Nachtjasmin - Allegra Huston - E-Book

Nachtjasmin E-Book

Allegra Huston

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Beschreibung

Eve Armaton ist 48 und lebt in einer gutsituierten, aber unglücklichen Ehe. Als sie in einem Trödelladen in Manhattan eine alte Violine findet, ahnt sie noch nicht, dass dieses Instrument ihr Leben für immer verändern wird. Denn am selben Tag begegnet sie auch Micajah, dem Sohn eines Schulfreundes. Miacjah, halb so alt wie sie und erfolgreicher Musiker, zeigt nicht nur Interesse an der Violine, er flirtet auch unverhohlen mit Eve - der Beginn einer leidenschaftlichen Affäre, in der Eve nicht nur ihre Sinnlichkeit neu entdecken wird.

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Zum Buch

Eve Armanton ist achtundvierzig und lebt in einer gutsituierten, aber unglücklichen Ehe. Als sie in einem Trödelladen in Manhattan eine alte Viola findet, ahnt sie noch nicht, dass dieses Instrument ihr Leben für immer verändern wird. Denn am selben Tag begegnet sie auch Micajah, dem Sohn eines Schulfreundes. Micajah, halb so alt wie sie und erfolgreicher Musiker, zeigt nicht nur Interesse an der Violine, er flirtet auch unverhohlen mit Eve – der Beginn einer leidenschaftlichen Affäre, in der Eve nicht nur ihre Sinnlichkeit neu entdecken wird.

Zur Autorin

ALLEGRA HUSTON ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie hat im Verlagswesen und der Filmbranche gearbeitet und ist heute Redakteurin bei dem Kulturmagazin Garage. Allegra Huston wuchs in dem berühmten Huston-Künstlerclan auf: Regisseur John Huston ist ihr Stiefvater, Schauspielerin Angelica Huston ihre Halbschwester. Sie lebt mit ihrem Sohn in Taos, New Mexico.

ALLEGRA HUSTON

NACHTJASMIN

Roman

Deutsch von Mechthild Barth

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Say My Name« by HQ, an imprint of Harper CollinsPublishers Ltd., London.Alle in diesem Roman geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Text zu Night Blooming Jasmine von Sarah Gillespie.

Copyright © 2017 by Sarah Gillespie Music

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Januar 2019 btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2017 by Allegra Huston

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © plainpicture/Kerstin Lakeberg

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MK . Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-20505-8V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für dich, mein ramponierter Engel

1

Dort, unter einem Tisch voller Porzellanstücke, die niemand mehr gebrauchen kann, entdeckt sie es, kaum sichtbar hinter irgendwelchen Dingen mit Preisaufklebern, die schon lange verblasst sind. Tageslicht fällt durch die schmutzigen Fensterscheiben auf verschlissenen grünen Samt und honigfarbenes Holz. Seltsamerweise steht der Kasten offen – als ob es hoffte, auf diese Weise eher gefunden zu werden.

Es ist größer als eine Geige, aber deutlich kleiner als ein Cello. Es ist breit, eckiger als die meisten Instrumente dieser Art, mit einem langgezogenen Hals und – das zieht Eve besonders an – verziert mit geschnitzten Ranken. Die zierlichen Schnitzereien schimmern ein wenig grünlich. Vielleicht waren sie ursprünglich einmal bemalt.

Eve schiebt das Gerümpel drumherum beiseite, um besser unter den Tisch kriechen zu können. Bei derartigen Unternehmungen trägt sie gewöhnlich Jeans. Doch heute ist ein heißer New Yorker Sommertag, und sie hat sich in der Früh für ein leichtes Kleid entschieden, dessen detailreiches Muster mögliche Flecken verdecken wird. Allerdings reißt der Stoff auch leicht, weshalb sie nun den Saum des Kleides kurz entschlossen in ihre Unterwäsche stopft, um ihn so vom Boden und den anderen Dingen um sie herum fernzuhalten.

Als sie in die Hocke geht, knacken die Knochen in ihren Knien. Auch wenn sie durchtrainiert und fit ist, beginnt ihr achtundvierzigjähriger Körper sein Alter doch allmählich zu zeigen. Ihre braunen Haare sind bisher kaum grau durchzogen – gute Gene, wie ihre Mutter sagen würde –, aber bald wird sie sich entscheiden müssen, ob sie färbt oder lieber nicht. Bisher hat sie nicht verstanden, warum sie über ihr Alter lügen sollte. Als verheiratete Frau macht sie sich vermutlich weniger Gedanken darüber, jung auszusehen, als sie das als Single getan hätte. Dennoch: Der hässliche Meilenstein zeichnet sich allmählich am Horizont ab. Ihr Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und den Kopf mit einem Schal bedeckt, um ihn vor möglichen Spinnweben zu schützen.

Eve ist Gartenarchitektin. Ihr Mann Larry verdient als Produktentwicklungsleiter eines Zulieferers von Pillenüberzug für die Pharmaindustrie genug, dass sie sich ihr kleines Geschäft mehr oder weniger als Hobby leisten kann. Das ärgert Eve, aber in Wahrheit betrachtet auch sie ihre Arbeit eher als Freizeitbeschäftigung. Würde sie das Ganze ernster betreiben, müsste sie sich hinstellen, ihre Zeit klar für sich einfordern und andere Prioritäten als bisher setzen – wozu sie aber nicht bereit ist. Der Status quo fühlt sich zwar etwas wackelig an, doch zugleich scheint er so beständig zu sein, wie das im Leben nur möglich ist. Sie muss nur das empfindliche Gleichgewicht halten und weder Staub aufwirbeln noch schlafende Hunde wecken. Deshalb hat sie sich angewöhnt, die Kommunikation fast ausschließlich auf praktische Themen zu konzentrieren und nach außen hin den Anschein von Nähe zu wahren, der auch ihr die Sicherheit gibt, dass in ihrer Ehe alles in bester Ordnung ist.

