Nachtschwarz und Himmelblau - Esther Gerber - E-Book

Nachtschwarz und Himmelblau E-Book

Esther Gerber

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Beschreibung

Der Verkehrsunfall ihres Partners Manuel hat fatale Folgen für die Pflegefachfrau Lena. Sie ist gezwungen, ihre Einwilligung zum Einstellen aller medizinischen Massnahmen zu geben. Um der Trauer und der inneren Leere zu entkommen, bricht sie ihre Zelte in Bern ab und wird in Süddeutschland Betreuerin einer Seniorin. Unerwartet entwickeln sich zwischen deren Sohn Jan und Lena Gefühle, die den Neid und die Wut einer anderen Frau hervorrufen. Gleichzeitig taucht ein Mann aus Lenas früherem Leben auf. Schafft sie es, Manuel in ihrem Herzen zu behalten und sich einer neuen Liebe zu öffnen?

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Über die Autorin

Sie ist im Emmental geboren, wo sie heute noch lebt.

Lange tätig als Pflegefachfrau, studierte sie später Soziale Arbeit in Bern. Vor ihrer Pensionierung arbeitete sie viele Jahre als Sozialarbeiterin auf einer freiwilligen Beratungsstelle im Altersbereich.

Die unterschiedlichsten Strategien der Menschen im Umgang mit kritischen Lebensereignissen beeindrucken sie immer wieder. Sie ist überzeugt, dass hinter der Akzeptanz eines Schicksals oft ein tiefverwurzeltes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sowie Freundschaft und Liebe zu nahen Mitmenschen stehen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 1

Das Telefon riss Lena aus dem Schlaf. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte sie die Nummer des Inselspitals Bern.

„Nauer“, knurrte sie und fragte sich, was sie im Spätdienst Wichtiges vergessen haben könnte, das nicht bis morgen warten konnte.

„Doktor Lehmann hier, Notaufnahme, guten Abend Frau Nauer. Es ist dringend! Manuel Berger hatte einen Autounfall und ist bewusstlos. Schädel-Hirn-Trauma und sicher andere innere Verletzungen. Auf seiner Vorsorgekarte sind Sie als Vertretungsperson angegeben. Wir brauchen Ihre Zustimmung für die sofortigen Eingriffe, verstehen Sie?“

„Ich ..., ja, nein, Manuel? Oh nein!“, stammelte sie.

„Frau Nauer, sind Sie in Ordnung?“

„J..., ja, retten Sie Manuel! Bitte!“

„Gut“, sagte Doktor Lehmann und hängte ein.

Lena sass auf dem Bettrand und realisierte, wie sich alles zu drehen anfing. Ihre Gedanken überschlugen sich. Es war schrecklich, was sie eben gehört hatte. Manuel, ein Unfall. Bewusstlos. Operation. Schädel-Hirn-Verletzung. Und sie sollte an seiner Stelle Entscheidungen treffen? Doch das hatte sie wohl bereits, indem sie Doktor Lehmann angefleht hatte, alles für Manuel zu unternehmen.

Lena atmete tief durch, zog sich in Windeseile an, holte den Umschlag mit Manuels Patientenverfügung aus seinem Schreibtisch, rannte die Treppe hinunter und ums Haus in den Hinterhof. Sie zwängte ihre kaum zu bändigende Mähne unter den Helm, entriegelte das Fahrrad und befestigte die Lichter. Dann raste sie auf der stillen nächtlichen Straße zurück zur Klinik, die sie ein paar Stunden zuvor müde verlassen hatte.

Atemlos betrat Lena durch den Notfalleingang das Inselspital.

„Wo ist Manuel?“, rief sie panisch ihrem diensthabenden Kollegen Rolf Seger zu.

„Lena, hallo! Er ist im Operationssaal. Ein Glück, dass Doktor Lehmann heute Dienst hat. Er ist der Beste!“ Mit diesen Worten trat Rolf auf sie zu, legte ihr die Hand auf die Schulter und führte sie in den Wartebereich, wo er sie sanft auf einen Stuhl drückte und neben ihr Platz nahm.

