Nach Ebbe kommt Liebe - Katharina Nowack - E-Book

Nach Ebbe kommt Liebe E-Book

Katharina Nowack

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Beschreibung

Lehrerin Nora ist mit Ende 30 mehr als unzufrieden mit ihrem kargen Singledasein und hat das Gefühl, ihr Leben in einer Warteschleife zu verbringen. Als auch noch ihre berufliche Situation ins Wanken gerät, beschließt sie, für ein Sabbatjahr nach Sankt Peter Ording zu ziehen, um dort in einer Frühstückspension auszuhelfen. Doch die Auszeit beginnt äußerst holprig und Nora ist kurz davor, alles hinzuschmeißen. Aber zum Glück ist da ja noch ihre beste Freundin Pippa, die sie überzeugen kann, dem Ganzen noch eine zweite Chance zu geben. Eine spannende und lehrreiche Zeit an der Nordsee beginnt, in der Nora Land und Leute kennenlernt und erfährt, dass die Liebe manchmal genau dort zu finden ist, wo man sie am wenigsten erwartet. Nach Ebbe kommt Liebe ist ein Roman über das Finden von Glück, Liebe und sich selbst in einer Welt voller Möglichkeiten.

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Ich brauche nicht viel sondern Meer.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

EPILOG

1

Ich wartete.

Gerade wartete ich auf den Sushi-Lieferdienst, der mir heute das Kochen ersparen sollte. Aber während ich auf eben diesen wartete, fiel mir wieder einmal mehr auf, dass der Zustand des Wartens mich momentan eigentlich dauerhaft begleitete. „Eigentlich warte ich auf mein Leben“, sagte ich zu mir selbst und stapfte leicht frustriert in die Küche. Im Kühlschrank fand ich noch eine angebrochene Flasche Weißwein. „Auf das Leben“, dachte ich ironisch und goss mir ein Glas ein.

Ich war vor zwei Wochen 38 geworden. Mein Geburtstag, mein diesjähriger „Ehrentag“, war mit Abstand der schlimmste Geburtstag seit 20 Jahren gewesen. Damals, an meinem lang ersehnten 18. Geburtstag, meinte mein damaliger Freund Benni, sich als besonderes Geburtstagsgeschenk an diesem Tag von mir trennen zu müssen. In diesem Jahr dagegen hing ich mit Magen-und-Darm-Grippe über der Schüssel und verbrachte meinen Ehrentag allein im Bett, da mein erbärmlicher Zustand weder Kranken- noch anderen Besuch zugelassen hatte. Auch wenn es das Letzte war, was ich mir eigentlich von meinem Leben und dem Familienstatus mit Ende dreißig erhofft hatte, war ich in dem Moment über mein karges Singledasein froh – im gefühlt jämmerlichsten Zustand eines solchen Virus wollte man ausschließlich eins: allein sein und sein klägliches Äußeres vor der Außenwelt verbergen. Auch wenn ich mir nach nun mehr als fünf Jahren sehnlichst wünschte, den Beziehungsstatus „Single“ oder auch „es ist kompliziert“ endgültig hinter mir lassen zu können.

Ich nahm einen großen Schluck Wein. „Ich kann mir doch nicht dauerhaft mein Leben schön trinken“, dachte ich frustriert. „Irgendetwas muss passieren. Ich will, dass sich das endlich ändert.“

In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Meine kleine Podenco-Hündin Mina raste bellend in den Flur und führte ihre bekannte Bell-Arie auf. Ich drückte auf den Summer und versuchte Mina zu beruhigen. „Mina, benimm dich. Der bringt mir mein Essen! Hör auf mit dem Quatsch.“ Leider verstand Mina mein Beschwichtigungs-Deutsch nach wie vor nicht und bellte unbeirrt weiter.

Sanft schob ich Mina mit dem Fuß beiseite und tauschte Geld gegen die mit Essen gefüllte Papiertüte. Nachdem ich die Haustür wieder hinter mir geschlossen hatte, trug ich die gut duftende Tüte ins Wohnzimmer. „Leckeres Essen hebt doch immer die Laune“, stellte ich fest und machte mich über die Nigiris, Tempura Unagis und das Lachs Sashimi her. Mina hatte es sich währenddessen unterm Esstisch bequem gemacht und wartete sehnsüchtig darauf, dass ich kleckerte oder krümelte. Auch wenn meine Hunde-Erziehung in diesen Fällen nicht gerade Martin-Rütter-verdächtig war, so hatte diese Treue und Zuverlässigkeit, die mir dieses Tier entgegenbrachte, doch immer wieder etwas Tröstendes. „Ach Mina“, seufzte ich. „So kann es doch nicht weitergehen! Was machen wir denn bloß mit unserem tristen Zweier-Haushalt?“

Satt aber mit der Gesamtsituation unzufrieden griff ich nach meinem Handy und tippte in der Anrufliste auf die Nummer in der Reihe, die gleich unter „Happy Sushi“ gelistet war: meine beste Freundin Pippa.

„Hey, alles in Ordnung bei dir, meine Liebe?“ meldete sie sich gut gelaunt wie immer.