An den Wochenenden stöbert sie – ohne Schuldgefühle und frei von anderweitigen Verpflichtungen – nach Schätzen für den Antiquitätenladen ihrer Freundin Deborah. Larry hat nichts dagegen; sie vermutet sogar, dass er froh ist, das Haus dann eine Weile für sich zu haben. Sie jedenfalls ist erleichtert, es zur Abwechslung einmal hinter sich lassen zu können. Die besonderen Gegenstände, auf die sie bei ihren Entdeckungstouren stößt, entfachen ihre Fantasie und lassen sie ein Leben ausmalen, das aufregender und erschreckender ist als die gemächlich dahinplätschernde Sicherheit, in der sie sich eingerichtet hat. Heute erkundet sie den nördlichen Teil von New York, wo sich wie in einem Gezeitentümpel nach mehreren Flutwellen Menschen aus Ländern niedergelassen haben, die es zum Teil schon nicht mehr gibt: Assyrer, Armenier, Mazedonier, Belutschen. Die Schriften und Zeichen, in denen die Schilder in dieser Gegend geschrieben sind, ändern sich fast von Block zu Block. Viertel wie dieses sind ihr liebstes Jagdrevier.

Auf Händen und Knien versucht sie jetzt das Instrument aus seinem Kasten zu zerren. Der Kasten kommt ein wenig ins Rutschen und hinterlässt auf dem Boden eine staubige Spur. Wahrscheinlich ist er seit Jahren nicht bewegt worden. Sie hebt ihn auf eine Eisentruhe, wobei sie dem Ladenbesitzer den Rücken zudreht, um ihr Interesse nicht zu früh zu verraten.

Die geschnitzten Ranken winden sich über den Instrumentenkörper dessen Hals hinauf, um sich dann dort zu verlieren. Die Schnitzarbeit wirkt dabei so delikat, als wäre sie von Elfen angefertigt, und doch strahlt sie die Kraft von Kletterpflanzen aus: wild rankend und der Schwerkraft trotzend. Zwischen den Blättern blitzen kleine Blüten auf; es ist Jasmin, der so genau nachempfunden wurde, dass Eve ihn problemlos erkennt. Unter einer samtbezogenen Klappe im Kasten verbirgt sich ein Bogen, der von Bändern an seinem Platz gehalten wird. Auch dieser ist von Ranken überzogen.

Vorsichtig schiebt sie ihre Finger in die Lücken zwischen Instrument und Samtauskleidung, um es zu lockern. Eine Motte flattert ihr ins Gesicht und verschwindet in den Strahlen des durch die Scheiben hereinfallenden Lichts.

Als sie das Instrument am Hals hält, erspürt sie eine weitere Form. Mit Spucke und dem Saum ihres Kleids wischt sie den Staub weg und entdeckt ein rundes, kindliches Gesicht, über dessen Augen die Ranken verlaufen: Cupido, vor Liebe blind.

Eve fährt mit den Fingern über den Schmutz am Boden und macht dann das Gesicht wieder unkenntlich. Sie hat gelernt, das Aussehen der Dinge erst nach dem Feilschen und einem abgeschlossenen Handel zu verbessern. Jetzt dreht sie das Instrument um.

Der Rücken ist eingedrückt.

Sie streicht mit einem Finger über die einzelnen Bruchstellen im Holz und wünscht sich, sie könnte es wieder ganz machen. Der Schaden muss bewusst dort entstanden sein, denn ein zufälliger Unfall hätte wohl auch die Ranken absplittern lassen. Was hat denjenigen so weit gebracht? War es die Frustration eines Musikers? Oder Wut über das Schicksal? Liebeskummer? Fast glaubt sie, die Gefühle noch spüren zu können, die an diesem Bruch kleben – wie kleine Tropfen getrockneten Bluts.

Wenn sie es reparieren lässt, wären die Kosten wahrscheinlich höher als der eigentliche Wert des Instruments. Selbst ein Fachmann wäre zudem nicht in der Lage, es wieder ganz zu richten. Man könnte es höchstens als dekorativen Gegenstand verwenden, indem man den Riss hinten verbarg. Deborah würde es sicher nicht wollen; sie hat grundsätzlich etwas gegen kaputte Dinge. Außerdem bevorzugt sie Gegenstände, die man benennen kann – wie Schalen, Vasen oder Kerzenständer. Leidenschaftslose Gegenstände, die dann dekorativ in einem Raum platziert werden. Die Geschichte, die dieses Instrument mit sich herumträgt, würde Deborah vermutlich völlig überfordern.

Eve will das Instrument wieder in den Kasten legen. Doch sie kann es nicht. Nachdem sie es berührt hat, vermag sie es nicht wieder in die Dunkelheit zu verbannen.

Es ist ein extravaganter Luxus, mit dem Auto nach Manhattan zu fahren, allein wegen der Parkkosten und des dahinkriechenden Verkehrs durch die Stadt. Aber Eve hatte den Wagen für ihre Erkundungen der ferner gelegenen Viertel gebraucht, und jetzt ist sie noch nicht bereit, wieder zurück nach New Jersey zu fahren. Sie entdeckt einen teuren Platz in einem Parkhaus und beginnt die acht Blocks bis zur Public Library zu laufen. Das seltsame Instrument lässt sie in seinem Kasten auf der Rückbank, neben einem Vogelkäfig aus geschwungenen Schmiedeeisen, den sie bereits zuvor entdeckt hat.

»Eve? Eve Armanton?«

Sie dreht sich um, unsicher, woher diese aufgeregt klingende Stimme kommt. Mit ihrem Mädchennamen ist sie seit dem College nicht mehr angesprochen worden.

»Eve! Ich kann es nicht fassen!«

»Robert?«

Robert Burnett, der beste Freund ihres Bruders Bill. Und neben ihm ein jüngerer Mann, der sein Sohn sein muss. Die beiden kommen ihr wie eine Fata Morgana vor, zwei Männer in einer Art Zeitschleife: Robert jetzt und Robert damals, nebeneinander auf der 34th Street. Der Sohn ist, wie Eve feststellt, sogar noch schöner, als es der Vater gewesen ist – mit dichten schwarzen Haaren, einer feingeschnittenen Nase und geschwungenen Augenbrauen über langen, weit auseinanderstehenden Augen. Das Alter hat die früher einmal markante Kinnlinie von Robert nach unten gezogen und sein Haar dünner werden lassen. Die leuchtend blauen Augen, die sie so faszinierten, als sie fünfzehn war, sind wässriger geworden, und seine Haut schimmert so, als würde das Cholesterin in seinem Blut durch die Poren dringen.