„Was weißt du, Rolf? Wie schlimm ist Manuel verletzt?“, presste sie hervor.

Die Tür zum Notfall öffnete sich erneut und zwei Polizisten betraten den Raum.

„Warte hier, Lena, ich komme gleich zurück. Willst du in der Zwischenzeit jemanden anrufen? Eva vielleicht? Sie ist doch deine Freundin, oder? Ruf sie an!“ Mit diesen Worten trat Rolf auf die beiden Polizisten zu und bat sie an einen entfernteren Tresen.

Lena fühlte sich, als würde sie neben sich stehen. Bestimmt würde sie gleich aus diesem Albtraum erwachen. Vom Gespräch der drei hörte sie nur Bruchstücke. Aber sie sprachen über Manuels Unfall, das war klar. Unkontrolliert fing sie zu zittern an und realisierte, wie sie die Luft anhielt. Nur jetzt nicht ohnmächtig werden! Sie griff zu ihrer Wasserflasche, lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen.

„So, die beiden sind weg“, sagte Rolf nach einer Weile.

Lena hatte nicht bemerkt, wie er sich wieder neben sie gesetzt hatte. „Was ist passiert?“, fragte sie.

„Manuel ist in eine Mauer geprallt. Glücklicherweise ist sonst niemand involviert worden. Der Unfallhergang ist nicht geklärt. Ich habe den Polizisten gesagt, Manuel werde zurzeit operiert und dich sollten sie in Ruhe lassen, du stündest unter Schock. Sie haben eine Blutalkoholprobe angeordnet, wie es bei Verkehrsunfällen üblich ist. Nach Möglichkeit wollen sie ihn morgen befragen und sicher von dir wissen, wo er war. Aber jetzt versuche, dich ein wenig zu beruhigen, Lena. Hier ist zurzeit ausnahmsweise nicht viel los. Leg dich in einer Koje eine Weile hin. Ich besorge dir etwas zu essen und rufe jemanden für dich an, wenn du willst. Die Operation kann Stunden dauern.“

„Danke. Ans Essen kann ich nicht einmal denken, mir ist entsetzlich übel. Aber ja, Manuels Eltern muss ich benachrichtigen. Lass mich eine Weile hierbleiben, dann schaffe ich das. Ich werde verrückt, wenn die beiden jetzt kommen. Ich rufe zuerst Eva an. Doch ..., seine Eltern würden es nicht verstehen, wenn ich Eva vor ihnen ...“

„Kümmere dich jetzt nicht um Konventionen und ruf Eva an. Ich habe dich am Abend im Personalrestaurant gesehen, daher weiß ich, dass du Spätschicht hattest. Du musst ja elend müde sein. Später rufst du Manuels Eltern an.“

Lena kämpfte um Fassung und war froh um die Entscheidungen, die Rolf ihr abnahm. Sie ließ sich zu einer freien Koje führen, zog Jacke und Schuhe aus, legte sich auf die harte Liege und schlüpfte unter das warme Laken, das er ihr gereicht hatte. Nur eine Weile die Augen schließen und so tun, als wäre die Welt in Ordnung.

Rolf kam mit einer Instant-Suppe und Crackers zurück. Lustlos ass sie ein paar Löffel. Die Wärme tat trotz allem gut. Schließlich holte sie ihr Handy hervor und starrte es an. Eva? Manuels Eltern? Wen sollte sie zuerst anrufen? Dann erinnerte sie sich an Rolfs Bemerkung über Konventionen und ließ es bei Eva klingeln.

„Sag mal, geht’s noch? Weißt du, wie spät es ist?“, nuschelte Eva schlaftrunken.

„Eva ...“, war alles, was Lena ins Handy schluchzte.

„Was ist los? Wo bist du?“

„Manuel! Bitte komm auf den Notfall! Ich brauche dich.“

Eva reagierte sofort. „Bin schon unterwegs“, rief sie und legte auf.

