Nachtragsband: Texte aus den Jahren 1885 bis 1938 - Sigmund Freud - E-Book

Nachtragsband: Texte aus den Jahren 1885 bis 1938 E-Book

Sigmund Freud

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Beschreibung

Die siebzehn Textbände der ›Gesammelten Werke‹ Sigmund Freuds, der bisher umfassendsten Edition des Oeuvres in der Originalsprache, sind zuerst zwischen 1940 und 1952 in Freuds Londoner Exilverlag erschienen, ehe S. Fischer sie 1960 übernahm. Aus verschiedenen Gründen fehlten gleichwohl wichtige Stücke des psychologisch-psychoanalytischen Werks. Einige Beispiele: die Beiträge Josef Breuers zu den ›Studien über Hysterie‹ (auf Freuds eigenen Wunsch); der frühe ›Entwurf einer Psychologie‹ (posthum zunächst im Rahmen der Fließ-Briefe veröffentlicht); die aufschlußreichen Notizen aus der Behandlung des als »Rattenmann« bekanntgewordenen Patienten (erstmals in den fünfziger Jahren erschlossen); der erst 1983 entdeckte Entwurf der zwölften metapsychologischen Abhandlung. Diese und viele andere Stücke, vor allem aus der Pionierzeit der Psychoanalyse, sammelt der mit umfangreichen editorischen Kommentaren ausgestattete ›Nachtragsband‹ - ein Quellenwerk ersten Ranges.

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Sigmund Freud

Gesammelte Werke, Nachtragsband

Werke aus den Jahren 1885-1938

Herausgegeben von Angela Richards † unter Mitwirkung von Ilse Grubrich Simitis

Fischer e-books

{5}Inhalt

{15}Einleitung

Von Ilse Grubrich-Simitis

Vermutlich hätte sie es ungehörig gefunden, die Aufmerksamkeit des Lesers, ehe er mit dem Studium des Nachtragsbandes zu Sigmund Freuds Gesammelten Werken beginnt, auf die Arbeit, gar die Person der Herausgeberin zu lenken. Denn für sie hieß Edieren Arbeiten im Hintergrund: präzise und auf Vollständigkeit bedacht, doch unaufdringlich und leise. Als Max Frisch kürzlich vor jungen Ärzten über den Tod sprach, meinte er, das Todesbild der Technologen sei das trostloseste: »es entzieht sich dem erlebten Wissen, daß unsere Existenz als Person nicht additiv ist, sondern eine Gestalt, die in sich selber aufgeht, definiert wie eine Kurve als der geometrische Ort aller Punkte, die einer Gleichung entsprechen; eine Geist-Figur, sie kann durch Unfall oder Krankheit oder Krieg vorzeitig zerbrochen werden, aber sie läßt sich nicht beliebig verlängern« (1985). Leben und Arbeit von Angela M. O. Richards (1928–1982) sind durch Krankheit vorzeitig zerbrochen worden. Auch wer versucht, anders als die Technologen, die Lebensimmanenz des Todes nicht zu verleugnen, wird diese Vorzeitigkeit schwer hinnehmen können. Sie verstärkt das Bedürfnis, zu Beginn des Buches, dessen Edition sie nicht mehr beenden konnte und von dessen Funktion und Aufbau sogleich nüchtern die Rede sein soll, einige Erinnerungen an Angela Richards festzuhalten.

Als der S. Fischer Verlag, selbst aus der Emigration zurückgekehrt, 1960 die Rechte an Sigmund Freuds Werk von dessen Londoner Exilverlag Imago Publishing Company übernahm, bestand eine paradoxe Situation: die in London unter Kriegsbedingungen begonnenen, zwischen 1940 und 1952, also nach Freuds Tod erschienenen siebzehnbändigen Gesammelten {16}Werke waren, was Textbestand und editorischen Apparat betraf, der Anfang der sechziger Jahre noch nicht abgeschlossenen englischen Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud unterlegen. Deren Herausgeber, James Strachey, hatte, unterstützt vom Londoner Institute of Psycho-Analysis, in jahrelanger Arbeit eine Freud-Editionskultur begründet, für die es hierzulande keine Entsprechung gab. Vielmehr mußten die Psychoanalytiker in der Bundesrepublik vordringlich darauf bedacht sein, die vom Hitler-Regime zerschlagene Tradition der Psychoanalyse wiederzubeleben und hinsichtlich Ausbildung und Wissensstand die Verbindung zu den neuen, insbesondere angloamerikanischen Zentren analytischer Forschung aufzunehmen.

So lag es für den S. Fischer Verlag nahe, einer Anregung Alexander Mitscherlichs folgend, wegen der Vervollständigung der Gesammelten Werke Hilfe bei James Strachey zu suchen. Als ich seinerzeit Ernst Freud (Freuds jüngstem Sohn, der sich von London aus energisch um die Publikation des Werks kümmerte) die Absicht erläuterte, James Strachey wegen der Herausgeberschaft für den Nachtragsband zu konsultieren, meinte er zutreffend: Strachey, ganz auf den Abschluß seines magnum opus konzentriert, werde wohl seine engste Mitarbeiterin, Angela Richards, empfehlen; sie sei hochqualifiziert und verfüge zudem über etwas sehr Seltenes, nämlich »intellektuelle Grazie«; aber, so setzte er bedauernd und warnend hinzu, sie habe leider »kein Zeit-Gewissen«.

Intellektuelle Grazie kennzeichnete schon die erste Begegnung. Sie fand vor mehr als zwanzig Jahren, 1964, bei James Strachey in Marlow statt. Nach Lord's Wood, in das entlegene alte Landhaus seiner Schwiegermutter, der Malerin Mary Sargant-Florence, hatte sich Strachey mit seiner Frau Alix schon Mitte der fünfziger Jahre zurückgezogen, um sich, entlastet von den Mühen des analytischen Praxisalltags, fortan ausschließlich der schon begonnenen Arbeit an Übersetzung und Kommentierung der Werke Freuds für die Standard Edition zu widmen.[1] Daß er daneben noch den umfangreichen Nachlaß seines Bruders, des Historikers und Schriftstellers Lytton Strachey[2], verwaltete und Michael Holroyd bei der Vorbe{17}reitung der Lytton Strachey-Biographie unterstützte, hatte er beiläufig erwähnt, als er mich, ehe Angela Richards aus Eynsham eintraf, durch seine Arbeitsräume und das Studio führte, welches Lytton Stracheys Bibliothek und Papiere damals beherbergte. Es war ein strahlender Herbstnachmittag, der die Färbung der umgebenden Buchenwälder zum Glühen brachte, so daß ihr Widerschein noch das Zimmer zu erwärmen schien, in dem wir dann zu dritt saßen, um, wie ich annahm, unverzüglich über den geplanten Nachtragsband zu sprechen. Aus dem flüchtig-andeutenden Redewechsel der beiden wurde mir bald deutlich, daß sie einander eine Zeitlang nicht gesehen hatten und daß es, durch belustigte Blicke mich um Verständnis bittend, zuerst darum ging, mit Vergnügen und detektivischem Finderstolz zumindest die aufregendsten unter den Ergebnissen auszutauschen, die ihre getrennten Recherchen inzwischen zutage gefördert hatten; sie bezogen sich auf Band I der Standard Edition, an dem beide zu dieser Zeit arbeiteten. Danach lenkte Strachey unser Augenmerk auf ein gegen ein Buchregal gelehntes Bild; ich kann mich nicht entsinnen, ob er es gerade erworben oder sich ausgeliehen hatte. Jedenfalls handelte es sich um eine zeitgenössische, meiner Erinnerung nach künstlerisch eher bescheidene Darstellung der um einen Redaktionstisch versammelten Enzyklopädisten. Schmunzelnd erzählte Strachey, daß er sich am Vormittag den Luxus gegönnt habe zu erraten, wer unter den Abgebildeten wer sei, da ein Schlüssel zum Bild fehle. Indem er uns verschiedene Bücher mit Vergleichsportraits zeigte, berichtete er amüsiert von seinen Mutmaßungen, unser Urteil erfragend. Dieser leichte Auftakt hatte nichts Einschüchterndes oder Bildungsprotziges. Er war Ausdruck jener beide Gesprächspartner charakterisierenden Lebenskultur, die Privates und Professionelles spielerisch miteinander zu verknüpfen gestattete. Denn unvermittelt kam Strachey danach auf den Anlaß meines Besuchs zu sprechen. Ich hatte Angela Richards brieflich angeboten, die Edition des Nachtragsbandes zu besorgen, und Strachey fragte sie nun, ob sie bei ihren Überlegungen bedacht habe, daß er ihr für die nächsten Jahre die Arbeit am letzten, Register und Bibliographien enthaltenden Band XXIV der Standard Edition anvertrauen wolle. Augenzwinkernd versuchte sie, die damit verknüpfte Mühsal von sich zu weisen: nein, dafür sei sie nicht zwanghaft genug; der Nachtragsband aber interessiere sie durchaus. Und unversehens befanden wir uns in konzisen Verhandlungen über die Details von Inhaltsplan, Editionsprinzipien, Terminvorstellungen, Lizenzvereinbarungen usw.

Rückblickend erscheint mir diese Eingangsszene wie eine Illustration {18}dessen, was der englische Psychoanalytiker D. W. Winnicott, zehn Jahre lang Stracheys Lehranalysand, das selbstverständliche Sichbewegen in der »area of cultural experience« nannte. Winnicott hatte dieses Konzept nicht zufällig in einer kurzen Ansprache anläßlich einer Feier der British Psychoanalytical Society zum Abschluß der Standard Edition1966 angedeutet, wenig später weiter ausgearbeitet (1967) und in seinem Nachruf auf James Strachey (1969) noch einmal ausdrücklich mit diesem in Verbindung gebracht. Was Winnicott dabei besonders interessierte, war die Frage, wo der Bereich kultureller Erfahrung, des schöpferischen Umgangs mit Kulturdingen, anzusiedeln sei, den er sich als einen dritten vorstellte – neben dem Bereich der inneren Realität einerseits und dem der faktischen Außenwirklichkeit andererseits. Versuchsweise lokalisierte er den dritten Bereich in dem potentiellen Raum (»potential space«) zwischen Individuum und Umwelt, der am Beginn des Lebens Baby und Mutter entwicklungsfördernd gleichermaßen miteinander verbindet und voneinander trennt; entwicklungsfördernd, d.h. nicht-traumatisierend, sofern es Liebe und Verläßlichkeit der Mutter ermöglichen, dem in dieser Phase extrem abhängigen und verletzlichen Kind die umgebende Welt überhaupt als vertrauenswürdig erscheinen zu lassen. Es ist dieses Zwischenreich, dieser gleichsam außen-innere Raum, der, sofern er sich öffnet, Spielen, kreatives Arbeiten allererst ermöglicht und dem Winnicott auch das Gebrauchen der »Übergangsobjekte« zuordnete. Er betonte die Variabilität alles dessen, was sich, vermittelt durch Objektbeziehungen, im dritten Bereich der kulturellen Erfahrung, wesentlich auf der Symbolebene, konstituiert, und unterschied diese unendliche Vielfalt von der relativen Stereotypie der triebgesteuerten, orgiastisch rhythmisierten Erscheinungen des biologisch fundierten ersten Bereichs.

