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Wenn düstere Legenden wahr werden: Die Urban-Fantasy-Saga „Mystery Diaries“ von Xenia Jungwirth erstmals in einem eBook bei dotbooks. Dunkle Kräfte schleichen sich in unsere Welt … Sieben junge Frauen sind auserwählt, gegen die Finsternis zu kämpfen – doch davon ahnen sie nichts. Hayley versucht verzweifelt herauszufinden, warum sich ihr Bruder immer weiter von ihr zurückzieht. Als sie sein Geheimnis schließlich entdeckt, lässt es ihr das Blut in den Adern gefrieren ... Megan hingegen kämpft gegen innere Dämonen: Seit sie von einer roten Spinne gebissen wurde, plagen sie albtraumhafte Halluzinationen – oder sind diese gar Realität? Auch Amanda packt das nackte Grauen, als bei der Erkundung einer alten Südstaatenvilla plötzlich ein Kind auf einem der Gemälde lebendig wird. Es überbringt ihr eine unheilvolle Botschaft aus der Vergangenheit … Düster, romantisch und atemberaubend spannend: Tauchen Sie ein in die geheimnisvollen Welten der „Mystery Diaries“ und fiebern Sie mit. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband mit sieben Romanen der Serie „Mystery Diaries“ von Xenia Jungwirth. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag. JETZT BILLIGER KAUFEN – überall, wo es gute eBooks gibt!
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Seitenzahl: 494
Über dieses Buch:
Dunkle Kräfte schleichen sich in unsere Welt … Sieben junge Frauen sind auserwählt, gegen die Finsternis zu kämpfen – doch davon ahnen sie nichts. Hayley versucht verzweifelt herauszufinden, warum sich ihr Bruder immer weiter von ihr zurückzieht. Als sie sein Geheimnis schließlich entdeckt, lässt es ihr das Blut in den Adern gefrieren ... Megan hingegen kämpft gegen innere Dämonen: Seit sie von einer roten Spinne gebissen wurde, plagen sie albtraumhafte Halluzinationen – oder sind diese gar Realität? Auch Amanda packt das nackte Grauen, als bei der Erkundung einer alten Südstaatenvilla plötzlich ein Kind auf einem der Gemälde lebendig wird. Es überbringt ihr eine unheilvolle Botschaft aus der Vergangenheit …
Über die Autorin:
Xenia Jungwirth, geboren 1978 in Straubing, ist gelernte Mediendesignerin und war schon als Kind von Märchen und Mythen fasziniert. Während ihres Studiums der Kunstgeschichte entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben. Reale und fantastische Elemente bilden die perfekte Mischung für ihre Geschichten: Der Leser soll in eine Welt eintauchen, die ihm vertraut ist – und doch ganz anders. Xenia Jungwirth arbeitet als freie Autorin. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in der Nähe von München.
Die Reihe Mystery Diaries– Geheimnisse der Dunkelheit umfasst folgende Einzelbände:
MYSTERY DIARIES – GEHEIMNISSE DER DUNKELHEIT. Erster Roman: Schattenherz MYSTERY DIARIES – GEHEIMNISSE DER DUNKELHEIT. Zweiter Roman: Die Spinne MYSTERY DIARIES – GEHEIMNISSE DER DUNKELHEIT. Dritter Roman: Dunkles Blut MYSTERY DIARIES – GEHEIMNISSE DER DUNKELHEIT. Vierter Roman: Wolfskuss MYSTERY DIARIES – GEHEIMNISSE DER DUNKELHEIT. Fünfter Roman: Der Kinderfänger MYSTERY DIARIES – GEHEIMNISSE DER DUNKELHEIT. Sechster Roman: Der Spiegel der Tänzerin MYSTERY DIARIES – GEHEIMNISSE DER DUNKELHEIT. Siebter Roman: Das verfluchte Haus
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Bei dotbooks erschien bereits die sechsbändige Reihe Jack Deveraux.
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Sammelband-Originalausgabe Oktober 2017
Copyright © der Einzelausgaben2015 und 2016 dotbooks GmbH, München
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2017 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Haus der Sprache, Halle/Saale
Titelbildgestaltung: HildenDesign, München
Titelbildabbildung: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96148-142-2
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Xenia Jungwirth
MYSTERY DIARIES
Geheimnisse der Dunkelheit
dotbooks.
»Bis morgen!«, verabschiedete ich mich von Stella und jonglierte mit den Taschen und Tüten.
»Bis morgen, Sarah!«, antwortete Stella fröhlich und widmete sich dann wieder der Buchhaltung.
Vorsichtig zog ich die Tür hinter mir zu. Draußen wurde es schon dunkel, in der kleinen Gasse, in der Stellas Laden lag, ging die Straßenlaterne an, der wolkenlose Himmel leuchtete tiefblau, und über den Häusern stand blass der zunehmende Mond.
Obwohl sich nicht allzu viele Menschen in diesen Teil der Stadt verirrten, lief »Stellas Schatztruhe« ganz gut. Zumindest konnte sie davon leben und sich sogar eine Aushilfe leisten: mich. Ich ging langsam die Straße entlang und kämpfte ein wenig mit den rutschenden Papiertüten und Tragetaschen. Vor ein paar Tagen hatte ich Geburtstag gehabt, ich war jetzt einundzwanzig. Stella hatte mich mit Geschenken überhäuft, hauptsächlich alte Bücher, für die ich eine Schwäche hatte. Am liebsten las ich Märchen, Legenden und Sagen. Ich weiß auch nicht warum, aber es war schon immer so. Natürlich interessierten mich auch andere Geschichten, aber ein guter Krimi oder eine romantische Komödie konnten mich nie so fesseln wie die fantastischen Abenteuer in Welten voller Magie. Meine Freundinnen zogen mich manchmal damit auf. Während sie beim Anblick der neuen Kollektion von Dolce und Schlagmichtot halb in Ohnmacht fielen, bekam ich eben glasige Augen wenn ich ein Buch über Vampire oder andere mystische Wesen entdeckte und das mir noch in meiner Sammlung fehlte.
Jedenfalls war ich vor lauter Geschenken wie ein Packesel bestückt und hatte einige Mühe zu sehen, wo ich hintrat. »Stellas Schatztruhe« hatte diesen Namen wirklich verdient. Dort gab es fast alles. Ganz hinten in der Ecke verkaufte Stella Second-Hand-Klamotten und alten Schmuck, ein wahres Vintage-Paradies. Weiter vorn stapelten sich alte Bücher, die bestimmt durch viele Hände gegangen waren, bevor sie neben der beachtlichen Schallplatten-Sammlung ihren Platz gefunden hatten. Die Regale an den Wänden waren bis ins kleinste Eckchen mit Spielzeug, Brettspielen, Plüschtieren, Puppen und Actionfiguren aus den 80er Jahren vollgestellt. Für die Weltraumhelden und muskelbepackten Krieger in unterschiedlichsten Ausführungen interessierten sich meist nur Sammler. Richtig wertvolle Stücke waren nicht oft dabei, aber manchmal zauberten die Spielsachen ein seliges Lächeln auf die Gesichter ihrer Betrachter, wenn sie in Gedanken wieder zu Kindern wurden. Ein schöner Anblick - kein Wunder, dass Stella ihren Job so sehr mochte und immer gute Laune hatte. Überhaupt war sie einfach großartig. Ich kannte sie schon, so lange ich denken konnte. Schon als Kind war ich oft bei ihr in der »Schatztruhe« gewesen, für mich war das fast so toll wie ein Ausflug nach Disneyland. Ich hatte Stella von Anfang an ins Herz geschlossen, für mich gehörte sie praktisch zur Familie. Als sie mich vor ein paar Monaten fragte, ob ich ihr ein wenig im Laden zur Hand gehen könne, hatte ich auch keine Sekunde gezögert und die Entscheidung nicht bereut. Die Arbeit in Stellas Laden machte unglaublich viel Spaß
Eine der Tüten machte sich wieder selbständig und als ich versuchte, meine Last besser zu verteilen, war ich so abgelenkt, dass ich fast mit einem Mann in einem dunklen Mantel zusammen gestoßen wäre
»Entschuldigung«, murmelte ich, kämpfte weiter mit meinen Tüten und machte einen Schritt zur Seite. Doch statt seinerseits auszuweichen, stellte sich mir der Fremde schweigend in den Weg. Irritiert hielt ich inne. Sah der Typ denn nicht, dass ich hier vollbepackt war bis unter die Nase?
»Könnten Sie mich bitte vorbei lassen?«, fragte ich nicht ganz so freundlich wie ich es ohne unhandliches Gepäck getan hätte.
Wieder kam keine Antwort. Langsam wurde mir das zu bunt.
»Hören Sie, das ist nicht –«
Weiter kam ich nicht. Der Mann gab mir einen Stoß, der mich rückwärts taumeln ließ. Die Tüten rutschten mir aus den Händen und fielen zu Boden, doch ich achtete nicht darauf. Mein Herz schlug wie wild, und die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich.
