Mut zur Klarheit - Birke Elia Milan - E-Book

Mut zur Klarheit E-Book

Birke Elia Milan

4,7

Beschreibung

Ohne Vorwarnung werden die Leser in einen Strudel der Ereignisse hineingezogen, erleben, wie die Protagonistin Sina auf die rätselhafte Mail eines Unbekannten reagiert und innerhalb von drei Tagen ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt. Authentisch und lebendig enthüllt sich den Lesern Sinas Ringen mit ihrer Ambivalenz - sie misstraut ihrer inneren Stimme, wird sich selbst untreu, Gefühl und Verstand liegen ständig im Clinch. Um zu einer Entscheidung und sich selbst auf die Schliche zu kommen, ist sie offen für unterschiedliche Methoden, probiert Unbekanntes aus, überwindet innere Widerstände ... Kann es Klarheit ohne den Preis der Wahrheit geben? Eine fesselnde Geschichte, in die sich unaufdringlich kleine Einsichten und Weisheiten hineinweben, präsentiert in einer wunderbaren Mischung aus Unterhaltung, Spannung, Herz und Kopf. "Ein spannendes Buch über ein aufregendes Sujet, packend erzählt in einem ganz besonderen Stil. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen, bis sich alles entwirrt hatte." H. Sommer, Wissenschaftsjournalistin "Äußerst interessante und wunderschöne Gebetsdefinition! Schon allein dafür lohnt sich dieser Roman!" Kommentar aus dem Lektorat von Alexandra Eryigit-Klos "Sehr schöne, tiefsinnige Begründung und Herleitung! Auch sehr anschauliche Ausdrucksweise." Kommentar aus dem Lektorat von Alexandra Eryigit-Klos zu einem Dialog im Buch über Freudentränen "Die Handlung ist spannend aufgebaut, sodass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte. Neben dem unterhaltsamen Wert der Lektüre hat mich die Geschichte sehr inspiriert. Es gibt viele Details und scheinbar kleine Hinweise, die mich zum Nachdenken über mein eigenes Leben und mein Verhalten animiert haben. Dadurch hat mir das Buch wertvolle Anregungen gegeben und mir ein anderes Hinschauen ermöglicht. Ich kann dieses Buch allen empfehlen, die gern tiefgründige Literatur bevorzugen und nicht auf Romane verzichten möchten. Super Lektüre für den Urlaub, lange Winterabende und Zeiten, in denen es unbeantwortete Fragen im Leben gibt." M. Graubner, IT-Mitarbeiterin, Yogalehrerin

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 374

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (16 Bewertungen)
11
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für meine Kinder Sascha, Robin und Sarah

Die Personen und Handlungen dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Eine verwirrende Mail

Eine unglaubliche Geschichte

Die Zeit anhalten

Loderndes Feuer

Zweifel

Beweise

Spiel mit dem Feuer

Eine andere Geschichte

Auf der Suche nach Klarheit

Drei Möglichkeiten

Sieg der Hormone?

Die Vergangenheit meldet sich

La Gomera

Wenn Eifer sucht und findet

Neuer Tag – neues Glück

Tränen der Freude

Glückseligkeit der Delphine

Getrennte Welten

Die Vergangenheit lässt nicht locker

Überraschung

Herz-Verstand-Dialog

Treffen mit dem Ex

Telefonterror

Warteschleife

Gehört Eifersucht zur Liebe?

Liebe, die alles umfasst

Quälende Gedanken

Toni lüftet sein Geheimnis

Die Überraschungen hören nicht auf

Explosionsgefahr

Eine zweite Chance?

Verplappern – Zufall oder Sehnsucht?

Ein letztes Wiedersehen?

Epilog

Eine verwirrende Mail

Montag, 4.10.2010

In Urlaubslaune setze ich mich an den Schreibtisch, fahre den Rechner hoch und öffne das Mailprogramm. Neuerdings rutscht immer mehr Spam durch den Filter, stelle ich genervt fest. Eine Mail von einem unbekannten Absender mit dem Betreff ‚Wir müssen uns treffen' wird sofort gelöscht. In der Vorschau nehme ich gerade noch meinen Namen wahr, interessiert hole ich die Nachricht aus dem Papierkorb zurück. Ein mir fremder Toni schreibt, wir würden uns bisher nicht kennen, doch er müsse sich unbedingt mit mir treffen, es habe mit Wolfgang zu tun.

Verblüfft starre ich auf den Bildschirm. Ausgerechnet heute, am 13. Todestag meines Mannes, meldet sich ein Fremder, der ihn gekannt haben will. Das kann wohl kaum ein Zufall sein! Ich zögere einen Moment, doch dann siegt die Neugier. Aber ich antworte auf diese zweifelhafte, sehr kurz gehaltene Mail ausschließlich mit Fragen: Was er von mir wolle, welcher Art sein Kontakt mit Wolfgang gewesen sei, woher er meine Mailadresse habe.

Wenige Sekunden später erhalte ich seine Antwort. Er verstehe meine Fragen, er werde sie selbstverständlich alle beantworten, doch dies könne nur im persönlichen Kontakt geschehen, gerne könnten wir uns in einem Lokal in der Stadt treffen. Meine sofortige Rückfrage, von welcher Stadt er spräche, wird umgehend beantwortet. „Da ich nördlich von Frankfurt wohne und du in Langen, schlage ich etwas in der Nähe des Mains vor. Zum Beispiel im Break Down in Sachsenhausen.“ Geschockt erhebe ich mich, während die Gedanken wild durch den Kopf wirbeln. Wer ist das? Was hatte er mit Wolfgang zu tun? Woher weiß er, wo ich wohne? Was will dieser Mann von mir? In der Küche zaubere ich mir einen leckeren Milchkaffee mit ordentlich viel Schaum. Die große Tasse zwischen meinen Händen haltend, lasse ich mich im Schaukelstuhl nieder. Auf dem Geländer der Dachterrasse beobachte ich eine Amsel, auf einer großen Tanne zwei streitende Elstern, kleine Wölkchen am Himmel. Ein sonniger erster Urlaubstag, an dem ich noch nichts geplant habe. Abenteuerlust überkommt mich ‒ was habe ich zu verlieren? Mein Vorschlag, sich doch gleich heute zu treffen, wird sofort bestätigt.

Zwei Stunden später betrete ich das vollbesetzte Lokal. Ich suche nach dem vereinbarten Erkennungsmerkmal, einem roten Schal, doch ein Paar braune Augen nehmen mich gefangen, lassen mich nicht los, verfolgen jede meiner Bewegungen. Es war diese starke Anziehung, der ich blind folgte, erst jetzt sehe ich den Schal auf dem Tisch liegen. Also ist er dieser Toni! Auf ihn zugehend, betrachte ich ihn genauer. Er hat ein sympathisches, glatt rasiertes Gesicht, dunkle, kurze Haare, eine schlanke Figur, vermutlich ist er in meinem Alter, vielleicht ein bisschen jünger. Auf dem kleinen Tisch am Fenster steht ein Glas Latte macchiato, schon fast leer. Er steht auf, reicht mir die Hand: „Toni Amtenbrink.“ Ich schüttle sie, während ich mit einem süffisanten Lächeln erwidere: „Ich bin die Frau, die sich durch die rätselhafte Mail eines Unbekannten hierher locken lässt“, und setze mich ihm gegenüber.

