Mutters Stimmbruch - Katharina Mevissen - E-Book

Mutters Stimmbruch E-Book

Katharina Mevissen

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Beschreibung

Mutter ist schon lange kinderlos und hat nun auch noch ihre Stimme verloren. Sie muss sich gänzlich neu erfinden, um wieder stark und laut zu werden. Ein poetischer, kompromissloser Roman über das Älterwerden, einen späten Aufbruch und eine bleibende Sehnsucht. Der Herbst kommt wenig überraschend, doch er erwischt sie kalt. Denn Mutter ist gar nicht bereit: Das Dach noch immer ungedämmt, der Garten längst nicht winterfest. Sie grollt und bockt, sie streikt und schweigt; sie spricht nicht mal mehr mit sich selbst. Es friert sie oft, der Hals tut weh, und alle Zähne wackeln. Vom Regen sind die Brüste schwer. Was macht der neue alte Körper nur? Ist er noch ich? Mutter ist eine irrwitzige Figur unbestimmten Alters in einem großen, leeren Haus mit Garten. Ihr bricht die Stimme, ihr gebricht es an allem. Erst ein Zahn-, dann ein Ortswechsel sind nötig, damit sie wieder Boden gewinnt und sich einrichten kann in ihrem Leben. Katharina Mevissen schreibt über eine unberechenbare Transformation. Ein bilderstarker Roman, genau und unerschrocken.

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Mutter ist schon lange kinderlos und hat nun auch ihre Stimme noch verloren. Sie muss an einen neuen Ort, um wieder stark und laut zu werden. Ein Roman über das Altern, einen späten Aufbruch und eine bleibende Sehnsucht.

1

Mutter kann neun Sprachen, aber redet mit niemandem mehr.

Manchmal spricht sie mit der Zentralheizung, den Bäumen und dem Brot, beschimpft ihre Zähne oder das Radio. Ansonsten schweigt Mutter. Sie hat zu wenig Stimme.

Als Mutter zur Welt kam, hatte sie nur die Körpersprache. Aber mit einer einzigen Sprache kommt man nicht weit und erst recht nicht durchs Leben. Je älter sie wurde, desto mehr Sprachen lernte sie. Die Kindersprache, die Haussprache und die Gartensprache erwarb Mutter in ihren ersten Jahren, da hatte sie noch viele Namen und keiner davon lautete Mutter.

Die vier Fremdsprachen, die Mutter beherrscht, hat sie im Tausch gegen ihre Eckzähne erhalten: Immer, wenn ihr ein Milchzahn ausgefallen war, legte sie ihn vorm Einschlafen unters Kopfkissen. Am nächsten Morgen war der Zahn verschwunden, und jedes Mal, wenn es ein Eckzahn gewesen war, fand sie eine neue Fremdsprache in ihrem Mund. Alle anderen Zähne waren dagegen harmlos: Die Schneidezähne verwandelten sich in bunte Murmeln, und die Molaren in nichts als schlechte Träume. Als sie einmal einen Zuckerwürfel unter das Kissen legte, bekam sie Zahnweh. Mutter merkte sich: Eckzähne sind kostbar, und Kopfkissen verstehen keinen Spaß.

Die vier Fremdsprachen waren bedingungslose Geschenke, ihre neunte Sprache dagegen harte Arbeit: Die Muttersprache lernte Mutter als letzte, da war sie schon fast volljährig. Sie musste zwanzig Kurse bei der Volkshochschule nehmen, bis niemand mehr fragte, woher sie denn käme. Mutter hat das der Muttersprache bis heute nicht verziehen: dass sie so viel gekostet hat.

In den vergangenen Wochen hatte Mutter fast nur noch die Haussprache benutzt. Sie beherrscht sie im Schlaf, obwohl sie ihr gar nicht besonders am Herzen liegt. Wenn Mutter von draußen hereinkam, schlüpfte sie in die Haussprache wie in ausgetretene Schlappen. Und kaum fühlte sie das filzige Fußbett, wurde ihr die Zunge pelzig und der Mund faul. Nur im Bad: da ist Mutter barfuß und spricht in kurzen, heiseren Sätzen.

Im Hochsommer hat es angefangen. In der Mittagshitze war Mutter in die Regentonne gestiegen. Tauchte ab, tauchte auf. Das Wasser stand ihr bis zur Brust. Im Haus schrillte schon wieder das Telefon. Mutter bekam plötzliche Zahnschmerzen. Sie tauchte ab, blieb lange unter Wasser, tauchte auf. Aber die Zahnschmerzen waren noch da. Und das Telefon klingelte weiter.

Mutter ging ins Haus. Als das Telefon Ruhe gab, nahm sie zuerst den Hörer vom Apparat. Holte eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank und hielt sie so lange gegen ihre Wangen gedrückt, bis die Milch lauwarm war. Noch am selben Abend beschloss sie, mit dem Lesen aufzuhören und alle Bücher in den Keller zu verfrachten. Die Zähne taten weh, die Augen, der Kopf. Und die Hitze. Es wurde Mutter alles zu viel.