Lauf weg! Sofort!
Eine Sekunde lang war ich wie gelähmt, der Angriff hatte mich zu sehr überrascht. Doch dann gehorchten mir meine Beine wieder. Ich drehte mich um und wollte losrennen, zurück zu Stellas Laden, doch ich kam nicht weit. Ein zweiter Mann stellte sich mir in den Weg. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht. Er war sehr groß und massig, und bewegte sich doch mit einer Geschmeidigkeit, die nicht zu seiner Erscheinung zu passen schien. Auch er trug einen langen dunkelbraunen Mantel und hatte sich die Kapuze seines Shirts tief ins Gesicht gezogen. Langsam kam er näher.
»Was wollen Sie von mir?«, flüsterte ich und wich zurück.
Der Mann, der mich gestoßen hatte, packte mich von hinten und drehte mich zu sich herum. In seiner Hand ließ er ein Klappmesser aufschnappen.
»Kannst du dir das nicht denken?«
Zitternd griff ich in meine Jackentasche, zog mein Portemonnaie heraus und hielt es ihm hin.
Barsch schlug er es mir aus der Hand.
»Nicht dein Geld!«, knurrte er.
Meine Angst stieg. Ich hatte die vage Hoffnung gehabt, die Männer würden mein Portemonnaie nehmen und dann verschwinden. Doch offensichtlich war es nicht mein Geld, das sie interessierte.
»Sie weiß es nicht.«
Der Mann mit der Kapuze kam näher.
»Noch nicht.«
Der Klang seiner Stimme machte mir noch mehr Angst. Er stand jetzt neben mir. Obwohl ich sein Gesicht unter der Kapuze im Schatten noch immer nicht richtig erkennen konnte, leuchteten seine Augen irgendwie seltsam. Sein Blick wanderte von meinem Gesicht den Hals entlang und ruhte kurz auf meinem Ausschnitt. Der Angstschweiß trat mir auf die Stirn.
»Was machen wir jetzt mit ihr?«, schnaubte der Mann mit dem Messer.
Er lockerte seinen Griff und deutete zum Himmel.
»Bald ist Vollmond!«
Ich mochte mir gar nicht vorstellen, was die beiden Männer mit mir vorhatten. Mit einem Ruck riss ich mich los, und rannte so schnell ich konnte in die nächste Gasse. Das Blut rauschte mir in den Ohren, meine Knie waren weich, doch ich lief einfach weiter. Weg, weg, einfach nur weg! Im Laufen sah ich mich um, doch die kleine Straße bot keinerlei Möglichkeiten sich zu verstecken. Alle Läden hatten geschlossen, und außer mir und den beiden Männern war kein Mensch weit und breit zu sehen. Ich erreichte das Ende der Straße und lief ohne weiter darüber nachzudenken nach rechts. Ein Fehler, wie sich nach wenigen Schritten herausstellte. Es war eine Sackgasse. Mein Weg endete vor einer hohen Mauer. Mindestens vier Meter! Keine Chance, es war viel zu hoch. Ich stand da und keuchte. Die Lunge tat mir weh und meine Beine fühlten sich an wie aus Blei. Fieberhaft suchte ich nach einem Versteck. Aber da war nichts. Nichts, außer den Schritten hinter mir, die sich langsam näherten.
»Du kannst dich weder verstecken, noch davon laufen …«
Die Männer lachten. Ich merkte, wie es mir vor Angst die Kehle zusammen schnürte. Die Schritte kamen immer näher. Jeden Moment würden die Männer um die Ecke kommen.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Mund. Gleichzeitig legte sich ein Arm um meine Taille und zog mich rückwärts in die hinterste Ecke der Gasse. Ich wollte schreien, doch die fremde Hand erstickte den Laut.
»Ganz ruhig, ich tu dir nichts«, flüsterte eine Männerstimme an meinem Ohr.
»Ich nehme jetzt die Hand runter, nicht schreien, okay?«
Obwohl ich den Mann hinter mir nicht sehen konnte, spürte ich doch, dass er mir helfen wollte. Ich nickte, und die Hand löste sich von meinem Gesicht.
»Ganz still jetzt, und nicht bewegen, dann bemerken sie uns nicht.«
Ich starrte fragend in die Dunkelheit. Wie meinte der Unbekannte denn das? Natürlich würden sie uns entdecken, hier gab es doch nichts, was uns Schutz bot!
Mein Herz hämmerte in meiner Brust und meine Kehle schnürte sich zu. In diesem Moment bogen meine Verfolger um die Ecke. Ich sog die Luft ein und der Fremde berührte mich sanft an der Schulter. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Gleich würden sie uns entdecken! Die Männer traten ein paar Schritte in die Gasse und ich sah, wie das selbstgefällige Grinsen aus ihren Gesichtern verschwand.
»Was zum Teufel …«, sagte der Mann mit dem Messer.
»Das kann doch gar nicht sein, sie ist hier hinein gelaufen, ich hab es genau gesehen!«
Der Mann mit der Kapuze schwieg. Er sah sich nur suchend um. Mehrmals streifte sein Blick die Stelle, an der ich und mein unbekannter Beschützer standen, doch er konnte uns offensichtlich nicht sehen. Aber das war doch gar nicht möglich!
Plötzlich hob er den Kopf und schaute in den Nachthimmel. Automatisch folgte ich seinem Blick, konnte jedoch nichts erkennen, das seine Aufmerksamkeit erweckt haben könnte.
»Lass uns verschwinden …«
»Verdammt!«
Der Mann mit dem Messer trat mit dem Fuß gegen eine alte Blechdose und kickte sie davon. Dann verschwanden sie um die Ecke.
Fassungslos starrte ich ihnen nach, den Rücken an die Brust meines unbekannten Beschützers gelehnt. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag wieder.
»Sie sind weg«, sagte er nach einer Weile und ließ mich los.
Für einen kurzen Augenblick konnte ich mich nicht bewegen. Was war da gerade passiert? Ich trat mit weichen Knien ein paar Schritte von der Mauer zurück und atmete tief durch. Dann drehte ich mich um.
Vor mir stand ein junger Mann, vielleicht Anfang, höchstens Mitte Zwanzig. Er war groß und schlank und hatte dunkles Haar. Tiefschwarz, mit einem bläulichen Schimmer. Er trug Jeans und ein schwarzes Shirt mit langen Ärmeln. Seine Augen funkelten grün. Leuchtend grün. Ich hatte noch nie jemanden mit einer solch intensiven Augenfarbe gesehen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er sanft.
Ich nickte und versuchte mich von seinem Blick zu lösen. Es gelang mir nur schwer.
»Ich … ehm … danke«, stotterte ich unbeholfen.
Der Fremde lächelte.
»Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.«
»Aber wie … warum … warum haben sie uns nicht sehen?«, stammelte ich.
Ich konnte immer noch nicht begreifen, was in den letzten Minuten passiert war. Zwei erwachsene Menschen wurden doch nicht einfach unsichtbar … Das war Hexerei! So etwas gab es doch nur in meinen Büchern, nicht im richtigen Leben! Es musste eine bessere Erklärung dafür geben als –
»Magie«, sagte der Fremde und sah mich ernst an.
»Magie«, wiederholte ich und dachte für einen Moment, ich hätte mich verhört.
Der Mann nickte. Er meinte es offensichtlich ernst. Ich merkte wie mir schwindlig wurde. Das war einfach zu viel. Die beiden seltsamen Männer, die Angst und dieser Fremde, der mir mit »Magie« das Leben rettet. Mir wurde schwarz vor Augen.
***
Ich erwachte in meinem Schlafzimmer. Es war dunkel, und durch das geöffnete Fenster fiel blasses Mondlicht herein. Natürlich – ein Traum! Das musste es sein, ich hatte das alles nur geträumt. Erleichtert setzte ich mich auf – und blickte in zwei grüne Augen. Der Fremde saß auf meiner Bettkante und musterte mich freundlich.
»Was … wie …«, stammelte ich und ärgerte mich, dass ich jedes Mal zu stottern anfing, wenn er in meiner Nähe war. Aber immerhin waren die Ereignisse der letzten Nacht nicht nur aufregend sondern schlicht unglaublich gewesen. Das brachte einen schon einmal aus dem Konzept. Und doch war es das nicht allein. Es lag an ihm.
Neben meinem Bett standen meine Taschen und Tüten, die ich bei dem Überfall verloren hatte. Fein säuberlich aufgereiht. Der Fremde folgte meinem Blick.
»Nette Bücher. Vor allem das große da.«
Er zeigte auf eine der Taschen, aus der der große Bildband herausschaute, über den ich mich besonders gefreut hatte. Stella hatte es tatsächlich geschafft, das Buch aufzutreiben obwohl es schon seit Jahren vergriffen war. Ein Sammelband mit wunderschön illustrierten Märchen aus der ganzen Welt.