Damals erinnerte Robert mit seiner ungebändigten Energie und Sorglosigkeit sie an Tigger aus Pu der Bär. Er und Bill waren zweiundzwanzig Jahre alt – Zimmergenossen, begeisterte Partygänger, denen alle Türen offen zu stehen schienen. Robert wirkte so, als wäre das Leben für ihn leicht und unbeschwert. Bill hingegen sah dort Schatten, wo Robert nur Licht erkannte. Roberts Wildheit war reiner Übermut. Bill forderte das Schicksal heraus, wie Eve mit der Ängstlichkeit eines Teenagers zu spüren glaubte. Fast als wollte er die Tragödie heraufbeschwören, die er so sicher erwartete. Seit der Beerdigung ihres Bruders hatte Eve kaum je an Robert gedacht. Nach Bills Tod hatte sie jegliche Verbindung zu seinem früheren Leben und zu dem, was es bestimmt hatte, abgebrochen, weil sie fürchtete, dass die Dunkelheit, die ihn in den Freitod getrieben hatte, auch sie erfassen könnte.

Robert bewegt sich langsamer als früher. Sein Überschwang ist durch die Jahre sichtbar gedämpft worden, und die verrückten Hawaiihemden, die er einmal trug, sind einem gut geschnittenen Anzug, einem rosafarbenen Hemd und einer leuchtend gemusterten Krawatte gewichen. Sie weiß, was er tun wird, und lässt es um der alten Zeiten willen zu: Er hebt sie hoch und wirbelt sie so lange im Kreis herum, bis ihnen beiden schwindlig wird. Bill hat das gemacht, wenn er seine Schwester nach vielen Wochen wiedersah. Die Tatsache, dass Bill so etwas tat, gab auch Robert die Erlaubnis, die kleine Schwester seines Freundes zu umarmen, deren Bewunderung er selbstverständlich und kommentarlos als etwas akzeptierte, das ihm von Natur aus zustand.

Roberts Arme, die sie hochheben, fühlen sich so stark an wie früher. Autos, Fußgänger und Schaufenster schwirren verschwommen an ihr vorbei. Eve sucht nach einem Punkt, den sie fixieren kann, wie ihr das als Kind im Ballett beigebracht worden war. Sie bemerkt den Blick des jüngeren Mannes, dessen Augen überraschend grün leuchten und ihr folgen, während Robert sie durch die Luft wirbelt.

Schließlich spürt sie wieder festen Boden unter den Füßen. Robert hält sie noch am Arm fest, damit sie beide nicht stürzen. Bill musste immer lachen, wenn sie danach das Gleichgewicht verlor – die liebevolle Grausamkeit des älteren Bruders.

»Wie lange ist das jetzt her?« Roberts Gesicht strahlt vor Freude darüber, dass sie ihm über den Weg gelaufen ist.

»Neunundzwanzig Jahre. Fast.«

»Die Beerdigung.«

Eve nickt. Sie hatte im November stattgefunden. Das Laub war von den Bäumen gefallen, und die Zweige waren kahl. Der Anblick hatte sie an die toten Knochen ihres Bruders denken lassen.

»Erinnerst du dich noch, dass wir damals ein Baby dabeihatten? Nun, das ist es. Das ist Mick. Mick, das ist Eve.«

»Micajah«, sagt er, um seinen Vater sanft zu korrigieren. Ein Name, den sie noch nie zuvor gehört hat. Mic-KAY-jah. Ihr gefällt der Klang.

Er streckt ihr die Hand entgegen. »Eve«, fügt er nun hinzu.

Sie zögert für einen Moment, als sie ihm die Hand gibt, als befürchte sie, einen Stromschlag zu bekommen. Als seine Hand die ihre umschließt, spürt sie die Schwielen an seinen Fingerkuppen. Sie senkt den Blick. Er trägt Jeans und ein weites blaues Hemd, dessen Ärmel ein wenig nach oben gerollt sind. Seine Füße in Flipflops wirken sehnig und haben lange Zehen. Plötzlich schaut sie weg, um diese Körperteile nicht länger anzusehen, die ihrem Blick so ungeschützt ausgesetzt sind.

»Eves Bruder hat mir alles beigebracht, was ich über Musik weiß«, erklärt Robert. »Was zugegebenermaßen im Vergleich zu dir nicht viel ist, Mick. Mein Sohn ist nämlich ein Rockstar, musst du wissen, Eve.«

»Ich spiele in einer Band.« Seine Stimme ist tief, beinahe heiser – ganz anders als die von Robert. Seine Worte dienen nur als Erklärung, um die Prahlerei seines Vaters ein wenig abzumildern.

»Hat heute Vormittag den Vertrag unterschrieben.« Robert klopft seinem Sohn auf die Schulter. »Wir wollen das mit einem Mittagessen feiern. Komm doch mit, Eve! Wen auch immer du treffen willst – lass ihn stehen.«

Das ist der Robert, an den sie sich erinnert – ein Mann, der nie im Traum daran zu denken schien, dass es auch Zurückweisungen geben könnte. Der davon überzeugt war, dass man ihm nicht widerstehen konnte. Er hat stets bereits das nächste Projekt im Blick, ist Feuer und Flamme und so umwerfend wie ein Wirbelsturm. Früher faszinierte und beängstigte es sie zugleich, wie die Vergangenheit einfach hinter ihm zu liegen und für seine Gegenwart keine Bedeutung zu haben schien. Sie fragte sich oft, ob eigentlich irgendetwas in seinem Leben tatsächlich von Gewicht für ihn war.

Aus alter Verbundenheit und in Erinnerung an Bill erklärt sich Eve bereit, zum Mittagessen mitzukommen.

»Es ist ein alter Shakername«, erklärt ihr Micajah auf ihre Frage. »Der Bruder meines Ur-Ur-Ur-Ur-Großvaters war Architekt und der erste Micajah Burnett. Der erste, von dem ich weiß jedenfalls.«

»Ich war einmal in einer Shakergemeinde in Kentucky«, erzählt sie, »als ich meinen Sohn zum College fuhr. Es war einer der schönsten Orte, die ich jemals gesehen habe.«

Sie erinnert sich an die elegante Symmetrie – doppelt verlaufende Treppen und doppelte Zimmer, um Männer und Frauen voneinander zu trennen. Und dann diese Ruhe und Gelassenheit, die dort wahrscheinlich schon immer herrschte, da es keine Ehen, keine Kinder und keinen Sex gibt.