Während Lena auf Eva wartete, schweiften ihre Gedanken ruhelos umher. Wie konnte das passiert sein? Und weshalb so spät? Als sie um Mitternacht von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte sie sich zwar gewundert, Manuel nicht anzutreffen, sich dann aber erschöpft ins Bett gelegt. Er hatte gestern zusammen mit seinem besten Freund und Geschäftspartner, Simon Rolli, ein Projekt für einen Schulhausneubau am Stadtrand vorgestellt. Die beiden Architekten hatten in den letzten Monaten Enormes geleistet, um an diesem Ausschreibungswettbewerb teilnehmen zu können. Eine erste Hürde hatten sie geschafft, indem sie mit zwei anderen Teams in die engere Auswahl gekommen waren. Und gestern Abend konnten sie ihre Ideen endlich der Jury vorstellen. Manuel hatte sie gebeten, ihn zu diesem Anlass zu begleiten. Er hatte ihr vorgeschlagen, sich ausnahmsweise krank zu melden. Deswegen hatten sie sich am Morgen sogar einen überhitzten Wortwechsel geliefert. Er verstand nicht, dass sie das wegen der ohnehin ständig knappen Personalsituation im Spital nicht vorhatte. Wütend und enttäuscht hatte er die Wohnung verlassen. Doch vor ihrem Schichtbeginn rief er sie nochmals an, entschuldigte sich für seinen Ausbruch und beteuerte, wie sehr er sie liebte. Sie hatte versucht, sich nicht erneut zu rechtfertigen. Glücklicherweise hatte sie die Gelegenheit genutzt, ihm alles Gute zu wünschen und zu sagen, wie sie sich freue zu hören, wie es gelaufen sei.

Und nun sass sie in der Notaufnahme und wurde fast verrückt vor Sorge um ihn. Dabei war sie unfähig, ihr medizinisches Wissen auszublenden. Bilder von ehemaligen Patienten und Angehörigen, die sie in ähnlichen Situationen betreut oder begleitet hatte, stürzten auf sie ein. Sie fing wieder an zu zittern, während ihr der kalte Schweiß über den Rücken lief.

„Hei, du“, sagte auf einmal Eva neben ihr.

Lena nahm an, dass Rolf ihr schon das Wenige erzählt hatte, das im Moment bekannt war. Mühsam setzte sie sich auf und wurde von ihrer Freundin in die Arme geschlossen. Dann fragte Eva, ob sie Manuels Eltern schon benachrichtigt habe.

„Nein“, seufzte Lena.

„Das solltest du jetzt aber“, sagte Eva sanft.

„Oder ich warte bis zum Morgen und kann ihnen berichten, es gehe Manuel bereits besser und er müsse sich nur erholen.“

„Lena ...“, insistierte Eva leise, aber bestimmt. „Ich kann sie anrufen. Sie werden verstehen, dass du durcheinander bist.“

„Nein, ich mach’s selbst!“, sagte Lena und stand auf, um nach draußen zu gehen. Sie brauchte dringend frische Luft. Es war unvorstellbar, ein solch schwieriges Gespräch mit Susanne oder Max hier drinnen zu führen. Vorhin hatte sie Evas Kommen ersehnt, aber jetzt wollte sie allein reden. Eva schien es zu spüren und folgte ihr nicht.

Draußen atmete Lena die kühle Nachtluft ein und lief auf dem Vorplatz der Notaufnahme hin und her. Am liebsten hätte sie Max auf dem Handy angerufen, um die Möglichkeit auszuschließen, zuerst mit Susanne reden zu müssen. Aber dann wählte sie doch die Festnetznummer.

„Berger“, nahm Max den Anruf nach wenigen Augenblicken entgegen.