»Nach diesem Buch suchst du schon seit einer halben Ewigkeit, nicht wahr?«
»Woher weißt du das?«, fragte ich, als ob es nicht noch viel wichtigere Fragen zu klären gab. Zum Beispiel, wie ich zurück in meine Wohnung gekommen war. Und warum er auch hier war. Und warum mich das nicht in heillose Panik versetzte.
»Ich weiß alles Mögliche … Sarah.«
Meinen Namen wusste er offensichtlich auch. Eigentlich hätte mich das alles beunruhigen, wenn nicht sogar erschrecken sollen. Doch seltsamerweise fühlte ich mich von ihm in keinster Weise bedroht. Im Gegenteil. Noch nie hatte ich mich in meinen eigenen vier Wänden so sicher gefühlt. Das war doch verrückt!
»Also jetzt mal schön der Reihe nach … wie bin ich hier her gekommen? Woher kennst du meinen Namen und weißt, welche Bücher ich mag und … wer bist du überhaupt?«
»Du bist ohnmächtig geworden, und da habe ich dich nach Hause gebracht. Zu Frage Nummer zwei: Ich beobachte dich schon eine ganze Weile und drittens … ich bin Kieran.«
Er beantwortete meine Fragen in einem beiläufigen Ton, als hätte ich ihn gefragt, was er zuletzt im Kino gesehen hatte.
»Du beobachtest mich?«, wiederholte ich. »Warum?«
Kieran lächelte und setzte zu einer Antwort an. Doch dann runzelte er die Stirn und neigte leicht den Kopf, als würde er etwas hören.
Ich dagegen hörte gar nichts.
Kierans Blick verfinsterte sich. Er stand auf. »Ich muss los. Tut mir leid, Sarah, ich erklär dir alles morgen.«
Ich sah ihn überrascht an.
»Morgen?«
Kieran ging zum Fenster, drehte sich noch einmal kurz um und lächelte mich an. »Gute Nacht, Sarah. Schlaf schön.«
Dann schwang er sich mit einer katzenhaften Bewegung nach draußen.
Wie vom Blitz getroffen sprang ich aus dem Bett, rannte zum Fenster und sah nach unten. Es ging drei Stockwerke in die Tiefe und ich rechnete fest damit, Kieran dort unten auf der Straße liegen zu sehen. Aber da war - nichts. Absolut gar nichts. Dann sah ich nach links und rechts und schließlich nach oben. Weit entfernt glaubte ich einen Schatten am Nachthimmel zu erkennen, der sich sehr schnell bewegte, aber ich sah ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde und war mir nicht sicher. Vielleicht hatte ich mich getäuscht.
Fassungslos stand ich in meinem Schlafzimmer. Ich musste mir das alles nur eingebildet haben. Oder ich hatte Halluzinationen. Vielleicht wurde ich krank, und meine Vorliebe für Märchen ließ mich nun Dinge sehen, die es gar nicht geben konnte. Rein logisch betrachtet gab es keine andere Erklärung. Dieser … Kieran … konnte schließlich nicht aus dem dritten Stock gesprungen sein und sich einfach in Luft aufgelöst haben! Es sei denn, er war ein … ich wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Nein, Schluss mit Märchen! Es musste an mir liegen, vielleicht wurde ich verrückt? Ich dachte an den Film den ich letztens gesehen hatte, er handelte von einer Frau, die mit Wahnvorstellungen in eine Anstalt eingewiesen wurde. Was für eine entsetzliche Vorstellung! Ich seufzte laut und beschloss, als Gegenbeweis das Normalste zu tun, was mir auf die Schnelle einfiel: Ich ging ins Badezimmer und putzte mir die Zähne.
***
Als ich am nächsten Tag aufwachte, fühlte ich mich ein wenig benommen. Ich hatte seltsames und wirres Zeug geträumt, konnte mich aber nicht mehr daran erinnern. Ich gähnte und streckte mich ausgiebig, als mein Blick auf die Tüten fiel. Mit einem Mal war ich hellwach. Alles fiel mir wieder ein: der Überfall, die Panik … und Kieran. Hatte ich das wirklich erlebt? Die Erinnerung an gestern fühlte sich sehr real an, aber sicher war ich mir nicht.
Ich beschloss, ein bisschen früher zu Stella zu gehen und ihr alles zu erzählen. Mit irgendjemandem musste ich reden, und sie würde mich noch am ehesten verstehen. Schließlich umgab sie sich selbst mit allerlei Kuriositäten, und auch die Kundschaft in ihrem Laden hatte ein Faible für Außergewöhnliches.
Ich betrat die »Schatztruhe«, und bevor ich die Türe ganz geschlossen hatte, kam Stella mir auch schon entgegen geeilt. Sie grinste über das ganze Gesicht und flüsterte verschwörerisch: »Warum hast du mir denn nichts von ihm erzählt?«
»Von wem?«, fragte ich und flüsterte auch, obwohl ich keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.
Sie verdrehte die Augen.
»Na, von deinem Freund! So ein netter junger Mann und so gutaussehend! Mein Gott, diese Augen …«
Ich schüttelte verwirrt den Kopf – und dann fiel bei mir der Groschen. Sie meinte doch nicht etwa … Kieran?
»Warum flüsterst du überhaupt?«, fragte ich.
Stella lachte leise.
»Weil er hier ist. Er wartet auf dich.«
Sie deutete in den hinteren Teil des Ladens.
Dieser Kieran war also hier. Zuerst bei mir zu Hause, jetzt auch noch in der »Schatztruhe«! Aber er hatte gestern ja gesagt, dass er mir heute alles erklären würde. Leise ging ich nach hinten und lugte vorsichtig um die Ecke. Tatsächlich – dort stand Kieran. Obwohl ich damit gerechnet hatte, war ich so überrascht ihn tatsächlich zu sehen, dass ich einen Schritt zurücktrat.
Er stand vor dem Regal mit den Schlüsselanhängern und hatte mir den Rücken zugewandt.
»Hallo Sarah«, sagte er und drehte sich um. Er lächelte mich an, und in seinen Augen blitzte es amüsiert auf.
»Hallo«, antwortete ich einsilbig, damit ich nicht wieder zu stottern anfing. Musste er mich denn so nervös machen!
Wenigstens hatte ich keine Halluzinationen, denn schließlich hatte Stella ihn auch gesehen. Das war doch immerhin etwas.
»Ich habe dir doch versprochen, dass ich dir alles erkläre.«
Er nahm einen Schlüsselanhänger und betrachtete ihn interessiert. Es war ein silberner Drache.
»Jetzt? Hier?«
Ich schaute in den vorderen Teil des Ladens und sah, dass Stella sich ein bisschen zu sehr bemühte, beschäftigt auszusehen.
Kieran legte den Schlüsselanhänger zurück und lachte leise.
»Du hast Recht, lass uns woanders hingehen.«
Ich nickte.
»Stella? Ist es okay, wenn ich kurz … ehm … spazieren gehe?«
Sie grinste uns an, und ich wurde rot.
»Aber sicher, ich schaff das hier schon allein.«
Kieran hakte sich bei mir ein, und Arm in Arm gingen wir zur Tür.
»Viel Spaß ihr zwei!«, rief Stella zum Abschied und winkte.
Kieran ging mit mir in den Park. Es war noch ziemlich früh am Tag, und bis auf ein paar übereifrige Jogger war niemand zu sehen. An einer von ein paar Bäumen und Sträuchern geschützten Stelle stand eine Bank. Wir setzten uns, und ich sah ihn auffordernd an. Er hatte den ganzen Weg hierher nichts gesagt und machte auch jetzt keine Anstalten. Stattdessen schaute er in den Himmel und runzelte die Stirn. Dann entspannten sich seine Gesichtszüge.
»Jetzt spann mich doch nicht so auf die Folter!«
Ich rutschte ungeduldig auf der Bank hin und her. Dieses Schweigen machte mich noch ganz wahnsinnig.
»Na schön, aber zuerst muss ich mich bei dir entschuldigen.«
Er sah mich ernst an.
»Es tut mir leid, Sarah.«
Ich verstand kein Wort.
»Was tut dir leid?«
»Der Überfall gestern … das hätte nicht passieren dürfen. Ich hätte besser auf dich achtgeben müssen.«
Für einen kurzen Augenblick wurde das Grün in seinen Augen schwächer.
»Es … war meine Schuld.«
»Ich verstehe nicht …«
»Die beiden Männer … sie haben dich meinetwegen angegriffen.«
»Deinetwegen?«
Ich war verwirrter als je zuvor.
»Aber warum? Was wollten sie denn?«
»Mein Herz«, sagte Kieran ruhig und blickte mich ernst an.
Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Das war die absurdeste Geschichte, die ich je gehört hatte, und trotzdem – ich glaubte ihm jedes Wort. Es war die Art, wie er mich ansah. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er die Wahrheit sagte. Ich musste schlucken. Dann atmete ich tief durch, nahm meinen ganzen Mut zusammen und stellte Kieran die Frage, über die ich mich bisher nicht getraut hatte, weiter nachzudenken.