Micajah besitzt die makellosen Manieren seines Vaters. Doch während Robert Stühle und Türen wie ein Pfau hielt, der der Welt sein wunderschönes Rad präsentiert, zieht Micajah Eves Stuhl auf eine selbstverständliche Weise heraus, als wollte er wie nebenbei gegen die Achtlosigkeit in der Welt rebellieren. Eve hatte nie den militanten College-Feministinnen zugestimmt, die solche Gesten als beleidigend verurteilten. Sie brachte ihrem eigenen Sohn bei, Türen aufzuhalten, allerdings nicht nur für Frauen. Einmal hatte sie mehrere Minuten lang vor der Tür einer Bank gestanden und gewartet, während zahlreiche Leute hineingingen und wieder herauskamen, bis der achtjährige Allan endlich bemerkte, dass sie ihm in seinem kopflosen Hineinstürzen in Richtung Geldautomat bewusst nicht gefolgt war.

»Es sieht so aus, als hätten Sie heute Vormittag bereits ein paar Böden gewienert.«

Sie spürte, wie Micajah den staubigen Saum ihres Kleids und die Flecken auf ihren Knien musterte, als sie sich setzte. Im Auto hatte sie versucht, den Schmutz abzuwischen, aber es gelang ihr nicht, sondern sie hatte ihn dabei nur tiefer in ihre Haut gerieben.

»Ich habe etwas unter einem Tisch in einem Trödelladen in der Bronx hervorgezogen und war gerade auf dem Weg in die Bücherei, als mir Ihr Vater auflauerte.«

»Das gefällt mir«, stellt er fest. »Es ist Ihnen also egal, wenn Ihre Knie schmutzig sind.« Seine Mundwinkel ziehen sich leicht nach unten, wenn er lächelt, als wollte er einen Teil seiner Belustigung für sich behalten. »Was haben Sie denn herausgezogen?«

»Ein Musikinstrument. Ich weiß nicht, wie es heißt. So etwas ist mir bisher noch nie begegnet.« Eve ist sich nicht sicher, ob er sich über sie lustig macht. Zum Glück kann sie sich im Gespräch nun hinter dem Instrument verstecken. »Es sieht wie eine Violine aus, mit Saiten und einem Bogen, ist aber eckiger und hat einen längeren Hals.«

»Hört sich ganz an wie die Instrumente, die Mick gerne spielt«, meint Robert. »Seltsame Apparate, die nicht mal einen englischen Namen haben.«

Seine Stimme klingt auf einmal etwas schneidend. Oder eifersüchtig? Als er Micajah lobte, tat er das vor allem um seiner eigenen Eitelkeit willen, wie Eve jetzt versteht. Sie ist nicht gerne sein Publikum, weil sie weder seine Prahlerei noch seine Sticheleien mag. Allmählich wünscht sie sich, sie hätte doch nicht die Einladung zu dem Essen angenommen.

»Mein Vater hält mich für einen Terroristen«, erklärt Micajah ungerührt. »Weil ich Musik aus Ländern spiele, vor denen uns die Regierung warnt.«

Er strahlt etwas zwischen einem Bohemien und einem Outlaw aus.

»Wenn du damit Millionen verdienst, werde ich mich nicht beschweren!« Roberts Lachen klingt eher wie ein wütendes Bellen. Eve bemerkt, wie ein Paar am Nebentisch sichtlich erstarrt und so tut, als würde es nichts hören.

»Genau – all das Geld«, erwidert Micajah leise. »Ich plane, es in Blattgoldunterwäsche zu investieren. Nichts Ostentatives, sondern nur um mich ein wenig verwöhnt zu fühlen.«

Seine Mundwinkel ziehen sich nach unten. Seine frech blitzenden Augen schauen Eve an. Sie spürt, wie ein paar Schweißtropfen ihren Rücken hinunterlaufen, obwohl es im Restaurant kühl ist. Der Sport-BH, den sie für ihre Trödeljagd ausgesucht hat, fühlt sich auf einmal wie ein Folterwerkzeug an.

»Du ziehst als Erstes aus diesem Kakerlaken-Motel aus«, erklärt Robert. »Kauf etwas, das man schätzen kann.«

»Ich schätze, wo ich jetzt wohne«, erwidert Micajah. Dann fragt er Eve: »Haben Sie gekauft?«

»Ja.«

»Sind Sie Musikerin?«

»Nein. Und selbst wenn ich eine wäre, könnte ich das Instrument nicht spielen. Sein Rücken ist defekt.«

»Warum haben Sie es dann gekauft?«

»Es ist einfach sehr schön«, erklärt sie.

»Und Sie konnten es nicht einfach zurücklassen.«

Sie fühlt sich so, als könne er in sie hineinsehen.

»Wenn es nicht kaputt gewesen wäre, hätte ich es mir wahrscheinlich gar nicht leisten können«, sagt sie. »Es hat wunderbare Schnitzereien, Ranken, die sich überall entlangwinden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Jasmin sein soll. Ich musste an geheime Gärten denken, wie sie oft in Kinderbüchern vorkommen. Oder an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht.«

»Woher zum Teufel willst du wissen, dass es Jasmin ist? Es ist doch nur Holz, du meine Güte!« Da ist wieder die unangenehme Seite von Robert. Er kann es nicht ertragen, nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.

Sie greift in ihre Tasche, um eine Visitenkarte herauszuholen. »Ich bin jetzt Gartenarchitektin. Jasmin verwende ich oft. Er ist widerstandsfähig, blüht den ganzen Sommer und duftet herrlich, wenn man abends noch draußen sitzt.«

Robert hält die Karte auf Armeslänge von sich, als ob er nicht glauben könnte, was darauf steht. Eve interessierte sich damals, als sie einander kannten, nicht sonderlich für Blumen. Sie hat den Eindruck, als würde er ihre Veränderung über die Jahre als eine Art Betrug wahrnehmen.

Micajahs Blick wandert von seinem Vater zu Eve. Sie ist sich sicher, dass er sich fragt, ob sie früher einmal ein Liebespaar gewesen sind. Das waren sie nie. Eve ist etwas schockiert, als sie merkt, wie wichtig es ihr ist, dass Micajah das weiß. Als die kleine Schwester hatte sie ein Schild mit den Worten NICHTBERÜHREN auf ihrer Stirn kleben. Als Bill starb, ging sie mit der sie belastenden Vorstellung auf die Beerdigung, dass die extremen Gefühle sie und Robert vielleicht dazu bringen könnten, sich in den Armen des anderen wiederzufinden. Sie hasste sich für diese kaltschnäuzige Untreue ihrem Bruder gegenüber – dass sie ihrer körperlichen Sehnsucht erlaubte, die Reinheit ihrer Trauer um Bill zu vergiften. Als sie in die Kirche kam, wusste sie nicht, dass Robert bereits verheiratet war und einen Sohn hatte.