Einen Moment lang schauen wir uns wortlos in die Augen, dann ergreift er mit beiden Händen die meinen, spricht mit angenehm tiefer Stimme: „Helga! Schön, dass du gekommen bist. In meiner Nachricht habe ich dich, ohne zu fragen, geduzt, ist das okay?“

Diese Vertraulichkeit ist mir unangenehm, ich entziehe ihm meine Hände. Ausweichend blättere ich in der Getränkekarte, bestelle bei der Bedienung, die gerade an unseren Tisch tritt, eine heiße Schokolade. Toni schlägt vor, ich solle sie mit Schuss nehmen, den könne ich sicherlich noch gut brauchen. Ich ignoriere diese Bemerkung, fordere ihn stattdessen auf, er möge mir endlich sagen, was sein Anliegen sei.

Keine Sekunde hat er mich aus den Augen gelassen. Nachdem er sich geräuspert hat, fragt er mit leiser Stimme: „Noch mal Helga, ist das okay mit dem Du?“

Das gefällt mir, er registriert Grenzen, bleibt dran, sorgt für klare Verhältnisse. „Ja, es ist okay für mich“, antworte ich, „allerdings ist Helga nicht mehr aktuell. Ich verwende diesen Namen schon seit vielen Jahren nicht mehr, stattdessen ...“

Toni unterbricht mich, tippt sich an die Stirn: „Entschuldige, das hatte ich vergessen. Warte!“ Er überlegt fieberhaft. Plötzlich erhellt sich sein Gesicht. Freudestrahlend verkündet er: „Sina!?“ Sprachlos schaue ich ihn an. Woher weiß dieser Mann dermaßen viel von mir? Wieso hat er meinen Namen vergessen? Was will er von mir? Mir ist nicht wohl in meiner Haut. Zum Glück wird gerade die Bestellung gebracht, sodass ich etwas Zeit gewinne. Entgegen meiner Gewohnheit beginne ich danach eine beiläufige Konversation.

„Ist Toni eine Abkürzung oder ist es dein Geburtsname?“

„Nein, in meinem Ausweis steht Anton, aber eigentlich werde ich schon immer Toni genannt. Nur wenn mein Vater ärgerlich war, rief er ‚Anton!‘ Deshalb ist dieser Name für mich negativ belegt.“ Nach einem Kopfnicken nippe ich vorsichtig an dem heißen Getränk, rühre anschließend gedankenverloren in der Tasse. „Darf ich dir jetzt alles erklären?“, unterbricht Toni mein Grübeln.

Ich blicke auf, meine Augen verlieren sich in den seinen. Diese absolute Präsenz fasziniert mich, habe ich sie doch bisher nur mit einem einzigen Mann erlebt. Nach einer langen Weile unseres Augenblicks antworte ich leise: „Ja, bitte.“

Indessen ist ein Feuerwerk in mir losgegangen. Entsetzt frage ich mich, in welchen Kitschroman ich da geraten bin. Zuerst lasse ich alles stehen und liegen, um einen Fremden zu treffen, der nur vage Andeutungen macht, doch damit nicht genug: Von der ersten Sekunde an besteht eine – fast magische – Anziehung zwischen uns.

Eine unglaubliche Geschichte

Tonis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. 1994, kurz vor Ostern, habe er einen Autounfall nur knapp überlebt. Die Verletzungen seien derartig schwer gewesen, dass er ins künstliche Koma versetzt werden musste. Als die Ärzte ihn nach zwei Wochen aufwecken wollten, gelang es ihnen jedoch nicht. Seine Familie und seine Freundin hätten lange Zeit an seiner Seite gesessen, mit ihm gesprochen, ihm vorgelesen, ihm seine Lieblingsmusik vorgespielt. Sie versuchten all das, von dem sie gehört hatten, es könne ihn ins Leben zurückholen.

„Woher weißt du das?“, entfährt mir, „hast du das mitbekommen?“

„Nein“, antwortet er leise, „es wurde mir später berichtet. Ich war bei den Engeln.“ Toni schließt die Augen, scheint weit weg in die Vergangenheit einzutauchen. „Nachdem ich aus der Intensivstation entlassen und körperlich so weit genesen war, wurde ich in ein Heim für Wachkomapatienten verlegt. Da ich keinerlei Reaktionen zeigte, war es für meine Angehörigen immer schwerer, auf meine Rückkehr ins Leben zu hoffen. Zuerst gab meine Freundin auf, danach meine Brüder, letztlich mein Vater. Einzig meine Schwester und meine Mutter besuchten mich weiterhin regelmäßig, sie konnten und wollten mich nicht aufgeben. Doch je länger ich in diesem Zustand verblieb, desto größer wurden die Zweifel, dass sie das Richtige taten. Konnten sie sicher sein, dass ich von all dem nichts mitbekam? Obwohl sie sehr hofften, dass ich eines Tages wieder erwachen würde, fürchteten sie dennoch, jede Stunde, die sie verstreichen ließen, könnte mich in unsäglichen Qualen halten.“

Toni hält inne, sieht mir wortlos in die Augen, als versuche er, in ihnen zu lesen. Ich bin total gebannt von seinen Worten, habe vergessen, was mich hergeführt hat. Er wendet seinen Blick von mir ab, schaut kurz hinaus, starrt anschließend vor sich auf den Tisch. Zögernd fährt er fort: „Über Leben oder Tod eines geliebten Menschen entscheiden zu müssen, ist wohl eine der schwierigsten Situationen, in die Menschen kommen können. Nach unermüdlichem Ringen in endlosen Diskussionen waren meine Eltern – nach über drei Jahren – bereit, Gott die Entscheidung abzunehmen.“ Toni holt tief Luft.

„Das hört sich sehr pathetisch an. Stammt diese Aussage von deinen Eltern?“, frage ich vorsichtig.

„Ja, das hat mein Vater ziemlich wörtlich so gesagt. Er ist ein gottesfürchtiger Mensch. In seinen Augen war seine Bereitschaft, die künstliche Ernährung einzustellen, eine große Sünde. In seinen Augen kam dies einem Mord gleich.“

„Da war er aber sehr hart mit sich.“

„Ja, das war er. Aber im Nachhinein betrachtet verändert sich mitunter die Sicht der Dinge. Wäre ich nach zehn Jahren schwer behindert aufgewacht, hätte er sich Vorwürfe gemacht, weil er mich am Leben erhalten hat. Nun, da ich wieder gesund erwacht bin, fühlt er sich schuldig, die Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen überhaupt in Erwägung gezogen zu haben.“ Er hält inne, löffelt die inzwischen erkalteten Schaumreste aus seinem Glas.