Bei James Strachey trug die konkrete Ausgestaltung der »area of cultural experience«, woraus er schöpfte und wozu er durch seine Lebensarbeit beigetragen hat, unverwechselbar englische Züge. Seine Herkunft aus einer gebildeten, mit dem Indian Civil Service verbundenen Londoner Familie hat u.a. Quentin Bell, Virginia Woolfs Biograph (1973, S. 102), beschrieben. Strachey war in seiner Jugend mit dem Dichter Rupert Brooke, während des Ersten Weltkriegs Symbolfigur einer ganzen Generation, befreundet gewesen und gehörte mit seinem Bruder Lytton Strachey und seinen Schwestern zur berühmten »Bloomsbury group« um die Schwestern Virginia Woolf und Vanessa Bell. Die Standard Edition erschien denn auch bei Hogarth Press, in dem von Virginia und Leonard Woolf {19}gegründeten und zur Zeit des Erscheinens der ersten Bände noch immer von Leonard Woolf geleiteten Verlag.

Angela Richards begann ihre Zusammenarbeit mit Strachey im Jahre 1954; erst drei Bände der Standard Edition lagen damals veröffentlicht vor. Sie hatte ihr neusprachliches Studium (Französisch und Deutsch, 1948 bis 1951) am St. Hugh's College der Universität Oxford mit dem Bachelor of Arts abgeschlossen, sich während ihrer Universitätsjahre aber auch intensiv mit Musik und Theater befaßt – »areas of cultural experience«, denen auch James Stracheys künstlerische Vorlieben galten. Doch gab es noch weiter zurückreichende gemeinsame kulturelle Wurzeln. Angela Richards entstammte einer Hugenotten-Familie. Ihr Großvater, Sidney Olivier, zählte mit Sidney Webb und Bernard Shaw zu den Gründern der Fabian Society, jener die Entwicklung des sozialistischen Denkens in Großbritannien prägenden Intellektuellen-Vereinigung. Er war eine Zeitlang Gouverneur der damaligen britischen Kronkolonie Jamaika, dann Minister in der Labour-Regierung von 1929 gewesen und wurde als Lord Olivier of Ramsden geadelt. Seine jüngste Tochter Noel, Angela Richards' Mutter, war Kinderärztin, später mit Arthur Richards, gleichfalls Arzt, verheiratet. Wie James Strachey verband sie in ihrer Jugend eine Freundschaft mit Rupert Brooke, aber auch mit den jüngeren Mitgliedern der Bloomsbury-Gruppe, Virginia Woolf und Vanessa Bell sowie, eben, James Strachey.

Im ersten Band der Standard Edition, der 1966 als letzter Textband erschien, schrieb Strachey in der Einleitung über die gemeinsame Arbeit mit Angela Richards: »In recent years she has, indeed, been my principal assistant and has taken charge of much of the editorial side of my work.« Nach dem Tode Stracheys stellte sie Band XXIV, den Abschlußband der Standard Edition mit Registern und Bibliographien, zusammen, jenen Band, 1974 veröffentlicht, den Strachey in dem beschriebenen Gespräch erwähnt hatte. Gleichzeitig arbeitete sie an den elf Bänden der deutschen Studienausgabe, die zwischen 1969 und 1975 erschienen. Mit dieser umfangreichen Auswahledition verfolgte der S. Fischer Verlag das Ziel, Freuds Hauptwerke in thematischer Gliederung und erstmals versehen mit einem ausführlichen, auf Stracheys Kommentaren zur Standard Edition fußenden editorischen Apparat dem deutschsprachigen Leser, insbesondere den Studenten zugänglich zu machen. James Strachey hatte sich als Mitherausgeber der Studienausgabe, zusammen mit Alexander Mitscherlich, noch an der Festlegung des Inhaltsplans und der editorischen Prinzipien beteiligt. Als er 1967 starb, lag jedoch der Hauptteil der herausgeberischen Detailarbeit {20}noch vor uns. Nach Abschluß der Studienausgabe konzentrierte sich Angela Richards auf die Edition einer fünfzehnbändigen englischen Taschenbuchausgabe, der sogenannten Pelican Freud Library. Als sie am 16. Oktober 1982 starb, lagen zehn der fünfzehn Bände abgeschlossen vor.

Der mit editorischer Arbeit nicht Vertraute wird sich kaum ein zutreffendes Bild von der Arbeitslast der erwähnten Publikationsprojekte machen können. Die unzähligen Briefe, die Angela Richards seit jener ersten Begegnung in Marlow in den Jahren der Vorbereitung der Studienausgabe und des Nachtragsbandes zu den Gesammelten Werken schrieb, sind gekennzeichnet von Sachlichkeit, Präzision, unbeirrbarem Qualitätssinn. Jedes Detail wurde für wert befunden, betrachtet und diskutiert zu werden, in der Hoffnung und Erwartung, die jeweils beste, für Werk und Leser förderlichste Lösung zu finden: die typographische Gliederung eines kompliziert aufgebauten Inhaltsverzeichnisses, der genaue Wortlaut lebender Kolumnentitel, die Einzüge von Unterbegriffen bei Sachregistern usw. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt stets dem enggeknüpften Netz von Querverweisen, das es dem Leser erleichtern sollte, Parallelstellen zu ein und demselben Thema aufzufinden, die historische Entwicklung von Freuds Denken zu rekonstruieren, Genese und Wandlung der psychoanalytischen Grundbegriffe zu verstehen. Es ist ein leichtes, wie gegenwärtig üblich, Übersetzung und Kommentierung der Standard Edition zu kritisieren oder in ein paar Sätzen die definitive historisch-kritische deutsche Freud-Gesamtausgabe zu fordern – verglichen mit der Mühsal und Disziplin, die es kostet, über Jahre und Jahrzehnte, wie James Strachey und Angela Richards, Herausgeberkultur, Herausgebertugenden zu erwerben und aufrechtzuerhalten.

Trotz der rigorosen Sachlichkeit ihrer Briefe äußert sich auch in ihnen die »intellektuelle Grazie«, von der Ernst Freud gesprochen hatte. So wenn sie beim Auftauchen eines bislang unbekannten Freud-Texts, am 18. März 1975, meinte: »We will have to invent a Köchel number for it«, auf die von ihr laufend ergänzte Freud-Gesamtbibliographie gleichsam als Freuds Köchel-Verzeichnis anspielend. Oder in einem wehmütigen Brief vom 7. Mai 1973, in welchem sie, sich für Augenblicke von den Editionsproblemen lösend, vom Sterben, vom nicht-vorzeitigen Tod der damals einundachtzigjährigen Alix Strachey erzählte: »She ate terribly little: if one was there, one had a job to persuade a few extra mouthfuls into her, but once one's back was turned I suspect she scarcely ate at all. And there was another thing: I have had the impression the last two or three times I have {21}visited her, before this last illness, that she was really not interested in living much longer. This was rather strange, because she had plenty of interest in people (the ones she liked, and some she disliked!), was right up-to-date in world affairs on which she had strong opinions, as well as the latest books on subjects she cared about. What she seemed to have lost interest in was herself – I think she considered she had lived her life and played her part. And there is another thing, which I expect has struck you – she died within a day or two of the anniversary of James's death; I am sure that had an influence though as far as I can discover she mentioned it to no-one these last days. I shall miss her terribly – I had known her as long as I can remember. She was a school-friend of my mother's, and indeed a life-long friend, and through her stories, particularly about those shared early years, she used to provide me with one of those precious living links – which become more precious as they become fewer and each one in turn falls away.«

Was Ernst Freud mit der Warnung gemeint hatte, Angela Richards habe »kein Zeit-Gewissen«, begann ich nicht lange nach unserer ersten Begegnung zu begreifen. Heute erscheint mir der Ausdruck »Gewissen« nicht zutreffend, weil er einen strukturellen Mangel unterstellt. Es war aber vielmehr so, als hätte sie ein anderes, gleichsam vorindustrielles Zeitgefühl. Termine für bestimmte Arbeitsabläufe zu setzen und auf deren Einhaltung zu bestehen stieß bei ihr auf staunendes Unverständnis. Sie beobachtete derlei mit distanziertem Interesse, als handele es sich um Verhaltenseigenheiten eines wunderlichen, sinnvollen Rhythmen entfremdeten, eigentlich bedauernswerten, jedenfalls reichlich unzivilisierten Menschenschlags. Die in ihren Augen einzig legitime Einteilung der Zeit ergab sich aus dem Gang der Arbeit selbst und aus den Erfordernissen wie Annehmlichkeiten ihres persönlichen Lebens mit ihrer Familie, ihrem Ehemann, dem Arzt Anthony D. Harris, und den Töchtern Tamsin und Pippa, ihren Freundschaften und dem zweckfreien Sichbewegen in der »area of cultural experience«, zumal Musik. Mit sanfter, unmerklicher Entschiedenheit wußte sie es im Laufe der Jahre zu verhindern, daß meine Besuche im Old Brew House in Eynsham ausschließlich Arbeitscharakter annehmen konnten: man aß, man trank, man spielte mit den Kindern, man plauderte – und man arbeitete. Zurückgekehrt, erschien es mir meist erstaunlich, wieviel wir trotzdem tatsächlich gearbeitet hatten. In dieser durch nichts störbaren Gemächlichkeit ihres Lebens Gelassenheit, ja Weisheit entdecken, heißt nicht, die Irritation und den Ärger leugnen, welche dieses vorindustrielle {22}Zeitgefühl in der Verlagsrealität immer wieder auslösen mußte. Was versöhnlich stimmte, war die Beharrlichkeit, mit der Angela Richards gleichwohl über lange Zeiträume an Publikationsprojekten festhalten konnte, für die sie die Verantwortung übernommen hatte. Ein Beispiel dafür ist der Nachtragsband, an dem sie fast bis zu ihrem Tode gearbeitet hat.

