Nach einem Traum - Gina Schad - E-Book

Nach einem Traum E-Book

Gina Schad

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Beschreibung

Marie hat sich in Simon verliebt, und Simon sich in Marie, nur ist Simon verheiratet. Doch sie finden eine Möglichkeit: den digitalen Raum. Mit der Zeit steigert sich aber Maries Sehnsucht nach Intimität, nach Kontrolle zu einem Bedürfnis, das unbedingt befriedigt werden will - wie Hunger oder Durst. Immer weiter verliert sie dabei ihr Leben aus dem Blick. Bald ist sie regelmäßig auf den Profilen seiner Frau und seiner Kinder unterwegs. Marie bemerkt die Grenzüberschreitung, doch es ist wie verhext: Jedes Mal, wenn sie gerade etwas Distanz bekommt, läuft sie Simon überraschend über den Weg. Oder sind die Begegnungen gar nicht so zufällig? Nach einem Traum geht der Frage nach, wie wir mit den Verlockungen der digitalen Verfügbarkeit umgehen, wenn Sehnsüchte sich in Süchte verwandeln. Wie entliebt man sich, wenn der andere nur einen Klick entfernt ist? Gina Schads Debüt wird eindringlich von Rosa Thormeyer interpretiert. Das gleichnamige Hörbuch erscheint bei GOYALiT

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 198

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Gina Schad

Nach einem Traum

Roman

Die Autorin

Gina Schad, geboren 1984, studierte Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Internet und den Medien und hat bereits zu Themen wie Privatheit und Netzkultur veröffentlicht. Gina Schad arbeitet als freie Autorin und lebt in Berlin. Nach einem Traum ist ihr erster Roman.

Das Buch

Marie hat sich in Simon verliebt, und Simon sich in Marie. Doch Simon ist verheiratet und versucht, der körperlichen Anziehung zu widerstehen – dennoch finden sie eine Möglichkeit, sich einander nahe zu fühlen: im digitalen Raum. Mit der Zeit steigert sich Maries Sehnsucht nach Simon, nach Intimität, nach Kontrolle zu einem fieberhaften Bedürfnis. Immer tiefer taucht sie in den sozialen Medien in sein Leben ein und verliert dabei ihr eigenes aus dem Blick. Ihre Karriere als Cellistin und ihre Freundschaften treten hinter dem Bedürfnis zurück, nach versteckten Botschaften in Simons Storys und Posts zu suchen. Doch wie weit wird Marie gehen?

Eins

Das Café liegt schräg gegenüber der Charité, in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße. Junge und alte Studenten, Professoren, Ärzte. Sie alle sitzen mittags auf den Stühlen vor dem Café, meist mit einem Cappuccino in der Hand. Gegenüber Fahrradständer. Nirgendwo in der Stadt ist es wohl gerade so ruhig, nur der Wind weht einmal von rechts nach links. Der Barista, der mittags die Tische draußen säubert, hat lange dunkle Locken, bis zur Schulter. An guten Tagen jongliert er mit Espressopackungen und verteilt Bananenbrot an junge Studentinnen. An schlechten Tagen erzählt er von stressigen Schichten, überteuerten Mieten und dass er seine Familie in Italien schon lange nicht mehr gesehen hat.

Drinnen ist es modern eingerichtet, mit schwarzem Holz. An der Decke hängen Fabrik-Lampen. Auf den Tischen stehen kleine Zuckerschalen und Servietten. Bestellung und Abholung an der Bar. Die Seite zur Charité hin ist verglast, manchmal bleiben Menschen davor stehen und schauen hinein.

Marie sitzt an einem der hinteren Tische. Sie faltet die Servietten zu kleinen Fliegern, eine Kante auf die andere, auf die andere, auf die andere. Von ihrem Platz aus kann sie unauffällig die Tür beobachten und sieht sofort, wenn ihre Verabredung hereinkommt. Es ist eine matte Tür aus Glas, die den Blick auf die Eintretenden erst freigibt, wenn sie bereits im Café stehen.

Verstohlen betrachtet Marie sich in der Scheibe. Ihre Gesichtszüge sind weich, nichts an ihr ist kantig. Die dichten Augenbrauen passen zu den kurzen Haaren und im Sommer auch zu den Sommersprossen. Sie schaut an sich herunter, das Kleid ist neu. Sie spürt den guten Stoff auf ihrer Haut. Das Gefühl zieht sich über den ganzen Körper und umhüllt sie wie eine teure Creme.