»Du … du bist … kein Mensch, oder?«
Kieran lächelte mich an und fand meine Frage offensichtlich kein bisschen merkwürdig. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, ich bin kein Mensch. Ich bin ein … Drache.«
Mein Unterkiefer klappte nach unten. Mit allem Möglichen hatte ich gerechnet – Vampir, Zauberer, Außerirdischer, ja sogar an einen Elfen hatte ich kurz gedacht. Aber Drache? Drache? Für mich war ein Drache so etwas wie ein Dinosaurier mit Flügeln und Feueratem. Kein unglaublich gutaussehender Typ in Jeans.
»Du glaubst mir nicht, stimmt’s?«
Kieran hatte den Kopf zur Seite gelegt und sah mich prüfend an.
»Ich … ich … bin noch bei der Verarbeitung der Informationen …«, sagte ich. Dann schüttelte ich den Kopf.
»Aber du siehst überhaupt nicht aus wie ein Drache!«
»Hast du denn schon mal einen echten Drachen gesehen?«, fragte Kieran amüsiert.
»Nein, natürlich nicht. Aber die ganzen Abbildungen in den Büchern, die Filme …«
»Ja, die liegen oft ganz schön daneben. Vor allem die Größe ist meistens völlig absurd.«
Er lachte.
»Wir haben zwei Gestalten. Eine menschliche …«
Er deutete auf sich.
»… und eine … Flugform, wenn man es so nennen will.«
»Aha«, sagte ich und lächelte schief. Das war natürlich eine einleuchtende Erklärung. Mir schwirrte der Kopf. Einerseits spürte ich genau, dass Kieran mir die Wahrheit sagte, und außerdem waren die Sache mit dem Überfall und die Art, wie er mich gerettet hatte, nun wirklich nicht mit »normalen« Argumenten zu erklären. Andererseits, ein Drache? Menschenform, Flugform – das war selbst für mich ein wenig zu viel des Guten.
Kieran seufzte.
»Ich sehe, schon, du willst einen Beweis.«
»Naja, schlecht wäre es nicht …«
Jetzt war ich neugierig. Was würde er tun? Feuerspucken? Fliegen?
Er tat weder das eine noch das andere. Stattdessen schob er den rechten Ärmel seines grauen Shirts zurück.
»Hier.« Er streckte mir seinen Unterarm hin.
Auf der Innenseite verlief ein schmaler Streifen, vielleicht einen, höchstens zwei Zentimeter breit. Die Haut war dort dunkelblau und schillerte wie Perlmutt. Im ersten Augenblick war ich enttäuscht, denn ich hatte mit irgendetwas Spektakulärem gerechnet. Doch je länger ich das schillernde Band auf Kierans Arm betrachtete, desto faszinierter wurde ich. Die Haut war vollkommen glatt, keine Schuppen oder Ähnliches, dafür aber in sich gemustert: feine, geschwungene Linien. Ein bisschen erinnerte es schon an eine Echse. Aber diese Farben! Wenn ich den Kopf ein bisschen bewegte, wechselte das tiefe Blau zu Dunkelviolett oder Purpur, dann wurde es wieder fast schwarz, nur um im nächsten Augenblick wieder dunkelblau zu schimmern.
»Wow«, flüsterte ich ehrfürchtig.
»Drachenhaut«, sagte Kian und zog den Ärmel wieder herunter.
»Hast du das überall?«, fragte ich und merkte erst als es zu spät war, wie meine Frage auch verstanden werden konnte. Ich wurde feuerrot.
»Ich meine … also ich …«
Kieran lachte.
»Nur an den Armen.«
»Kannst du auch Feuerspucken?«, wechselte ich schnell das Thema. Meine Wangen glühten immer noch.
»Nein, das ist eine Erfindung von euch Menschen.«
Er lachte.
»Aber ich habe ein paar andere ganz nützliche Fähigkeiten.«
»Und die wären?«
Meine Neugier war nun endgültig geweckt. Ich wollte alles wissen.
»Wie alle Drachen altere ich nicht. Wir werden nie krank, und es gibt nur wenige Dinge, die uns ernsthaft verletzen oder gar töten können. Sollten wir doch einmal verwundet werden, heilt alles ziemlich schnell. Außerdem hören und sehen wir besser als ihr Menschen. Je nachdem, welchem Element ein Drache angehört, hat er noch ein paar besondere Kräfte. In meinem Fall bedeutet das, dass ich mich im Schatten sehr gut tarnen kann. Je dunkler es ist, desto größer ist meine Macht. Nachts bin ich praktisch unsichtbar.«
»Wow«, wiederholte ich. »Das war die Magie, von der du gestern Abend gesprochen hast, nicht wahr? Als du mich vor den beiden Männern gerettet hast. Du hast uns unsichtbar werden lassen.« Ich war völlig fasziniert.
Kieran nickte und sah mich ernst an.
»Wobei wir wieder beim eigentlichen Problem wären …«
»Dein Herz«, sagte ich und musste schlucken. Die Vorstellung, dass jemand das Herz eines andern wollte, fand ich wirklich gruselig. Ganz zu schweigen davon, wie er es … herausbekommen wollte. Kieran musste meinen Blick bemerkt haben, denn er lächelte kurz.
»Es ist ein bisschen anders, als du es dir jetzt vielleicht vorstellst.« Er atmete tief durch und fuhr fort: »Die Kräfte, das Wissen, alles was einen Drachen ausmacht, befindet sich in einer Art Kristall. Er hat ein bisschen die Form eines Herzens, und weil er sozusagen unser ganzes Wesen in sich trägt, heißt er eben »Herz.« In meinem Fall »Schattenherz«, wenn man es genau nehmen will.«
Unwillkürlich blickte ich Kierans Brust.
»Du hast einen Kristall anstelle eines Herzens?«
Er lachte leise und schüttelte den Kopf. Dann nahm er meine Hand und legte sie sich auf die Brust.
»Ich habe ein Herz, genau wie du.«
Mit dieser vertrauten Geste hatte er mich überrascht. Meine Hand zitterte leicht, und Kieran drückte sie ein wenig fester an sich. Ich bekam eine Gänsehaut. Nicht aus Angst … es war nur die Aufregung … und noch etwas anderes. Schnell schob ich den Gedanken beiseite und konzentrierte mich auf das, was Kieran mir zeigen wollte. Und dann spürte ich es. Ruhig und gleichmäßig schlug Kierans Herz in seiner Brust. Ich lächelte.
Langsam ließ Kieran meine Hand wieder los. »Siehst du? Wie bei einem Menschen.«
Es kostete mich ein bisschen Überwindung, meine Hand wieder zurückzuziehen. Ich wollte nicht, dass die Berührung aufhörte. Im Gegenteil. Am liebsten hätte ich ihn umarmt und …
»Ist sie das?«, unterbrach uns eine Stimme.
Rasch zog ich meine Hand zurück und merkte, dass ich schon wieder rot wurde.
»Hey, Finn«, begrüßte Kieran den jungen Mann, der wie aus dem Nichts ein paar Schritte neben der Bank aufgetaucht war. Mit verschränkten Armen stand er an einen Baum gelehnt und grinste. Er war riesig, bestimmt zwei Meter, mit breiten Schultern. Ein richtiger Hüne. Sein Haar war hellblond, fast weiß und schimmerte silbern im Licht der Sonne. Seine Haut war heller als die von Kieran und statt grün strahlten seine Augen in intensivem Blau. Er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, und an der Innenseite seines linken Unterarms konnte ich ein kleines Stückchen perlmuttfarbener Haut erkennen. Es gab keinen Zweifel. Finn war ein Drache.
»Sarah, das ist Finn. Er ist auch ein Drache«, erklärte Kieran überflüssigerweise.
»Hi Sarah«, sagte Finn und musterte mich von oben bis unten. Dann wandte er sich an Kieran.
»Und? Hast du sie schon gefragt?«, wollte er wissen.
»Mich was gefragt?« Verwirrt schaute ich von Kieran zu Finn und dann wieder zu Kieran.
»Ich wollte gerade darauf hinaus, aber dann hat er uns unterbrochen.«
Finn grinste.
»Sah von da oben aber ein bisschen anders aus.«
Dann runzelte er die Stirn.
»Wir müssen hier weg, es kommen zu viele Leute in den Park. Außerdem kann ich den Schutzschild nicht ewig aufrechterhalten. Toran ist bestimmt nicht weit weg …«
Ich sah Kieran fragend an.
»Toran ist einer der Männer, die dich gestern angegriffen haben … Er ist sehr gefährlich.«
Er nahm meinen Arm.
»Komm mit. Ich bringe dich an einen sicheren Ort.«
Bei dem Gedanken an die Begegnung mit den beiden Männern gestern, bekam ich eine Gänsehaut. Ein zweites Mal wollte ich ihnen bestimmt nicht über den Weg laufen. Schnell stand ich auf. »Wohin gehen wir?«
Kieran grinste.
»Zu mir nach Hause.«
Zu ihm nach Hause? Für einen kurzen Moment tauchte ein Bild aus einem meiner Märchenbücher vor meinem geistigen Auge auf: eine dunkle Höhle mit Bergen von Gold und Silber - und mitten drin ein Drache. Ich sah Kieran skeptisch an und er lachte.