„Ja, geht. Ich hasse Sonntage“, war meine Antwort.

„Sonntags-Blues, verstehe. Genau richtig, dass du anrufst. Ich brauche mal eben deinen nicht-fachmännischen Rat.“ In diesem Moment ploppte eine SMS auf meinem Handy auf. Pippa hatte ein Foto geschickt, auf dem ihr Wohnzimmer zu sehen war.

„Wie findest du das? Ich wollte mal wieder eine neue Perspektive und vom Sofa kann man so richtig schön aus dem Fenster schauen!“

Pippa war von Natur und von Beruf aus kreativ. Entweder sie steckte mal wieder in einem ihrer DIY-Projekte oder sie hatte andere verrückte Ideen. Heute hatte sie ihre Wohnung umgestellt und verlangte nun nach meinem Urteil: „Und?“

„Ich finds gut. Vielleicht würde ich die Bilder an der Wand darüber noch etwas anders verteilen. Aber sonst würde ich das so lassen. Was sagt Marc denn dazu?“

„Ach, du kennst ihn ja. Ich soll dich fragen, sagt er. Guter Einwand. Ich glaube, das ist auch das, was mich gestört hat. Danke! Aber nun erzähl mal – wie geht es dir? Was hast du heute Schönes angestellt? Du hast hoffentlich nicht den Tag am Schreibtisch verbracht!“

Ich war Lehrerin an einer Grundschule und nach einem Hörsturz vor 2 Jahren gehörte es regelmäßig zu den Gesprächsthemen zwischen uns, dass Pippa sich um mein Stresslevel sorgte und nach meinem Arbeitspensum fragte.

„Nur ganz kurz“, verteidigte ich mich“, aber ansonsten war ich eine große Runde mit Mina spazieren und hab mir Essen bestellt - so wie jeden Sonntag. Ich hasse Sonntage und heute ist mal wieder so einer, an dem ich das Alleinsein echt verfluche“.

„Hmm – dann müssen wir jetzt mal endlich einen Plan schmieden!“ war Pippas Antwort.

Dafür liebte ich meine beste Freundin. Für ihren unverbesserlichen Optimismus und die Gabe, mich immer wieder aus meinen Stimmungstiefs zu ziehen. Seit dem Tod meiner Eltern vor einigen Jahren war Pippa meine Familie. Sie hat nicht nur die Lücke in meinem Leben gefüllt, sondern mir auch in tiefen schweren Zeiten beiseite gestanden. Mit ihrer ansteckenden Lebensfreude und ihrem unerschütterlichen Glauben daran, dass selbst aus den düstersten Momenten noch etwas Gutes erwachsen konnte, hatte sie es damals geschafft, dass ich trotz des Verlustes wieder vorne blicken konnte.

„Gibt deine Dating-App nicht mal wieder was Nettes her?“ wollte Pippa wissen.

„Nee! Gestern habe ich mit jemandem getextet, der mir nach dem anfänglichen „Ich finde dich ganz sympathisch und schreibe dich jetzt einfach mal an“-Geplänkel offenbarte, dass er bereits Frau und Kind zu Hause hat, aber für ein wenig Abwechslung dankbar wäre“, erzählte ich. Pippa schnaufte verächtlich.

„Und neulich schickte mir jemand ungefragt Fotos, auf denen er eine Strumpfhose trug und mich mit einem verwegenen Lächeln anblickte!“ führte ich meine aktuellen Erfahrungen auf „Lonely Hearts“ weiter aus.

Pippa lachte. „Nicht dein Ernst! Was da draußen aber auch so frei herumläuft! Okay – also scheinbar bringt diese Plattform nichts Brauchbares für dich hervor. Ich weiß, dass du dem gegenüber skeptisch bist, aber ich habe neulich gerade erst wieder von einer Frau gehört, die seherische Fähigkeiten hat und die Menschen hilft, den richtigen Weg einzuschlagen. Meine Mutter hat sie mir empfohlen und das klang wirklich gut, was sie berichtete. Vielleicht könntest du die einmal befragen!“

Pippa war bekannt für ihre „esoterischen“ Tipps, womit ich sie oft aufzog. Sie war in einem Elternhaus groß geworden, wo in jedem Zimmer mindestens ein Buddha zu finden war und in dem abends und morgens für eine Stunde das Telefon ausgestellt wurde, damit ihre Mutter in Ruhe meditieren konnte. Pippa schien das nachhaltig geprägt zu haben. Sie schaute mit einer spirituellen Brille auf die Dinge und kam mir nicht selten mit Weisheiten, wie „Wir sind, was wir denken“ oder „Das Glück liegt in uns, nicht in den Dingen“. Eigentlich konnte ich diesem Gedankengut oftmals nicht viel abgewinnen und zog Pippa häufig damit auf. Insgeheim schätzte ich meine Freundin aber genau dafür und beneidete sie sogar manchmal für dieses bodenlose Vertrauen darauf, dass am Ende doch alles gut werden würde.