*

Als wir uns Anfang der sechziger Jahre an die Vervollständigung der Gesammelten Werke Sigmund Freuds machten, war, außer der Fertigstellung des achtzehnten Bandes, des Gesamtregisters, zunächst daran gedacht worden, in dem nichtnumerierten Nachtragsband alle diejenigen im weitesten Sinne psychologisch-psychoanalytischen Schriften und sonstigen Äußerungen Freuds zu sammeln, die aus verschiedenen Gründen in den siebzehn Textbänden der Gesammelten Werke fehlen, in der Standard Edition aber enthalten sind. Zu diesen fehlenden Stücken zählten wir, weil integraler Bestandteil der Studien über Hysterie (1895d), freilich auch die von Josef Breuer verfaßten Beiträge zu diesem Buch, nämlich die Krankengeschichte der »Anna O.« sowie den Abschnitt ›Theoretisches‹; sie hatten bereits in Freuds erster Werkausgabe, den Gesammelten Schriften, gefehlt. Ferner waren die von Freud nicht für den Druck vorgesehenen Originalnotizen zur Krankengeschichte des »Rattenmannes« (1955a [1907–08]) dem deutschsprachigen Leser zugänglich zu machen. Die einzelnen größeren und kleineren Stücke des Bandes sollten in chronologischer Reihenfolge abgedruckt und, im Unterschied zu den anderen Textbänden der Gesammelten Werke, mit ausführlichen, auf dem Apparat der Standard Edition fußenden Herausgeber-Kommentaren versehen werden.

Die durch die Vorbereitung der Studienausgabe erzwungene Stillegung der Arbeit am Nachtragsband erwies sich dann nicht nur als nachteilig. Unterdessen tauchten nämlich zahlreiche weitere Freud-Texte auf, die auch in der Standard Edition fehlen, nun aber in den Nachtragsband aufgenommen werden konnten. Ferner begannen in der Zwischenzeit die Vorbereitungen für die Veröffentlichung der vollständigen Ausgabe von Freuds Briefen an Wilhelm Fließ. Es wurde vereinbart, daß der für die Geschichte der Psychoanalyse bedeutsame ›Entwurf einer Psychologie‹ (1895) in Zukunft nicht mehr, wie bisher, im Kontext der Fließ-Dokumente, sondern als Teil des Werks im Nachtragsband präsentiert werden {23}sollte. Diese Entscheidung bot die Gelegenheit, nun eine durch Vergleich mit der Handschrift grundlegend neubearbeitete Fassung vorzulegen.

Wir nahmen diese den Umfang des Nachtragsbandes erheblich erweiternden Veränderungen zum Anlaß, den Aufbau des Buches erneut zu diskutieren. Als Ergebnis dieser Überlegungen wurde zwar als Grundordnung die Chronologie[3] beibehalten, jedoch eine zusätzliche Gliederung in Teile – von gewiß unterschiedlichem Umfang und Gewicht – eingeführt, welche es dem Leser erleichtern soll, sich in dem Band zurechtzufinden. Und zwar erscheinen Texte zu Teilen gebündelt, die inhaltlich zusammengehören (wie die Elemente der Teile I, II, III, VII, IX, X, XI, XIV) oder formale Ähnlichkeiten zeigen (wie diejenigen der Teile V, XII, XIII), wobei für die Reihenfolge der Einzelstücke innerhalb der Teile wiederum die Chronologie gilt. Schließlich werden, drittens, bestimmte wichtige Einzeltexte als separate Teile präsentiert (Teil IV, VI, VIII). Hinsichtlich der beiden zuerst genannten Gliederungsprinzipien hat die inhaltliche Zusammengehörigkeit gegenüber der formalen Ähnlichkeit Priorität. So wird beispielsweise Freuds Rezension von Auguste Forels Buch Der Hypnotismus im II. Teil präsentiert, der die ›Schriften über Hypnotismus und Suggestion‹ sammelt, nicht zusammen mit den Buchbesprechungen im V. Teil. Auf diese Weise wird es dem Leser ermöglicht, Freuds Gedanken über Hypnotismus und Suggestion, soweit im vorliegenden Band enthalten, im Kontext kennenzulernen oder sich im III. Teil zusammenhängend über Früchte seiner Kooperation mit Josef Breuer zu informieren. Es stellte sich in dieser zweiten Arbeitsphase also heraus, daß der Nachtragsband zumal im Hinblick auf die frühen Konzeptualisierungen Freuds und die Anfänge der Psychoanalyse neue Verständniszugänge eröffnen kann, wobei nun auch einige zeitgenössische Berichte über Freuds damalige Aktivitäten als wissenschaftsgeschichtlich relevante Dokumente abgedruckt werden. In einem Brief an die Verlagsleitung vom 19. Dezember 1980 konnte die Herausgeberin mit einer gewissen Genugtuung feststellen: »In the past year I have completely altered my view about the importance of this volume. […] it has been possible to trace the connections between Freud's ideas and writings at different periods and present the work as a coherent and integrated whole. […] It will be a source book which students of Freud will need to use for many years to come.«

{24}Nicht lange danach verlangsamten sich infolge der Krankheit die Vorbereitungen und blieben dann unvollendet liegen. Neben zahllosen Einzelproblemen waren noch Hauptstücke der Arbeit zu bewältigen. Außer der Einleitung zum Band fehlten insbesondere die ›Originalnotizen‹ zur Krankengeschichte des »Rattenmannes« (Teil VI), editorischer Apparat wie definitive Textvorlage. Das Besorgen einer Kopie der Handschrift erwies sich als unerwartet zeitraubend; doch konnte dann mittels Vergleichs zwischen dieser Kopie und dem in der zweisprachigen französischen Ausgabe von 1974 zuerst veröffentlichten deutschen Wortlaut eine definitive, wesentlich korrigierte Satzvorlage hergestellt werden. Auch die Arbeit an einer verbindlichen, gleichfalls anhand einer Kopie der Handschrift überprüften Satzvorlage des ›Entwurfs einer Psychologie‹ (Teil IV) war beim Tode Angela Richards' noch nicht abgeschlossen. Ferner fehlte gänzlich die umfangreiche Gesamtbibliographie, für die sich im Nachlaß keinerlei Unterlagen fanden. Das bedeutete, daß Titel und bibliographische Details rekonstruiert werden mußten, denn im Text werden in der Regel nur Autorennamen und Erscheinungsjahr genannt. Endlich konnte als neuer Teil (Teil VIII) die Edition des erst nach dem Tode der Herausgeberin entdeckten Entwurfs der zwölften metapsychologischen Abhandlung von 1915 aufgenommen werden. Zum Schluß wurde noch eine letzte gründliche Revision der Inhaltsgliederung durchgeführt.

Wo nicht anders vermerkt, wie beispielsweise im Fall der ›Originalnotizen zu einem Fall von Zwangsneurose‹ (Teil VI), sind Orthographie und Interpunktion der Freud-Texte, sei es gegenüber der Erstveröffentlichung, sei es im Vergleich zur Handschrift, stillschweigend behutsam modernen Gepflogenheiten angeglichen worden. Detaillierte Quellenangaben finden sich jeweils zu Beginn der betreffenden Arbeit in der ›Editorischen Einleitung‹ bzw. ›Editorischen Vorbemerkung‹ oder auch, bei kurzen Stücken, in einer editorischen Anmerkung. Dem Titel der Arbeiten wurde in runden Klammern das Datum der Erstveröffentlichung hinzugefügt, in eckigen das Entstehungsjahr, sofern dieses von jenem abweicht. Editorische Verweise auf Freuds Schriften nennen durchgehend Band- und Seitenzahl des Abdrucks sowohl in den Gesammelten Werken als auch in der Studienausgabe, den beiden derzeit am leichtesten zugänglichen Editionen. Auch Freuds eigene Bezugnahmen auf seine Werke wurden auf die genannten Ausgaben umgestellt, da er meist entlegene frühe Editionen anführt. Diese Anpassung geschah wiederum stillschweigend. Das gilt ebenso für die Korrektur der Schreibweise mancher Namen. Um schwerfällige Wieder{25}holungen zu vermeiden, wurden die ausführlichen bibliographischen Angaben, die Freud im Text oder in den Fußnoten macht, in die Bibliographie am Schluß des Bandes verwiesen. Auf diese Weise lassen sich in Text und Anmerkungen (auch im gesamten editorischen Apparat) die bibliographischen Details im allgemeinen auf Autorenname und Erscheinungsjahr beschränken. Im Zusammenhang mit Seitenangaben wird einheitlich die Abkürzung »S.« verwendet, auch dort, wo Freud »p.« benutzt hat. Sonst ist jede Änderung, die über die aufgezählten Regeln hinaus am Quellentext vorgenommen wurde, kenntlich gemacht.

Soweit die im Nachtragsband abgedruckten Freud-Texte in der Standard Edition enthalten sind, fußt das ihnen zugeordnete editorische Material weitgehend auf dem der Strachey-Ausgabe.[4] Doch wurde es gründlich überarbeitet, wo nötig korrigiert und im Hinblick auf die neuere Forschung und die besonderen Belange des Nachtragsbandes ergänzt. Für alle anderen Stücke wurden die editorischen Kommentare neu verfaßt.