Simon Lauwitz betritt mit einer schwarzen Umhängetasche aus Leder das Café. Sie erkennt ihn sofort. Er sieht aus wie auf den Bildern, die sie im Internet von ihm gesehen hat. Es ist zehn nach zwölf, Mittagspause. Etwas abgespannt lässt er den Blick schweifen, kramt in seiner Tasche und schaut prüfend auf sein Handy. Marie hebt zögerlich die Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. Er lächelt, als er sie sieht, und kommt mit schnellen Schritten auf sie zu.

Simon hat eine eigene Hausarztpraxis und arbeitet in der Charité. Dort hat er auch manchmal mit Josie zu tun, ihrer früheren Mitbewohnerin und engsten Freundin. Am Morgen hatte sich Marie schon durch seinen Wikipedia-Eintrag geklickt. Dort standen so hilfreiche Dinge wie, dass seine Mutter als Metzgereiverkäuferin gearbeitet hat.

Simon erreicht den Tisch und legt seine Tasche ab.

Darf ich Ihnen einen Kaffee mitbringen?

Braune Augen bohren sich in sie hinein. Maries Blick wandert zu den gefalteten Servietten. Sie hat noch nichts bestellt.

Oder lieber einen Cappuccino?

Seine Frage erwartet eine schnelle Antwort.

Oder möchten die Tauben nichts trinken?

Er legt seinen Kopf schief und blinzelt. Mit den Tauben meint er wohl die gefalteten Flieger.

Nein, gerne, also gerne Kaffee mit Milch, beeilt sich Marie zu sagen und entfaltet die Servietten rasch unter dem Tisch. Eine Erwachsene, die beim Spielen beobachtet wurde.

Simon geht zur Theke und bestellt. Kurz darauf sitzt er ihr gegenüber.

Schön, dass es so spontan geklappt hat, sagt er.

Beide mustern sich neugierig. Marie erwidert seinen Blick und fühlt sich ertappt. Bei was, weiß sie auch nicht genau. Sie versucht, ihren Atem zu kontrollieren, der schneller geht als sonst. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Sicher ist Simon immer am Arbeiten, immer beschäftigt, denkt sie. Sie selbst hat heute keine Termine und daher Zeit. Nach dem Frühstück hat sie geduscht, sich anschließend geschminkt und überlegt, was sie zu dem Treffen anziehen soll. Dann der Wikipedia-Eintrag. Es kann ja nicht schaden, etwas über seinen Gesprächspartner zu wissen.

Ich habe Sie gegoogelt, sagt Marie in die Stille.

Sie haben mich gegoogelt?

Es klingt weniger wie eine Frage, mehr wie eine erstaunte Feststellung.

Das ist nett.

Simon schaut etwas verwirrt, und Marie fragt sich, ob er es wirklich nett findet.

Der Kaffee ist gut, oder?

Das fragt er bestimmt, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, denkt sie.

Ja, sehr gut.

Sie lächelt und hat das Bedürfnis, ihn zu berühren, obwohl er ein Fremder ist.

Den Cappuccino machen sie hier immer gut, sagt er. Wollen wir nicht einfach du sagen?

Marie nickt.

 

Simon erzählt, dass er genau an diesem Tisch früher zu seinen Studienzeiten gesessen hat und der Geruch in diesem Café etwas bei ihm auslöst. Sie unterhalten sich über Urlaube an der Ostsee und darüber, dass sie nicht gerne mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Marie schätzt Simon auf Ende vierzig. Im Schätzen ist sie nicht sonderlich gut, und bei Wikipedia stand kein Geburtsdatum.

Sie mustert ihn unauffällig während des Gesprächs. Simons Körper ist athletisch, sicher macht er regelmäßig Sport. Das Gesicht ist schmal, aber von dicken kurzen Haaren umrahmt, weshalb das nicht weiter auffällt. Die Augen mit den markanten Augenbrauen haben etwas Spitzbübisches. Wenn er redet, kneift er die Augen zusammen, sodass es aussieht, als würde er ihr zuzwinkern. Seine Stimme ist rauchig, aber warm und freundlich.

Simon erzählt von seinem Abschluss und dem ersten Job, bei dem er aus heutiger Sicht zu wenig verdient hat. Er erzählt auch von seinem Vater, der die Familie verlassen hat. Da war er noch klein. Marie hat das Gefühl, als würde er ihre Geschichte erzählen und nicht seine.

