt zu den Menschen. Von den einfachsten zu den edelsten Schichten. Man mag sie einfach. Wir hingegen fremdeln. Vielleicht sollte uns doch das Steinhuder Meer reichen oder der Schwarzwald?

Celebrities sind unseren Freunden so was von gleichgültig, aber wie der Zufall es wollte, fuhr gerade die kleine Kolonne der Königsfamilie vorbei, als sie in Stockholm die Straße überqueren wollten, in der Gamla Stan. »Viktoria erkennt man ja sofort an diesem Kinn, aber die war echt freundlich, die hat uns ganz lieb zugewunken.« Und als sie in London in der Lounge saßen, fing ein einsamer Gast ein Gespräch mit ihnen an. »Er war wohl Schauspieler, Colin Firth oder so, ich weiß nicht, kennt ihr den? Soll einigermaßen bekannt sein, aber wir sehen ja nie fern. Na ja, der hat uns eingeladen, mit seinem Chauffeur einen Ausflug zu machen. Im nächsten Jahr sollen wir auf seinem Schloss wohnen.«

Wir ringen uns durch zu einem schlaffen: »Ist ja echt cool.« Noch mehr würden wir uns allerdings freuen, wenn sie mal mit einem verstauchten Fuß heimkehren würden. Muss ja gar nichts Schlimmeres sein. Oder wenn einer ihrer Reisegefährten ihre größten Flops und Pannen mitfilmen und ins Web stellen würde. Bis dahin müssen wir wohl selbst auf Glückssuche gehen.

Und Sie wollen schon los?

Tatsächlich? Sie haben das Ticket bereitgelegt? Den Nachbarn Bescheid gesagt? Die Koffer gepackt? Sie verreisen wahrhaftig? Schön. Schön für Sie. Und mehr noch für uns. Jetzt werden Sie uns keinen Parkplatz mehr wegschnappen. Sie stehen im Supermarkt nicht mehr mit überfülltem Korb vor uns in der Schlange. Es wird überhaupt keine Schlange mehr geben. Wir kommen spät ins Kino und finden trotzdem einen Platz ohne Sichtbehinderung.

Danke, dass Sie verreisen. Sie werden es uns bitte nicht verübeln, dass wir die spärliche Post lesen, die aus Ihrem Briefkasten ragt. »Verspätungszuschlag und Zwangsgeld«, aha, gar nicht mal uninteressant. Ach, und falls Sie uns den Schlüssel anvertrauen, zum Blumengießen, dann dürfen wir ein bisschen bei Ihnen stöbern, ja? Das geschieht aus rein mitmenschlichem Interesse, also falls mal was ist, nur damit wir wissen, wo die wichtigen Dinge sind. Ihre Passwörter werden ja nicht so kompliziert sein. Andernfalls sind die hoffentlich auf einem Zettel in der Schublade notiert. Nur zur Sicherheit. Kann ja mal nötig sein. Auch im Sinne Ihrer Erben.

Einbruchsversicherung haben Sie? Dann nehmen Sie vertrauensvoll Abschied. Wir entspannen uns zu Hause. Ihnen sei Dank. Die Stadt wird leer. Wird still. Wird der ideale Urlaubsort. In diesen ruhigen Vierteln brauchen wir keine Auslandskrankenversicherung. Keinen Schutzbrief, um notfalls mit dem Hubschrauber ausgeflogen zu werden. Wir brauchen nicht mal einen Pass.

Ihre Impfungen gegen Typhus, Hepatitis, Gelbfieber haben Sie absolviert? Die Beipackzettel lesen Sie besser nicht. Warum sich doppelt ängstigen? Nehmen Sie einfach allen Mut zusammen. Und machen Sie sich bitte keine Sorgen über Tiere, die sich von der Decke herunterlassen. Da, wo Sie hinfahren, gehört das zum authentischen Erlebnis. Wir hier zu Hause, wir drücken Ihnen jedenfalls die Daumen, dass Sie alles heil überstehen oder zumindest mit dem Leben davonkommen. Wir werden uns hier jedenfalls weder an verseuchtem Wasser infizieren noch an Kolibakterien im Salat. Kein tropischer Virus wird sich bei uns einnisten. Wir machen uns keine Gedanken über das Alter von Chartermaschinen, über die Herkunft der Risse in den Tragflächen oder die Weltanschauung des Piloten. Unser Koffer fliegt nicht versehentlich nach Kasachstan. Er wird auch nicht eingedrückt oder von räuberischen Packern geleert. Er ruht total relaxed auf dem Schrank.

Und während Sie sich wundern, wieso der Euro im Ferienland so viel weniger wert ist als bei uns, oder sich mit fremden Münzen und schweißgetränkten Scheinen herumschlagen und bis zum Urlaubsende die Umrechnungstabelle nicht kapieren, bezahlen wir ganz gemütlich in heimischer Währung. Wir müssen auch nicht so tun, als wären wir keine Touristen. Wir sind es tatsächlich nicht.

Sie wollen sich sonnen? Machen wir auch. Unsere Haut jedoch kann durchatmen. Wir müssen sie nicht mit überdosierten Nanopartikeln verschmieren, die dann als Mikroschadstoffe teils in der Blutbahn, teils im Meer landen. Aber, bitte, gute Reise Ihnen! Wir erholen uns unterdessen. Uns zwingt niemand, Kirchen, Klöster und Tempel zu bestaunen. Wir müssen uns nicht anhören, welcher geistesgestörte Fürst oder Bischof unter welcher Grabplatte liegt. Wenn wir aus dem Bus steigen, werden wir nicht von dreisten Händlern mit Tüchern, Ketten und Nippesfiguren bedrängt.

Aber fahren Sie nur! Und, inständige Bitte, versuchen Sie, sich zu freuen! Wir brauchen uns nicht darüber zu ärgern, dass die Restaurants miese Tourimenüs auf den Tisch knallen und der Kellner die Rechnung fälscht. Wir müssen keine WhatsApp-Nachrichten an Leute schreiben, die uns ohnehin nichts bedeuten. Wir brauchen keine Fotos zu posten. Stattdessen freuen wir uns auf die Peinlichkeiten, die Sie online stellen.

Also nur zu! Wir kriegen keinen Jetlag. Wir brauchen nicht mal unsere Uhr umzustellen. Unsretwegen wird kein ozonschädigender Treibstoff ins Ozonloch gepustet und kein Fäkalientank ins Meer geleert. Ohne den Finger zu krümmen, machen wir uns um unsere kostbare Erde verdient. Wir retten die Umwelt. Es sei Ihnen aber gegönnt, wenn Sie meinen, Sie müssten sie unterdessen verschmutzen. Dafür brauchen wir uns nicht in Bus, Flugzeug, Hotel oder Restaurant mit Leuten unter unserem Niveau abzugeben. Bitte erledigen Sie das.

Und, noch einmal dieser dringende Herzenswunsch, bemühen Sie sich, es trotzdem – wenigstens zeitweise – zu genießen! Versuchen Sie zu entspannen. Denken Sie nur rechtzeitig daran, Ihre Liege am Pool mit dem Handtuch zu markieren. Wir zu Hause brauchen das natürlich nicht. Sie müssen in aller Frühe zum Strand hetzen, um noch einen Platz zu ergattern. Wir bleiben dann mal ganz abgeklärt hier sitzen. Und während Sie vom Geplärre fremder Boomblaster genervt werden, lassen wir unsere heimische Anlage powern.