Die Kommentare bestehen aus ›Editorischen Einleitungen‹ zu den größeren Texten, aber gelegentlich auch als Vorspann zu einem ganzen Teil (Teil II), ferner ›Editorischen Vorbemerkungen‹ sowie editorischen Anmerkungen. Bis auf die ›Editorischen Einleitungen‹, die ›Editorischen Vorbemerkungen‹ sowie Anhänge, auf den ersten Blick als Herausgeber-Zusätze erkennbar, sind alle editorischen Hinzufügungen durch eckige Klammern markiert. Was Zuschnitt und Inhalt des editorischen Apparats betrifft, so seien Auszüge aus den ›Erläuterungen zur Edition‹ zitiert, welche Angela Richards einst für den ersten Band der Studienausgabe verfaßte; die dort beschriebenen Prinzipien hat sie nämlich auch auf den Nachtragsband angewandt:

»Die ›Editorischen Vorbemerkungen‹ zu den Einzelwerken wollen, neben bibliographischen Details, über Entstehungszeit und -umstände unterrichten, kurz die in der betreffenden Schrift behandelten Hauptthemen bezeichnen und diese mit verwandten Erörterungen in anderen Arbeiten Freuds in Verbindung setzen.

Die […] Anmerkungen zeigen in erster Linie einige der wichtigeren Änderungen auf, die Freud in verschiedenen Ausgaben seiner Schriften im Text oder in Fußnoten vorgenommen hat. […] Auch wird auf eine Anzahl vermutlicher Druckfehler in den Quellentexten hingewiesen.

{26}In den Anmerkungen wurde ferner der Versuch gemacht – und das ist eigentlich ihr Hauptzweck –, die zentralen psychoanalytischen Begriffe und Theorien zu skizzieren und insbesondere auf Änderungen und Entwicklungen im Denken Freuds aufmerksam zu machen sowie anzugeben, wo der Leser das jeweils behandelte Thema in einem anderen Werk Freuds zusätzlich studieren, es in neuem Lichte dargestellt finden kann. […] Ferner findet der Leser eine große Anzahl von Querverweisen innerhalb der einzelnen Schriften; […] sie werden hoffentlich […] helfen, den Gedankengang leichter nachzuvollziehen und Anspielungen rascher auf die Spur zu kommen.

Soweit überhaupt ermittelbar, wurden die Quellen der von Freud nicht oder nur teilweise näher bezeichneten Zitate aus Werken literarischer oder wissenschaftlicher Autoren angegeben[5] bzw. Freuds eigene Nachweise ergänzt oder, wenn erforderlich, korrigiert. (Dies gilt auch für Hinweise auf seine eigenen Werke, die Freud meist nicht detailliert belegte.) Desgleichen sind Anspielungen auf geschichtliche Ereignisse und Persönlichkeiten, auf Gestalten der Mythologie und Literatur erklärt, falls anzunehmen ist, daß sie heute nicht mehr ohne weiteres erinnert oder verstanden werden. An einigen wenigen Stellen wurden auch geographische und wissenschaftliche Erläuterungen hinzugefügt.« (S. 30f.)

Alle editorischen Texte, die Angela Richards in englischer Sprache ablieferte, habe ich ins Deutsche übersetzt.[6] Englische und französische Zitate sind in der Regel unübersetzt geblieben; für Zitate aus weniger gebräuchlichen Fremdsprachen wurden deutsche Übersetzungen beigefügt. Was an editorischen Kommentaren nach Angela Richards' Tod hinzukam, zumal der editorische Apparat zum VIII. Teil, aber auch kürzere Erläuterungen wie die zu den ›Ergänzungen zur Selbstdarstellung‹ (in Teil XIII), wurde natürlich sogleich in deutsch verfaßt.[7]

Schon in der ersten Vorbereitungsphase des Nachtragsbandes haben, außer James Strachey, besonders Anna Freud (London) und K. R. Eissler {27}(New York), der Begründer und langjährige Sekretär des Sigmund Freud Archivs, durch Rat und Tat das Entstehen des Buches gefördert. K. R. Eissler hat uns bis zum Schluß zahllose Hilfen gewährt, die im einzelnen nicht aufgeführt werden können. Auch James H. Hutson und Ronald S. Wilkinson von der Manuscript Division der Library of Congress (Washington), die das Sigmund Freud Archiv beherbergt, sind dankend zu erwähnen. In Eynsham hat, besonders in den Jahren der Krankheit von Angela Richards, Anthony D. Harris für die Fortsetzung der Arbeit gesorgt, die Korrespondenz mit mir aufrechterhalten, sich selbst aktiv an Recherchen beteiligt und die Zusammenarbeit mit Albert Dickson (London) koordiniert, der Angela Richards schon seit Jahren bei ihren verschiedenen Editionsprojekten assistierte und sich auch für den Nachtragsband vielfältige dankenswerte Verdienste erworben hat. Gerhard Fichtner (Tübingen) und Michael Schröter (Berlin) verdanken wir einige wertvolle Hinweise. Daß das Buch allen mitunter unüberwindlich erscheinenden Hindernissen zum Trotz schließlich doch erscheinen konnte, ist aber vor allem der unermüdlichen, sorgfältigen Arbeit von Ingeborg Meyer-Palmedo vom S. Fischer Verlag (Frankfurt) zu danken. Ihre Hilfen sind wiederum zu vielfältig, als daß sie hier einzeln aufgezählt werden könnten. Sie reichen vom Kollationieren der Originalnotizen zur Krankengeschichte des »Rattenmannes« und des ›Entwurfs einer Psychologie‹ über Bibliotheksrecherchen für die von ihr besorgte mühselige Rekonstruktion der Bibliographie, die kritische Lektüre der gesamten Satzvorlage bis zu Fahnen- und Umbruchkorrektur sowie zur Zusammenstellung des Sachregisters.

Zum Schluß noch ein Wort zur weiteren Erschließung des Freud-Œuvres: Das Erscheinen des Nachtragsbandes darf uns nicht die Tatsache aus den Augen verlieren lassen, daß er lediglich so etwas wie eine solide Zwischenstation darstellt – auf dem Wege zu einer definitiven historisch-kritischen deutschen Freud-Gesamtausgabe, die auch die voranalytischen Werke und die Briefe zu umfassen hätte. Diese Edition ist und bleibt ein Desiderat. Zwar liegt mit dem Nachtragsband und den siebzehn numerierten Textbänden der Gesammelten Werke das Korpus des Freudschen psychologisch-psychoanalytischen Œuvres, was den heute bekannten Textbestand anlangt, in der Originalsprache vollständig vor. Doch ermangelt den siebzehn zwischen 1940 und 1952 veröffentlichten Bänden, wie beschrieben, ein zulänglicher kritischer Apparat. In der Studienausgabe wiederum wird {28}dem Leser ein solcher Apparat nur für eine, wenngleich umfangreiche Werkauswahl zur Verfügung gestellt. Inzwischen hat sich gezeigt, daß die Vorbereitungen für eine historisch-kritische Freud-Gesamtausgabe nicht unverzüglich begonnen werden können, nämlich nicht ehe die noch unveröffentlichten Korrespondenzen Freuds erschlossen sind. Diese Dokumente enthalten eine Fülle für den editorischen Apparat einer definitiven Gesamtausgabe unverzichtbarer, bisher unbekannter Kommentare Freuds zum eigenen Schaffensprozeß und zum Werk. Es wird deshalb in den nächsten Jahren darum gehen, zuerst diese Briefe herauszubringen, darunter die gewichtigen Korrespondenzen mit Sándor Ferenczi und Ernest Jones, aber auch die Jugendbriefe an Eduard Silberstein, die frühe Hinweise auf die ideengeschichtlichen Wurzeln des Freudschen Denkens enthalten. Daneben wird bereits seit längerem an einer vierbändigen Edition der thematisch weitverzweigten und heute zumeist nur in entlegenen Fachzeitschriften zugänglichen voranalytischen Schriften Freuds gearbeitet, also der Erschließung eines Werkbereichs, dem sich das wissenschaftsgeschichtliche Interesse in letzter Zeit verstärkt zugewendet hat.

Februar 1985

{29}I. TeilDie Studienreise nach Paris und der Einfluß Charcots

(1885–1888)

{31}Bericht über meine mit Universitäts-Jubiläums-Reisestipendium unternommene Studienreise nach Paris und Berlin Oktober 1885–Ende März 1886

Dr. Sigm. Freud Dozent für Neuropathologie an der Universität Wien (1956 [1886])

Editorische Vorbemerkung

(1886 Datum der Niederschrift.)

1960

In J. und R. Gicklhorn, Sigmund Freuds akademische Laufbahn im Lichte der Dokumente, Wien und Innsbruck, Urban & Schwarzenberg, S. 82–89.

1966

Almanach. Das achtzigste Jahr, Frankfurt am Main, S. Fischer, S. 131–43. (Vorbemerkung und Anmerkungen aus der Standard Edition.)

1971

In Sigmund Freud, »Selbstdarstellung«; Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, herausgegeben und eingeleitet von I. Grubrich-Simitis, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, S. 129–38.

 

Englische Übersetzung (Erstveröffentlichung):

1956

›Report on my Studies in Paris and Berlin‹, International Journal of Psycho-Analysis, Bd. 37, Nr. 1, S. 2–7. (Englische Übersetzung von James Strachey.)

1966

Standard Edition, Bd. 1, S. 1–15. (Korrigierter Nachdruck von 1956, mit zusätzlichem editorischen Material.)

 

{32}Anhang

Habilitationsgesuch, Curriculum vitae und Lehrplan

(1885 Datum der Niederschrift.)

1960

In J. und R. Gicklhorn, ibid., S. 64–66. (Das ›Curriculum vitae‹ und der ›Lehrplan‹ finden sich dort, als Abb. 2 und 3 zwischen S. 144 und S. 145, auch faksimiliert.)

1971

›Curriculum vitae‹ wurde nachgedruckt in Freud, »Selbstdarstellung‹; Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, ibid., S. 125f.

Reisestipendiumsgesuch

(1885 Datum der Niederschrift.)

1960

In J. und R. Gicklhorn, ibid., S. 77. (Ein Faksimile der ersten Seite des Dokuments findet sich dort als Abb. 6, zwischen S. 144 und S. 145.)

Der vorliegende Bericht, ein geeigneter Auftakt für den Nachtragsband zu den Gesammelten Werken Sigmund Freuds, enthält die Schilderung eines historischen Ereignisses: nämlich wie sich Freuds wissenschaftliche Interessen von der Neurologie zur Psychologie wandten – verfaßt vom Protagonisten selbst zu einer Zeit, da sich diese Umorientierung vollzog.