Irgendwie fühlt es sich an wie ein Date, obwohl es kein Date ist, ruft sie sich ins Gedächtnis. Doch es klopft, es klopft und hört nicht auf, denkt nicht daran, klopft einfach weiter, weiter, und sie sagt stopp, aber was hört schon auf, wenn man stopp sagt.

Lebst du schon lange in Berlin?

Simon schaut neugierig von seinem Cappuccino hoch.

Vier Jahre.

Marie umfasst ihre Tasse mit beiden Händen. Ihr fällt auf, dass man ihre kaputten Fingerkuppen sehen kann und sie versteckt die Hände schnell unter dem Tisch. Irgendwie möchte sie nicht, dass er zu viel über sie weiß, und ihre Hände verraten eine Menge. Die kaputten Finger kommen vom Üben. Sie schmerzen meistens, ab und zu sind sie auch offen, wenn sich die Cellosaiten über Stunden in ihre Fingerkuppen eingegraben haben und die Haut anfängt, sich abzulösen. Die Fingernägel hat sie kurz geschnitten, manchmal kleben Pflaster darüber.

Simon stellt seine Tasse ab. Er macht es etwas zu schwungvoll, es klirrt. Ihr Blick fällt auf seine Hände. Simon ist also verheiratet, registriert sie sofort.

Und du?

Er lehnt sich zurück und schaut zum Nachbartisch, an dem zwei junge Studierende vor ihren Laptops sitzen und arbeiten.

Ich bin damals fürs Studium nach Westberlin gezogen, sagt er.

Damals war sicher alles noch anders, sagt Marie.

Mit damals meint sie, als er so jung war wie sie.

Das war eine schöne Zeit. Aber ich will dich nicht langweilen, winkt er ab.

Du langweilst mich nicht, antwortet Marie.

Sicher?

Sie nickt.

Dann bin ich beruhigt. Was machst du denn beruflich?, fragt er, und Marie schiebt ihre Hände noch weiter unter den Tisch. Sie rutscht auf ihrem Sitz hin und her.

Ich bin Cellistin, quasi fertig mit dem Studium, sagt sie.

Simon wirkt freudig überrascht. Sie wundert sich, warum er so begeistert ist.

Das klingt großartig, sagt er.

Das Abschlussspiel steht noch aus. Eine kleine Hürde habe ich also noch zu nehmen.

Das ist für dich sicher keine Hürde, sagt er, und Marie wird rot. Dabei wird sie eigentlich nie rot. Sie gehört zu den Menschen, die eher weiß werden als rot. Aber jetzt wird sie doch rot.

Ich wollte früher immer Fotograf werden, sagt er. Aber für die Kunsthochschule hat es leider nicht gereicht. Simon blickt verträumt auf seine Tasse.

Was fotografierst du denn?

Er ist also auch Künstler. Das mit der Medizin ist nur sein Erwerbsjob, denkt sie.

Menschen, sagt er. Porträts erzählen mehr als jede Landschaft.

Marie erwidert kurz seinen durchdringenden Blick, weicht dann verlegen aus.

Ich würde dich gerne einmal spielen hören, sagt Simon.

Dann möchte ich im Gegenzug eine Fotografie, antwortet sie.

Moment! Simon öffnet seine Tasche und holt einen schwarzen Kalender aus Leder hervor.

Darf ich mir deine Nummer notieren?, fragt er und lächelt. Dann kann ich dir ein Bild schicken.

Marie gibt sie ihm, und er steckt den Kalender wieder in die Tasche.

Musik gegen Fotografie also, sagt er.

Deal, sagt Marie, und sie hat das Gefühl, dass sie sich noch mehr zu erzählen haben.

Und was machst du, wenn du keine Musik machst?

Ich gehe ins Kino oder zu Ausstellungen.

So wie ich. Wobei ich schon lange nicht mehr im Kino war.

Oder ich fahre am Wochenende ins Grüne. Die Stadt ist mir oft zu laut, fügt Marie hinzu.

So geht es mir auch. Simon lächelt. Deshalb lebe ich am Rand von Berlin.

Ich würde auch gerne etwas weiter draußen leben, sagt Marie zögerlich.

Zehlendorf kann ich nur empfehlen.