Der Kellner tritt an ihren Tisch, einen Teller in jeder Hand und einen dritten auf dem Handgelenk balancierend. Vor Robert platziert er ein Steak, vor Eve einen Salat. Vorsichtshalber hatte sie etwas von den günstigeren Gerichten auf der Karte bestellt.

»Und hier ist Ihr Saltimbocca«, erklärt der Kellner, als er Micajahs Teller auf den Tisch stellt und ihn dabei so dreht, dass das Essen besonders gut zu sehen ist. »Ihr ›Spring in den Mund‹. Das bedeutet es übersetzt.« Er flirtet, angezogen wie ein Eisenspan von Micajahs magnetischem Feld. Als er zuvor ihre Bestellungen aufgenommen hatte, war Eve seine Anspannung aufgefallen. Er tut ihr ein wenig leid. Früher waren die Frauen in Roberts Gegenwart ähnlich nervös. Sie hatte miterlebt, wie Mädchen ihn auf der Straße verfolgten und ihm ihre Telefonnummer aufdrängten. Er genoss das Ganze stets mit der trägen Gelassenheit eines majestätischen Löwen.

»Danke, Josh«, erwidert Micajah. Er erinnert sich an den Namen des Kellners, und einen kurzen Moment treffen sich die Blicke der beiden Männer, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder Eve zuwendet. Elegant gelöst, denkt sie – eine männliche Liebenswürdigkeit, wie sie sein Vater nie hinbekam.

»Zumindest sind es keine Rosen«, meint Micajah jetzt.

Wenn die geschnitzten Blüten Rosen gewesen wären, hätte sie das Instrument dann auch gekauft? Eher nicht. Es war der Jasmin – geheimnisvoll und in der Dunkelheit blühend –, der sie verführt hatte.

»Ich hasse Rosen«, fügte er hinzu.

»Warum?«

»Die Drag Queens der Blumenwelt.«

»Und was soll das genau heißen?«, mischt sich sein Vater ein. Er schaut von Eve zu Micajah und dann wieder zu Eve, wie ein Ringrichter, der überlegt, wann er am besten den Kampf einläutet.

»Ach, ich finde diese ganze kulturelle Tradition um diese Blumen abstoßend«, erklärt sein Sohn. »Die künstliche Wertschätzung, wie dieser ganze Diamonds are forever-Mist. Und dabei zerstören Rosenfabriken in Ländern wie Kenia ganze Landstriche, während die Leute, die dort leben, verhungern. Mir kommt es so vor, als würden sie nur existieren, um lügen zu können. Ich hab dich mies behandelt, Liebling, hier ist ein Strauß Rosen. Von der ganzen Sadomaso-Seite dieser Blumen ganz zu schweigen. Ein Symbol der Liebe, das einem die Finger zerpiekst? Aber Quatsch – tun wir doch einfach so, als hätten Rosen keine Dornen und stellen Kinder aus Slums an, sie mit Rasierklingen abzuschneiden.«

»Er ist ein Hitzkopf«, sagt Robert.

»Ich mache mir Gedanken«, entgegnet Micajah. Es scheint so, als hätten die beiden schon öfters diese Art von Diskussion geführt.

»Glauben Sie wirklich, dass es Liebe ohne Verletzungen gibt?«, will Eve von Micajah wissen, wünscht sich aber sogleich, sie hätte nicht gefragt.

»Ich weiß nicht«, antwortet er. »Ist es möglich, so sehr zu lieben, dass man beschließt, den Schmerz nicht zu fühlen? Es scheint jedenfalls wert zu sein, das zu probieren. Denn wenn man es nicht tut, was ist dann? Dann zerstört man das, was eigentlich am schönsten sein sollte.«

Wie Bill. Oder wie der Unbekannte, der das Instrument kaputt schlug, sich aber nicht dazu bringen konnte, es ganz zu zerstören.

»Werden Sie es denn reparieren lassen?«, will Micajah jetzt von ihr wissen. »Oder Sie mögen Dinge, die nicht mehr ganz heil sind.«

Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Wieder hat sie das Gefühl, als würde er direkt in ihr Herz schauen. Verwirrt lässt sie den Blick durch das Restaurant schweifen. Die anderen Gäste plaudern und lachen miteinander, während die Kellner souverän hin und her laufen. Auf den Tischen stehen Gerbera in kleinen Vasen.

»Was machst du eigentlich in einem Trödelladen in der Bronx?«, will Robert wissen. »Nach Secondhand-Pflanzen Ausschau halten? Offenbar hast du sogar eine gefunden.« Wieder dieses bellende Lachen.

»Ich suche dort im Auftrag einer Freundin, die ein Antiquitätengeschäft hat. Das mache ich öfters am Wochenende. Jetzt, wo mein Sohn Allan erwachsen ist.« Selbst nach vierundzwanzig Jahren verspürt sie noch ein warmes Gefühl, wenn sie seinen Namen sagt. »Er ist gerade in Kambodscha und arbeitet dort nach seinem ersten Jahr als Medizinstudent für Smile Train.«

»Was ist das?«, erkundigt sich Robert, wobei er nicht sonderlich interessiert klingt.

»Eine Hilfsorganisation, die Gaumenspalten bei Kindern operiert«, antwortet Micajah. »Das ist großartig«, sagt er zu Eve. »Sie müssen sehr stolz auf ihn sein.«

»Bin ich auch.«

»Sie sollten auch stolz auf sich selbst sein. Sie haben ihn offenbar richtig erzogen.«

Ein wenig beschämt gelingt es ihr zu lächeln. Zum Glück weiß sie nicht, was sie erwidern soll, denn ihr würde bestimmt die Stimme versagen. Vermutlich würde sie entweder quietschen oder hörbar zittern oder auch stumm wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappen.

»Wenn man dich so sieht, kann man sich überhaupt nicht vorstellen, dass du bereits einen erwachsenen Sohn hast«, bemerkt Robert mit dem für ihn typischen Bemühen um Charme.