Nachdem ich die Tasse mit der abgekühlten Trinkschokolade geleert habe, ergreife ich das Wort: „Ich weiß gar nicht so recht, was ich sagen soll. Das sind Themen, die gehen tief. Ich bin bewegt und gleichzeitig gehen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Eine solche Entscheidung möchte ich niemals treffen müssen. Die Vorstellung, ich selbst könne in einem Koma gefangen sein, ist allerdings genauso furchtbar. Trotzdem habe ich bisher keine Vorsorge getroffen, dass dies nicht geschehen kann.“

„Wie willst du das denn auch tun?“

Einen Moment lang schaue ich Toni irritiert an, erst nach einer Weile verstehe ich seine Frage: „Ach so, natürlich kann ich nicht verhindern, in ein Koma zu fallen; ich hatte eine Patientenverfügung gemeint. Seit Jahren habe ich ein solches Formular zuhause liegen, doch es überfordert mich. Wie soll ich wissen, welche lebenserhaltenden Maßnahmen im Falle eines Falles bei mir nicht eingesetzt werden sollen? Wann sie richtig und wann sie falsch sein könnten?“ Während dieser Worte schweifen meine Augen zum Fenster hinaus. Die Sonne scheint in den Park auf der anderen Straßenseite, Menschen hasten am Fenster vorbei, Autos hupen, eine Frau mit Kinderwagen überquert die Straße. Mein Blick wandert zurück zu Toni, der in der Karte blättert. „Möchtest du noch etwas bestellen?“

„Nein, ich habe kurz überlegt, doch zuerst möchte ich weitererzählen.“

Auf seinen prüfenden Blick hin nicke ich. „Ich weiß schließlich immer noch nicht, wieso du trotzdem in der Lage bist, mir jetzt gegenüberzusitzen“, sage ich, als mir eine andere, für mich viel wesentlichere Frage, einfällt, „und was das alles mit Wolfgang und mir zu tun hat.“

„Wo war ich denn stehen geblieben?“, überlegt Toni laut, während er versucht, den Faden seiner Erzählung wiederaufzunehmen. „Nachdem meine Eltern sich nun endlich durchgerungen hatten und mit den Ärzten sprechen wollten, überlegte meine Mutter es sich im letzten Moment anders. Sie könne das nicht verantworten, ich müsse einbezogen werden, sie müssten in meiner Gegenwart das Für und Wider laut aussprechen. Obwohl ich nichts würde sagen können, wollte sie dennoch das Gefühl haben, mich an der Entscheidung zu beteiligen, mir eine Chance zu geben. Mein Vater hielt diesen Vorschlag für absolute Zeitvergeudung, doch meine Mutter setzte sich durch, obwohl es ihr selbst absurd vorkam.

Wenige Tage später versammelte sich die ganze Familie, einschließlich meiner Freundin Susann an meinem Bett. Meinem Vater fiel es schwer, ihre Entscheidung in meiner Gegenwart laut auszusprechen. Die Luft war spannungsgeladen. Mühsam suchte er nach Worten: ‚Lieber Toni, heute ist der 4. Oktober 1997 …‘“

Mir entfährt ein Schrei. Dies ist der Todestag von Wolfgang! Bereits als Toni vom Zeitpunkt seines Unfalls berichtet hatte, war ich hellhörig geworden, denn ebenfalls im März 1994 wurden bei Wolfgang die ersten Anzeichen seiner Krebserkrankung sichtbar. Und jetzt taucht in Tonis Geschichte auch das Todesdatum von Wolfgang auf! Ich halte die Luft an, sehe Toni mit entsetzten Augen an. Wie wird es weitergehen? Beruhigend legt er seine Hand auf meine. Dankbar nehme ich sie an.

„Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“, durchdringt die Stimme der Kellnerin unsere angespannte, aufgeladene Atmosphäre. Wie aus einem Traum erwachend, schaue ich mich verstohlen um. Ob mein Schrei Aufsehen erregt hat? Die Tische um uns herum sind alle besetzt, doch niemand sieht zu uns herüber, jetzt jedenfalls nicht mehr. Nachdem wir zwei Apfelschorlen bestellt haben, nicke ich Toni auffordernd zu, doch in diesem Moment klingelt mein mobiles Telefon.

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragt mein bester Freund Klaus mit aufgeregter Stimme. Das hatte ich völlig vergessen, ich wollte mich schon längst bei ihm gemeldet haben. Klaus ist mein Sicherheitsnetz, falls mit diesem Fremden etwas Schräges laufen sollte.

„Ja, alles ist gut.“

„Und? Was will dieser Kerl von dir?“, fragt er nach. Ich kann deutlich die Anspannung in seiner Stimme hören.

„Das weiß ich noch nicht“, antworte ich wahrheitsgetreu.

„Soll ich doch lieber vorbeikommen? Seid ihr noch im Break Down?“ Klaus ist merklich besorgt. Alles sei bestens, kann ich ihn beruhigen. Während ich das Handy ausschalte, entschuldige ich mich bei Toni für die Störung. Ob ich denn vermisst werde, will er wissen. Soll ich die Karten auf den Tisch legen? Schließlich weiß ich nicht, was dieser Mann von mir will, doch jetzt schnell etwas zu erfinden, das ist auch nicht meine Welt. Ohne meine Beziehung zu Klaus genauer zu erläutern, berichte ich, wie ich mich abgesichert hätte. Soll er doch denken, der Anrufer sei mein Mann gewesen.

Nachdem unsere Getränke gebracht worden sind, frage ich, ob er weitererzählen mag. Einen Moment blicken wir uns schweigend an. Toni wirkt nachdenklich. Es dauert eine Weile, bis er fortfährt.

„Also, mein Vater hatte angefangen, zu mir zu sprechen. Aber ich glaube, er sprach vor allem zu seinem Gewissen. Seine Worte waren in etwa diese:

‚Lieber Toni, heute ist der 4. Oktober 1997. Seit über drei Jahren bist du nun in einer uns unbekannten Welt. Wir haben alles probiert, wovon wir hofften, es könne dich in unsere Welt zurückholen. Doch du hast uns nicht das geringste Zeichen gegeben‘, hier entfuhr seinem Herzen ein tiefer Schluchzer und er konnte nicht weitersprechen. Nach einer Weile hatte er sich wieder gefasst und sprach weiter: ‚Du hast auf nichts reagiert. Wir haben keine Ahnung, wie es dir geht, was von dir überhaupt noch vorhanden ist. Wirst du jemals wieder in der Lage sein, zu sprechen, zu denken, zu gehen? Haben wir dich bereits verloren oder bist du in diesem Körper gefangen, kannst wahrnehmen, was um dich herum passiert, doch hast keine Macht über ihn?‘

‚Dann müssen sie seine Gehirnströme genauer messen‘, rief Susann laut aus und stürmte aus dem Zimmer. Die Sprachlosigkeit aller Anwesenden wurde unterbrochen, als sie eine leise, kaum verständliche Stimme hörten: ‚Ich bin Wolfgang.‘“

Unfassbar! Ich kann nicht glauben, was ich da höre, bringe kein Wort mehr heraus.

Toni sieht meine Erschütterung, hält inne, schaut prüfend in meine Augen. Nimmt beide Hände, hält sie, schweigt. Nach einer Weile ergänzt er leise: „Das Wunder war tatsächlich geschehen. Ich hatte die Augen geöffnet. Meine Eltern saßen an meinem Bett, streichelten meine Hände, mein Gesicht. Konnten es nicht fassen, waren überglücklich, warteten auf eine Reaktion von mir. Doch ich schaute sie an wie ein Fremder, erkannte sie nicht, murmelte kaum verständlich immer und immer wieder: ‚Ich bin Wolfgang‘.“

Ich schüttele mich, will aus diesem Traum aufwachen, der keiner ist. Will nicht glauben, was ich hörte, frage, obwohl die Antwort klar ist: „Du hast die Seele von Wolfgang?“ Jetzt machen auch seine Worte Sinn, als er sich wegen meines Namens entschuldigte, sagte, er habe ihn vergessen. Kaum sein Nicken wahrnehmend stehe ich abrupt auf. In mir breitet sich Panik aus: „Ich muss hier raus!“ Toni bestärkt diesen Impuls, sagt, ich solle schon mal hinausgehen, er werde sofort bezahlen und nachkommen.