„Lena hier. Max, es ist etwas Fürchterliches geschehen. Manuel hatte einen Unfall und wird gerade operiert. Er hat eine Kopfverletzung. Ich weiß nichts Genaueres. Die Operation kann Stunden dauern. Es tut mir leid, euch so zu erschrecken.“

„Was? Nein! Ko ... Kopfverletzung, sagtest du?“ Nie zuvor hatte Lena den immer so gefasst wirkenden Max stammeln hören. Im Hintergrund vernahm sie Susanne, die sich mit schriller Stimme erkundigte, was geschehen sei. „Es ist Lena. Manuel ist im Spital und wird operiert“, informierte Max seine Frau, um gleich wieder ins Telefon zu sagen: „Lena, wir kommen sofort.“

Nur das nicht, dachte Lena und antwortete: „Wir müssen abwarten. Ich melde mich, wenn ich mehr weiß.“

Max schien in der Zwischenzeit das Gespräch auf Lautsprecher gestellt zu haben, denn Susanne schaltete sich ein: „Sicher nicht, Lena. Es ist unser Sohn, der da operiert wird. Natürlich kommen wir, und du gehst heim. Wir werden da zweifelsfrei mehr erfahren als du.“

Lena bemühte sich, nicht auf Susannes Ansinnen zu reagieren. Dennoch spürte sie Bitterkeit in sich aufsteigen. Warum schaffte sie es nicht, solche Sticheleien an sich abprallen zu lassen? Unter ihrer zur Schau gestellten Sicherheit war Susanne für Lena die unsicherste Person, die sie kannte. Sie schien sich über ihre frühere Rolle als Mutter eines Einzelkindes sowie über ihren Ehemann und alles, was er als Eigentümer eines florierenden Baugeschäfts erreicht hatte, zu definieren.

„Susanne ist Hausfrau, Glucke und elegant“, hatte es Eva kürzlich auf einen Nenner gebracht, nachdem Lena ihr zum wiederholten Mal geklagt hatte, von Susanne ständig kritisiert zu werden. Manuel hatte in deren Augen Besseres verdient, davon war Lena überzeugt. Nicht eine Frau, die in Schichten tätig und an freien Tagen häufig zu müde war, um etwas zu unternehmen. Keine, die ganze Wochenenden oder Nächte arbeitete und verlangte, die Hausarbeit aufzuteilen, und für die klar war, dass beide ihre Schuhe selber putzten. Susanne lud Manuel ständig zum Essen ein. Sie bot ihrem Sohn sogar an, wieder für ihn zu waschen, damit er mehr freie Zeit für sich hätte. Lena hielt sich Manuel gegenüber zurück, um nicht über seine Mutter zu lästern. Sicher wollte Susanne für ihn nur das Beste. Aber sich vorzustellen, wie er sein Glück bei einer andern Frau fand, schien jenseits ihrer Phantasie zu liegen, dessen war Lena überzeugt.

„Und, hast du sie erreicht?“, fragte Eva auf einmal neben ihr.

„Mmmh, sie kommen. Ich verstehe es zwar, will sie aber nicht hier haben. Susanne konnte es nicht lassen, mir nahezulegen, ich könne gehen, sobald sie hier seien.“

„Lass sie. Sie steht genau so unter Schock wie du. Wir können oben vor der Intensivstation warten. So müssen wir uns nicht in der Eingangshalle hinsetzen. Ich sage am Nachtempfang Bescheid, dann werden sie Bergers dorthin schicken. Bald ist Schichtwechsel. Du willst sicher deine Kollegen nicht gleich alle sehen, nehme ich an.“

„Danke! Bitte lass mich nicht allein!“

Die Wartezone war durch Pflanzenkübel ein wenig abgeschirmt und das Licht etwas gedämpft. Wie oft hatte Lena sich hier schon zu Angehörigen gesetzt, um sie aufzumuntern oder sie nicht allein zu lassen, wenn sie auf Nachrichten der Ärzte warteten? Nun sass sie selber hier. Manuel, komm zurück und werde wieder gesund! Verlass mich nicht, bat sie ihn stumm. Dann hörte sie das Klacken von Absätzen, und kurz darauf traten Susanne und Max zu ihnen in die Nische. Sie sahen beide elend aus.