„Ach ich weiß nicht recht“, sagte ich. „Woher soll den eine wildfremde Frau wissen, welcher Weg der richtige für mich ist?! Am Ende bin ich genau so schlau wie vorher aber mit Sicherheit um einige 100 Euro ärmer.“

„Sei nicht so negativ. Einen Versuch ist es wert!“, verteidigte sich Pippa. „Ich schick dir gleich einfach mal den Kontakt. Dann kannst du immer noch entscheiden, ob du sie einmal befragen willst. Du, ich muss mal Schluss machen. Marc hat gekocht und wartet mit dem Essen! Mach´s gut, Süße und lass den Kopf nicht hängen! Wir sprechen uns morgen.“

Es klickte in der Leitung.

Kurze Zeit später ertönte das bekannte Nachrichten-Empfangssignal. Pippa hatte ihr wie angekündigt den Kontakt geschickt. „Emilia Berg“ leuchtete auf dem Display auf. Und: „Ruf die doch mal an! Du hast doch nichts zu verlieren! Kuss, Pippa.“

Müde lächelnd legte ich das Handy weg und schaltete den Fernseher ein. Tatortzeit.

2

„Wie kannst du bloß immer gute Laune haben!? Und dann auch noch so früh am Montagmorgen!“ sagte ich kopfschüttelnd, als Mina mir schwanzwedelnd mit ihrem Spielzeug im Maul hinterherlief. „Süße, ich kann jetzt nicht mit dir spielen. Ich muss unter die Dusche und dann in die Schule!“

„Als ob sie das verstehen würde“, dachte ich und verachtete mich fast ein kleines bisschen selbst, dass ich in manchen Belangen genau „so“ eine Hundemama geworden war, wie ich es bei anderen im Vorfeld belächelt hatte. Allerdings musste ich auch immer wieder feststellen, dass das Zusammenleben mit einem Hund für mich fast etwas Therapeutisches hatte. Ich fühlte mich seitdem nicht nur weniger allein, sondern teilte mit Mina auch meinen Alltag. Die fast dankbare Treue, die mir diese kleine zauberhafte Fellnase entgegenbrachte, war für mich nicht mehr wegzudenken und ich hätte niemals gedacht, dass ich so sehr mit der kleinen Hündin zusammenwachsen würde. Gleichzeitig wusste ich natürlich, dass Mina in erster Linie in mir als „Frauchen“ ihre Grundbedürfnisse und Sicherheit erfüllt bekommen musste. Während in menschlichen Partnerschaften Demokratie herrscht und beide Partner auf Augenhöhe stehen sollten, wird ein Hund sich nur wohlfühlen, wenn er seine Grenzen kennt und sich in diesen frei bewegen kann. „Lass Mina gegenüber mehr den Chef heraushängen. Du entlastest du sie, wenn du ihr Führung gibst“, waren die Worte meiner Hundetrainerin, die mir immer wieder in den Kopf kamen. Das gelang mir mal mehr und mal weniger gut, insbesondere in Situationen, wenn Minas Blicke mein Herz erweichten. Genau wie in diesem Moment.

„Ja, meine Süße. Wir gehen gleich raus.“ Während ich zwischen Badezimmer und Schlafzimmer hin und her lief, beobachtete Mina mich genau. Zu verlockend war die Aussicht auf die erste Gassirunde und die sich daran anschließende fleischlastige Mahlzeit.

Ich entschied mich schließlich für eine bequeme weite, dunkle Hose und ein schlichtes graues Oberteil. Ich griff nach einem Haargummi und band mir die Haare schnell und praktisch zu einem Dutt zusammen. Zu kurze Haare, die sich nicht eindrehen ließen, steckte ich mit Klemmen fest. Ein kurzer Blick in den Spiegel: „Passt so für einen Montag“, beschloss ich, schlüpfte in meine Sneakers und startete mit Mina die lang ersehnte Gassirunde.

Als ich damals für meinen Freund nach Hamburg gezogen war, hatte ich gleich eine Stelle als Lehrerin gefunden und wir waren mehr als glücklich gewesen, die Zeit unserer Fernbeziehung endlich beenden zu können. Ich hatte meine Examina mit Auszeichnung bestanden und erinnerte mich noch gut an meine Ausbilderin, bei der ich bis zur Perfektion lernte, Unterrichtsstunden zu planen und durchzuführen. Umso tiefer war der Fall, als ich meine erste Stelle als frisch gebackene Lehrerin antrat. Niemanden interessierte mehr, welche Sozialform ich warum nutzte, welche didaktische Reserve ich mir überlegt und welches Feuerwerk der Pädagogikkunst ich gerade abgefeuert hatte. So merkte ich mehr als schnell, dass die Realität, der Alltag als Lehrkraft nahezu kaum noch etwas mit dem zu tun hatte, was ich in der Ausbildung bis zur Vollkommenheit getrieben hatte. Natürlich war mir demgegenüber auch klar, dass ich mit einer Vollzeitstelle nicht mehr in der Lage war, jede Stunde perfekt auszuplanen, hierfür Dinge zu basteln oder einzulaminieren. Dennoch fand ich es schade, dass sich mein anfänglicher Enthusiasmus nicht besser anbringen ließ.