Draußen vor der Tür nimmt er meinen Arm, führt mich schnellen Schrittes in Richtung Park. Ich zwinge mich dazu, die Aufmerksamkeit auf die Umgebung zu richten. Die Sonne scheint, der Wind raschelt in den Blättern, ich beobachte Vögel im Flug. Bewusst atme ich tief in meinen Bauch, fülle ihn mit Luft, konzentriere mich darauf, wie der Atem aus- und einströmt. Danach richte ich den Fokus auf meine Füße, nehme die Erde unter ihnen wahr. Ich möchte mich flach auf die Erde legen, Halt finden. Toni hält Ausschau nach einem geschützten Platz, breitet fürsorglich seine Jacke aus. Dankbar lege ich mich auf die Unterlage, spüre die Erde, schaue in den Himmel, bin froh über das trockene, warme Wetter.

Toni versucht mich zu beruhigen: „Sina, lass dir Zeit. Für das, was du jetzt im Zeitraffer gehört hast, brauchte ich Jahre. Es dauerte Monate, bis ich eine Ahnung davon bekam, wer ich sein könnte, bis ich zu recherchieren begann, wer dieser Wolfgang gewesen war. Nach ungefähr zehn Jahren fing ich an, nach dir zu suchen, du aber hast dies alles innerhalb von wenigen Minuten im Zeitraffer erfahren, kein Wunder, dass es dich umhaut.“ Während Tonis Stimme an mir vorbeirauscht, wirbeln die Gedanken wild durcheinander. Wo bin ich da plötzlich hineingeraten? Da taucht ein Fremder auf und erzählt mir, mein verstorbener Mann habe sich in ihm inkarniert. Obwohl ich an Wiedergeburt glaube – diese Situation hier ist einfach unfassbar! Was hatte er vorhin gesagt? Er habe vergessen, dass ich den Namen Sina angenommen habe? Vergessen?

Hat eine Seele ein Gedächtnis? Die Erinnerungen sind im Gehirn gespeichert, dieses stirbt aber mit dem Körper. Wie also will Toni sich erinnern? Ein Zweifel nach dem anderen rast durch meinen Kopf, da fällt mir der Dalai Lama ein. Ich habe einen Film gesehen, in dem gezeigt wurde, wie die Mönche das Kind ausfindig machten, in welchem sie die erneute Inkarnation des Dalai Lama vermuteten. Sie stellten es auf die Probe, indem sie ihm verschiedene Gegenstände vorlegten und das Kind sich daran erinnern sollte, welche davon dem verstorbenen Dalai Lama gehört hatten. Damals fand ich das nachvollziehbar, doch jetzt – wo mein eigenes Leben betroffen ist – stellt es mich vor ein Rätsel. Aber – selbst wenn mein Verstand diesen Vorgang nicht begreift – wenn es in Tibet funktioniert, warum nicht ebenso in Deutschland? Diese Gedanken beruhigen mich etwas, während Tonis Worte an mir vorbeiziehen, wie das Rauschen eines dahinplätschernden Gebirgsbaches. Eine bleierne Müdigkeit befällt mich, ich kann die Augen kaum offen halten.

Plötzlich zucke ich zusammen. Die Worte: „Ganz ruhig, du bist eingeschlafen“ jagen mich in die Senkrechte. Jetzt erinnere ich mich – diese Stimme, das ist Toni – nein, Wolfgang – nein, ein Fremder. Verwirrt lege ich mich erneut hin, höre die Rufe tollender Kinder, sehe Wolken am Himmel vorbeiziehen. Erschöpft schließe ich wieder die Augen. Diese Geschichte hat mich tief erschüttert. Trotz des kurzen Schlafes, der mich sonst immer erfrischt, bin ich ebenso fertig, als hätte ich körperliche Schwerstarbeit geleistet.

Jetzt habe ich genug gehört, das muss erst einmal verdaut werden. Doch – möchte ich wirklich nach Hause fahren? Nein, ich möchte jetzt nicht alleine sein. Ich spüre die körperliche Nähe von Toni, sie ist angenehm, übt eine starke Anziehung, ein schon fast schmerzliches Bedürfnis nach Berührung in mir aus. Die Lider öffnend, schaue ich geradewegs in Tonis lächelnde Augen und einladend breitet er seine Arme aus. Ohne zu zögern, rolle ich mich zu ihm hinüber, kuschle mich an ihn, während seine Arme mich von hinten umschlingen, als wollten sie mich nie wieder loslassen.

Die Zeit anhalten

Ein Seufzer entweicht meiner Seele, ich bin zuhause. In meinen Haaren flüstert Tonis Stimme: „Wie sehr ich das vermisst habe!“ Danach versinken wir beide in einen Zustand, in dem die Zeit stillzustehen scheint.

Als ich zu frieren beginne, öffne ich die Augen, bemerke erst jetzt die Dämmerung. „Hast du geschlafen?“, frage ich Toni, während ich mich umdrehe, mir den fremden Mann anschaue, mit dem ich gerade in einen Moment der Ewigkeit eingetaucht bin.

„Ich weiß es nicht“, antwortet Toni mit leiser Stimme, langsam zu sich kommend. „Die Zeit hat aufgehört zu existieren. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen solchen Frieden gespürt zu haben.“ Unsere Blicke begegnen sich, lesen in den Augen des anderen. Erneut versinken wir innig ineinander, bis Toni das Wort ergreift: „Bitte, komm jetzt mit zu mir, ich möchte diesen magischen Moment noch eine Weile festhalten. Du brauchst keine Angst zu haben …“, mein Zeigefinger verschließt seine Lippen, während ich mich sagen höre: „Ich habe keine Angst. Wenn ich dir nicht vertraue, wem sonst?“

„Du kennst Toni nicht“, neckt er mich. Nachdenklich betrachte ich ihn. Ja, recht hat er! Wolfgang vertraute ich vollkommen, doch über Toni weiß ich nichts.

Wir erheben uns, schlendern umschlungen durch den Park zurück, während ich ihn frage, wo er wohne. Sein Domizil sei in Geigenwald, seine Pferde stünden da um die Ecke. Dabei zeigt er mit dem Zeigefinger auf eine Baumgruppe, die uns die Sicht versperrt. „Meine scharren mit den Hufen um die andere Ecke“, erwidere ich schmunzelnd. Damit ich unabhängig sei, wolle ich getrennt fahren, erkläre ich wieder ernst. Schweigend umarmen wir einander innig, spüren den pulsierenden Körper des anderen. Es fällt schwer, uns voneinander zu lösen.

Toni gibt mir einen Kuss auf die Stirn: „Kommst du zu meinem Wagen? Ich stehe in einer Einbahnstraße, danach fahre ich vorweg. Ja?“ Nach einem kurzen Nicken löse ich mich.

Als ich im Auto sitze, merke ich, wie wichtig der Abstand ist, mich wieder zu mir bringt und der Verstand die Arbeit wieder aufnimmt. Während ich hinter Toni herfahre, schießen die Gedanken rasend schnell durch meinen Kopf. Bin ich denn von allen guten Geistern verlassen? Was tue ich? Erst sichere ich mich ab, um mich in einem öffentlichen Bistro zu treffen, und jetzt fahre ich im Dunkeln mit einem – letztlich fremden – Mann in seine Wohnung?! Bin ich etwa so naiv, dass ich mir jeden Bären aufbinden lasse? Bloß weil mir jemand was von Wolfgang erzählt, vertraue ich ihm blindlings? Ich weiß nicht, was er wirklich von mir will!