Simon holt einen Stapel Blätter aus seiner schwarzen Ledertasche und legt sie auf den Tisch. Es sind die Unterlagen für Josie, die schon seit Wochen mit einem Bandscheibenvorfall zu kämpfen hat. Sie hatte Marie Simons Nummer gegeben und sie gebeten, die Studienunterlagen bei ihm abzuholen. Im Gegenzug sollte sie ihm Josies neue Krankschreibung geben, damit er sie in der Charité einreicht. Dann kam Simons spontaner Vorschlag mit dem Café.

Es ist kein Date, es ist kein Date, wiederholt Marie in Gedanken.

Simon fängt ihren Blick auf. Sie sieht das Glänzen in seinen Augen.

Marie fragt sich, ob ihre Augen auch glänzen. Sie würde gerne auf die Toilette gehen, um das zu überprüfen. Aber sie sitzt wie angewurzelt auf ihrem Stuhl. Als sie sich aus der Starre zu befreien versucht, macht sie eine hektische Bewegung, und die Zuckerdose fliegt zu Boden.

Simon lacht. Und sie lacht mit.

Sie ist verwirrt. Sieht nur noch seine Augen, die ihren Körper samt Sehnen und Haut komplett einsaugen, alles andere wird klein, fast durchsichtig. Ihr Herz klopft so stark, dass er es hören muss. Sehen kann man es auf jeden Fall, selbst durch das Kleid. Und sein Hemd bewegt sich im Takt.

Klack, klack. Klack, klack.

Sie hat das Gefühl, sich nackig zu machen, mit allem, was sie als Nächstes sagen könnte. Ihre Konzentration richtet sich ganz aufeinander, sie können nicht aufhören zu lächeln. Marie spürt seine Hand kurz an ihrer auf dem Tisch, aber vielleicht war es auch Zufall.

Das Café hat sich mittlerweile geleert, die Mittagszeit neigt sich dem Ende zu. Die Türen werden geöffnet, um frische Luft in den Raum zu lassen. Simons Blick klebt an ihrem, bis sein Handy klingelt und den Moment unterbricht. Er gibt ihr ein Zeichen, dass er das Telefonat annehmen muss. Steht auf und bedankt sich für den Kaffee, obwohl er ihn bezahlt hat.

Ich melde mich, flüstert er, während er mit der anderen Hand das Mikro seines Smartphones bedeckt. Seine Augen fixieren ihre noch einmal, bevor er das Café verlässt.

Simon hat seine Tasse ausgetrunken, Marie hat ihre nicht angerührt. Das Gesicht aus Schaum, das der Barista liebevoll kreiert hat, ist zusammengefallen. Sie trinkt einen Schluck, der Kaffee ist kalt. Ihr Kleid bewegt sich noch immer auf und ab. So müssen sich Herzrhythmusstörungen anfühlen, denkt sie. Marie lehnt sich zurück, damit sie ihren Kopf an der Wand anlehnen kann. Sie fühlt sich körperlich erschöpft, wie nach einem Marathon.

 

Der Wind weht ihr entgegen, sodass sie nur langsam vorankommt auf dem Weg vom Café nach Hause. Ihr Blick wandert erst auf den Lenker, dann weiter nach unten. Das Fahrrad ist dunkelbraun bis schwarz. Vor dem Lenker ist ein hellblauer Korb befestigt. Marie hatte sich für ein massives Hollandrad entschieden, etwas Zierliches würde nicht zu ihr passen. Das Fahrrad hatte beim Kauf schon ein paar kleinere Dellen, oben an der Stange und hinten am Rahmen. Aber es ist ein gutes Rad, und wenn es nicht gerade windet, kommt sie schnell voran. Sie sieht nach oben, der Himmel ist grau. Die Wolken hängen am Himmel, als ob sie jemand einzeln für ein Foto aufgehängt hat. Nur ab und zu wird eine kleine Lücke frei, und das Blau kommt zum Vorschein. Wenn man zu lang wartet, schieben sich die Wolken wieder davor.

Die meisten Menschen freuen sich, wenn die Lücke größer wird. Spätestens wenn sie so groß wird, dass keine Wolken mehr zu sehen sind, muss man rausgehen und das Leben genießen. Wenn die Wolken wieder hängen, alle zu Hause sitzen und man nichts verpasst, dann braucht man kein schlechtes Gewissen zu haben. Von daher sind die Wolken da oben für sie okay, es könnte eigentlich nicht besser sein.