»Lass dich überraschen.«
»Okay … aber ich muss Stella Bescheid geben.«
Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und rief in der »Schatztruhe« an.
»Können wir los?«, fragte Kieran wenig später.
Ich nickte. Wohin würde er mich bringen?
***
Eine halbe Stunde später standen wir vor einem mehrstöckigen Gebäude im ältesten Teil der Stadt. Das Viertel war sehr exklusiv und die Wohnungen vermutlich unglaublich teuer. Hier war ich noch nie gewesen.
»Wenn es dunkel gewesen wäre, wären wir geflogen«, sagte Kieran, nachdem er das Taxi bezahlt hatte und es davon gefahren war.
»Aber mitten am Tag bin ich ein bisschen zu auffällig. Außerdem … je weniger ich mich wie ein Drache benehme, desto schwieriger wird es für Toran uns zu finden.«
Ich war ziemlich enttäuscht gewesen, als Kieran ein Taxi gerufen hatte. Insgeheim hatte ich gehofft, er würde mich zu seinem »Zuhause« fliegen, aber er hatte natürlich Recht »Und hier wohnst du?«, fragte ich.
»Ja, ganz oben.«
Ich legte den Kopf in den Nacken und ließ meinen Blick an der reichverzierten Fassade hinauf wandern. Ganz oben. Natürlich, wo sonst!
Mit dem Aufzug fuhren wir ins oberste Stockwerk. Als sich die Türen öffneten, stockte mir der Atem. Wir standen vor einem großen offenen Raum, mit schlichten aber trotzdem luxuriösen Möbeln. In einer Nische befand sich eine hochmoderne Küche und gegenüber gelangte man durch eine Glastür auf die Dachterrasse.
»Nicht ganz das, was du erwartet hattest, oder?«
Kieran lachte und ging in Richtung Küche.
»Möchtest du was trinken oder essen?«
Ich klappte den Mund wieder zu und schüttelte den Kopf.
»Nein danke.«
Er blieb stehen und seufzte.
»Na schön, dann reden wir. Setz dich.«
Ich gehorchte, und Kieran setzte sich neben mich auf das weiße Ledersofa. Wir berührten einander nicht, aber allein seine Nähe jagte mir einen heißen Schauer den Rücken hinunter.
»Was hat Finn vorhin gemeint, was willst du mich fragen?«, sagte ich, um mich von dem verwirrenden Gefühl abzulenken, das Kieran in mir weckte.
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Sarah.«
Kieran sah mich ernst an.
»Klar, um was geht es?«
»Ich habe dir doch von dem Schattenherz erzählt … Toran, der Drache der Erde, will es haben, um seine Macht zu vergrößern. Er verschlingt die Herzen der anderen Drachen und eignet sich so ihre Kräfte an. Er wird immer mächtiger. Das Wasserherz hat er schon, dass er das Lichtherz bekommt, konnten wir gerade noch so verhindern, und jetzt will er das Schattenherz. Wenn er so weiter macht, kann ihn nichts und niemand mehr aufhalten. Keine Ahnung, wie er mich gefunden hat. Ich war wohl … unvorsichtig …«
Er zögerte kurz.
»Er darf mein Herz nicht bekommen, Sarah.«
Ich schüttelte heftig den Kopf.
»Und was kann ich dagegen tun? Ich bin nur ein Mensch! Ein ganz gewöhnlicher Mensch. Wenn es dir und Finn kaum gelingt diesen … Toran… aufzuhalten, was soll denn dann ich ausrichten können?«
Kieran sah mir tief in die Augen.
»Du bist aber kein gewöhnlicher Mensch, Sarah. Du bist etwas ganz besonderes. Und nur du allein kannst mir helfen.«
Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Du bist die neue Hüterin.«
»Ich bin was?«, fragte ich verwirrt. Langsam kam ich an meine Grenzen. Dass Kieran oder Finn übernatürliche Kräfte besaßen, daran zweifelte ich nicht, aber dass ich etwas Besonderes sein sollte und die Drachen meine Hilfe brauchten … ausgerechnet ich?
»Alle dreihundert Jahre wird eine Frau geboren, die am ersten Vollmond nach ihrem 21. Geburtstag zur Hüterin wird. Und sie allein hat die Macht, ein Drachenherz zu zerstören.«
»Zerstören?«, fragte ich entsetzt. »Aber …«
»Wenn du das Schattenherz zerstörst, sind meine Kräfte für immer verloren. Aber glaube mir, das ist bei weitem besser, als wenn Toran sie bekommt.«
»Aber was geschieht dann mit dir? Ohne das Herz …«
Ein beängstigender Gedanke nahm in meinem Kopf Gestalt an. Wie sollte Kieran weiterleben können, ohne Herz? Würde er sterben … wollte er etwa, dass ich ihn tötete? Entsetzt starrte ich Kieran an.
»Ohne das Herz werde ich ein Mensch. Ich verliere meine Erinnerungen an mein Leben als Drache und werde sterblich.«
Er schmunzelte.
»Es gibt Schlimmeres, oder?«
Ich dachte darüber nach. Keine Erinnerungen zu haben, stellte ich mir schrecklich vor. Nicht zu wissen wer man war und woher man kam. Andererseits schien Kieran genau zu wissen, worauf er sich einließ.
»Und das ist wirklich alles? Du gibst mir das Schattenherz, ich zerstöre es, du wirst ein Mensch?«
Das Leuchten in Kierans Augen wurde schwächer. Er überlegte kurz und fragte dann völlig unvermittelt: »Bist du eigentlich glücklich, Sarah?«
»Ob ich glücklich bin? Was ist denn das jetzt für eine Frage?«
Er sah mich ernst an. Offensichtlich wollte er tatsächlich eine Antwort.
Ich seufzte.
»Ich glaube schon … manchmal läuft nicht alles so, wie ich es gern hätte … aber ja. Im Großen und Ganzen bin ich glücklich.« Ich musste grinsen.
»Im Moment total verwirrt, aber glücklich.«
»Das ist schön. Vielleicht kann ich ja auch glücklich werden. So wie du …«
Er lächelte mich an.
Ich biss mir auf die Lippen.
»Wenn du ein Mensch bist … erinnerst du dich an … mich?«
Kieran lächelte noch immer, aber seine Augen blieben dunkel. »Ich glaube nicht, dass ich dich jemals vergessen könnte.«
Ich wurde rot und wechselte schnell das Thema. Mal wieder.
»Was genau müsste ich denn tun?«
Er erzählte mir von einem alten Steinkreis, der sich ein paar Meilen außerhalb der Stadt befand. Dorthin würde er mich bringen, und morgen Nacht, wenn der Vollmond im Zenit stand, müsste sich sein Herz zerbrechen.
»Für jeden anderen ist es härter als ein Diamant …«
Er nahm meine Hand. Wie immer, wenn er mich berührte, wurde mir heiß. Ich wünschte, er würde mich nie wieder loslassen. »… aber in deinen Händen ist es zerbrechlich wie Glas.«
Sanft strich er mir mit dem Finger über Handfläche.
Mein Herz raste wie wild. Ein Schauer nach dem anderen jagte meinen Rücken hinunter.
»Würdest du das für mich tun? Bitte, Sarah.«
Ich konnte nur stumm nicken. In diesem Moment hätte ich ihm fast alles versprochen.
Kieran sah erleichtert aus. Dann beugte er sich vor und gab mir einen Kuss auf die Wange. Als seine Lippen mich berührten, spürte ich ein Kribbeln wie von tausend Schmetterlingen – nicht nur im Bauch, sondern im ganzen Körper. Mein Herz fing so heftig an zu schlagen, dass ich dachte, es würde zerspringen. Für einen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben, und alles, was zählte, waren Kieran und ich. Obwohl ich ihn doch kaum kannte, sagte mir mein Herz, dass wir zusammen gehörten - dass es gar nicht anders sein konnte. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich bei einem Kuss etwas Derartiges gefühlt. Mir stockte der Atem.
»Ich danke dir«, flüstert Kieran und stand auf.
Ein paar Sekunden lang konnte ich mich nicht bewegen. Dann hörte mein Herz endlich auf zu toben, und ich atmete tief durch.
Kieran stand an der Glastür und sah hinaus. Draußen war es Nacht geworden, und der Mond stand groß und blass am dunkelblauen Himmel. Er drehte sich zu mir um.
»Es ist dunkel. Wenn du willst, bringe ich dich nach Hause.«
Mit einem amüsierten Grinsen öffnete er die Tür. Kühle Nachtluft wehte herein. Leise drang der Lärm der Straße zu uns herauf. »Diesmal nehmen wir aber kein Taxi.«
Mit klopfendem Herzen trat ich neben Kieran auf die Dachterrasse.