Eve spürt einen warmen, sanften Druck an ihrem Fuß. Als sie überrascht Micajah ansieht, hört der Druck auf. Unmerklich schüttelt er den Kopf.

Nein was, überlegt sie. Nein, antworte ihm nicht? Nein, du siehst nicht jünger aus, als du bist? Nein, das tust du – oder du tust es nicht, aber es ist gleichgültig?

Eve trinkt einen Schluck Wasser und nimmt auf einmal wahr, dass ihre Haut leicht nach Moschus riecht. Sie hat plötzlich das Gefühl, innerlich zu schmelzen. Ihr Körper eilt einen Weg voran, von dem sie weiß, dass sie ihm nicht folgen sollte. Dieser Junge – er ist noch ein Junge, ermahnt sie sich, auch wenn er schon achtundzwanzig oder neunundzwanzig Jahre alt sein muss – bringt sie völlig aus dem Gleichgewicht. Damals im College hatte sie für diese Empfindungen gelebt, von denen sie bis gerade eben glaubte, sie hinter sich gelassen zu haben. Es sich in dem trägen Einerlei des Alltags eingerichtet zu haben mit dem erleichternden Wissen, dass derartige Verwirrungen nie mehr über sie hereinbrechen würden.

Als sie es wagt, Micajah wieder anzusehen, sind seine grünen Augen wie Wellen, die sie umtosen, mitreißen und davontragen. Hör auf, denkt sie, während sie zugleich nicht will, dass es aufhört.

2

In der Bibliothek zwingt sich Eve zur Konzentration. Am ehesten ähnelt eine Viola d’amore ihrem Instrument, deren geschwungener Hals in einem Cherubim mit verbundenen Augen endet. Ansonsten gibt es außer den üblichen Geigenlöchern keine Schnitzereien, und das Tuch um die Augen ist auch nur ein Stück Stoff. Außerdem ist die Form der Viola d’amore anders, und sie hat deutlich mehr Saiten. Nirgendwo findet sie etwas Vergleichbares zu diesen fast unheimlich lebensechten Ranken auf ihrem Instrument.

Während sie nach Hause fährt, gehen ihr Micajahs Worte nicht aus dem Kopf. Hat er jemals tiefe Liebe und Verlust erlebt?, überlegt sie. Gerne würde sie das wissen.

Es ist falsch, tadelt sie sich dann, um sich kurz darauf noch stärker zu verurteilen: Du bist altmodisch und antifeministisch. Ja, es stimmt, sie ist verheiratet, aber das bedeutet nicht, dass sie eingesperrt und angekettet sein muss wie die Frau eines Saudi. Sie kann auch männliche Freunde haben, daran ist nichts auszusetzen.

Allerdings ist es wahrscheinlicher, dass sie ihn nie wiedersehen wird.

Sie bemüht sich, das Abendessen zu etwas Besonderem zu machen und kauft einen Heilbutt, obwohl er teuer ist. Larry hat diesen Fisch immer besonders gemocht, doch sie haben ihn bereits seit mehr als einem Jahr nicht mehr gegessen – seit jenem Tag, als er von einer Klausurtagung seiner Firma zurückkam und erklärte, dass er sein Totemtier gefunden habe. Ein EmpowermentTrainer habe ihn auf einer Visionssuche begleitet, bei der ihm ein Wolf begegnet sei. Der Wolf, so habe ihm der Trainer erklärt, sei gekommen, um ihm dabei zu helfen, sein wahres Selbst zu erkennen.

Es war schwer, sich jemanden weniger Wolfsähnlichen als Larry vorzustellen. Aber vielleicht ging es ja gerade darum: Er brauchte die Eigenschaften eines Wolfs. Das konnte sie verstehen. Schon eine ganze Weile war er irgendwie unzufrieden. Im Beruf schlug er den üblichen Weg zu einem soliden Managerposten ein, doch in seine Berichte vom Büroalltag schlich sich immer mehr Verbitterung ein. Eve merkte, dass ihn sein Erfolg unzufrieden zurückließ, er fühlte sich mittelmäßig an und schließlich immer mehr wie eine Niederlage. Larry begann für ihn ungewöhnliche Kleidungsstücke zu kaufen – pinkfarbene Socken, eine Bomberjacke aus Leder –, die aber nach ein paar Mal Tragen wieder verschwanden.

»Ich habe das Gefühl, als wäre ich nur die Illusion meiner selbst«, sagte er einmal zu ihr in einem seltenen Moment der Offenheit. Als sie ihn fragte, was er damit genau meine, konnte er es nicht wirklich erklären. Er würde sich in der Masse von Menschen verlieren, und die Vorstellung, dass er, Larry, ein Individuum sei, das sich von anderen unterscheide, sei letztlich falsch. Es sei keine Horrorvision wie in dem Film Matrix, denn das würde nicht auf alle zutreffen. Nur auf ihn und auf Menschen wie ihn. Er habe das Gefühl, seine Konturen zu verlieren oder vielmehr bezweifle er, jemals welche besessen zu haben. Im Grunde würde er einfach nur ohne scharfe Umrisse durchs Leben stolpern.

Vom ersten Moment an, den sie zusammen verbrachten, hatte Eve Larrys oft surrealen Humor geliebt. Diese Seite verlieh seiner zupackenden Zuverlässigkeit eine große Lebendigkeit. Doch inzwischen fand er kaum mehr etwas lustig. Eve lief es fast kalt den Rücken herunter, als sie merkte, wie seine Vision menschlicher Schemenhaftigkeit von Verbitterung durchsetzt war.

Er schaute noch immer gerne Sport im Fernsehen an, doch seine Augen wirkten wässriger, und das Bier in seiner Hand hielt er so ungeschickt wie ein Laiendarsteller eine Requisite. Er traf seine alten Freunde nicht mehr, und Eve war sich nicht sicher, ob er inzwischen neue gewonnen hatte. Ihre sozialen Kontakte wurden immer weniger, bis sie ihre eigenen Freunde an einer Hand abzählen konnte. Irgendwann zog Larry ins Gästezimmer – zuerst war es nur seine Kleidung, dann Kamm und Nagelschere, und schließlich schlief er auch dort. Die Zuverlässigkeit, dieses Gefühl einer rationalen, praktischen Sicherheit, die sie so wichtig und attraktiv fand, hatte er offenbar verloren.