Während sie fährt, versucht Marie das Treffen im Café einzuordnen, aber sie weiß nicht, was sie davon halten soll. So etwas ist ihr noch nie passiert. Sie atmet einmal tief aus und fährt mit dem Fahrrad die lange Allee entlang, an deren Ende sie ihre Straße schon erahnen kann. Doch erst muss sie noch an einer Siedlung mit relativ neuen Stadthäusern vorbei. Die Häuser sind sicher nicht so teuer wie normale Häuser, weil sie klein sind, wie Hundehütten. Aber billig sind sie bestimmt auch nicht. Meist leben darin junge Familien, die dort hingezogen sind, damit die Kinder einen Garten haben, in dem sie spielen können, hinter dem Haus.

Die Eltern sind oft nur wenig älter als Marie. Einige sind vielleicht auch jünger. An manchen Tagen beobachtet sie die Frauen in den Stadthäusern von ihrem Fenster aus. Sie will sich nicht mit ihnen vergleichen, denn sie möchte für sich ein anderes Leben. Musik machen, verreisen, allein schon das Wort: Ehe. Dennoch fühlt es sich manchmal komisch an, wenn sie nicht nach rechts abbiegt, in die Siedlung, sondern nach links, in Richtung Mietshäuser.

Das Haus, in dem sich ihre Wohngemeinschaft befindet, ist von außen schöner als von innen. Ein sanierter Altbau, Jugendstil. Vor dem Haus steht eine Bank, auf der mittags Spaziergänger sitzen oder Obdachlose, die in Ruhe die übrig gebliebenen Stullen vom Vortag essen, die der Bäcker um die Ecke ihnen aufgehoben hat. Dunkelgrüner Efeu rankt die Wand hinauf. Die kleinen Balkone, die an der Vorderseite des Hauses angebracht sind, werden jedes Frühjahr liebevoll mit Blumenkästen bepflanzt. Wie Simon wohl lebt? Vielleicht wohnt er in einem Haus, oder in einer Maisonettewohnung.

Marie schiebt ihr Fahrrad in den Innenhof und schließt es ab. Berliner Innenhöfe sind normalerweise keine Vorzeige-Innenhöfe, aber dieser lässt sich durchaus vorzeigen. Die Hauseigentümer legen viel Wert auf einen gepflegten Hofgarten, es gibt sogar ein Rosenbeet. In anderen Innenhöfen sausen Ratten umher, da sind Marie die kitschigen Rosen lieber. Sie schüttelt sich bei dem Gedanken an Ratten.

Die Wohngemeinschaft liegt im Hochparterre. Sie wurde zum letzten Mal nach der Wende grundsaniert. Dazwischen wurden die Dielen immer wieder lackiert und abgezogen, die Wände wurden öfter überstrichen. Inzwischen sind sie größtenteils weiß, nur an manchen Stellen schimmert die alte Farbe durch. Neben dem Waschbecken hat Marie ein kleines Stück der alten Tapete freigelegt, sodass sie beim Zähneputzen Gesellschaft von einem kleinen Pudel hat, der darunter zum Vorschein gekommen ist.

Sicher wird Simon anders leben. Marie denkt an hochwertiges Parkett und eine Durchsanierung. Sie schließt die Tür auf und merkt gleich, dass sie allein ist. Ihre beiden Mitbewohner arbeiten bei Start-ups und sind nur selten zu Hause. Marie ist es recht, so hat sie ihre Ruhe und fühlt sich nicht beobachtet. Sie wirft ihre Jacke über die Garderobe, zieht die Schuhe aus und geht in die Küche. Nur den Tisch, die Stühle und den Kühlschrank haben sie damals eingebaut, die restliche Einrichtung ist ein Vermächtnis vergangener Wohngemeinschaften. Aufwendig angebrachter Stuck verziert die Küchendecke: kleine Figuren, Blumen, Kringel. Marie kauft immer Blumen für das Küchenfenster, aber auch für den Esstisch. Blumen machen Zimmer bewohnbar, sie lenken von bröckeligen Wänden und zusammengewürfelten Gegenständen ab. Marie geht zur Spüle und befüllt den Wasserkocher mit kaltem Leitungswasser. Sie ist sich sicher, dass die Wohnung nach einer Sanierung unbezahlbar wäre, deshalb ist es besser, wenn alles so bleibt, wie es ist.