Freuds Studienreise nach Paris und Berlin wurde mittels eines Stipendiums von sechshundert Gulden, für einen sechsmonatigen Aufenthalt, finanziert, welches das Professoren-Kollegium der medizinischen Fakultät in Wien ihm gewährt hatte. Das Kollegium erwartete von Freud einen formellen Bericht über seine Studien. Kurz nach seiner Rückkehr nach Wien hat Freud diesen Bericht in ungefähr zehn Tagen niedergeschrieben. Er beendete ihn am 22. April 1886. (Für weitere Einzelheiten und den gesamten Hintergrund vgl. Jones, 1960, S. 98–101 und 272f.). Der Bericht wurde auf Anregung Siegfried Bernfelds von Josef Gicklhorn in den Archiven der Wiener Universität ausgegraben. Die im Anhang abgedruckten Dokumente haben die gleiche Herkunft. Die Erstveröffentlichung des Berichts erfolgte zunächst auf englisch, siebzig Jahre nach der Entstehung. Das Original, das in den Archiven der Wiener Universität verblieben ist, besteht aus zwölf handgeschriebenen Blättern. – Als Textvorlage diente uns eine Photokopie der Handschrift, die uns freundlicherweise Frau Eva Laible zur Verfügung stellte.

Es ist allgemein bekannt, welch außerordentliche Bedeutung Freud selber seinen Studien bei Charcot beigemessen hat. Dieser Bericht markiert seine Erfahrungen an der Salpêtrière ganz klar als einen Wendepunkt. Als er in Paris ankam, hatte ihn die Anatomie des Nervensystems »vorzugsweise beschäftigt«; als er es verließ, schwirrte ihm der Kopf von den Problemen der Hysterie und des Hypnotismus. Er hatte der Neurologie den Rücken gekehrt und sich der Psychopathologie zuge{33}wandt. Man könnte für die Wende sogar ein genaues Datum angeben – nämlich Anfang Dezember 1885, als er seine anatomische Arbeit im pathologischen Laboratorium in der Salpêtrière aufgab; doch war die Unzulänglichkeit des Laboratoriums, die Freud selbst als Grund nennt, natürlich bloß ein Anlaß für die folgenschwere Richtungsänderung seiner Interessen. Andere, tiefere Gründe waren ausschlaggebend, darunter gewiß der mächtige persönliche Einfluß, den Charcot offensichtlich auf Freud ausgeübt hat. Darauf hat Freud selbst immer wieder hingewiesen, mit besonderer Eindringlichkeit in seinem Nachruf auf Charcot (1893f), mit der stärksten Gefühlsbetonung allerdings wohl in seinem Vorwort zur Übersetzung der Leçons du mardi (1892–94), s. S. 153–57, unten. Tatsächlich taucht vieles von dem, was Freud im vorliegenden Bericht über Charcot ausführt, in den späteren Beschreibungen wieder auf.

Eine weniger offizielle, höchst anschauliche Schilderung des Pariser Aufenthalts findet sich in Freuds Briefen an seine Verlobte, Martha Bernays, von denen viele in einer Briefauswahl-Ausgabe (Freud, 1960a) enthalten sind. Ein Zitat aus einem Brief vom 24. November 1885, in welchem Wesentliches von Freuds damaligen Gefühlen und Gedanken bezüglich Charcots auf denkwürdige Weise ausgedrückt ist, mag genügen: »[ …] ich glaube, ich verwandle mich sehr. Ich will Dir das einzeln aufzählen, was auf mich einwirkt. Charcot, der einer der größten Ärzte, ein genial nüchterner Mensch ist, reißt meine Ansichten und Absichten einfach um. Nach manchen Vorlesungen gehe ich fort wie aus Notre-Dame, mit neuen Empfindungen zum Vollkommenen. Aber er greift mich an; wenn ich von ihm weggehe, habe ich gar keine Lust mehr, meine eigenen dummen Sachen zu machen; ich bin jetzt drei Tage faul gewesen, ohne mir darum Vorwürfe zu machen. Mein Gehirn ist gesättigt wie nach einem Theaterabend. Ob die Saat einmal Früchte bringen wird, weiß ich nicht; aber daß kein anderer Mensch je ähnlich auf mich gewirkt hat, weiß ich gewiß.«

{34}Hochlöbliches Professoren-Kollegium der medizinischen Fakultät in Wien

 

In meinem Gesuche um Verleihung des Universitäts-Jubiläums-Reisestipendiums für das Jahr 1885/6 habe ich die Absicht ausgesprochen, mich nach Paris in das Hospiz der Salpêtrière zu begeben, um daselbst meine neuropathologischen Studien fortzusetzen. Für diese Wahl hatten mehrere Momente zusammengewirkt: Zunächst die Gewißheit, an der Salpêtrière ein großes Material von Kranken gesammelt zu finden, welches in Wien nur zerstreut und daher schwer zugänglich ist; sodann der große Name Charcots[8], welcher in jenem Krankenhause nun seit siebzehn Jahren arbeitet und lehrt; endlich aber mußte ich mir sagen, daß ich nicht erwarten durfte, an einer deutschen Hochschule wesentlich Neues zu lernen, nachdem ich in Wien die mittelbare und unmittelbare Unterweisung der Herren Prof. Th. Meynert und H. Nothnagel[9] genossen hatte. Die französische Schule der Neuropathologie schien mir dagegen sowohl in ihrer Arbeitsweise Fremdes und Eigentümliches zu bieten als auch neue Gebiete der Neuropathologie in Angriff genommen zu haben, auf welche sich in Deutschland und Österreich die wissenschaftliche Arbeit nicht in ähnlicher Weise erstreckt hat. Infolge des wenig lebhaften persönlichen Ver{35}kehrs zwischen französischen und deutschen Ärzten hatten die teils höchst merkwürdigen (Hypnotismus), teils praktisch wichtigen (Hysterie) Funde der französischen Schule mehr Anzweiflung als Anerkennung und Glauben in unseren Landen gefunden und mußten sich die französischen Forscher, Charcot voran, oft den Vorwurf der Kritiklosigkeit oder mindestens der Hinneigung zum Studium des Seltsamen und zu dessen effektvoller Verarbeitung gefallen lassen. Nachdem mich das löbliche Professoren-Kollegium durch die Verleihung des Reisestipendiums ausgezeichnet hatte, ergriff ich daher bereitwillig die gebotene Gelegenheit, ein auf eigene Erfahrung gegründetes Urteil über die erwähnten Reihen von Tatsachen zu gewinnen, und freute mich, dabei gleichzeitig der Anregung meines verehrten Lehrers, des Herrn Prof. von Brücke[10], entsprechen zu können.

Während eines Ferienaufenthaltes in Hamburg machte das freundliche Entgegenkommen des Herrn Dr. Eisenlohr[11], des bekannten Vertreters der Neuropathologie in dieser Stadt, es mir möglich, eine größere Reihe von Nervenkranken im großen Krankenhause und im Heinespitale[12] zu untersuchen, und verschaffte mir auch Zugang in die Irrenanstalt Klein-Friedrichsberg. Die Studienreise, über welche ich hier berichte, nahm aber ihren Anfang erst mit meinem Eintreffen in Paris in der ersten Hälfte des Monats Oktober, zum Beginne des Schuljahres.

Die Salpêtrière, welche ich zunächst aufsuchte, ist ein ausgedehntes Bauwerk, das durch seine einstöckigen, im Viereck stehenden Häuser wie durch seine Höfe und Gartenanlagen lebhaft an das Wiener Allgemeine Krankenhaus erinnert. Es hat seine Bestimmungen, auf deren erste der Name hindeutet (wie bei unserer ›Gewehrfabrik‹), im Laufe der Zeiten mehrmals gewechselt[13] und ist endlich [1813] zu einem Versorgungshaus für alte Frauen (vieillesse femmes), das über fünftausend Personen beherbergt, geworden. Es lag in der Natur der Verhältnisse, daß die chronischen {36}Nervenkrankheiten eine besonders reichliche Vertretung unter diesem Krankenmateriale finden mußten, und frühere Primarärzte[14] des Versorgungshauses, z.B. Briquet[15], hatten auch die wissenschaftliche Verwertung der Kranken in Angriff genommen, doch stand einer systematisch fortgeführten Arbeit die Gepflogenheit der französischen Primarärzte im Wege, das Spital, an dem sie wirken, und damit die Spezialität, welche sie studieren, häufig zu wechseln, bis sie in ihrer Karriere in das große klinische Spital Hôtel-Dieu gelangt sind. J. M. Charcot aber, welcher im Jahre 1856 Interne (Sekundararzt) an der Salpêtrière war, erkannte die Notwendigkeit, die chronischen Nervenkrankheiten zum Gegenstand eines unausgesetzten und ausschließlichen Studiums zu machen, und nahm sich vor, als Primararzt in die Salpêtrière zurückzukehren und dieselbe nicht mehr zu verlassen. Diesen Vorsatz durchgeführt zu haben, erklärt der bescheidene Mann nun für sein einziges Verdienst. Durch die günstigen Bedingungen seines Materials auf die chronischen Nervenkrankheiten und deren pathologisch-anatomische Begründung hingewiesen, hielt er durch etwa zwölf Jahre klinische Vorlesungen als freier Arbeiter, ohne Lehrauftrag[16], bis im Jahre 1881 endlich ein Lehrstuhl für Neuropathologie in der Salpêtrière errichtet und ihm übertragen wurde.

Mit dieser Institution waren eingreifende Veränderungen in den Arbeitsbedingungen Charcots und seiner unterdessen zahlreich gewordenen Schüler verbunden. Als notwendige Ergänzung zu dem stationären Materiale des Versorgungshauses wurde eine klinische Abteilung in der Salpêtrière geschaffen, auf welcher auch nervenkranke Männer Aufnahme finden und die sich aus einer einmal wöchentlich abgehaltenen Poliklinik (Consultation externe) rekrutiert. Außerdem wurde dem Professor der Neuropathologie ein Laboratorium für anatomische und physiologische Arbeiten, ein pathologisches Museum, ein Atelier für Photographie und Gipsabgüsse, ein ophthalmologisches Zimmer, ein elektrisches und hydrotherapeutisches Institut in den Räumlichkeiten des großen Spitales zur Verfügung gestellt und ihm damit die Möglichkeit gegeben, sich der dau{37}ernden Mitarbeiterschaft einiger seiner Schüler, denen die Leitung dieser Anstalten übertragen ist, zu versichern.[17] Der Mann, welcher über all diese Hilfsmittel und Hilfskräfte gebietet, ist gegenwärtig sechzig Jahre alt, von einer Lebhaftigkeit, Heiterkeit und Formvollendung der Rede, die wir gewöhnlich dem Nationalcharakter der Franzosen zuzuschreiben pflegen, und von einer Geduld und Arbeitsfreudigkeit, wie wir sie in der Regel für die eigene Nation in Anspruch nehmen.