Sie wollte nur noch ihre Ruhe. Ohne zu wissen, wofür.

Jetzt steht Mutter am Waschbecken und gurgelt mit Salbei. Ihr ist, als hätte sie eine Faust im Hals. Die Zahnschmerzen werden von Tag zu Tag lauter, ihre Stimme leiser. Mutter lässt die schwere Zunge durch den Mund gehen. Schlägt zweimal gegen jeden Zahn. Und könnte schwören, dass dabei gerade die unteren Schneidezähne nachgeben haben. Dass der Eckzahn oben links zurückgewichen ist. Mutter schüttelt den Kopf: Unsinn. Sie hat schließlich seit sechzig Jahren keine Zähne mehr verloren.

2

Mutter dreht das Wasser auf, lau, wärmer, heiß, lässt die Wanne ein. Das Bad ist königsblau gekachelt, auch die Becken und Böden sind blau. Tags leuchtet das Zimmer im Licht wie das Mittelmeer. Sie streut Salz ins Wasser. Zerteilt es mit den Händen, schlägt Wellen. Dann steigt sie ganz in die Wanne und wird weich. Sie sinkt in die Tiefe. Das Wasser schwappt ihr an die Lippen. Da öffnet sie den Mund und lässt das Meer hereinströmen. Es spült in ihre Mundhöhle, schlägt an den Gaumen, liebkost ihre Zähne. Mutter seufzt und genießt. Und vergisst für eine Weile die Faust in ihrem Hals.

Mutter ist in die Jahre gekommen. Ihr Körper wird nicht mehr gebraucht, aber er ist immer noch da. Manchmal weiß sie nicht, wohin damit. Er fühlt sich dann so groß und unüberschaubar an, dass sie meint, sie müsse überall anstoßen im Haus. Das sind die Tage, an denen es ihr nicht gelingt, ihre Zehen zu fassen oder sich zwischen den Schulterblättern zu berühren. Die Tage, wo sie ihre Ellbeugen mit den Kniekehlen verwechselt. Sie hat nur wenige weiche Stellen.

Mutter hat junge Beine und grobe Hände. Sie hat große Zähne, alte Brüste und feste Waden. Ihr Körper ist ungleich gealtert: An manchen Stellen ist er schon verwitwet, an anderen noch jugendlich, hier alleinstehend, da in den Wechseljahren, dort zeitlos.

Mutter wohnt auf hundertsiebzig Quadratmetern, allein, aber mit Telefonanschluss und Warmwasser. Inzwischen sind alle aus dem Haus: Erst ist der Vater gegangen, dann nach und nach die Kinder. Dabei war es Mutter, die hier nie hatte einziehen wollen. Das Haus ist mit ihr in die Jahre gekommen, ist älter geworden, aber nicht kleiner, sondern kälter. Im Winter heizt Mutter in den leeren Zimmern im ersten Stock ein und macht Licht. Das Obergeschoss ist dann voller heller, warmer Räume. Vor dem Schlafengehen macht sie wieder die Runde, löscht die Lichter und stellt die Heizkörper auf Null.

Als Kind hatte sie sich vorgenommen, Vater zu werden. Daraus wurde nichts: Mutter wurde Mutter. Es blieb dann keine Zeit, um ab und zu mal Vater zu sein oder Single. Erst als die Kinder zur Schule gingen, hatte sie wieder Zeit für kurze Affären. Dann musste es schnell gehen. Sie verschlang ihre Geliebten an Vormittagen.

Die Liebschaften verschwanden wieder. Und die Kinder wurden groß und gingen weg. Aber Mutter blieb Mutter und blieb da.

3

Das volle Haus hatte Mutter zu schaffen gemacht. Doch mit dem leeren Haus ist es ihr auch nie gelungen, warmzuwerden. Darum geht sie ihm im Sommer aus dem Weg und verbringt die langen Tage bis zur Dunkelheit im Garten.

Mutter kämmt die Knoten aus den Gräsern. Kaut Thymian und kleine Zweige vom Apfelbaum. Legt Lindenlaub unter die Zunge. Noch immer drückt die Hitze. Es grollt hinter den Sträuchern.

Schwitzend mäht sie die Wiese. Lenkt den Balkenmäher durch den Garten, zieht Bahnen, zieht Kreise, scheucht die Vögel auf. Der Mäher köpft die Gräser und wirft sie Mutter unter die Füße. Mutter schiebt den Mäher voran, geht barfuß auf feuchtwarmem Grün. Bis zum Abend hat Mutter den Sommer aus dem Garten herausgeschnitten.