In dieser Zeit stellte ich mir oder eher dem System häufiger die Frage: „Müsste man nicht diesen „Schatz“ eines Berufsanfängers besser schützen? Ist es nicht das, was dringend besser genutzt werden sollte, weil es letztendlich den Kindern zugutekäme?“

Nachdem mein anfänglicher Eifer aber relativ schnell auf den Boden der Tatsachen ankam und damit langsam verflog wie Schönwetterwolken, arbeitete ich nach und nach meine Stunden ab und fand in eine Art Lehrer-Trott. Der verschaffte mir zwar auch einige Freiheiten, weil ich nicht mehr nächtelang plante und vorbereitete, hinterließ aber auch eine Art Frust, der sich immer mal wieder bemerkbar machte. Nichtsdestotrotz war ich, „Frau Conrad“, bei den Kindern beliebt und – würde ich nicht immer mal aussortieren –könnte mit den zahlreichen selbst gemalten Bildern und Geschenken der Kinder sicherlich irgendwann die Wände meiner Wohnung tapezieren.

Als ungeschriebenes Gesetz galt aber, dass die Werke der Schülerinnen (meistens waren es Mädchen) niemals in einem für sie zugänglichen Papierkorb landeten. Ich erinnerte mich an einen Tag als Referendarin, an dem ich leider zu achtlos, eine Skizze, die ein Mädchen damals von mir angefertigt hatte, nachdem ich mich dafür bedankt und das Ganze gewürdigt hatte, in die Altpapierkiste auf dem Klassentraktflur legte. Es hatten sich mal wieder Hunderte Werke in meiner Schultasche und meinem Klassenfach angesammelt und ich musste Platz schaffen. Leider sah die kleine Künstlerin wenig später ihr Werk im Müll liegen.

Arglos gab sie mir das Bild zurück: „Frau Conrad, das habe ich im Papiermüll gefunden. Das ist doch deins!“

Diese Arglosigkeit war mir nicht nur mehr als unangenehm, sondern brach mir fast das Herz. Seitdem wusste ich, dass ich dringend beim „Aussortieren“ vorsichtiger sein musste.

Unterm Strich mochte ich in meinem Job besonders, dass ich den mir anvertrauten kleinen Menschen etwas beibringen konnte, sie sogar prägen und im besten Falle eine positive Haltung zum Lernen vermitteln konnte.

Nachdem der Hund versorgt war, betätigte ich den Knopf der Kaffeemaschine. Als der Knopf zu blinken aufhörte, ertönte das vertraute Surren und der Kaffee lief in den darunter stehenden Becher. Ein Schuss Hafermilch noch und ich ließ mir genüsslich und mit geschlossenen Augen den ersten Schluck meines Heißgetränks schmecken. Wenn nicht schon die Frischluft durch die morgendliche Gassirunde geholfen hatte, dann half spätestens die Dosis Koffein, mich wach in den Tag starten zu lassen.

In dem Moment musste ich daran denken, wie Pippa letztens von ihrem Seminar „Achtsam leben“ berichtete und mir davon erzählte, dass alle Teilnehmer morgens ein Dankbarkeitsritual durchgeführt hatten. Jeder sollte drei Dinge nennen, für die sie dankbar sind. „Ich bin dankbar für meinen fantastisch schmeckenden Kaffee“, sagte ich halb zu mir selbst und halb zu der mit dem Schwanz wedelnden Mina.

Lächelnd streichelte ich meiner Hündin über den Kopf. „Gleich geht’s los zu Elmar. Dann kannst du schön im Garten toben!“ Ich hatte das Glück, Mina jeden Morgen beim Hausmeister abgeben zu können, der sich, während ich in der Schule war, liebevoll um Mina kümmerte. Elmar war eine totaler Hundemensch und sofort bereit gewesen, mir die Betreuung zuzusagen, als ich mit der Idee kam, mir einen Hund anschaffen zu wollen. Das war wirklich ein Segen und am Ende der ausschlaggebende Faktor, um der Tierschutzagentur zusagen zu können, die kleine Hündin bei mir aufzunehmen. Den Hund als Alternative jeden Tag zu Hause zu lassen, während ich in der Schule war, kam für mich nicht infrage. Somit war ich mehr als dankbar, dass ich in Elmar mehr als eine liebevolle Betreuung für meinen Seelenhund gefunden hatte.

Auf dem Weg zur Schule ging ich gedanklich den bevorstehenden Schultag durch. Doppelstunde Sport in der 3a: „Die freuen sich über eine ausgiebige Runde Brennball“, dachte ich. „In zwei Wochen findet das alljährliche Brennballturnier an der Schule statt und einige sollten dringend ihre Wurfkraft trainieren“. Darüber hinaus standen heute noch Mathe und eine Stunde Theater in der Vierten auf meinem Stundenplan. Meine Motivation hielt sich in Grenzen – typische Montagslaune eben.