Gleichzeitig gibt es andere Stimmen im Kopf: Vom ersten Augenblick an bestand eine tiefe Verbundenheit zwischen uns, genau wie damals mit Wolfgang. Ich schaute in seine Augen und sah seine Seele. Ich spürte seinen Körper und fand Heimat.

Um diesen inneren Dialog zu beenden, schüttle ich reflexartig den Kopf, greife zum Telefon, um Klaus anzurufen. Zu meinem Glück erreiche ich ihn sofort; allerdings prasselt sogleich ein Wortschwall auf mich nieder: „Gut, dass du anrufst! Für was hast du eigentlich ein Handy, wenn es sowieso immer aus ist? Hab mir schon Sorgen gemacht, weil du noch nicht zuhause warst. Ist alles okay bei dir? Was will dieser Toni denn nun von dir? Was hat er mit Wolfgang zu tun?“

Manchmal nervt es mich, wenn Klaus sich um mich sorgt, doch in dieser total verrückten Situation empfinde ich dies als wohltuend, gibt es mir ein Gefühl der Sicherheit. Soll ich ihn gleich mit der ganzen Wahrheit überfallen oder diese Geschichte lieber in aller Ruhe erzählen?

„Klaus, es ist alles völlig irre. Obwohl du darauf brennst, dass ich dir alles berichte, sollten wir das nicht am Telefon tun. Ich fahre gerade hinter Toni her zu ihm nach Hause. Wenn wir angekommen sind, würde ich dir gerne seinen Nachnamen und seine Adresse durchgeben. Ja?“

Resigniert seufzt Klaus. „Na klar, das ist deine Entscheidung. Trotzdem, ich muss schon sagen, du machst riskante Sachen. Ich kann noch ein bisschen auf die Story warten, aber Hauptsache, du passt gut auf dich auf!“

Kurz darauf bremst Toni und fährt in eine Einfahrt hinein, ein kleines Stück weiter kann ich in eine Parklücke einscheren. Die Straße entlangkommend, sehe ich Toni vor dem Tor zu einem kleinen, nett aussehenden Einfamilienhaus auf mich warten. Gemeinsam betreten wir einen reizvollen Vorgarten, der sich etwas Wildes, Lebendiges bewahrt hat. Einladend öffnet er mir die Tür, doch anstatt das Haus zu betreten, erfasse ich auf einem kleinen Schild den Familiennamen. Als ich Amtenbrink lese, fällt es mir ein, klar, so hat er sich vorgestellt. „Ich komme gleich nach“, rufe ich Toni zu, der verdutzt im Flur stehen geblieben ist, gehe die wenigen Schritte zur Straße zurück, um Klaus anzurufen. Den Straßennamen hatte ich im Vorbeifahren registriert, sodass ich ihm meinen Aufenthaltsort durchgeben kann. Er will wissen, wie lange er auf meine Rückmeldung warten soll, bevor er Alarm schlägt, doch ich antworte, das sei nicht nötig, ich würde mich bei ihm melden, sobald ich auf der Heimfahrt sei.

„Unfassbar! Warum gibst du mir dann überhaupt die Adresse?“, entrüstet sich Klaus.

„Tja, das kann ich dir selbst nicht erklären.“ Ich spüre in mich hinein, erforsche, was meine Absicht ist. „Ich bin total ambivalent“, gebe ich zu, „einerseits spüre ich eine gewisse Unsicherheit – deshalb gebe ich dir die Adresse ‒ und gleichzeitig fühle ich mich sicher. Sorry, ist wohl alles ein bisschen verrückt.“ Das sei es wirklich, bestätigt Klaus.

Loderndes Feuer

Nach dem Gespräch schalte ich das Handy aus, gehe durch die offen stehende Haustür, folge den Geräuschen, die aus einem der Räume zu hören sind. Durch die Diele gelange ich ins Wohnzimmer, welches – wie die Diele – mit hellem Erle-Naturholz eingerichtet ist. Auffallend ist eine große, pastellblaue Sitzecke, die sehr gemütlich und einladend auf mich wirkt. Zu meiner Begeisterung entdecke ich einen offenen Kamin, in dem Toni gerade ein Feuer vorbereitet. Er kommentiert mein Telefonat mit keiner Silbe. Ich frage nach der Toilette, um mich einen Moment sammeln zu können.

Das Ganze ist in der Tat völlig irre. Urplötzlich befinde ich mich im Traumschlösschen eines Traumprinzen. Was geht hier vor sich? Kann das wirklich real sein? Nur in Träumen verändern sich die Dinge derart schnell. Doch da durchzuckt mich ein Gedanke: So war es damals auch bei Wolfgang! Kaum war er in mein Leben gekommen, veränderte sich alles – von einer Sekunde auf die nächste. Und – er ist Wolfgang. Verwirrt setze ich mich auf den geschlossenen Toilettendeckel, bedecke das Gesicht mit den Händen. Heute Morgen war noch ein ganz normaler Urlaubstag, doch in was bin ich da jetzt hineingeraten? Da taucht ein Fremder mit einer magischen Anziehung auf, gepaart mit der Geschichte, Wolfgangs Seele habe sich in seinen Körper verirrt. War es wirklich klug, hierherzukommen? Hätte ich nicht lieber eine Nacht darüber schlafen sollen, anstatt diesem körperlichen Verlangen nachzugeben?

Entschlossen schalte ich das Handy ein, kann Klaus aber nicht erreichen. Seine Mailbox nimmt meine Nachricht entgegen: „Kannst du bitte, wenn ich mich ... tja, wann denn ... sagen wir, bis spätestens morgen Nachmittag 16 Uhr nicht gemeldet habe, hierherkommen? Wenn mein Auto noch wenige Meter nach dem Haus auf der rechten Straßenseite steht, dann klingle bitte an der Tür. Quatsch, wenn der Mann wirklich kriminell ist, darfst du dich nicht ebenso in Gefahr begeben. Dann musst du die Polizei anrufen, nein, verdammt ich habe keine Ahnung. Mach, was du für richtig hältst. Tschüss und vielen Dank.“

Ein tiefer Atemzug. Und noch einer. Das tut gut. Nachdem ich etwas zur Ruhe gekommen bin, erhebe ich mich, erfrische das Gesicht mit kaltem Wasser und kehre einigermaßen gesammelt ins Wohnzimmer zurück.

Toni sitzt entspannt auf der Couch, fragt nicht, warum ich so lange weg gewesen bin. Das hell lodernde Feuer zieht mich an, doch ich lasse mich so nieder, dass ich ihn im Auge behalten kann. Gedankenverloren beobachte ich die Flammen, bis Toni fragt, ob ich etwas essen möchte, Lust auf ein Glas Weißherbst hätte, er habe meine Lieblingsmarke da. Meine Lieblingsmarke, wiederhole ich in Gedanken, während mich ein Schauer durchläuft. Ohne dieses Gefühl weiter zu beachten, erkläre ich, dass ich zwischenzeitlich auf Weißwein umgestiegen sei – wenn ich denn überhaupt Alkohol trinken würde. Dies sei jedoch immer seltener der Fall, insbesondere dann nicht, wenn ich noch Auto fahren wolle. Sofort lästert im Kopf eine Stimme, das wolle ich doch gar nicht. Diese Zerrissenheit fängt an, richtig zu nerven.