Als gegen Mitternacht die Wolken brechen, steht Mutter auf und läuft nach draußen. Es gewittert über ihr. Sie beugt sich vor, damit der Regen auf ihren Rücken klatscht. Lehnt sich zurück, und er stürzt ihr auf die bloße Brust. Es reißt sie in eine lange Berührung. Mutter kriegt Regenbrüste. Sie singt mit dünner, nasser Stimme.

4

Das Wetter kippt, es wird September. Die Apfelernte hängt schwer in den Bäumen. Mutter sieht schon den Winter auf sich zukommen.

Sie begutachtet das Haus. Das Dach ist zu dünn. Die Fenster verzogen. Auch die Heizkörper gehen schlecht, träge steigt das Wasser durch die Leitungen. Der Blutdruck sinkt: Das Treppenhaus kühlt allmählich aus, und Mutter friert an den Körperstellen, die zu weit vom Herzen entfernt liegen. Ihr graut vor dem Winter ohne Garten.

Mutter benutzt das Telefon zum ersten Mal seit Wochen. Heiser bittet sie die Handwerker um einen Hausbesuch. Und legt den Hörer wieder daneben.

Die Handwerker kommen. Mutter öffnet.

Sie reicht ihnen die Hand und stellt sich leise vor: Mutter. Das Haus ist kalt. Das Dach muss gemacht werden.

Die Handwerker nicken und gehen an die Arbeit. Sie bauen ein Gerüst auf, steigen aufs Dach und klopfen. Mutter beobachtet sie und knirscht mit den Zähnen. Sie wühlt im Garten und entwurzelt das Unkraut.

Mutter jagt und jätet. Sie nimmt das Hochbeet aus wie ein Tier. Die Garten ist gierig und kennt kein Ende. Er macht Mutter rasend. Immer fängt sie neu an mit Kletten und Giersch, reißt Brennnesselteppiche aus und gräbt. Gräbt mit bloßen Händen Beete für das Wintergemüse, für Schwarzwurzeln und Steckrüben, die wachsen in der Kälte kaum, aber immerhin, sie wachsen. Mutter kämpft um jede essbare Wurzel. Sie furcht, zerpflückt und pflügt. Die Bewegung kommt aus den Zähnen, die Kraft aus den Kiefern.

Mutter schneidet die Wildblumen aus den Gräsern. Kappt Klatschmohn und Milchsterne, Knabenkraut, Lichtnelken, Löwenzahn. Sie pflückt sie alle, die Gewöhnlichen und die Seltenen und auch die Geschützten. Mutter bindet sie zu strammen Sträußen und hängt sie kopfüber in den oberen Zimmern zum Trocknen auf.

Die Bäume rührt Mutter nicht an. Dabei sind ihr die Pappeln und der Bluthasel längst über den Kopf gewachsen, und die Weide unterwandert seit Jahren das Haus. Sie sind ungefähr so alt wie Mutter. Die Bäume zurückzuschneiden käme ihr vor wie Verrat. Selbst wenn es der Pflaume und dem Apfel gut getan hätte. Hinten in der Wiese ist bereits das Steinobst vergreist. Jeden September bemüht sich der Baum um ein paar Hände voll harter Pflaumen.

Die Apfelbäume stehen in diesem Herbst schief vor Obst, die Äste zu Boden gebogen. Sie sind immer noch fruchtbar. Darum beneidet Mutter sie nicht. Aber um die Wurzeln: Wie eine zweite Krone strecken sie sich in die Erde. Dort unten ists ganz leise und feucht. Wo der Regen sickert und zum Grundwasser findet, sich tief unten seinen Weg sucht zum Meer.

Auch Mutter hat Wurzeln, aber sie sind zu kurz. Sie reichen bei Weitem nicht ans Grundwasser heran. Es pocht leise im Zahnfleisch, doch ihr Mund bleibt trocken. Mutter schluckt. Es tut weh, zu wenig Spucke und das Kratzen im Hals. Sie will nicht krank werden.

Mutter wehrt sich, reißt Stauden aus und schneidet die Sträucher. Und kann es trotzdem nicht ändern: Die Tage werden kälter.

Unter dem Garten bewegt sich das Meer, geht vor und zurück, und kommt ihr doch nicht näher.

5

Als es dämmert, wird Mutter erst langsam, dann schwerfällig und zahm. Sie lässt den Garten liegen. Schließt die Türen, schließt die Fenster, deckt den Tisch. Mutter braucht wenig. Sie kauft sparsam ein. Es hält sich alles so schlecht: Im Sommer kippt die offene Milch im Kühlschrank, und im Winter wird das Brot von einem Tag auf den anderen alt. Darum kauft sie Lebensmittel nur noch in halben Größen: halbe Butter, halbe Milch, halbe Brote. Aber Salz: das bringt sie kiloweise heim. Die Oberschränke hat sie mit Salz bestückt und auch die Bücherregale bis aufs letzte Brett.