„Weißt du mehr? Wie geht es ihm? Wer operiert ihn? Wir wollen sofort den Chefarzt sprechen“, sagte Susanne in einem schrillen Ton. Max versuchte seine Frau zu beruhigen, indem er ihr den Rücken streichelte.

Eva ergriff sogleich das Wort: „Eva Wegmüller, guten Abend. Ich bin Lenas Freundin und arbeite ebenfalls hier. Ich informiere jetzt den diensthabenden Kollegen der Notaufnahme, dass Sie eingetroffen sind. Er wird Kontakt in den Operationssaal aufnehmen. Möglicherweise können die Ärzte abschätzen, wie lange die Operation dauern wird und ob Sie besser zu Hause warten sollten. Aber natürlich ist das Ihre Entscheidung. Sie dürfen auf jeden Fall hierbleiben, wenn Sie es so wünschen.“

Eva wandte sich ab, zog ihr Handy hervor und entfernte sich einige Schritte.

„Ja gut“, sagte sie nach einer Weile und beendete den Anruf.

„Doktor Lehmann lässt Ihnen ausrichten, er rechne für den weiteren Operationsverlauf mit mindestens vier bis fünf Stunden. Sie sollten zu Hause warten. Er melde sich so bald als möglich bei Lena.“

„Doch nicht bei Lena! Was erlaubt der sich? Wir sind die Eltern. Uns muss er benachrichtigen! Wir gehen hier nicht weg und werden ihm klar machen, dass die Kommunikation ab sofort ausschließlich über uns läuft. Sag doch etwas, Max!“

„Liebling, es ist für uns alle schwierig. Wahrscheinlich hat der Arzt recht, wenn er meint, wir sollten zu Hause warten. Lena, du kannst mit zu uns kommen. Wir hinterlassen Doktor Lehmann unsere Nummer, dann wird er gleich alle erreichen.“

Lena ließ das Ganze an sich abprallen. Wie würden die beiden reagieren, wenn sie erfuhren, dass der Arzt ihnen keine Auskunft geben durfte? Davor graute ihr. Klar würde sie am liebsten hier warten. Aber fünf Stunden neben Susanne auszuharren war unvorstellbar. Daher sagte sie tapfer: „Ich habe auch das Gefühl, Manuel hier am nächsten zu sein. Dennoch sollten wir den Rat befolgen und nach Hause gehen. Danke für die Einladung, Max, aber ich muss jetzt eine Weile allein sein und fahre zu mir.“ Mit diesen Worten trat sie auf Susanne zu und umarmte zuerst sie und dann Max. Erstaunlicherweise ließen es beide geschehen.

Völlig erschöpft erreichte Lena eine halbe Stunde später ihre Wohnung. Sie hatte Eva gebeten, sie nicht zu begleiten, was diese wider Erwarten akzeptiert hatte. Jetzt war es kurz nach acht Uhr und Lena wollte am Mittag wieder in der Klinik sein. In den Kleidern legte sie sich aufs Sofa und sank sofort in einen unruhigen Schlaf, aus dem der Wecker sie aufschreckte. Wie erschlagen blieb sie ein paar Minuten liegen und realisierte, wie die schrecklichen Geschehnisse schlagartig zurückkamen und sich eine zentnerschwere Last auf ihr Herz legte. Wie sehnte sie sich nach Tränen, die vielleicht etwas Druck weggenommen hätten, aber sie kamen nicht. So stand sie auf, duschte, stellte das Wasser am Ende kalt, ass im Stehen einen Joghurt, trank einen Kaffee und fuhr mit dem Rad zurück in die Klinik.

Kapitel 2

Susanne und Max warteten bereits, als Lena eintraf. Max lächelte ihr tapfer zu, aber Susanne schien ihr Kommen nicht zu bemerken. Dann sassen sie, jeder in die eigenen Gedanken versunken, auf den harten, unbequemen Stühlen. Mehrmals nahm Max einen Anruf entgegen und sprach leise ins Telefon.