Als ich mein Auto auf den Lehrerparkplatz lenkte, sah ich, dass meine Schulleitung ebenfalls gerade angekommen war und aus dem Auto stieg. „Guten Morgen, Frau Conrad“, begrüßte sie mich. „Ich hoffe, Sie hatten ein schönes Wochenende?“

„Dankeschön, es war sehr entspannt. Ich hoffe, Sie auch!“ führte ich den Smalltalk weiter.

„Ja, ja alles gut, danke. Frau Conrad, hätten Sie heute einen Moment für mich? Ich müsste etwas mit Ihnen besprechen. Wären Sie so lieb und kommen in der 1. Pause einmal in mein Büro?“

„Ja, natürlich, kein Problem. Um was geht es denn?“ Mir gefiel der ernste Unterton in Frau Helmsohns Stimme nicht. Oh nein, hoffentlich sollte ich nicht für meine langfristig erkrankte Kollegin einspringen und deren Stunden in der 2d übernehmen. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

„Das würde ich gern später in Ruhe mit Ihnen besprechen. Bis später dann.“

Frau Helmsohns Worte verstärkten meine Unsicherheit. Etwas irritiert holte ich Mina vom Rücksitz. „Na was war das denn?“ murmelte ich halb zu mir selbst, halb zu Mina und knetete ihre weichen Ohren. „Naja, wird schon nichts Weltbewegendes sein“, beruhigte ich mich und brachte den Hund zu Elmar.

Auf dem Weg in die Klasse surrte mein Handy. Pippa wünschte mir per Whatsapp einen schönen Start in die Woche. Ich lächelte und war mal wieder froh und dankbar, eine so treue Freundin an meiner Seite zu haben.

„Ha“, dachte ich triumphierend. „Noch ein Punkt auf meiner Dankbarkeitsliste“. Vielleicht könnte ich mir doch vorstellen, mich in Zukunft häufiger solch alltäglichen Freuden bewusst zu machen und mich dafür wo auch immer zu bedanken. „So schaffst du es, auf Dauer mehr Positivität in dein Leben zu ziehen“, hörte ich Pippas Stimme.

„Fraaaau Coooonrad“, ertönte es aus dem Klassenraum hinter mir. Die Stunde begann.

Während ich auf dem Weg zum Lehrerzimmer in die große Pause war, hätte ich meinen Termin mit Frau Helmsohn fast vergessen, wenn ich nicht am Büro der Schulleiterin vorbeigekommen wäre.

„Frau Conrad, kommen Sie herein“, begrüßt sie mich. Nachdem ich mich gesetzt hatte, seufzte Frau Helmsohn schwer und mir wurde schlagartig klar, dass jetzt weder eine Beförderung, ein Lob oder etwas anderes Erfreuliches folgen würde. Mir wird flau im Magen. Was ist denn um Himmels Willen passiert? Hatte ich etwas falsch gemacht? Hatten sich Eltern über mich beschwert? Das war in dem Stadtteil, in dem sich ihre Schule befand durchaus im Bereich des Möglichen.

„Sie wissen, wie sehr ich sie als Kollegin schätze, Frau Conrad“, begann die Schulleiterin ernst. „Deswegen will ich auch gar nicht lange drumherum reden. Wie Sie wissen, herrscht im ganzen Land Lehrermangel. Überall werden händeringend Lehrkräfte gesucht und in unserer Stadt ist es besonders akut. Da wir als Schule demgegenüber noch gut aufgestellt sind, habe ich nun von der Behörde die Anweisung bekommen, eine Lehrkraft aus unseren Reihen an eine andere Schule in der Stadt abzuordnen, um dort zu unterstützen.“

Mein ganzer Körper verspannte sich. „Und da ist die Wahl auf mich gefallen…“ sagte ich mehr zu mir selbst als zu Frau Helmsohn.

Alle weiteren Worte und Ausführungen der Schulleiterin nahm ich nur noch wie durch Watte wahr. Nichts, was Frau Helmsohn erklärend, beschwichtigend oder aufmunternd an mich richtete, drang zu mir durch. Vor meinem inneren Auge tauchte das Bild einer Marionette auf, die ich zu sein schien und irgendetwas in meinem Kopf schrie ganz laut: „Stopp, Nora. So geht es nicht weiter“.

3

„Schön, dass sie da sind. Kommen Sie herein, Frau Conrad.“ Ich war überrascht, dass mir eine Frau die Tür öffnete, die so gar nicht meinen Vorstellungen von jemandem entsprach, der mir nun meine wichtigsten Lebensfragen beantworten sollte. Auch wenn ich dem Ganzen nach wie vor skeptisch gegenüberstand, war ich neugierig geworden und hatte das Gefühl, irgendetwas unternehmen zu müssen, um meinem Leben eine neue Richtung zu geben.

Ich hatte in den vergangenen Tagen mehrere Telefonate mit der Schulbehörde geführt und vergeblich versucht, die Versetzung abzuwenden. Mit jedem weiteren verzweifelten Anruf starb meine letzte Hoffnung, die Entscheidung meiner Schulleitung, mich an eine andere Schule zu versetzen, noch anfechten zu können.