Das Klicken des Wasserkochers reißt sie aus ihren Gedanken. Sie gießt das heiße Wasser in eine Tasse und nimmt sie mit in ihr Zimmer. Nach den vielen Semestern, in denen sie nichts anderes gemacht hat als üben, will sie das Studium einfach nur noch abhaken. Danach möchte sie eine kleine Wohnung, irgendwo weit oben, dritter, vierter oder fünfter Stock. Diese Vorstellung fühlt sich fast so an wie Hunger oder Durst. Bedürfnisse, die gestillt werden müssen.

Marie steht mit der Tasse am Fenster und sieht zu den Stadthäusern, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegen. In einem Haus ist eine Mutter mit dem Mittagessen beschäftigt. Die Kinder sitzen am Tisch. Sie hat beobachtet, dass der Vater immer zu einer ähnlichen Uhrzeit nach Hause kommt. Er arbeitet in Teilzeit. Die Eltern haben eine klassische Aufteilung. Gemeinsam essen, Ausflüge, Wochenende. Ob Simon auch eine Familie hat? Eigentlich sollte es ihr egal sein, sie kennt ihn ja gar nicht. Sie sollte sich lieber mit ihrem Vorspiel beschäftigen. Marie übt jeden Tag fünf Stunden. Immer in gekrümmter Haltung, immer schmerzen die Finger. Aber das gehört nun mal dazu, wenn man Cellistin werden möchte. Auf angemalte Fingernägel legt sie sowieso keinen Wert. Die Pflaster über den Fingerkuppen sind wie Nagellack. Doch heute kann sie sich einfach nicht aufs Üben konzentrieren.

Ihr Handy summt. Das Display ist hell. Marie ignoriert die Schrift, die Mama home anzeigt. Kurz danach leuchtet es noch einmal auf.

Ihr Kleid bewegt sich wieder im Takt.

Sie öffnet die Nachricht. Ihre Hände zittern.

Nur ein Smiley. Ein Smiley?

Freitag, 14:27

Simon:

Marie? Das bist du auf dem Profilbild, oder?

 

Marie:

Ja, das bin ich. Hey!

 

Simon:

Hey! Sag mal, wollen wir noch mal einen Kaffee trinken?

 

Marie:

Ja, von mir aus gerne.

 

Simon:

Dann treffen wir uns morgen?

 

Marie:

Das wäre schön.

 

Simon:

Sogar mehr als das!

 

Marie:

Ich weiß gerade nicht, was ich schreiben soll, weil ich die Situation etwas merkwürdig finde.

 

Simon:

Ich hoffe doch gut merkwürdig.

 

Marie:

Ja, auf jeden Fall gut merkwürdig!

 

Simon:

Dann bin ich erleichtert.

 

Simon:

Bis morgen.

 

Marie:

Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns schon so bald wiedersehen. Bis morgen!

 

Simon:

Ich habe es gehofft. Dann gleich morgen um 12 Uhr, vor dem Bahnhof Friedrichstraße?

 

Marie:

Ich werde da sein.

 

Simon:

Ich auch.

 

Marie:

Das hoffe ich.

 

Simon:

Hoffnung ist immer gut. ;-)

***

Marie:

Bin heute an unserem Café vorbeigefahren und dann kam alles wieder hoch.

 

Marie:

Das war krass damals, richtig krass.

 

Marie:

Ich glaube, es war so krass, weil ich nicht mit dir gerechnet hatte.

 

Marie:

Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dir.

 

Marie:

Erst dachte ich, dass ich mich irgendwie reinsteigere. Weil sonst in meinem Leben gerade nicht so viel los war.

 

Marie:

Dass ich es größer mache, als es eigentlich ist. Immerhin war es nur dieses eine Gespräch im Café.

 

Marie:

Aber ich hatte das Gefühl, dass wir uns schon einmal begegnet sein müssen, ich konnte mich nur nicht daran erinnern.

 

Marie:

Denn bisher hat mich noch kein Treffen in einem Café so durcheinandergebracht.

 

Marie:

Ich war auf jeden Fall ziemlich durch den Wind, und unser zweites Treffen war schon am nächsten Tag.

 

Marie:

Am Ende war es eines der wenigen Treffen, bei dem wir uns vorher verabredet hatten.