Von dieser Persönlichkeit angezogen, habe ich mich bald darauf beschränkt, das eine Spital zu besuchen und dem Unterricht des einen Mannes zu folgen. Gelegentliche Versuche, andere Vorlesungen zu hören, gab ich auf, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß man sich zumeist mit wohlgefügten rhetorischen Leistungen zufriedengeben müßte. Nur die gerichtlichen Sektionen und Vorträge von Prof. Brouardel[18] in der Morgue pflegte ich selten zu versäumen.

In der Salpêtrière selbst gestaltete sich meine Arbeit anders, als ich mir ursprünglich vorgesetzt hatte. Ich war in der Absicht gekommen, eine einzelne Frage zum Gegenstande einer eingehenden Untersuchung zu machen, und hatte mir, da mich in Wien vorzugsweise anatomische Probleme beschäftigt hatten, das Studium der sekundären Atrophien und Degenerationen nach infantilen Gehirnaffektionen erwählt. Man stellte mir ein äußerst wertvolles pathologisches Material zur Verfügung; ich fand aber, daß die Verhältnisse der Ausnützung desselben sehr ungünstig waren. Das Laboratorium war in keiner Weise darauf eingerichtet, einen fremden Arbeiter aufzunehmen, und was etwa an Raum und Hilfsmitteln vorhanden war, wurde durch den Mangel einer jeglichen Organisation unzugänglich. Ich sah mich also genötigt, die anatomische Arbeit aufzugeben[19], und begnügte mich mit einem auf das Verhalten der Hinterstrangskerne im verlängerten Mark bezüglichen Funde. Doch fand sich später Gelegenheit, {38}derartige Untersuchungen in Gemeinschaft mit Herrn Dr. von Darkschewitsch aus Moskau aufzunehmen, und unser Verkehr führte zu einer Publikation im Neurologischen Zentralblatt, Nr. 6, 1886 [Band 5, S. 121], welche den Titel trägt: ›Über die Beziehung des Strickkörpers zum Hinterstrang und Hinterstrangskern nebst Bemerkungen über zwei Felder der Oblongata‹[20].

Im Gegensatz zur Unzulänglichkeit des Laboratoriums bot die Klinik in der Salpêtrière eine solche Fülle von Neuem und Interessantem, daß es alle meine Kräfte in Anspruch nahm, die günstige Gelegenheit als Lernender auszunützen. Die Einteilung der Woche war die folgende: Montag fand die öffentliche Vorlesung Charcots statt, welche durch ihre Formvollendung entzückte, während ihr Inhalt aus den Arbeiten der vorhergehenden Woche bekannt war. Diese Vorlesungen waren nicht so sehr Elementarunterricht in der Neuropathologie als vielmehr Mitteilungen der neuesten Forschungen des Professors und wirkten vor allem durch ihre beständige Beziehung auf den vorgestellten Kranken. Dienstag hielt Charcot die Consultation externe ab, bei welcher ihm aus einer großen Menge von ambulatorischen Patienten die typischen oder die rätselhaften Fälle von den Assistenten zur Untersuchung vorgeführt wurden. Wirkte es da manchmal entmutigend, wenn der Meister einen Teil dieser Fälle nach seinem eigenen Ausdruck »in das Chaos der noch unenthüllten Nosographie« zurücksinken ließ, so boten ihm andere Fälle Gelegenheit, die lehrreichsten Bemerkungen über die verschiedenartigsten Themata der Neuropathologie an sie zu knüpfen.[21] Mittwoch war zum Teile den ophthalmologischen Untersuchungen gewidmet, welche Dr. Parinaud[22] in Charcots Gegenwart vornahm; und an den übrigen Tagen machte Charcot die Visite auf den klinischen Zimmern oder setzte die Untersuchungen, mit denen er eben beschäftigt war, an Kranken im Konferenzzimmer fort.

Ich hatte so Gelegenheit, eine große Reihe von Kranken zu sehen, selbst zu untersuchen und Charcots Urteil über dieselben zu hören. Von höhe{39}rem Werte aber als dieser positive Gewinn an Erfahrung scheint mir die Anregung zu sein, welche ich während der fünf in Paris verbrachten Monate aus dem beständigen wissenschaftlichen und persönlichen Verkehr mit Prof. Charcot geschöpft habe. Was den ersteren betrifft, so war ich kaum vor anderen Fremden bevorzugt. Die Klinik war eben jedem Arzte, der sich vorgestellt hatte, zugänglich, und die Arbeit des Professors ging öffentlich vor sich, inmitten aller jungen bei ihm dienenden und der fremden Ärzte. Er schien gleichsam mit uns zu arbeiten, laut zu überlegen und auf Einwürfe von seiten der Schüler zu warten. Wer sich getraute, mochte sein Wort in die Diskussion einwerfen, und keine Bemerkung blieb von dem Meister unberücksichtigt. Die Ungezwungenheit der Verkehrsformen und die den Fremden als fremdartig anmutende höfliche Gleichstellung aller Personen machte es auch den Schüchternen leicht, den lebhaftesten Anteil an den Untersuchungen, die Charcot anstellte, zu nehmen. Man sah ihn so zuerst unschlüssig vor neuen, schwer zu deutenden Erscheinungen stehen, konnte die Wege verfolgen, auf denen er zu deren Verständnis durchzudringen suchte, die Art, wie er Schwierigkeiten konstatierte und überwand, studieren und merkte mit Überraschung, daß er nie müde wurde, das nämliche Phänomen anzuschauen, bis ihm durch die so oft wiederholte, vorurteilslose Arbeit seiner Sinne die richtige Auffassung gewonnen war.[23] Nimmt man dazu die volle Aufrichtigkeit, mit der sich der Professor während dieser Arbeitsstunden gab, so wird man verstehen, daß der Schreiber dieses Berichts, wie alle anderen Fremden im gleichen Falle, die Klinik der Salpêtrière als rückhaltsloser Bewunderer Charcots verließ.

Charcot pflegte zu sagen, die Anatomie habe im großen und ganzen ihr Werk vollendet und die Lehre von den organischen Erkrankungen des Nervensystems sei sozusagen fertig; es komme nun die Reihe an die Neurosen. Man darf diesen Ausspruch wohl nur als Ausdruck der Wandlung gelten lassen, die in seiner eigenen Tätigkeit eingetreten ist. Seine Arbeit gilt seit Jahren fast ausschließlich den Neurosen und vorzugsweise der Hysterie, die er seit Eröffnung der Ambulanz und der Klinik auch bei Männern zu studieren Gelegenheit findet.

{40}Ich werde mir gestatten, die Leistungen Charcots für die Klinik der Hysterie mit einigen Worten darzulegen. Hysterie ist derzeit kaum ein Name von einigermaßen umgrenzter Bedeutung; der Krankheitszustand, für welchen dieser Name gebraucht wird, ist wissenschaftlich nur durch negative Merkmale gekennzeichnet, wenig und ungern studiert und mit dem Odium einiger sehr allgemein verbreiteter Vorurteile behaftet. Solche sind die angebliche Abhängigkeit der hysterischen Erkrankung von Genitalreizungen, die Meinung, daß für die Hysterie eine bestimmte Symptomatologie nicht anzugeben sei, weil eben jede beliebige Kombination von Symptomen bei ihr vorkommen könne, und endlich die übergroße Bedeutung, welche man der Simulation in dem Krankheitsbilde der Hysterie eingeräumt hat. Eine Hysterische war in unseren Jahrzehnten fast ebenso sicher, als Simulantin behandelt zu werden, wie sie in früheren Jahrhunderten als Hexe oder als Besessene beurteilt und verurteilt wurde.[24] In anderer Hinsicht war eher ein Rückschritt in der Kenntnis der Hysterie eingetreten. Das Mittelalter kannte genau die ›Stigmata‹[25], die somatischen Kennzeichen der Hysterie, welche es in seiner Weise deutete und verwertete. Auf den Berliner Polikliniken sah ich aber, daß diese somatischen Kennzeichen der Hysterie so gut wie unbekannt waren und daß mit der Diagnose ›Hysterie‹ überhaupt die Neigung, sich weiter mit den Kranken zu beschäftigen, unterdrückt schien.

Charcot ist bei dem Studium der Hysterie von den ausgebildetsten Fällen, die er als vollkommene Typen der Erkrankung auffaßte, ausgegangen[26] und hat zunächst die Beziehung der Neurose zum Genitalsystem auf ihr richtiges Maß zurückgeführt, indem er die männliche und insbesondere die traumatische Hysterie in bisher nicht geahntem Umfange kennen lehrte. An solchen typischen Fällen fand er dann eine Reihe von somatischen {41}Kennzeichen (Charakter des Anfalls, Anästhesie, Störungen des Sehsinnes, hysterogene Punkte u.a.) auf, welche nun gestatten, die Diagnose auf Hysterie auf Grund positiver Merkmale mit Sicherheit zu stellen. Durch das wissenschaftliche Studium des Hypnotismus – ein Gebiet der Neuropathologie, das einerseits dem Unglauben, andererseits dem Betruge abgerungen werden mußte – gelangte er selbst zu einer Art von Theorie der hysterischen Symptomatologie, welche er den Mut hatte, als eine zumeist reelle anzuerkennen, ohne die Vorsicht, welche die Unaufrichtigkeit der Kranken erfordert, dabei zu vernachlässigen. Eine rasch sich mehrende Erfahrung an dem vorzüglichsten Materiale erlaubte ihm bald, auch die Abweichungen vom typischen Bilde in Betracht zu ziehen, und als ich die Klinik verlassen mußte, war er eben beschäftigt, nach den hysterischen Lähmungen und Arthralgien die hysterischen Atrophien zu studieren, von deren Existenz er sich erst in den letzten Tagen meines Aufenthaltes überzeugen konnte.