„Du kannst gerne über Nacht hierbleiben, es ist Platz genug“, bietet Toni mir an.

„Wo könnte ich denn schlafen?“, frage ich, als sei es mehr aus Höflichkeit denn aus ernsthafter Absicht.

„Du könntest hier auf der Couch schlafen oder in meinem Bett, in dem Fall würde ich Quartier auf der Couch beziehen. Oder du kriegst von mir einen Schlafanzug, dann können wir gemeinsam im Bett schlafen.“ Beide in seinem Bett schlafen? Die Nähe, die wir vorhin im Park teilten, kann ich im Moment nicht mehr spüren, fühle mich ernüchtert, fremd.

„Also, was möchtest du jetzt: Wein, Saft, Wasser oder einen Tee? Und wie sieht es mit einer Kleinigkeit zu essen aus?“

Ich bin mir sicher, mein Zögern ist ihm aufgefallen, deshalb hat er das Thema mit der Übernachtung wieder fallengelassen. Erleichterung breitet sich in mir aus, er bedrängt mich nicht, er lässt mir so viel Zeit, wie ich benötige. „Gerne möchte ich einen Kräutertee trinken.“ Ich kuschle mich in das Schaffell vor dem Kamin. „Weißt du, dass wir solch ein Fell in unserem Bett hatten?“, frage ich ihn, um mich gleich darauf zu korrigieren: „Wolfgang und ich.“

„Ja, daran erinnere ich mich.“

„Ist es für dich, als sei Wolfgangs Leben dein eigenes? Fühlt es sich genauso an? Weißt du alles aus Wolfgangs Leben?“

„Halt, halt“, wehrt Toni ab, „bevor wir jetzt erneut tiefer einsteigen, lass uns doch erst mal die Sache mit dem Essen klären. Hast du nun Hunger oder nicht? Außerdem will ich dir den Tee nicht nur anbieten, sondern auch bringen.“

Oh, offensichtlich bin ich derartig durcheinander, dass ich sogar meinen knurrenden Magen überhört habe. „Eine kleine Mahlzeit wäre super, ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.“

Toni nimmt meine Hand und zieht mich hoch: „Komm mit in die Küche. Wir schauen mal, was sich dort Essbares finden lässt.“ Zuerst folge ich ihm an seiner Hand, doch dann löse ich mich, diese Vertrautheit fühlt sich unpassend an.

„Wow!“, rufe ich beeindruckt aus, als ich die Küche betrete. Ich stehe in einem großen Raum, mit einer Glasfront zur Terrasse, in der Mitte ein mächtiger runder heller Holztisch. Vermutlich ist er, ebenso wie die Küchenfront, aus Ahorn gefertigt. Auf dem Tisch steht ein herrlicher Blumenstrauß, ganz wie mein Herz es liebt: bunt, vielfältig, abwechslungsreich, wild, frohlockend. Genau wie die Natur eine Wiese ausstattet, nicht widernatürlich Ton in Ton oder eng zusammengepresst, wie viele Blumengeschäfte es immer häufiger tun. An den freien Wänden hängen schöne Naturaufnahmen, punktuell, gut dosiert. Eine mit einem großen, sehr alten Baum, eine Berglandschaft und die dritte eröffnet den Blick auf ein tosendes Meer. Ob er diese selbst fotografiert hat? Selten habe ich mich spontan in fremden Räumen dermaßen wohlgefühlt. „Nun“, wende ich mich an Toni, „was geben deine Essensvorräte denn so her?“

Er öffnet die Kühlschranktür. An seiner Seite stehend erkenne ich darin eine beeindruckende Fülle. „Ich bin dafür, ein paar Schnittchen zu belegen, dazu etwas Paprika, Gurken, Radieschen, Tomaten …“ Während er aufzählt, legt er alles auf den Tisch. Ich gehe zu einer Schublade, öffne sie, finde tatsächlich auf Anhieb das gesuchte Messer. Erschreckt über die Selbstverständlichkeit, mit der ich mich in Tonis Küche bewege, wende ich mich an ihn: „Oh sorry, ist das okay für dich, wenn ich mich einfach selbst bediene?“

Zum ersten Mal seitdem wir hier sind, schaut er mir offen in die Augen. Einige Sekunden verharren wir – er vor dem Kühlschrank, ich an der geöffneten Schublade, nur wenige Schritte voneinander entfernt. In diesem Augenblick scheinen wir erst wirklich in diesem Haus, in dieser neuen Situation anzukommen. Mir wird auf einmal bewusst, dass wir uns seit der Ankunft in diesem Haus ausgewichen sind. Toni kommt auf mich zu, sein Gesicht wird weich, er umschlingt mich mit seinen Armen, antwortet leise: „Ich finde das großartig, wenn du dich bei mir wie zuhause fühlst. In der Küche kannst du jede Tür, jede Schublade öffnen.“ Einen Moment stehen wir eng aneinandergeschmiegt, dann frage ich nach einem Brettchen, setze mich damit an den großen Tisch, schneide das bereitgelegte, gewaschene Gemüse, richte es anschließend auf einer Platte schön her. Dabei beobachte ich Toni, wie er Brot mit einem großen Messer von Hand schneidet, um die Scheiben anschließend mit Butter und Käse zu belegen. Beim Öffnen einer Packung mit Schinken schaut er mich fragend an: „Bist du Vegetarierin?“

Das Wort fasziniert mich: „Bist du sicher, dass es eine weibliche Form von Vegetarier gibt?“

„Keine Ahnung, wenn es sie bisher nicht gab, dann habe ich sie soeben erfunden. Also, bist du eine weibliche Vegetarier?“

Ich muss lachen: „Oh je, deutsche Sprache, schwere Sprache. Die klare Antwort ist jein.“ Als ich in Tonis ratloses Gesicht sehe, ergänze ich: „Manchmal ja, manchmal nein. Ich esse selten Fleisch oder Wurst, aber hin und wieder eben schon. Gerade hätte ich Lust auf ein Stück Brot mit Käse und Schinken, zugedeckt mit Pumpernickel. Hast du denn Pumpernickel da?“

Toni geht, leise vor sich hinmurmelnd „Muss ich mal gucken“, in Richtung einer schmalen Tür, die bisher meiner Aufmerksamkeit entgangen war. Neugierig folge ich ihm, um verwundert vor einer Speisekammer zu stehen, wie ich sie aus Kindertagen kenne: „Wo gibt‘s denn so was noch?“ Trocken kommentiert Toni: „Hier.“ Ich schubse ihn mit dem Ellenbogen in die Seite, er schubst zurück und ehe wir uns versehen, sind wir in eine kleine Rangelei verwickelt. Nun ist das Eis endgültig gebrochen. Während wir in gelockerter Stimmung unser Abendessen vorbereiten, erklärt Toni, das Haus habe ein Architekt für sich selbst gebaut. Aus familiären Gründen sei dieser weggezogen, habe es deshalb an ihn vermietet. Aha, denke ich, es ist also nicht sein Eigentum.