»Okay, jetzt nicht erschrecken.«
Kierans Augen fingen an zu glühen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wurde sein Körper von einer Art schwarzem Nebel eingehüllt, bis nichts mehr von seiner menschlichen Gestalt zu sehen war. Seine Umrisse verschwammen und verformten sich zu einem Drachenkörper. Der Nebel löste sich auf, und vor mir stand – der Schattendrache.
Er war kleiner als ich gedachte hatte, vielleicht etwas größer als ein Pferd. Aber Kieran hatte ja erzählt, dass die Größe in den Filmen und Büchern oft völlig übertrieben war. Seine Drachenhaut war glatt und dunkelblau. Sie war in sich gemustert, und mit fast jedem Atemzug schimmerte sie in einer anderen Farbe. Ansonsten sah er den Abbildungen, die ich kannte, schon ziemlich ähnlich. Er hatte einen langen schlanken Hals und einen Kopf ähnlich dem einer Eidechse, nur eben größer und mit Hörnern. Auch an seinem Hals und den Rücken entlang bis zur Schwanzspitze hatte er Hörner … oder Zacken … oder wie auch immer die genaue Bezeichnung dafür war. Das Faszinierendste aber waren seine Augen. Keine Echsenaugen. Es waren menschliche Augen und sie leuchteten grün. Ich war wie gebannt.
»Wow.« Mehr brachte ich nicht heraus. Ich wusste nicht, wie ich diesen fantastischen Anblick hätte beschreiben können.
»Warte erst, bis wir in der Luft sind«, sagte Kieran und senkte einen seiner Flügel. »Steig auf meinen Rücken.«
Ich kletterte trotz Kierans Hilfe ein wenig unbeholfen auf seinen Rücken.
Seine Drachenhaut war warm, und die Zacken wirkten aus der Nähe betrachtet längst nicht mehr so bedrohlich. Vorsichtig setzte ich mich in eine Lücke und stellte erstaunt fest, dass es viel bequemer war, als ich gedacht hatte.
»Halt dich gut fest!«, sagte Kieran und entfaltete seine Flügel. Sie waren so blau wie der Nachthimmel.
Folgsam legte ich meine Hände um seinen Hals. Mein Herz klopfte wie wild. So nah war ich Kieran noch nie gekommen.
Er ging langsam bis zur Kante. Eigentlich wollte ich nicht nach unten schauen, aber natürlich tat ich es doch. Eine schlechte Idee. Ängstlich klammerte ich mich noch fester an Kierans Hals.
»Keine Angst, du wirst nicht runterfallen. Bereit?«
Ich atmete tief durch.
»Bereit.«
Und mit einem riesigen Satz stürzte sich Kieran in die Tiefe.
Ich schloss die Augen, und es kostete mich unglaublich viel Kraft, nicht zu schreien. Es fühlte sich an wie in einer Achterbahn - der Wind pfiff in meinen Ohren, und mein Magen sauste nach unten. Dann, ein paar Flügelschläge später, spürte ich, wie der Flug ruhiger wurde. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Wir befanden uns hoch über der Stadt, und unter mir lag ein einziges Lichtermeer. Der Anblick war atemberaubend.
»Tut mir Leid wegen des holprigen Starts, die Thermik ist dort ein bisschen ungünstig. Aber die Aussicht ist toll, oder?«
»Es ist wunderschön … und das willst du freiwillig aufgeben?«, fragte ich leise.
Kieran antwortete nicht. Vielleicht hatte er mich nicht gehört, immerhin rauschte uns der Wind ganz schön laut um die Ohren. Vielleicht aber auch doch. Irgendwie wurde ich den Verdacht nicht ganz los, dass er mehr wusste, als er mir erzählt hatte. Und warum hieß es eigentlich »Hüterin«? Müsste es nicht viel eher »Zerstörerin« oder so ähnlich heißen?
»Siehst du den kleinen Hügel da hinten, rechts an dem Kirchturm vorbei?«
Kierans Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
Ich folgte seinem Blick.
»Ja. Was ist damit?«
»Da müssen wir morgen hin. Dort ist der Steinkreis, von dem ich dir erzählt habe.«
Ich schaute noch eine Weile zu dem Hügel hinüber und bekam eine Gänsehaut. Morgen Nacht also. Wenn alles vorbei war, gab es keinen Schattendrachen mehr. Der Gedanke daran tat mir weh. Als Kind hatte ich mir oft vorgestellt, wie es wäre, wenn Drachen tatsächlich existierten und ich einem von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen könnte. Entgegen aller Logik war genau das eingetroffen, mehr noch, ich durfte sogar auf einem Drachen fliegen! Doch morgen Nacht sollte das alles vorbei sein. Mit meiner Hilfe.
»Wir sind da, ich gehe runter.«
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir schon fast zu Hause waren. Meine Arme klammerten sich fester an Kierans Hals, als wir uns in für meinen Geschmack viel zu schnellem Tempo meinem Fenster näherten. »Sind wir nicht ein bisschen zu –«, setzte ich an und schloss ängstlich die Augen, als die Mauer immer näher kam.
»Schnell?«, beendete ich den Satz und machte langsam die Augen wieder auf.
Ich stand dicht vor Kieran, der wieder seine menschliche Gestalt angenommen hatte und mich amüsiert angrinste. Meine Arme hatten immer noch seinen Hals umschlungen. Mit hochrotem Kopf löste ich mich von ihm und ging ein paar Schritte auf Abstand. Die Landung und die Verwandlung, alles war so blitzschnell gegangen, dass ich davon gar nichts mitbekommen hatte. Diese Drachenkräfte waren wirklich unglaublich!
»Ich hole dich morgen Abend ab, sobald es dunkel ist«, sagte Kieran.
»Ehm … okay, ist gut«, stammelte ich. Ich schaute auf meine Schuhe und wartete, dass mein Gesicht wieder seine normale Farbe annahm.
»Na dann … Gute Nacht, Sarah. Und bis morgen.«
»Bis morgen.«
Er lächelte mich an, und dann schwang er sich aus dem Fenster.
Ich seufzte. Was für ein Tag. Ich dachte an all die Dinge, die ich erfahren hatte und schüttelte ungläubig den Kopf. Dann seufzte ich nochmal und ging ins Badezimmer.
Ich hatte mir vorsichtshalber den ganzen nächsten Tag freigenommen, ich war viel zu aufgeregt um vernünftig arbeiten zu können. Außerdem hätte mich Stella bestimmt mit Fragen gelöchert, auf die ich selbst noch keine Antwort wusste. Ich versuchte nicht an den Abend zu denken. Natürlich gelang mir das nicht, und ich tat alles Mögliche um mich abzulenken. Ich putzte das Bad von oben bis unten, etwas das ich normalerweise über alles verabscheute. Dann mistete ich meinen Kleiderschrank aus und machte mich schließlich daran, die Sachen, die mir Stella aus dem Laden mitgegeben hatte, zu sortieren. Als ich damit fertig war, war es früh am Abend, und es würde noch einige Zeit dauern, bis die Sonne unterging. Am Horizont zogen Wolken auf. Ob es wohl regnen würde?
Ich ging ins Schlafzimmer und öffnete das Fenster. Die kühle Luft tat gut, doch meine Aufregung konnte sie kaum mindern. In wenigen Stunden würde es soweit sein. Ich ging zum Kleiderschrank und überlegte. Was zog man wohl zu so einem Anlass an? Wäre es eine Geschichte aus einem meiner Bücher wäre es wohl ein prachtvolles zeremonielles Gewand. Vielleicht nachtblau - wie Kierans Flügel …
Als hätte er meine Gedanken gelesen, hörte ich plötzlich ein leises Rauschen. Ich spürte einen Luftzug und sah mich um.
Es war – Finn.
Nicht Kieran.
»Hallo Sarah.«
Lässig hockte er auf dem Fensterbrett. Anders als bei Kieran hatte ich ein wenig Angst vor ihm. Nicht, dass er in irgendeiner Weise bedrohlich wirkte. Er saß da und lächelte mich an. Aber wenn Kieran bei mir war, war es so völlig anders. Seine Gegenwart verursachte bei mir ein Gefühl von absoluter Sicherheit.
»Du brauchst keine Angst haben, ich tu dir nichts«, sagte Finn und hob mit einer abwehrenden Geste die Hände. »Darf ich reinkommen?«
Ich nickte und war verwirrt. Offensichtlich wusste Finn auch, wo ich wohnte. Aber was wollte er von mir?
Er sah sich um.
»Schönes Zimmer.«
»Ehm … Danke. Aber du bist bestimmt nicht gekommen, um dir mein Zimmer anzusehen, oder?«, fragte ich.
Finns Lächeln erstarb.
»Nein. Ich bin wegen Kieran hier. Es geht um etwas sehr Ernstes.«
Ich musste schlucken. Das hörte sich nicht gut an. Was konnte noch ernster sein als das, was Kieran mir gestern erzählt hatte oder das, was ich heute Nacht für ihn tun sollte? Oder besser: was ich Kieran heute Nacht antun sollte. Denn ganz genauso fühlte es sich an.