„Simon lässt dich grüßen“, sagte er nach einem dieser Gespräche zu Lena. Sie antwortete mit einem Nicken. Erst eine Weile später realisierte sie, was er gesagt hatte.

„Simon? Oh nein! Ich habe völlig vergessen, ihn anzurufen. Er ist sicher außer sich und hat sich schon gewundert, weshalb Manuel heute Morgen nicht ins Büro gekommen ist.“ Dann lachte sie nervös auf. „Oder ich bin außer mir. Wie konnte ich nur Simon vergessen?“

„Das hat er schon verstanden. Ich habe ihn heute Morgen angerufen. Er musste es erfahren. Er wird jetzt einiges zu organisieren haben. Er hat keine Ahnung, was passiert sein könnte. Alkohol sei sicher nicht im Spiel gewesen, Manuel habe nur Wasser und Kaffee getrunken.“

„Danke, Max, ich bin vollkommen neben der Spur vor lauter Sorge.“

Eva, die nochmals vorbeikam, trug jetzt Arbeitskleidung. Die dunklen Ringe unter ihren Augen zeugten davon, dass sie nur kurz geschlafen hatte. Vor ihr lag ein Einsatz von neun Stunden, der ihre volle Konzentration fordern würde. Sie arbeitete auf der Intensivstation, die Doktor Lehmann leitete. Lena hoffte, Eva würde heute nicht ausgerechnet Manuel zur Überwachung zugewiesen erhalten, sprach es aber nicht aus. Sie umarmte ihre Freundin wie eine Ertrinkende, bevor diese sich sanft löste, um ihren Dienst anzutreten.

Eine gefühlte Ewigkeit später trat Doktor Lehmann zu ihnen. Er grüßte alle per Händedruck und sagte dann zu Manuels Eltern gewandt: „Herr Berger hat die Operation überstanden. Jetzt kommt es auf die nächsten Stunden an. Leider bin ich ans Arztgeheimnis gebunden. Ihr Sohn hat Frau Nauer in seiner Patientenverfügung als einzige Vertretungsperson eingesetzt. Daher bitte ich um Ihr Verständnis, wenn ich mich zuerst mit ihr unterhalte. Zusammen mit dem Behandlungsteam und Frau Nauer werden wir besprechen, ob Sie, als seine Eltern, ihn ebenfalls besuchen können. Ich hoffe es für Sie.“

„Nein!“, schrie Susanne auf. „Ich bin Manuels Mutter und wenn er jemanden braucht, dann sicher mich! Er wird es spüren, wenn ich da bin, das wird ihm helfen. Ich verlange, sofort unseren Sohn besuchen zu dürfen. Bitte!“, fügte sie hinzu und fing zu weinen an.

„Ich bin ebenfalls der Meinung, Sie sollten das Gesetz in einem solchen Moment nicht überstrapazieren, Herr Lehmann“, bekräftigte Max in resolutem Ton Susannes Aussage.

Am liebsten hätte Lena sich dem Konflikt entzogen und gleich gesagt, es wäre in Manuels Sinn, wenn die Eltern ihn besuchten. Doch war es das? Weshalb wollte Manuel seine Eltern nicht als weitere Vertretungspersonen einsetzen? Mehrmals hatte sie ihn darauf hingewiesen, sich dann aber mit seiner Begründung zufriedengegeben, sie verstehe mehr von medizinischen Angelegenheiten. Zudem wäre seine Mutter überfordert mit so etwas. Sie hatte es hingenommen und ihm nicht gesagt, zu welchen Konflikten dies führen könnte. Dabei hatte sie schon einige Auseinandersetzungen von Angehörigen zu genau dieser Thematik miterlebt. Aber jetzt war es nicht zu ändern und so folgte sie Doktor Lehmann in dessen Büro.