Wir gehen mit unseren belegten Platten ins Wohnzimmer, setzen uns auf das Fell vor dem Kamin, um genüsslich all die Leckereien zu vertilgen. Als kein Krümel mehr übrig ist, strecken wir uns der Länge nach aus, um uns – wie selbstverständlich – aneinanderzukuscheln. Ich fühle mich leicht, entspannt und genieße Tonis Nähe. Eine warme Glückswelle durchfließt mich, alle Bedenken sind wie weggewischt. Eine gewisse Trägheit stellt sich ein, woraufhin mir erneut die Übernachtungsfrage einfällt. „Du hast vorhin etwas echt Merkwürdiges gesagt, warum darf ich nur mit einem Schlafanzug bei dir im Bett schlafen?“

„Das ist Trennpolster. Ich habe so lange gebraucht, Kontakt mit dir aufzunehmen, deshalb möchte ich auf keinen Fall, dass wir uns vorschnell zu etwas hinreißen lassen, was wir hinterher bereuen könnten. Total gerne möchte ich mit dir kuscheln, aber der Sex muss ein bisschen warten. Wir brauchen Zeit, um uns kennenzulernen, neu und wieder. Ich will, dass wir uns im Klaren darüber sind, was wir tun, anstatt die Macht der Natur walten zu lassen. Das würde das Chaos noch größer machen. Wir haben auch ohne Sex bereits genug Themen, Aufgaben, Päckchen oder wie immer du das nennen willst.“

Eine solche Einstellung aus dem Mund eines Mannes überrascht mich. Unüblich – doch es fühlt sich richtig gut an! Will ich jetzt tiefer in die Thematik Sexualität einsteigen? Nein, diesen Moment möchte ich voll auskosten und mein kritischer Verstand soll mich dabei in Ruhe lassen! Aus dieser Stimmung heraus treffe ich eine außergewöhnliche Entscheidung – ich bitte Toni um ein Glas Weißherbst. Ich, die ich immer sehr auf Unabhängigkeit bedacht bin, nehme mir die Möglichkeit, nach Hause fahren zu können.

„Du hast mich vorhin nach Erinnerungen an Wolfgangs Leben gefragt“, holt mich Tonis Stimme aus meinem Dämmerzustand, „können wir jetzt darüber sprechen?“

Will ich diesen wohligen Zustand verlassen? Nein, insbesondere nicht für solch schwierige Themen. Da etwas in mir der Meinung ist, ich könne nicht einfach nur faul herumliegen, raffe ich mich auf, allerdings wenig begeistert: „Ja, das ist möglich.“

„Willst du denn darüber sprechen?“, fragt Toni nach, der offensichtlich meinen Unterton wahrgenommen hat.

„Wenn es dir wichtig ist“, höre ich mich einen mir völlig fremden Satz aussprechen, habe ich doch nie diese klassische Frauenrolle eingenommen. Als ich Tonis Unruhe spüre, vermute ich, er würde gerne mehr von mir erfahren, um die Erinnerungslücken aus Wolfgangs Leben zu schließen. Mühsam raffe ich mich auf: „Obwohl ich ungern diesen entspannten, trägen Zustand verlasse, können wir den Faden wieder aufnehmen. Ich hatte dich gefragt, ob du dich an alles aus Wolfgangs Leben erinnerst. Hinterher, in der Küche, dachte ich, die Frage ist blödsinnig. Denn ich erinnere mich doch auch nicht an alles, was in meinem Leben geschehen ist. Außerdem – wenn ich mich nicht erinnere – dann weiß ich doch in der Regel gar nicht, dass das Gedächtnis eine Lücke hat. Ich möchte gerne eine Vorstellung davon bekommen, wie sich das für dich anfühlt, zwei Menschenleben in sich zu vereinen, mir ist das völlig rätselhaft.“

„Tja – ehrlich gesagt – mir auch. Woher sollte ich wissen, was zu Toni und was zu Wolfgang gehört? Ich bin ohne jede Erinnerung, ohne jede Vergangenheit aus dem Koma erwacht. Die ersten Jahre versuchte ich herauszufinden, was für Menschen die beiden gewesen sein mögen, wollte genau wissen, welches Gefühl, welcher Gedanke ist jetzt von Toni, welcher von Wolfgang. Mittlerweile ist es mir gleichgültig, welchen Namen ich aufstemple, ich bin auf der Suche nach meiner eigenen Identität, dafür brauche ich eine Vergangenheit, egal von wem sie ist. Außerdem hast du doch bestimmt auch oft mehrere unterschiedliche Anteile, Widersprüche in dir. Oder?“

„Davon kann ich ein Lied singen“, entgegne ich seufzend. „Manchmal streitet ein ganzes Orchester an Stimmen in mir. Doch zurück zu Wolfgang: Was möchtest du gerne wissen?“

„Im Gegensatz zu dem, was du vorhin gesagt hast, ist mir manchmal eine Lücke bewusst. Zum Beispiel erinnere ich mich an Wolfgangs letzte Nacht. Ich spüre deutlich seinen Abschiedsprozess, in dem ihm immer klarer wird, dass er dieses Leben hinter sich lassen wird. Gleichzeitig aber sieht er einen kleinen Jungen, den er nicht im Stich lassen möchte. Er scheint einen inneren Kampf auszufechten, bei dem ein Teil von ihm den Tod akzeptiert, diesen sogar begrüßt, während ein anderer Teil in ihm den Wunsch hegt, bei seinem Kind zu bleiben, für es zu sorgen und es zu beschützen. In dem Moment, wo er das Unvermeidliche angenommen hat, erwacht er im Körper von …“, Toni stockt, „im Körper von …“ Toni kann es nicht aussprechen, ist sichtlich erschüttert. Ich beginne zu ahnen, was er durchgemacht haben muss. In ihm ist das Leben von zwei Männern gespeichert, bewusst hat er aber wenige Erinnerungen ‒ wie will er da eine Identität entwickeln? Kann ein Körper zwei Seelen haben? „Wie heißt der Sohn von dir und Wolfgang? Wie alt war er, als Wolfgang starb?“ Tonis Fragen holen mich in die Gegenwart zurück.

„Adrian ist damals acht Jahre alt gewesen. Er hat dich morgens gefunden.“

Toni kommen die Tränen: „Wie furchtbar für das Kind! Wie hat er das verkraftet? Wie konnte ich ihm das antun?“ Er unterbricht sich, sieht mich erschrocken, fast entsetzt an: „Dies ist das erste Mal, dass ich von Wolfgang in der Ich-Form gesprochen habe. Ist das komisch! All die Jahre habe ich genau das absichtlich zu vermeiden versucht …“, Toni stockt erneut, „es bringt mich total durcheinander. Manchmal habe ich das Gefühl, ich halte das nicht mehr aus, ich werde verrückt.“

Ich nehme Toni in den Arm, erschüttert weinen wir gemeinsam. Es ist schrecklich verwirrend, kaum zu erfassen, kaum zu verkraften, als ob ein Mensch für solch außergewöhnliche Erfahrungen nicht geschaffen sei. Nachdem unsere Tränen versiegt sind, leeren wir – nur wenige Worte wechselnd – die Flasche Weißherbst. Eng umschlungen schlafen wir vor dem Kamin ein.