»Er hat dir nicht die ganze Wahrheit gesagt.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich erstaunt. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass auch ich das Gefühl gehabt hatte, Kieran würde irgendetwas vor mir verheimlichen. Aber warum sollte er das tun?
»Er hat dich gebeten, sein Herz zu zerstören, aber … Nun, es gibt da noch eine andere Möglichkeit.«
»Ich verstehe nicht …« Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
»Wenn du … wenn du das Herz bewahrst anstatt es zu zerstören, kann Kieran ein Drache bleiben. Seine Kräfte wären sicher, und Toran hätte keine Chance mehr, sie an sich zu bringen.«
»Was? Aber wenn das so einfach geht, warum hat Kieran mir nichts davon erzählt?«
Finn zögerte kurz.
»Ganz so einfach ist es leider nicht. Du müsstest einen ziemlich hohen Preis dafür bezahlen …«
Ein flaues Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Finns Worte machten mir Angst. Richtig Angst. Ich setzte mich aufs Bett und hörte zu, was er mir zu sagen hatte: Die Hüterin hatte die Wahl. Zerstörte sie das Herz, würde der Drache ein Mensch, und all sein Wissen und seine Kräfte wären für immer verloren. Nahm sie jedoch sein Herz an und bewahrte es, wären sie und der Drache auf ewig miteinander verbunden. Sie würde nicht altern, hätte nie wieder irgendeine Krankheit und könnte praktisch ewig leben. Allerdings müsste sie nach einer Weile ihre Familie, ihre Freunde und alle anderen verlassen, die ihr etwas bedeuteten. Es würde schließlich auffallen, wenn sich die Hüterin äußerlich nicht veränderte. Sie müsste sich alle paar Jahrzehnte ein komplett neues Leben aufbauen … Ich müsste mir alle Jahrzehnte ein komplett neues Leben aufbauen – und zusehen, wie alle, die ich liebte, alt wurden und schließlich starben. Regungslos saß ich da und versuchte zu begreifen, was Finn mir soeben erzählt hatte.
»Er wollte dir die Entscheidung abnehmen, deswegen hat er dir nichts davon gesagt … Aber ich finde, du hast das Recht auf eine Wahl. Wie alle Hüterinnen vor dir.«
Deshalb hatte Kieran mich also gefragt, ob ich glücklich war.
»Finn, ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich liebe meine Familie. Ich …«, begann ich.
Er streckte mir die Hand entgegen.
»Ich würde dir gern jemanden vorstellen. Komm mit mir.«
Ich zögerte.
»Bitte, Sarah. Kieran ist nicht nur mein Freund, er ist wie ein Bruder für mich. Ich will ihn nicht verlieren.«
Seine Augen verdunkelten sich. Er hatte offensichtlich schon mehr als einmal Freunde verloren, und die Erinnerung daran schmerzte ihn sehr. Ich konnte es sehen.
»Du sollst nur mit ihr reden.«
»Ihr?«, fragte ich überrascht.
Finn lächelte, und seine Augen begannen wieder zu strahlen.
»Ja, du wirst sie mögen. Sie heißt Amira, und sie ist … wirklich toll.«
»Und warum soll ich mit dieser … Amira … sprechen?«
»Weil sie vor dreihundert Jahren genau dieselbe Wahl zu treffen hatte, wie du jetzt.«
»Sie … sie ist eine Hüterin?«, fragte ich erstaunt.
Finn grinste breit, und das blaue Leuchten seiner Augen wurde noch eine Spur heller.
»Sie ist meine Hüterin.«
***
Mit Finn zu fliegen war völlig anders als mit Kieran. Das lag vielleicht daran, dass Finn auch als Drache um einiges größer und massiger war. Außerdem scheute ich mich ein bisschen davor, mich bei ihm festzuhalten. Kieran dagegen hätte ich am liebsten nie wieder losgelassen. Der Gedanke an ihn ließ mein Herz einmal mehr ein wenig schneller schlagen.
Nach wenigen Minuten hatten wir unser Ziel erreicht. Finn setzte mich vorsichtig auf der Dachterrasse eines hohen Gebäudes ab.
»Das mit den Drachenhöhlen stimmt dann wohl definitiv nicht«, sagte ich zu Finn, als ich ihm in das Innere des Penthouses folgte. Ein Penthouse. Wieder einmal. Drachen schienen eine Vorliebe für schicke Wohnungen zu haben.
Er lachte. »Man muss eben mit der Zeit gehen.«
Das Apartment war beeindruckend. Sehr viel weiß, eine Mischung aus modernen Möbeln und antiken Einzelstücken. An den Wänden hingen Bilder aus unterschiedlichen Epochen. Ob die alle echt waren? Wenn ja, waren sie bestimmt ein Vermögen wert.
Ich hörte, wie jemand das Zimmer betrat und drehte mich um. Vor mir stand eine junge Frau. Sie war klein und zierlich, hatte einen dunklen Teint und langes schwarzes Haar. Sie strahlte förmlich als sie Finn sah. Er ging zu ihr, umarmte und küsste sie. Dann sagte er etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand. Amira errötete, gab ihm einen Stoß in die Rippen und wandte sich dann an mich. »Hallo. Du musst Sarah sein. Ich bin Amira.« Sie lächelte freundlich und streckte mir ihre Hand entgegen.
»Ja, ehm … hallo« sagte ich. Sie sah so jung aus. Ich konnte kaum glauben, dass sie schon über dreihundert Jahre alt war. Als ich merkte, dass ich sie anstarrte, wurde ich rot.
»Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht so anstarren. Es ist nur …«
Amira lachte. »Finn hat dir erzählt wie alt ich bin. Ja, ich kann verstehen, dass das seltsam für dich ist.«
Dann wurde sie ernst und wandte sich an Finn: »Kannst du uns bitte für einen Augenblick allein lassen? Ich möchte mit Sarah allein sprechen.«
Finn nickte und ging auf die Dachterrasse. Ein kurzes Rauschen, ein paar Flügelschläge, und er war verschwunden.
»Er macht dir ein wenig Angst, nicht wahr?«
»Ehm … ja, ein bisschen« gab ich zu. »Bei Kieran ist das komischerweise nicht so.«
Amira lächelte vielsagend. »Ich verstehe …«
»Warum bist du Finns Hüterin geworden?«, fragte ich sie und hoffte, dass mein Gesicht nicht ganz so rot war, wie es sich gerade anfühlte.
»Aus Liebe. Ich hätte mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen können.« Amira griff sich mit einer unbewussten Geste an die Kette, die sie um den Hals trug. Ihre Finger umschlossen ein Medaillon.
»Ist es das?«, fragte ich neugierig. »Finns Herz?«
Amira schüttelte den Kopf. »Nein. Diese Kette habe ich von meiner Mutter.«
Sie sah traurig aus. Anscheinend reichten nicht einmal dreihundert Jahre aus, um den Verlust der eigenen Familie vollständig zu überwinden. Sie hob den Kopf und lächelte wieder. »Finns Herz ist hier.«
Amira legte ihre Finger auf eine Stelle ein wenig oberhalb ihres Herzens. Kaum hatte sie die Haut berührt, begann es dort zu leuchten. Es glitzerte und funkelte in allen Farben des Regenbogens. Das Licht pulsierte und wurde erst schwächer, als Amira ihre Hand zurückzog. Nun schimmerte die Stelle nur noch ganz leicht, und schließlich was das Glitzern wieder ganz verschwunden.
»Wow«, sagte ich und merkte, dass ich eine Gänsehaut bekam. So etwas Schönes und Beeindruckendes sollte ich zerstören?
»Warum hast du nicht … warum wollte Finn kein Mensch werden, so wie Kieran?«
Amira sah mich erschrocken an.
»Weil er mich sonst vergessen hätte. Und ich ihn. Hat Kieran dir das nicht gesagt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein … nicht so ganz …«
Dass auch ich Kieran vergessen würde, hörte ich zum ersten Mal.
»Wenn du das Schattenherz zerbrichst, wird Kieran alles vergessen, was er je als Drache erlebt hat. Und du auch! Du wirst dich an nichts mehr erinnern können, was mit ihm zu tun hatte. Ihr werdet zwei völlig Fremde sein. Wer weiß, ob ihr euch jemals wiederseht … oder euch ineinander verliebt …«
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Insgeheim hatte ich die Hoffnung gehabt, dass wenn Kieran kein Drache mehr war … dass wir dann vielleicht eine Chance auf gemeinsames Leben hätten. Wie zwei ganz gewöhnliche Menschen. Doch Amiras Worte änderten natürlich alles.
Sie musterte mich prüfend mit ihren dunklen Augen.
»Wenn du dagegen seine Hüterin wirst, gehört dir seine Liebe für immer. Für immer und ewig. Solange ihr beide lebt. Der Preis dafür ist hoch, sehr hoch sogar … und manchmal ist es wirklich schwer …«
Für einen Moment senkte sie den Blick.
»Deswegen kann ich dir nur diesen einen Rat geben: Tu, was dein Herz dir sagt. Dann wirst du die richtige Entscheidung treffen.«
Ich spürte einen Lufthauch, und Finn kam ins Zimmer.