„Ich bin sicher, dass das Universum dir damit etwas sagen will“, Pippas Einschätzung war wie immer esoterisch gefärbt. Nach einem Mädelsabend mit viel Wein, Pizza und Schokolade, hatte ich mich schließlich von ihrer Freundin überzeugen lassen und einen Termin bei der „Wunderfrau“ vereinbart. Was hatte ich schon zu verlieren? So ging es einfach nicht weiter und ich hatte das Gefühl an einer Wegkreuzung zu stehen, an der ich dringend einen Wegweiser brauchte. Zu lange schon war ich „mit der Gesamtsituation unzufrieden“ und fühlte mich in einer Warteschleife gefangen, aus der ich endlich ausbrechen wollte. Während alle in meinem Freundeskreis mittlerweile eine mehr oder weniger glückliche Partnerschaft (wobei das „glücklich“ relativiert werden muss, weil einige Modelle dann doch so gar nicht meinen Vorstellungen entsprachen), eine Anzahl an Kindern und eine ansehnliche Wohnsituation vorweisen konnten, fristete ich nach gefühlten zig Jahren nach wie vor mein Single-Dasein und lebte in einer kleinen 2-Zimmer Wohnung im Westen der Stadt, in der ich mich zwar einigermaßen wohl aber immer noch wie mit zwanzig fühlte. Auch wenn ich mich alles andere als mit dem typischen „mein Haus, mein Mann, mein Kind“- System identifizieren konnte, so wünschte ich mir doch schon lange „mehr“. Mehr als das, was ich bisher in Sachen Partnerschaft und Wohnsituation erreicht hatte.

Mein Job als Lehrerin war dabei noch das einzige, worauf ich einigermaßen stolz war und was mir Halt, Zuverlässigkeit und meinem Leben eine Konstante gab. Das Gefühl, dass mit der „Zwangsversetzung“ nun auch dieser Pfeiler ins Wanken geriet, setzte meiner Unzufriedenheit die so genannte Krone auf.

„Vielleicht sollte ich mich mal von meinen Vorurteilen verabschieden“, dachte ich, während ich der Dame durch einen langen Flur folgte. In meinen Vorstellungen hatten „Wahrsagerinnen“ lange Haare, eine Warze im Gesicht und trugen wallende Kleider. Frau Engel hingegen war kaum älter als ich und ähnelte mit ihrem kinnlangen Haar und einer schwarzen Statement-Brille einer Schauspielerin, die ich sehr mochte.

Wir betraten einen hohen, hell eingerichteten Raum, mit hochwertigem Holzfußboden, der bei jeder Bewegung wunderbar knarzte. Vor dem bodentiefen Fenster standen zwei helle Polstersessel mit einem kleinen Tischchen in der Mitte. Eine Vase mit bunten Wiesenblumen, sowie eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläsern standen einladend darauf. Das Sonnenlicht, das in diesem Moment durch die Fenster fiel, färbte den Raum fast golden. Alles wirkte freundlich und derart aufeinander abgestimmt, dass es auch auf ein Schöner-Wohnen-Cover passen könnte. Mein Innendesign-Herz hüpfte.

„Setzen Sie sich, was führt Sie zu mir?“ durchbrach Frau Engel nun mein Staunen und wies auf den noch freien Lounge-Sessel ihr gegenüber.

Ich ließ mich in den Sessel sinken und wusste plötzlich nicht mehr, was ich eigentlich sagen sollte. In meinem Kopf herrschte Chaos und meine Gedanken wuselten herum.

Während ich noch verzweifelt nach den richtigen Worten und „der“ Frage suchte, stand Frau Engel auf, ging zu einem Schreibtisch, der an der gegenüberliegenden Seite stand und kam mit einem Deck Karten zurück.

„Hier, mischen Sie diesen Stapel bitte.“ Etwas verunsichert nahm ich die Karten entgegen und begann, sie zu mischen.

„Oftmals sind Klienten am Anfang zu blockiert, um sich zu öffnen. Tarotkarten helfen dabei, einen Einstieg zu finden. Das Kartenlegen kann dazu beitragen, die eigenen Gedanken und Emotionen zu reflektieren und zu verstehen. Es kann auch helfen, Probleme und Herausforderungen zu identifizieren und neue Wege zu finden, um damit umzugehen.“

„Ehrlich gesagt, ist mein gesamtes Leben mein Problem. Ich möchte dringend wissen, was ich tun kann, um an einem Ort, mit einem Menschen und einem Job glücklich zu werden“.

Frau Engel lehnte sich in ihrem Sessel zurück und lächelte. „Ziehen Sie nacheinander bitte sieben Karten und legen Sie sie vor sich hin“.

War ja klar, dass ich die „Karte des Todes“ ziehe, dachte ich, als ich an der Ampel stand und darauf wartete, dass diese auf grün sprang. Ich fühlte noch das Unbehagen, das in mir aufstieg, als ich die Karte aufdeckte. Aber Frau Engel erklärte mir, dass die Karte nicht zwangsläufig den Tod eines lieben Menschen ankündige, sondern viel mehr für einen Neuanfang stünde und zeigte, dass etwas zu Ende gehen würde, damit etwas Neues beginnen könnte.