Die ungeheure praktische Wichtigkeit der zumeist verkannten männlichen und besonders der nach Traumen entstandenen Hysterie erläuterte er an einem Kranken, welcher durch beinahe drei Monate den Mittelpunkt aller Arbeiten Charcots bildete. So wurde durch seine Bemühungen die Hysterie aus dem Chaos der Neurosen herausgehoben, gegen andere Zustände ähnlicher Erscheinung abgegrenzt und mit einer Symptomatologie ausgestattet, welche, obwohl mannigfaltig genug, doch das Walten von Gesetz und Ordnung nicht mehr verkennen läßt. Über die Gesichtspunkte, welche sich bei seinen Untersuchungen ergaben, hatte ich mündlich und schriftlich einen lebhaften Gedankenaustausch mit Herrn Prof. Charcot gepflogen, aus dem eine zur Aufnahme in die Archives de neurologie bestimmte Arbeit hervorging, welche als ›Vergleichung der hysterischen mit der organischen Symptomatologie‹ bezeichnet ist.[27]

Ich muß hier anführen, daß die Auffassung der durch Trauma entstandenen Neurosen (railway-spine)[28] als Hysterie lebhaften Widerspruch bei {42}deutschen Autoren, besonders bei den Herren Thomsen und Oppenheim, Assistenten an der Charité[29] in Berlin, gefunden hat. Ich lernte später beide Herren in Berlin kennen und wollte die Gelegenheit benützen, mich über die Berechtigung dieses Widerspruchs zu orientieren. Leider waren die betreffenden Kranken nicht mehr in der Charité. Ich gewann nur den Eindruck, daß die Frage noch nicht spruchreif sei, daß aber Charcot recht tue, zunächst die typischen und einfacheren Fälle zu berücksichtigen, während die deutschen Gegner mit dem Studium der verschwommenen und komplizierten Formen begonnen hatten. Die Behauptung, daß so schwere Formen von Hysterie, wie sie Charcot zu seinen Arbeiten gedient hatten, in Deutschland nicht vorkommen, wurde in Paris in Abrede gestellt und mit Berufung auf die historischen Berichte von derartigen Epidemien die Identität der Hysterie zu allen Zeiten und an allen Orten vertreten.

Ich versäumte auch nicht, mir eigene Erfahrungen über die so wunderbaren und wenig geglaubten Phänomene des Hypnotismus, besonders des von Charcot beschriebenen »grand hypnotisme« zu erwerben. Zu meinem Erstaunen fand ich, daß es sich hiebei um grob sinnfällige, in keiner Weise anzuzweifelnde Dinge handelt, die allerdings wunderbar genug sind, um nicht ohne eigene sinnliche Wahrnehmung geglaubt zu werden. Ich konnte dagegen nicht finden, daß Charcot dem Seltsamen eine besondere Vorliebe entgegenbrachte oder es zugunsten mystischer Tendenzen zu verwerten suchte. Vielmehr war ihm der Hypnotismus ein Erscheinungsgebiet, auf das er die naturwissenschaftliche Beschreibung anwandte, genauso wie vor Jahren die multiple Herdsklerose oder die progressive Muskelatrophie. Er schien mir überhaupt nicht [zu] denen zu gehören, welche sich eher über das Seltene als über das Gewöhnliche wundern, und nach seiner ganzen Geistesrichtung muß ich vermuten, daß es ihm zwar keine Ruhe läßt, bis er ein Phänomen, das ihn beschäftigt, richtig beschrieben und eingeordnet hat, daß er aber dann sehr wohl eine Nacht schlafen kann, ohne die physiologische Erklärung der betreffenden Erscheinung gegeben zu haben.

Ich habe in diesem Berichte den Bemerkungen über Hysterie und Hypnotismus einen größeren Raum gewährt, weil ich hiemit das durchweg Neue und den Gegenstand von Charcots eigener Arbeit zu behandeln hat{43}te. Wenn ich auf die organischen Erkrankungen des Nervensystems weniger Worte verwende, so möchte ich doch nicht den Eindruck erwecken, daß ich von denselben nichts oder nur wenig zu Gesichte bekommen. Ich führe als besonders interessant aus dem reichen Materiale merkwürdiger Fälle nur an: die von Dr. Marie[30] kürzlich beschriebenen Formen der hereditären Muskelatrophie, die, obwohl nicht mehr zu den Erkrankungen des Nervensystems gezählt, doch noch von den Neuropathologen geführt werden, Fälle von Menièrescher Krankheit, multipler Sklerose, von Tabes mit allen ihren Komplikationen, besonders mit der von Charcot beschriebenen Gelenkserkrankung, von partieller Epilepsie und anderen Formen, welche den Bestand einer Nervenklinik und Poliklinik bilden. Von den funktionellen Erkrankungen (außer Hysterie) wurden Chorea und die verschiedenen Arten von ›Tic‹ (z.B. Maladie de Gilles de la Tourette) zur Zeit meiner Anwesenheit besonders berücksichtigt.

Als ich hörte, daß Charcot die Herausgabe einer neuen Sammlung seiner Vorlesungen beabsichtige, erbot ich mich zu einer deutschen Übersetzung derselben, und diesem Unternehmen hatte ich einerseits einen näheren persönlichen Verkehr mit Prof. Charcot, andererseits die Möglichkeit zu danken, meinen Aufenthalt in Paris über die Zeit hinaus zu verlängern, für welche das mir verliehene Reisestipendium reichte. Diese Übersetzung wird im Monat Mai dieses Jahres bei Toeplitz und Deuticke in Wien erscheinen.[31]

Ich habe endlich noch zu erwähnen, daß Herr Professor Ranvier[32] am Collège de France die Güte hatte, mir seine schönen Präparate über Nervenzellen und Neuroglia zu zeigen.

Mein Aufenthalt in Berlin, der vom 1. März bis Ende März dauerte, fiel in die Zeit der dortigen Semesterferien. Doch hatte ich reichlich Gelegenheit, an den Polikliniken der Herren Prof. Mendel, Eulenburg und des Dr. A. Baginsky nervenkranke Kinder zu untersuchen, und fand überall die {44}entgegenkommendste Aufnahme.[33] Wiederholte Besuche bei Prof. Munk und im landwirtschaftlichen Laboratorium des Prof. Zuntz[34], wo ich Herrn Dr. Loeb aus Straßburg traf[35], ließen mich ein eigenes Urteil über die zwischen Goltz und Munk streitige Frage der Lokalisation des Sehsinnes an der Gehirnoberfläche gewinnen.[36] Herr Dr. B. Baginsky[37] im Munkschen Laboratorium war so freundlich, mir seine Präparate über den Verlauf des Hörnerven zu demonstrieren und mein Urteil über dieselben zu verlangen.

 

Ich halte es für meine Pflicht, dem Professoren-Kollegium der medizinischen Fakultät in Wien für die Bevorzugung bei der Verleihung des Reisestipendiums aufs wärmste zu danken. Die Herren, unter denen sich alle meine verehrten Lehrer befinden, haben mir dadurch die Möglichkeit zur Erwerbung von wichtigen Kenntnissen gegeben, die ich als Dozent[38] für Nervenkrankheiten wie in meiner ärztlichen Tätigkeit zu verwerten hoffe.

 

Wien, zu Ostern 1886.

{45}Anhang:Habilitationsgesuch, Curriculum vitae, Lehrplan, Reisestipendiumsgesuch[39](1960 [1885])

Habilitationsgesuch

Löbliches Professoren-Kollegium der Wiener medizinischen Fakultät

 

Ich erlaube mir, um die Verleihung der Privatdozentur für Nervenpathologie an der Wiener medizinischen Fakultät anzusuchen auf Grund folgender Beilagen:

Curriculum vitae.

Lehrplan.

Publikationen.[40]

Über den Ursprung der hintern Wurzelfasern im Rückenmark von Ammocoetes. [1877a]

Über Rückenmark und Spinalganglien bei Petromyzon. [1878a] (Beide aus dem physiologischen Institute.)

Über die als Hoden bezeichneten Lappenorgane des Aals. [1877b] (Aus dem zoolog. vergl. anat. Institute.)

Über den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim Flußkrebs. [1882a]

Notiz über eine Methode zur anatomischen Präparation des Nervensystems. [1879a]

Eine neue Methode zum Studium des Faserverlaufs im Centralnervensystem. [1884d]

Über Coca. [1884e]

Ein Fall von Hirnblutung mit indirekten basalen Herdsymptomen bei Skorbut. [1884a]

Über die Struktur der Elemente des Nervensystems. [1884f]

Ergebenst

Wien, 21. Januar 1885  Dr. Sigm. Freud

Beilage A [Curriculum vitae]

Beilage B [Lehrplan]

Beilage C a–i [Sonderdrucke der Publikationen]

Curriculum vitae

Ich bin am 6. Mai 1856 zu Freiberg in Mähren geboren. Als ich drei Jahre alt war, übersiedelten meine Eltern nach Leipzig und dann nach Wien, in welcher Stadt sie bleibenden Aufenthalt bis heute genommen haben. – Den ersten Unterricht empfing ich im väterlichen Hause, besuchte sodann eine Privatvolksschule und trat im Herbst 1865 in das Leopoldstädter Real- und Obergymnasium ein. Die Maturitätsprüfung legte ich im Juli 1873 ab; im darauffolgenden Herbst inskribierte ich mich als ordentlicher Hörer an {47}der Wiener medizinischen Fakultät, von welcher ich am 31. März 1881 zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert wurde.

In den ersten Jahren meiner Universitätszeit hörte ich vorwiegend physikalische und naturhistorische Kollegien, arbeitete auch ein Jahr lang im Laboratorium des Herrn Prof. C. Claus und wurde zweimal zur Ferialzeit in die Triester Zoologische Station geschickt. Im dritten Universitätsjahre wurde ich Zögling des physiologischen Instituts, woselbst ich mich unter der Leitung des Herrn Prof. v.Brücke und der Herren Assistenten Prof. Sigm. Exner[41] und E. v.Fleischl[42] mit histologischen Arbeiten, insbesondere mit der Histologie des Nervensystems, beschäftigt habe. Ein Semester lang hatte ich Gelegenheit, im Laboratorium für experimentelle Pathologie des Herrn Prof. Stricker Tierversuche zu üben.