Immer wieder hat sie versucht, jenen Moment auszumachen, als der Abstieg begann. Aber es gelingt ihr nicht. Larrys Desillusionierung ist wie ein sich ausbreitender Fleck, der weiter und weiter in die Vergangenheit hineinreicht.

Zuerst hat sich Eve über Larrys inneren Wolf gefreut, wobei sie sich über alles gefreut hätte, das versprach, ihm dabei zu helfen, wieder ein Gefühl für sich selbst zu entwickeln. Inzwischen hasst sie jedoch diesen Wolf und misstraut ihm. Früher einmal war Larry sanft und rücksichtsvoll; inzwischen ist er brüsk, manchmal sogar absichtlich unhöflich und stolz auf jede selbstsüchtige Handlung und jedes schlecht gelaunte Schnappen nach der Welt. Als Allan noch klein war, hat er seine Mutter immer wieder gebeten, ihm Das Dschungelbuch vorzulesen. Sie erinnert sich noch gut an die Wölfe darin, die würdevoll und beschützend sind und sich durch einen starken Familiensinn auszeichnen. Larrys inneres Raubtier hingegen ist ein einsamer Wolf, der durch eine grausame, selbstsüchtige Welt läuft. Wenn er doch nur einmal Das Dschungelbuch gelesen hätte, hatte sie schon des Öfteren gedacht.

Aber Larry war ein guter Vater. Sie beobachtete gerne durchs Fenster, wie er mit Allan draußen im Garten Fangen spielte, wobei Larry seinen Körper in die seltsamsten Gestalten verformen konnte. Allan quietschte vor Vergnügen und versuchte, es ihm nachzumachen. Als ihr Sohn ein Teenager war, nahm ihn Larry am Wochenende manchmal zum Angeln mit. Wenn Eve wissen wollte, was sie taten, antwortete Allan meist: »Nicht viel.« Doch sie merkte, dass ihm diese anspruchslose Gemeinschaft mit seinem Vater ein stilles Selbstvertrauen und In-sich-Ruhen gab.

»Meine Grundstimmung ist Zufriedenheit«, versicherte ihr Allan, als er sein fünftes Absageschreiben von einer Uni erhielt. Sie selbst wurde allmählich ziemlich nervös, doch er blieb so ruhig und sicher, als wüsste er, dass sich alles zum Guten wenden würde. Was es auch tat.

Der Heilbutt ist Eves Versuch, Larry an jene schönen Tage zu erinnern, ehe jedes Abendessen aus rotem Fleisch bestand. Doch als sie ihn zu Tisch ruft, kommt er erst nach zehn Minuten. Bis dahin ist der Fisch bereits trocken, und er isst ihn ostentativ geduldig, als ob er ihr etwas verzeihen müsste. Dann hebt er einen Spargel hoch, beobachtet, wie dieser den Kopf hängen lässt, und legt ihn wieder angewidert auf den Teller zurück. Es ist nicht meine Schuld, würde Eve am liebsten schreien, du hast das Abendessen ruiniert!

»Es tut mir leid. Er hat zu lange gekocht«, sagt sie, fügt dann aber doch noch hinzu: »Weil du nicht heruntergekommen bist.«

»Du hättest mich etwas vorwarnen können«, entgegnet er. »Ich hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen.«

»Etwas für die Arbeit?«, fragt sie in der Hoffnung, die Unterhaltung in andere Bahnen zu lenken.

»Nein.«

Das Instrument liegt, verborgen in seinem Kasten, auf der Anrichte hinter Larry. Eve hat sich überlegt, wie sie ihm die Geschichte ihrer Detektivarbeit im Viertel der vielen Nationen erzählen kann, und freute sich bereits darauf. Larry erkundigt sich selten nach ihrem Tag, und seit einiger Zeit erzählt er auch wenig von seinem, weshalb sie begonnen hat, sich während des Kochens zu überlegen, worüber sie reden könnten. Jetzt hat sie jedoch keine Lust, ihm das Instrument als eine Art Friedensangebot darzubieten. Wenn sie es täte, würde sie es einem weiteren Schlag ausliefern – diesmal von Larrys selbstsüchtiger Gleichgültigkeit. Sie merkt, dass sie das Instrument beschützen möchte, als sei es ein elternloses Kind, um das sie sich kümmert, bis die Mutter gefunden ist.

»Ich gehe jetzt joggen«, sagt er und steht auf, noch ehe er ganz fertig gegessen hat. Im vergangenen Jahr hat er an Gewicht verloren und sieht schlank und fit aus. Die Tatsache, dass er jetzt gesünder lebt, ist das einzig Gute an seiner Veränderung.

Er faltet die Serviette, gibt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und holt sich auf dem Weg nach draußen aus einem Schrank ein Stück Trockenfleisch. Noch vor einem Jahr hätte er ihr beim Abräumen geholfen.

Als sie später im Bett liegt, fällt ihr auf einmal auf, dass sie beim Essen mit Robert und Micajah ihren Ehemann kein einziges Mal erwähnt hat. Sie nannte bewusst Allans Name und sprach auch von ihrem Geschäft, weil sie den beiden den Eindruck vermitteln wollte, unabhängig und nicht nur die Ehefrau von irgendjemandem zu sein. Heißt das, dass sie es besser fand, so zu tun, als wäre sie gar nicht verheiratet? Keiner der beiden hatte sie nach ihrem Mann gefragt, was irgendwie auch seltsam ist, vor allem wenn man bedenkt, dass sie schließlich einen Ehering trägt.

Was Robert betrifft, ist es wahrscheinlich gar nicht so seltsam. Ihm war es egal. Er freute sich, sie zu sehen, weil sie ihm einen Spiegel bot, in dem er sich als großartigen Vater und erfolgreichen Anwalt bewundern konnte. Es ging nicht um sie. Jede alte oder neue Bekanntschaft wäre ihm recht gewesen.

Und Micajah?

Auch Micajah schien es egal zu sein. Was in seinem Fall aber etwas anderes bedeuten konnte. Zum Beispiel, dass er – wie sie selbst – keinen Ehemann in die Begegnung zwischen ihnen beiden bringen wollte.