„Sie werden nicht das bekommen, was sie möchten, sondern das, was Sie brauchen“, hallten Frau Engels Worte nach.

„Hmm, also so wirklich positiv klingt das alles nicht“ ist mein erstes Fazit. Der Klingelton meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Erleichtert nahm ich das Gespräch an. Als hätte sie einen siebten Sinn, (Pippa war davon überzeugt, dass sie diesen besaß), war auf sie mal wieder Verlass.

„Hey Süße, wie wars? Gibt es neue Erkenntnisse?“ schallte es aus der Freisprechanlage meines Autos.

„Wie soll das denn genau aussehen, wenn ich hier alles abbreche und irgendwo anders lebe?“ sprudelte es aus mir heraus. „Und was soll ich denn ohne dich tun?“

„Nun mal der Reihe nach. Du bist ja ganz aufgewühlt.“

„Ja, ich muss das auch erst einmal für mich sortieren. Fest steht, dass es in meinem Leben scheinbar eine entscheidende Veränderung, einen spürbaren Einschnitt gibt“, erzählte ich. „Du weißt ja, dass ich immer skeptisch bin, aber Frau Engel hatte schon eine besondere Ausstrahlung und etwas an sich, was ich so bisher nicht kannte. Die Sitzung bei ihr hat mir gezeigt, dass ich mich von den Dingen verabschieden sollte, die sich in meinem Leben nicht mehr gut anfühlen, um Platz für etwas Neues zu schaffen.“

„Das klingt doch super spannend und positiv“, fand Pippa. „Jetzt müssen wir uns nur noch überlegen wie dieser Neuanfang aussehen kann! Oder hat Frau Engel dir das auch gesagt?“

„Als ich die Frage gestellt habe, wie es beruflich jetzt für mich weitergehen soll, habe ich die Karte „Der Narr“ gezogen“. Laut Frau Engel steht die Karte für Leichtsinn und unbeschwerte Lebenslust und das meint, dass ich der Situation mit mehr jugendlicher Neugier und Unbekümmertheit begegnen soll. Weißt du, was mir plötzlich in den Sinn kam?“ Den Gedanken hatte ich vorhin wieder weggeschoben, traute mich aber jetzt, ihn auszusprechen und diese Option wirklich in Erwägung zu ziehen.

„Nee, sag!“

„Ich habe überlegt, dass die Sommerferien ja demnächst anstehen und ich vielleicht danach…“

„dein schon so lang geplantes Sabbatjahr endlich antreten sollst?!“ führte sie meinen Satz fort. „Na klar, Nora! Wieso sind wir da nicht gleich draufgekommen?“ Pippa war begeistert. „Marc ist heute Abend mit Freunden unterwegs, komm doch mit Mina später zu mir und wir schmieden einen Plan! Ich habe da auch schon eine Idee!“

„Wir sind um 20 Uhr da.“

Ich fühlte mich befreit und empfand plötzlich fast so etwas wie Hoffnung und Vorfreude. Lächelnd trat ich aufs Gaspedal und drehte die Musik im Radio laut.

4

„Wir beide ab nächsten Monat an der Nordsee, Mina! Wie klingt das?“ Ich schmiss mich rücklings aufs Bett. Mina, die das als Aufforderung zum Spiel verstand, sprang schwanzwedelnd hinterher und versuchte mir einen Hundekuss zu geben. „Bah, Mina, nicht ins Gesicht!“

Lachend schob ich Minas Schnauze zur Seite und nahm meine kleine Hündin in den Arm. Ich konnte das alles noch gar nicht richtig glauben.

Pippa hatte mir durch eine Bekannte ein Zimmer in einem kleinen Ort an der Nordsee vermittelt, wo ich für die nächste Zeit bleiben konnte. Marion führte eine kleine Pension und hatte angeboten, dass ich bei ihr wohnen könnte, wenn ich ihr als Gegenleistung bei der Gästebewirtung unter die Arme greifen würde.

„Das klingt fast wie in einem `Rosamunde Pilcher`-Film“, war mein skeptischer Kommentar, als Pippa mir diesen Vorschlag machte. „Nur, dass dieser nicht in Cornwall, sondern bei Sankt-Peter-Ording spielt. Kann das klappen?“

„Naja, in diesen Schmonzetten wird doch meistens ein großes pompöses Anwesen geerbt und die männliche Komponente fehlt bisher auch“, hatte meine Freundin geschnauft. „Mensch, Nora, nun sei doch nicht immer so skeptisch, wenn das Leben es auch einmal gut mit dir meint. Die ganze Zeit bist du unzufrieden und sehnst dich nach Veränderung. Nun ergibt sich für dich eine super Möglichkeit, einmal rauszukommen und zu schauen, was das Leben sonst noch für dich zu bieten hat! Ich freu mich für dich und du solltest das auch tun! Außerdem: Manchmal wird der kleinste Schritt in die richtige Richtung zum größten Schritt des Lebens!“

Pippa hatte es am Ende wieder einmal geschafft, mich aus meinen Zweifeln und meiner Skepsis herauszuholen. Ich hatte ihr daraufhin noch einmal bescheinigt, mein persönlicher Konfuzius zu sein.