Nach erlangtem Doktorgrad versah ich durch drei Semester die Stelle eines Demonstrators am physiologischen Institute und genoß gleichzeitig den Unterricht des Herrn Prof. E. Ludwig in chemischen, besonders gasanalytischen Arbeiten.

Im Juli 1882 trat ich ins Allgemeine Krankenhaus ein und diente zunächst ein halbes Jahr als Aspirant an der medizinischen Klinik des Herrn Prof. H. Nothnagel. Am 1. Mai 1883 wurde ich zum Sekundararzt an der psychiatrischen Klinik des Herrn Prof. Th. Meynert ernannt, woselbst ich fünf Monate verblieb. Nach kürzerer Dienstzeit an einer Abteilung für Syphilis wurde ich auf die Vierte medizinische Abteilung des Hauses versetzt, auf welcher seit jeher den Nervenkrankheiten besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. An der Vierten medizinischen Abteilung hatte ich durch sechs Wochen die Ehre, den Primarius Herrn Dr. Scholz als Abteilungsleiter zu vertreten und durch fünf Monate supplierend als Sekundararzt I. Klasse zu wirken.

Ich diene gegenwärtig an derselben Abteilung als Sekundarius II. Klasse, beschäftige mich mit der Beobachtung der daselbst behandelten Nervenkranken und mit Arbeiten über Hirnanatomie im Laboratorium des Herrn Prof. Th. Meynert.

 

Wien, 21. Januar 1885  Dr. Sigm. Freud

{48}Lehrplan

Wenn das löbliche Professoren-Kollegium mir die Dozentur für Nervenkrankheiten verleiht, gedenke ich auf zwei Wegen den Unterricht in diesem Zweige der menschlichen Pathologie zu fördern:

Erstens durch Abhaltung von Vorlesungen und Kursen über die Anatomie und Physiologie des Nervensystems, soweit Kenntnisse dieser Art die unerläßliche Vorbedingung für das Verständnis der neuropathologischen Tatsachen darstellen;

zweitens durch Abhaltung von Kursen und Vorlesungen, in welchen Nervenkranke demonstriert, die hierbei erforderlichen Untersuchungsmethoden gelehrt und der gegenwärtige Stand unseres Wissens über die Pathologie des Nervensystems mitgeteilt werden soll.

Für letzteren Zweck hat mir Herr Primarius Dr. F. Scholz das Material der Vierten medizinischen Abteilung im Allgemeinen Krankenhause, an welcher ich als Sekundararzt diene, gütigst zur Verfügung gestellt.

 

Wien, 21. Januar 1885  Dr. Sigm. Freud

Reisestipendiumsgesuch[43](1960 [1885])

Löbliches Professoren-Kollegium der Wiener medizinischen Fakultät

 

Ich bewerbe mich hiemit um das Universitäts-Jubiläums-Reisestipendium für das Schuljahr 1885/6 und hoffe den Bedingungen des Konkurses durch folgende Angaben und Beilagen zu genügen.

{49}Ich habe meine Universitätsstudien an der Wiener Hochschule absolviert und bin, wie aus meinem beigelegten Diplome hervorgeht, 1881 zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert worden. Kandidat für das akademische Lehramt bin ich insoferne, als ich im vorigen Wintersemester zur Ablegung des Kolloquiums behufs Erlangung der Dozentur für Nervenpathologie zugelassen worden bin und gegenwärtig die Einladung zu diesem Kolloquium erwarte.

Die wissenschaftlichen Publikationen, auf Grund deren ich die Dozentur angestrebt habe, lege ich, um zwei neue vermehrt, diesem Gesuche bei. Ich bin von der Anatomie des Nervensystems ausgegangen und habe in den letzten Jahren die Beschäftigung mit der Pathologie der Nervenkrankheiten begonnen. Gegenwärtig bin ich bemüht, eine größere Arbeit über den Faserverlauf in der Medulla oblongata zu beendigen. Wenn das löbliche Professoren-Kollegium mir das Reisestipendium zuspricht, gedenke ich drei bis vier Monate bei Prof. Charcot in Paris an dem reichen Materiale der Salpêtrière Klinik der Nervenkrankheiten zu studieren, wozu mir an den Abteilungen des Allgemeinen Krankenhauses eine ähnlich günstige Gelegenheit nicht gegeben ist.

Ich darf mein Gesuch durch die beiden Bemerkungen unterstützen, daß ich alle meine Arbeiten als Volontär ausgeführt habe, ohne durch eine Stellung als Assistent und die damit verbundene nahe Beziehung zu einem klinischen Lehrer gefördert zu sein, und daß ich nicht die Mittel besitze, auf eigene Kosten zu meiner Ausbildung zu reisen.

In Hochachtung ergebenst

Dr. Sigm. Freud Sekundararzt im Allgemeinen Krankenhause

{50}Vorwort des Übersetzers von J. M. Charcot, Leçons sur les maladies du système nerveux, faites à la Salpêtrière(1886)

Editorische Vorbemerkung

1886

In J. M. Charcot, Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems insbesondere über Hysterie, Leipzig und Wien, Toeplitz & Deuticke, S. IIIf.

 

Dies ist unseres Wissens der erste deutschsprachige Nachdruck dieses Vorworts seit der Erstveröffentlichung im Jahre 1886. Freuds Übersetzung von zwei dieser Vorlesungen (XXIII und XXIV) erschien als Vorabdruck des Buches in der Wiener medizinischen Wochenschrift, Bd. 36, Nr. 20, S. 711–15, und Nr. 21, S. 756–59 (15. und 22. Mai 1886), unter dem Titel ›Über einen Fall von hysterischer Coxalgie aus traumatischer Ursache bei einem Manne‹ (Freud, 1886e). Das Buch selbst kann nicht früher als Juli 1886 (Datum von Freuds Vorwort) veröffentlicht worden sein; jedenfalls erschien die Übersetzung vor dem französischen Original (Paris 1887), wie Freud in seinem Vorwort feststellt. – Als Textvorlage diente eine Photokopie des Erstdrucks.

 

Eine genauere Schilderung der Umstände, wie Freud zu diesem Auftrag kam, ist in seiner Selbstdarstellung (1925d [1924]) zu finden (G. W.., Bd. 14, S. 37): »Eines Tages hörte ich Charcot sein Bedauern darüber äußern, daß der deutsche Übersetzer seiner Vorlesungen seit dem Kriege nichts von sich habe hören lassen. Es wäre ihm lieb, wenn jemand die deutsche Übersetzung seiner ›Neuen Vorlesungen‹ übernehmen würde. Ich bot mich schriftlich dazu an; ich weiß noch, daß der Brief die Wendung enthielt, ich sei bloß mit der Aphasie motrice, aber nicht mit der Aphasie sensorielle du français behaftet. Charcot akzeptierte mich, zog mich in seinen Pri{51}vatverkehr, und von da an hatte ich meinen vollen Anteil an allem, was auf der Klinik vorging.« In einem den nämlichen Sachverhalt beschreibenden Brief an seine Braut vom 12. Dezember 1885 aus Paris (abgedruckt in Freud, 1960a) fügte er hinzu, es »bringt ja auch einige hundert Gulden ein«; tatsächlich konnte Freud, wie oben in seinem ›Bericht‹ erwähnt (S. 43), mit diesen zusätzlichen Mitteln seinen Aufenthalt in Paris verlängern.

Das Halbdutzend Fußnoten, das Freud hinzufügte, betrifft, wie er selbst in seinem Vorwort erklärt, lediglich einige spätere Entwicklungen in einigen der im Text aufgeführten Krankengeschichten sowie, in einem Falle, eine Meinungsänderung Charcots aus jüngster Zeit über einen geringfügigen diagnostischen Punkt. Drei der Vorlesungen (XI, XII und XIII) behandeln das Thema der Aphasie. Eine kurze Bemerkung Freuds zeigt, daß er bereits damals an dem Thema besonders interessiert war, über welches er fünf Jahre später seine Monographie schreiben sollte. In jenem Buch gibt er denn auch eine kurze Beschreibung von Charcots Auffassungen (1891b, S. 100–02) und verweist wiederum auf die vorliegende Arbeit.

Jones (1960, S. 250) berichtet, als Anerkennung für die Übersetzung habe Charcot Freud eine in Leder gebundene Ausgabe seiner gesammelten Werke mit der Widmung geschenkt: »A Monsieur le Docteur Freud, excellents souvenirs de la Salpêtrière. Charcot.«

{52}Vorwort des Übersetzers

Ein Unternehmen wie das vorliegende, welches bezweckt, den Lehren eines klinischen Meisters Eingang in weitere ärztliche Kreise zu verschaffen, wird wohl keiner Rechtfertigung bedürfen. Ich gedenke daher nur wenige Worte über die Entstehung dieser Übersetzung sowie über den Inhalt der darin wiedergegebenen Vorlesungen zu sagen.

Als ich im Winter 1885 zu fast halbjährigem Aufenthalte nach der Salpêtrière kam, fand ich, daß der – mit sechzig Jahren in voller Jugendfrische arbeitende – Prof. Charcot sich von dem Studium der in organischen Veränderungen begründeten Nervenkrankheiten abgewendet habe, um sich ausschließlich der Erforschung der Neurosen – und zwar besonders der Hysterie – zu widmen. Diese Wandlung hatte an die in der Eröffnungsvorlesung dieses Buches geschilderten Veränderungen angeknüpft, welche im Jahre 1882 in den Arbeits- und Lehrbedingungen Charcots eingetreten waren.[44]

Nachdem ich das anfängliche Befremden über die Ergebnisse der neueren Untersuchungen Charcots überwunden und die hohe Bedeutung derselben würdigen gelernt hatte, bat ich Herrn Prof. Charcot um die Erlaubnis, die Vorlesungen, in welchen diese neuen Lehren enthalten sind, ins Deutsche zu übertragen. Ich habe ihm an dieser Stelle nicht nur für die Bereitwilligkeit zu danken, mit welcher er mir diese Erlaubnis erteilte, {53}sondern auch für seine weitere Unterstützung, durch die es möglich wurde, die deutsche Ausgabe sogar mehrere Monate vor der französischen der Öffentlichkeit zu übergeben. Eine kleine Anzahl von Anmerkungen – zumeist Nachträge zu der Geschichte der im Texte behandelten Kranken – habe ich im Auftrage des Verfassers hinzugefügt.