Sie versucht sich daran zu erinnern, wie es war, als Micajahs intensiver Blick das erste Mal auf sie fiel. Ehe er sie mit dem Fuß berührte. Ehe er von seiner Abneigung gegen Rosen sprach. Als sie ihn dabei erwischte, wie er ihre schmutzigen Knie betrachtete? Nein. Schon draußen auf dem Bürgersteig, als Robert sie herumwirbelte. Sie war es, die nach seinen Augen suchte, um sich an etwas festzuhalten. Als sie die Füße wieder auf festem Boden hatte, war die Verbindung zwischen ihnen bereits da.

Dann gab es später diesen schockierend vertrauten Blick. War ein solcher Blick überhaupt über die Entfernung eines Restauranttischs hinweg möglich? Ja, das war er, wie sie jetzt wusste. Er sah sie an, als würden sie einander lieben. Der Blick sagte: Wir sind so miteinander verbunden, so sehr ein Ganzes, dass der Rest der Welt gar nicht existiert. Diesem Blick zu begegnen, kam ihr wie ein Ritt auf einem Rodeopferd vor. Als sich Micajah seinem Vater zuwandte und etwas Spöttisches sagte, war das wie das Klingeln nach acht Sekunden beim Rodeo. Was auch immer er sagte und was auch immer Robert erwiderte – in ihren Ohren war es nur undefinierbares Rauschen. Sie hatte nach ihrer Handtasche gefasst, etwas von einer Verabredung gemurmelt, die sie ganz vergessen habe, und das Restaurant verlassen.

In Larrys Augen war ihr ein solcher Blick nie begegnet. In den frühen Jahren hatte er sie mit Liebe angesehen und mit einem vergnügten Funkeln, wenn einer von beiden etwas Lustiges gesagt oder sie zufällig die gleiche Bewegung gemacht hatte. Sex war allerdings immer nur eine Art von Schnell-ran, Schnell-vorbei gewesen. Sie nahm an, dass er das so wollte. Er sah sie nur rasch an und wandte dann den Blick ab, als ob er sich schämen würde oder sie nicht dazu zwingen wollte, ihn anzusehen. Inzwischen fragt sie sich, ob er es nur nicht wagte, innezuhalten und sich ihr zu öffnen aus Angst, dass sie sich vor ihm verschließen würde.

Das hätte sie vielleicht auch. Denn auch sie hatte Angst.

Es war dieselbe Angst, die Larry empfand – die Angst, ganz gesehen zu werden. Sowohl sie als auch Larry wollten so sein, wie der andere es wollte. Sie verbargen ihre Zerbrechlichkeit und schämten sich für ihre Fehler. Vielleicht, denkt sie, hat er geglaubt, dass ich eine Vorstellung von ihm liebe, nur einen Teil seiner Person und nicht ihn als ganzen Menschen. Er fürchtete sich, gesehen zu werden – und ich habe mich auch gefürchtet.

Nachdem sie jetzt den ruhigen Blick von Micajah erlebt und zutiefst genossen hat, sehnt sie sich danach, gesehen zu werden. Allein die Unwahrscheinlichkeit eines Interesses an ihr lässt eine Heuchelei in dieser Hinsicht absurd erscheinen.

Hat sie Larry wirklich einmal geliebt? Ganz und gar? Noch gestern hätte sie diese Frage mit Ja beantwortet. Ja, sie liebte ihn. Doch jetzt, während sie im Bett liegt und an Micajah denkt, merkt sie, dass sie es in Wahrheit gar nicht mehr weiß.

Ich benehme mich lächerlich, denkt sie ein wenig panisch. Er hat meinen Fuß nur aus Versehen berührt. Wahrscheinlich sieht er jeden so an. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er sich für mich interessieren könnte.

Vielleicht hatte er einen Mutterkomplex, überlegt sie weiter. Doch dieser Gedanke beruhigt sie und kommt ihr nicht wie etwas Krankes vor – mehr wie eine Möglichkeit und nicht ein Problem. Es würde sie nicht davon abhalten, Ja zu sagen.

Und erneut findet sie sich an derselben Stelle wieder wie zuvor – wie eine Kompassnadel, die es unabwendbar Richtung Norden zieht.

Am nächsten Tag wacht Eve wieder mit dieser Spinne auf. Seit Monaten ist sie jetzt fast jeden Morgen da – eine schwere Dunkelheit, die ihr auf die Stirne drückt und mit scharfen Spitzen in ihre Augen, ihre Nebenhöhlen und ihre Mundwinkel bohrt, einen scheußlichen Schmerz in ihrem Schädel erzeugt.

Ihr Atem geht flach, obwohl sie inzwischen so sehr daran gewöhnt ist, dass sie es kaum mehr bemerkt. Ihr Magen fühlt sich sauer an, wie er das meistens tut, bis sie die Zähne geputzt hat. Ihre Schenkel liegen da wie aus Blei, und ihre Füße sind heiß und verschwitzt. Sie lässt sie nachts unter der Decke hervorschauen, und oft sind sie kalt. Doch sie kann sie nicht wärmen, ohne diese schreckliche Hitze ertragen zu müssen. Manchmal träumt sie davon, die Füße einfach abhacken zu können.

Oft rollt sie sich morgens zur Seite und vergräbt ihr Gesicht in Kissen, weil sie am liebsten gleich wieder in den Schlaf zurück möchte. Wenn es ihr nicht gelingt, liegt sie regungslos da, einen Arm über den Augen, und sammelt alle Kraft, um den neuen Tag voller Optimismus begrüßen zu können. So etwas nannte ihre Mutter eine gesunde Veranlagung. Eve mag keine Menschen, die sich selbst leidtun. Ihre eigene dunkle Last lässt sie im Bett zurück, und sobald sie sich einmal aufrecht hingesetzt hat, tut sie entschlossen so, als gäbe es diese gar nicht.

Auch ihr Herz schlägt zu schnell und zu heftig, als ob es versuchte, an Geschwindigkeit zu gewinnen, um weglaufen zu können. Bald wird es sich wieder beruhigen, wie es das immer tut. Allein der Gedanke an einen Kaffee hilft. Ein Latte, warm und bittersüß, beruhigt ihre bloßliegenden Nerven. Sie spaziert morgens oft zu einem Coffeeshop und lässt sich dort einen machen. Diesen Luxus gönnt sie sich ein paar Mal in der Woche, an Tagen, an denen sie sich ein wenig verwöhnt fühlen möchte.