Nun saß ich auf dem Bett und schaute auf zwei aufgeschlagene Koffer und eine Reisetasche, die noch leer vor mir auf dem Boden lagen und darauf warteten, gefüllt zu werden.

Fünf Wochen war es nun her, dass ich bei Frau Engel die Karten gezogen hatte. Ich hatte etwas unterschätzt, wie viel Organisation es bedarf, mein Leben in Hamburg für unbestimmte Zeit aufzulösen, um es an einem anderen Ort fortzuführen. In den vergangenen Wochen war ich damit beschäftigt gewesen, bei der Behörde den Antrag für das Urlaubsjahr durchzusetzen, einen Zwischenmieter für meine Wohnung zu finden und gewisse Möbel und Klamotten einlagern zu lassen. Aber am Ende hatte sich alles irgendwie gefügt und bis auf das Kofferpacken und ein paar letzten Kleinigkeiten stand heute Abend nur noch das Abschiedsessen mit meinen besten Freundinnen aus.

Auch den gestrigen letzten Schultag hatte ich hinter mich gebracht. Die Entlassungsfeier der Viertklässler und der Abschluss des Schuljahres waren in diesem Jahr besonders emotional gewesen. Nicht nur die Viertklässler weinten aufgrund des Abschieds und des ihnen bevorstehenden Neuanfangs, auch ich war dankbar für meine große schwarze Sonnenbrille.

Seitdem ich denken konnte, wusste ich immer was kommt. Schule, Studium, Referendariat, Lehrkraftsein. Alles in meinem Leben verlief bisher immer in sicheren Bahnen, zumindest was den Beruf anging. Und nun wusste ich so gar nicht wirklich, was die nächste Zeit bringen würde.

Die Dankesrede der Eltern nahm ich eher abwesend wahr und auch zu den persönlichen Worten der Schulleitung empfand ich Distanz. Zu sehr hatte ich mich in den letzten Wochen mit dem mir bevorstehenden neuen Kapitel beschäftigt und mich diesem geöffnet. Damit hatte ich es auch geschafft, die doch leise an mir nagenden Zweifel, nicht gut genug und deshalb an eine andere Schule versetzt worden zu sein, wegzuschieben. Nichtsdestotrotz steckten die kindliche Traurigkeit meiner Schüler und Schülerinnen bei der Entlassungsfeier besonders an. So einte uns die Unsicherheit, was in den nächsten Monaten auf uns zukommen würde.

Als einer meiner Schüler mich zum Abschied besonders fest umarmte, war es mit meiner Fassung dann endgültig vorbei. Gerade von Samuel hatte ich diese Geste am wenigsten erwartet, so waren die letzten Jahre nicht immer ganz leicht für ihn gewesen. Ich hatte zahlreiche Elterngespräche geführt und es gab etliche Versuche, das Verhalten dieses Jungen mit unterschiedlichen Methoden positiv zu beeinflussen. Die Umarmung und das leise Schluchzen dieses Jungen vermittelten mir aber am Ende eine so wertvolle Dankbarkeit und das versöhnliche Gefühl, doch etwas richtig gemacht zu haben. Meine Selbstzweifel verblassten und bestärkten mich schließlich in der Erkenntnis, dass die Erziehungsarbeit, so steinig sich diese auch gestaltete, das Wertvollste an der Arbeit als Lehrkraft war.

Und während ich sonst in den vergangenen Jahren immer noch beim alljährlichen Anstoßen mit den Kollegen und Kolleginnen im Lehrerzimmer versackt war, hatte ich mir dieses Mal einfach Mina geschnappt und war mit ihr den Wald gefahren. Schließlich begann nun mein Sabbatjahr oder wie Pippa es getauft hatte: „mein Neuerfindungsjahr“. Nur von zwei meiner Lieblingskolleginnen hatte ich mich persönlich verabschiedet. Hella und Jana waren mir in dieser Schule besonders ans Herz gewachsen und mit ihnen war im Laufe der letzten Jahre eine kollegiale Freundschaft entstanden. Die beiden waren mit der Entscheidung der Schulleitung auch so überhaupt nicht einverstanden gewesen und hatten sich ebenfalls als kleinen stummen Protest geweigert, an der kollegialen Zusammenkunft im Lehrerzimmer teilzunehmen. Die beiden hatten für mich zum Abschied ein kleines Survival-Kit zusammengestellt und in einem Körbchen allerlei „Nützliches“, wie Sudokus gegen Langeweile, einen Piccolo-Sekt, Taschentücher und eine Tassenschokolade gegen Heimweh zusammengepackt. Wir verabredeten uns, in Kontakt zu bleiben und sie versprachen, mich in Zukunft mit Klatsch und Tratsch-Updates aus der Schule zu versorgen.