»Es wird langsam dunkel. Ich bringe dich besser zurück, bevor Kieran merkt, dass du weg bist.«
Amira schaute Finn an, und ich konnte sehen, wie glücklich sie war. Sie nahm meine Hand und drückte sie.
»Hör auf dein Herz, Sarah.«
***
Als Finn und ich bei meiner Wohnung ankamen, war es schon fast ganz dunkel geworden. Ich war völlig verwirrt. Und verzweifelt. Egal, wofür ich mich entschied, ich würde jemanden verlieren, der mir unheimlich viel bedeutete. Den ich vielleicht sogar –
»Danke, Sarah, dass du mit Amira geredet hast« unterbrach Finn meinen Gedanken.
»Weißt du, so übel ist das Leben mit einem Drachen nicht…«
»Streitet ihr euch eigentlich auch mal?«, fragte ich völlig unvermittelt und wunderte mich selbst ein wenig über meine Frage.
Finn lachte.
»Ja, manchmal. Amira kann ziemlich zickig werden, wenn ich denn Müll nicht runter bringe.«
Ich wusste nicht, ob er mich auf den Arm nahm, musste aber trotzdem grinsen.
Dann wurde er wieder ernst.
»Ich weiß, das ist eine furchtbar schwere Entscheidung. Aber … Kieran mag dich sehr. Sogar so sehr, dass er dich nicht vor diese Wahl stellen wollte. Vergiss das nicht, Sarah.«
Und ohne ein weiteres Wort drehte Finn sich um, schwang sich aus dem Fenster und flog davon.
Ich ließ mich auf mein Bett sinken. Was sollte ich denn nur tun? Ich liebte meine Familie. Und Stella. Meine Freunde und …
›Kieran mag dich sehr.‹, hallten Finns Worte wie ein Echo in meinem Kopf. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen und in meiner Magengrube kitzelte es. Ich mochte Kieran auch. Sehr sogar. Und wenn ich daran dachte, wie glücklich Finn und Amira offensichtlich waren … vielleicht könnten Kieran und ich genauso glücklich werden.
»Störe ich?«
Ich schaute in Richtung Fenster. Kieran stand lässig gegen den Schreibtisch gelehnt und musterte mich amüsiert. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich ihn gar nicht gehört hatte.
»Nein … ich …« stammelte ich und wurde rot.
»Woran hast du gedacht? Es muss etwas sehr Schönes gewesen sein. Du hast ja richtig gestrahlt.«
»An gar nichts. Ich …« .
Kieran lachte leise.
»Na schön. Also dann, bist du fertig? Können wir los?«
Ich folgte Kieran ans Fenster, schlang meine Arme um seinen Hals und drückte mich an ihn. Ein paar Sekunden später waren wir in der Luft und flogen in Richtung des Hügels, den er mir am Abend zuvor gezeigt hatte.
Diesmal konnte ich den Flug nicht genießen. Ich fühlte mich schrecklich. Bald war es so weit, und ich müsste die schwerste Entscheidung meines Lebens treffen. Eine Entscheidung, die mir vor Angst fast den Atem nahm. Ich hatte starke Gefühle für Kieran, aber reichte das aus um sein ganzes Leben für jemanden aufzugeben, den man erst wenige Male gesehen hatte? Unzählige Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, doch die Grübelei brachte mich keinen Schritt weiter.
Schließlich landeten wir neben dem Steinkreis. Er war viel größer als ich gedacht hatte. Die moosbedeckten Felsen ragten gut drei Meter in den wolkenverhangenen Himmel empor. Nur hin und wieder gaben sie den Blick auf die kreisrunde helle Scheibe frei. Der Vollmond stand schon fast im Zenit.
»Ihr kommt spät.« Finn sprang von einem der Felsen und landete vor unseren Füßen.
»Irgendeine Spur von Toran?«, fragte Kieran besorgt.
Finn schüttelte den Kopf.
»Nein, aber er wird kommen. Das ist seine einzige Chance. Und die wird er sich mit Sicherheit nicht entgehen lassen.«
Er hob den Kopf und suchte den Himmel ab. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich. Ein heller Lichtschein umgab ihn, breitete sich kuppelförmig um uns herum aus und verlosch nach ein paar Sekunden wieder.
»Diese verdammten Wolken! Ich kann keinen Schutzschild aufbauen. Es ist das Licht. Es ist viel zu schwach … ich versuch’s aus der Luft.«
Finn verwandelte sich und flog davon.
Ich sah ihm besorgt nach.
»Keine Angst, er kriegt das hin«, versuchte Kieran mich zu beruhigen. Doch es gelang ihm nicht. Außerdem war der Schutzschild nicht meine einzige Sorge.
»Wie lange müssen wir noch warten?«, fragte ich.
Nervös trat ich von einem Bein auf das andere.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ich … bin nur etwas aufgeregt«, sagte ich und schaute zu Boden.
Kieran strich mir mit der Hand über die Wange.
»Es wird alles gut werden, Sarah.«
Dann blickte er nach oben. Milchig weiß schimmerte der Mond hinter den Wolken.
»Ich denke, wir können anfangen.«
Er legte sich die Hand auf die Brust und schloss die Augen. Eine Sekunde lang passierte nichts. Dann begann es unter Kierans Shirt plötzlich zu leuchten. Erst dunkelblau, dann violett, purpur, türkis. Die Farben wechselten, und es funkelte und glitzerte. Das Licht wurde immer heller. Kieran umschloss das Glühen mit den Fingern und zog seine Hand zurück. In seiner Faust leuchtete das Schattenherz.
Sprachlos starrte ich es an, und mein eigenes Herz zog sich schmerzvoll zusammen.
»Gib mir deine Hand.«
Ich gehorchte und streckte die Hand aus. Kieran legte das Schattenherz hinein. Es war kleiner als ich gedacht hatte. Vielleicht so groß wie eine Münze. Die Form erinnerte tatsächlich ein bisschen an ein Herz. Seine Oberfläche war glatt, wie bei einem Kristall, aber es fühlte sich warm an.
Obwohl das Herz so klein war, lag es schwer in meiner Hand. Das Wechseln der Farben hatte aufgehört, und nun leuchtete es dunkelblau. Vorsichtig schloss ich meine Hand. Sie zitterte.
»Gib es mir!«, hörte ich plötzlich eine Stimme.
Erschrocken hob ich den Kopf und sah, wie ein großer, dunkler Drache hinter einem der Steine hervortrat. Toran. Er war viel größer als Kieran oder Finn. Seine Haut war braun und schuppig, er hatte scharfe Krallen und spitze Stacheln. Die Augen glühten rot. Wie zwei glühende Kohlen. Er öffnete sein Maul und entblößte messerscharfe Zähne. Ich merkte, wie die Panik langsam in mir hochstieg.
Mit geschmeidigen Schritten näherte er sich.
»Schnell, Sarah! Du musst es zerstören!«, drängte Kieran.
Doch ich konnte nichts tun. Ich war wie gelähmt.
Toran kam immer näher.
Kieran stellte sich schützend vor mich.
»Finn!«, rief er und schaute suchend nach oben.
Toran lachte. Es klang wie Donnergrollen.
»Suchst du deinen Freund? Der Weiße wird dir nicht helfen können … zu wenig Licht. Er war kein Gegner für mich. Und jetzt zu dir … Sarah.«
Ich klammerte mich ängstlich an Kierans Arm.
»Lass sie in Ruhe!«, schrie er.
Toran lachte wieder.
»Wie willst du sie denn beschützen, jetzt, da du ein Mensch wirst?«
Ich sah Kieran an und erschrak. Das strahlende Grün seiner Augen war fast erloschen, und auch die Drachenhaut an seinen Armen begann zu verblassen.
Toran trat noch einen Schritt näher. Er sah mich mit seinen glühenden Augen an. Seine Zähne blitzten.
»Sarah … Hüterin … wenn du das Herz zerstörst, töte ich euch … wenn du es mir aber gibst, verschone ich eure armseligen kleinen Menschenleben.«
»Er lügt. Glaub ihm kein Wort! Sarah, du musst das Herz zerstören. Sofort!«, rief Kieran.
Toran brüllte wütend und sprang nach vorn. Mit einem gewaltigen Hieb seiner Klauen riss er Kieran zu Boden.
Ich schrie auf, als ich sah, dass sich tiefe Kratzer über seine Brust zogen. Dunkles Blut strömte aus den Wunden. Er atmete schwer und versuchte sich aufzurichten, doch er schaffte es nicht.
»Nein!«, schrie ich und wollte zu ihm, doch Toran stellte sich mir den Weg.
»Gib mir das Herz!«, schnaubte er.
In diesem Moment riss die Wolkendecke auf, und etwas Großes, Weißes stürzte sich auf Toran. Finn! Er packte den Erddrachen und verbiss sich in dessen Hals.
Toran schrie und stampfte. Doch er konnte sich nicht befreien. Der Anblick des Kampfes war entsetzlich.