Zwei

In Berlin gibt es mehrere Parks und viel Grünfläche. Alte Menschen, Hunde, Kinderwägen. Man kann sich kaum vorstellen, dass es in der Großstadt am Wochenende so voll werden kann. Aber Berlin ist mit Touristen geflutet, die die Stadt mit Gesprächen füllen. Sie lassen sich nicht abschrecken, laufen den ganzen Tag draußen herum, obwohl es windig und der Winter gerade erst überstanden ist. Es brennt gelb auf den Asphalt. Doch die Sonne hat noch keine Kraft. Der Wind pfeift, erst langsam, dann hörbar, als wolle er diese Geste mit einem kräftigen Windstoß unterstreichen. Sie schließt den Reißverschluss ihrer Jacke. Sieht auf den Boden. Die vier Füße machen weiter, wie eingespielt. Sie trotzen dem Widerstand, immer weiter, stehen bleiben wäre eine Option, aber Marie weiß auch, dass sie nicht ewig spazieren können. Simon erzählt von Terminen am Nachmittag.

Klack, klack. Klack, klack.

Es knirscht unter ihren Füßen, immer zweimal im Takt. Ein beruhigender Takt, wie eine neue Melodie, denkt Marie. Jetzt werden sie etwas schneller, lehnen sich gegen den Wind. Ab und zu fliegt ein Vogel an ihnen vorbei, auch er beeilt sich. Sie fragt sich, welcher Tag heute ist. Dann fällt es ihr ein. Es ist Samstag.

Marie genießt es, mit Simon herumzuspazieren. Erst im Tiergarten, dann im Monbijoupark. Dort ist es ruhig, sie hört nur ihre Schritte. Und lauscht gespannt, was Simon von früher erzählt. Er geht schnell, lächelt sie immer wieder an. So laufen sie durch den Park, zwischendurch berühren sich ihre Hände. So kann es bleiben, denkt sie.

Simon redet über seine Reisen während des Studiums, Thailand, Indien, Türkei, Laos. Er allein, mit seinem Rucksack und wenig Geld. In letzter Zeit sei er jedoch nicht mehr dazu gekommen. Marie möchte ihm am liebsten sagen, dass sie ihn da gerne schon gekannt hätte, dass sie gern mit ihm zusammen gereist wäre. Sie sucht nach Worten, aber kann keine passenden finden. Fragt ihn stattdessen, wie man es noch mal nennt, wenn man im Ausland bei fremden Menschen übernachtet, ohne dafür zu bezahlen.

Leben?

Marie schüttelt den Kopf und lacht, er lacht mit. Dann bleibt er stehen, legt seine Hände an ihr Gesicht und zieht sie zu sich heran.

Marie wusste nicht, dass Küssen so krass und intensiv sein kann. Sodass man nichts anderes mehr will und sowieso nichts anderes mehr kann.

Ihr wird schwindelig. Doch er hält sie fest. Sie riecht an seinem Hals und möchte den Geruch am liebsten in eine Dose packen.

Als sie die Augen öffnet, grinsen sie wie Teenager.

Das Handy vibriert in ihrer Tasche. Sie nimmt es in die Hand und löst ihren Blick von seinem. Ihre Mutter. Sie steckt das Handy schnell wieder ein. Ihre Mutter lebt allein und beschwert sich gerne bei Marie: über die Stromrechnung, die Nachbarn, ihre Rente. Seit einiger Zeit fragt sie bei jedem Telefonat, wann Marie sie endlich wieder besuche. Manchmal spricht sie auch darüber, dass früher alles besser war. Früher bedeutet, bevor ihr Vater die Familie verlassen hat. Seit einigen Wochen fängt sie bei jedem Telefonat an zu weinen. Marie ist froh, dass sie sich jetzt nicht mit ihrer Mutter beschäftigen muss. Simon ist wie eine Rettungsweste.

Sie setzen ihren Spaziergang fort. Marie sieht nach unten. Es knirscht unter ihren Schuhen, immer lauter, immer deutlicher, bei jedem Schritt. Bevor die Stille zwischen ihnen unangenehm wird, beginnt Simon zu erzählen. Von seiner Mutter und dass er in Ost-Berlin aufgewachsen ist. Als Schüler wollte er immer in den Westen. Seine Augen glänzen verdächtig, als er ihr von Demonstrationen erzählt, auf die er heimlich mit seinen Freunden gegangen ist. Jung waren sie damals, erzählt er. Und auch etwas naiv.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich das jemals erleben werde. Und dann war sie plötzlich auf, die Mauer. Aber wir wohnten trotzdem weiter im Osten. Zum Studium bin ich dann nach West-Berlin, sagt er.