Dienstag, 5.10.2010

Der dröhnende Kopf ist das Erste, was ich beim Erwachen wahrnehme, dann den Mann an meiner Seite. Wo bin ich? Die Erinnerungen setzen ein, können mir die Verwirrung jedoch nicht nehmen. Klar, da war zwar der Alkohol, aber die ganze Geschichte lastet deutlich schwerer auf mir. Nach einer kurzen Begrüßung gehe ich unter die Dusche. Dort genieße ich in vollen Zügen, wie das Wasser auf Kopf, Gesicht und die Schultern prasselt, am Rücken, den Armen, der Brust hinunterläuft. Langsam komme ich wieder zu mir. Heute ist Dienstag, der 5. Oktober 2010. Ich bin Sina Langholz, 48 Jahre alt. Von Beruf bin ich Marketingberaterin, arbeite in einem großen Produktionsbetrieb. Mein Mann Wolfgang ist vor 13 Jahren gestorben. Er soll in einem Mann, der im Koma lag, erwacht sein. Dieser Mann heißt Toni, wohnt in diesem Haus. Nachdem ich mich halbwegs sortiert habe, fühle ich mich in der Lage, Toni zu begegnen. Rasch schlüpfe ich in die frischen Kleidungsstücke, die er, zu meiner völligen Überraschung, unbemerkt bereitgelegt hat.

Als ich die Wohnküche betrete, fragt Toni mich, ob ich noch immer schwarzen Tee zum Frühstück trinke würde, das Wasser habe gerade gekocht. Die Frage, ob ich noch immer schwarzen Tee trinken würde, verwundert mich nun nicht mehr dermaßen wie sein Erinnern an meinen neuen Rufnamen gestern. Der Tisch auf der Terrasse ist einladend gedeckt, lockt mit allerlei Köstlichkeiten. „Was sind das für Kleidungsstücke, die du mir hingelegt hast?“

„Das ist eine lange Geschichte. Toni – ich – komme aus Berghöven. Das ist in der Nähe von München. Lange habe ich versucht, Wolfgang zu vergessen, das Leben von Toni fortzuführen. Meine Umwelt wollte ihren Toni zurückhaben, den Toni, den sie kannten. Sie taten alles, um ihn wiederzubekommen. Doch die Erinnerungen von Wolfgang waren stärker, kamen schneller hervor, waren mit mehr Gefühl verbunden als die von Toni. Du bist ein wichtiges Puzzleteil, welches mir fehlte. Nachdem ich wusste, dass du in der Nähe von Frankfurt lebst, habe ich dieses Haus bezogen.“

„Moment mal“, unterbreche ich ihn, „zu meinem Verständnis: Was wusstest du, nachdem du aufgewacht bist?“

„Nichts. Ich brabbelte vor mich hin: ‚Ich bin Wolfgang.‘ Doch da war kein Ich-Gefühl, da war nichts. Dieser Satz war die Botschaft von Wolfgangs Seele, damit Toni nicht einfach nur als Toni weiterleben konnte, mein Gedächtnis kehrte nur in Bruchstücken zurück. Hierher bin ich gezogen, weil ich wissen, fühlen wollte, wer dieser Wolfgang gewesen ist“, Toni sieht mich einen Moment lang prüfend an, um danach fortzufahren: „Ich hoffe, durch deine Hilfe die fehlenden Erinnerungen auffrischen, eine Identität entwickeln zu können. Ich versuchte, mich an dich zu erinnern, an dein Haar, an deine Augenfarbe, an deine Größe, an deinen Geschmack. Vielleicht hört sich das jetzt komisch an für dich, doch es war wie ein Versuch, in die Identität von Wolfgang zu schlüpfen, mir ein Stück seines Lebens zu Eigen zu machen. Ich machte einen Stadtbummel, kaufte Kleidung für die Ehefrau, die ich nie hatte, hängte sie in den Schrank. Als du nun gestern so spontan mitgekommen bist, hat es mir richtig Freude gemacht, dass ich etwas zum Wechseln für dich dahatte und dich überraschen konnte. Das Tollste aber ist“, fährt er voller Begeisterung fort, „seitdem ich dich getroffen habe, kommen ganz mühelos Erinnerungen.“

„Schwarzer Tee“, sage ich trocken, um seinen Überschwang zu unterbrechen.

Überrascht blickt Toni mich an. Kommt langsam in die Gegenwart zurück, murmelt „schwarzer Tee“, geht zum Wasserkocher, macht ihn erneut an. Sagt „Jetzt frühstücken wir fein“ – weiterhin etwas abwesend – vor sich hin. Ruckartig schaut er auf, unsere Augen treffen sich.

Ich sage leise: „Guten Morgen, Toni.“ Sein erstaunter Gesichtsausdruck lässt mich vermuten, auch ihm ist jetzt aufgefallen, dass wir uns noch nicht begrüßt haben. Gleichzeitig gehen wir die wenigen Schritte aufeinander zu, schließen uns gegenseitig fest in den Arme. Obwohl ich diesen Moment der Entspannung genieße, weiß ich gleichwohl, das ist erst der Anfang. Schwierige Gewässer warten auf uns.

Mein Blick fällt auf die Terrasse: „Ist es nicht etwas frisch, um draußen zu frühstücken?“

„Der Tisch steht windgeschützt, die Sonne scheint, ich habe uns Decken bereitgelegt. Wir könnten es ja mal versuchen“, sagt er erwartungsfroh.

„Klar, probieren können wir es auf jeden Fall, ich bin gerne im Freien. Was kann ich mit hinausnehmen?“, frage ich Toni.

„Schau mal, dort auf dem Tisch, das kann alles noch raus.“

Ich genieße das Frühstück unter freiem Himmel mit allen Sinnen. Toni hat es nett hier, ein idyllisches Plätzchen. Eine Hecke schützt vor Wind und der Nachbarn Augen, am Rande der Terrasse sind Grünpflanzen aufgestellt, die Sonne scheint uns direkt ins Gesicht. Nach dem etwas holprigen Start heute Morgen wechseln wir jetzt auf eine leichtere Ebene. Wir erzählen uns gegenseitig von unseren Vorstellungen vom Leben, womit wir gerne unsere Zeit verbringen, was wir gerne essen und Ähnliches. Als Toni mich nach meinen Träumen fragt, weiche ich aus, denn sofort denke ich an Wolfgang. Wir hatten ebenfalls Träume, leider entwickelten sie sich eher zu Albträumen und darüber spreche ich ungern.

Nach unserer ausgiebigen Mahlzeit ist uns nach Bewegung und wir brechen zu einem Spaziergang auf. Vorbei an Ein- und Zweifamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten, verlassen wir recht bald das Wohngebiet. Zuerst gehen wir durch Wiesen, Weiden und Felder. Die Sonne scheint, der Wind bläst uns eine leichte Brise ins Gesicht, grün so weit das Auge reicht, was für eine Wohltat! Schnellen Schrittes nähern wir uns einem größeren Wald.

Schweigen umhüllt uns, während wir beide unseren Gedanken nachhängen. Ich spüre Unruhe, sogar Fluchttendenzen. Wenn wir zurück sind, werde ich nach Hause fahren. Kaum ist dieser Entschluss gedacht, macht sich Erleichterung in mir breit. Ich muss hier weg, habe Angst, weil sich unser Zusammensein so verdammt gut anfühlt. Da ist nichts, was ich vermisse, doch ich möchte nicht eines Tages aus einem Traum, einer Illusion aufwachen. Bin ich nur ein Rätsel seiner Vergangenheit, ein Puzzlestück oder gibt es auch eine gemeinsame Zukunft? Ist er verheiratet? Gestern Abend hat er gesagt, der Sex müsse noch warten. Doch – ist er überhaupt frei?

„Na, ich hoffe, du träumst von keinem anderen Mann“, holt Toni mich aus meinen Überlegungen.