„Setzen Sie sich, Frau Nauer“, sagte er. „Ich komme gleich zur Sache und werde nichts beschönigen. Es steht äußerst kritisch um Herrn Berger. Wir mussten die Milz und einen Teil der Leber entfernen. Aber das ist es nicht, was uns Sorgen bereitet. Die Lunge wurde von einer Rippe durchstochen und wir setzten eine Drainage, um das Vakuum zu erhalten, damit sie nicht zusammenfällt. Der Schädel wurde an der Stirn von der Frontscheibe des Autos zertrümmert. Im Hirninnern, wo eine Operation unmöglich ist, hat es einen Druckanstieg gegeben, der uns vermuten lässt, dass dort weiterhin Flüssigkeit austritt. Herr Berger ist intubiert und wird künstlich beatmet.“

Hier machte er eine kleine Pause, aber Lena war unfähig, etwas zu erwidern. Mit aufgerissenen Augen starrte sie den Arzt an.

„Ich schlage vor, dass Sie jetzt zu Ihrem Partner gehen. Mit ihrem Einverständnis werde ich die Eltern informieren und ihnen ebenfalls erlauben, ihren Sohn zu besuchen. Oder gibt es dagegen einen triftigen Grund?“

„Ich wüsste keinen. Manuel fühlte sich von seiner Mutter manchmal überbehütet und wir hatten darüber unsere Diskussionen. Er hat wohl angenommen, mit seiner Vertretungsregelung einen Konflikt zu vermeiden. Dabei hat er diesen so auf mich abgeschoben.“

Doktor Lehmann erwiderte nichts, stand wieder auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. In seinen Augen sah sie Müdigkeit und noch etwas anderes. Bedauern? Sie wusste es nicht.

„Dann gehe ich davon aus, Sie sind damit einverstanden und erlauben den Eltern den Besuch? Sie wissen, ich halte mich sonst eher zurück, rate Ihnen aber zu diesem Entscheid. Sie bleiben unsere Ansprechperson, und ich bin überzeugt, Sie vertreten Herrn Berger nach seinem Willen.“ Mit diesen Worten entließ er sie.

Kapitel 3

Vor der verschlossenen Tür zur Intensivstation griff sich Lena Überkleidung und öffnete mit ihrem Badge. Erst drinnen realisierte sie, dass Angehörige keinen freien Zutritt hatten. Doch schon kam einer der diensthabenden Assistenzärzte auf sie zu und führte sie in ein Zimmer, in dem nur ein Bett stand. Der Anblick der vielen Apparate irritierte sie nicht. Sie hatte nur Augen für die Person, die dort reglos lag. Lena trat näher und starrte auf Manuel, den sie nicht wiedererkannte. Der Kopf war fast vollständig mit Verbänden bedeckt und der Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus der künstlichen Beatmung. Eine Hand lag auf dem Laken, mit dem Manuel zugedeckt war. Sie ergriff sie und beugte sich zu ihm hinunter.

„Manuel, ich bin jetzt bei dir“, sagte sie leise. „Bitte bleib hier, hörst du!“ Dabei rannen ihr die Tränen ungehindert über die Wangen. „Ich weiß, du magst es nicht, wenn ich weine. Ich höre gleich wieder auf. Ich habe deinen Eltern erlaubt, dich zu besuchen. Ich hoffe, du verstehst das, aber einen Streit stehe ich nicht durch. Bitte verzeih mir.“

Hinter Lena räusperte sich der Arzt und stellte ihr einen Stuhl hin. Doch sitzen war momentan ausgeschlossen. Sie sehnte sich, neben Manuel zu liegen, um ihm nah zu sein, aber das war sicher nicht erlaubt. So stand sie still da und fühlte sich unendlich hilflos.

Als Susanne und Max ins Zimmer traten, wusste Lena nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Hatte jemand die beiden aufgehalten, damit sie eine Weile mit Manuel allein sein konnte? Sie drehte sich um und sah seine Eltern, die wie erstarrt mit aufgerissenen Augen da standen. Lena realisierte, dass beide wahrscheinlich zum ersten Mal einen Menschen in einer solchen Situation sahen. Und hier lag ihr Sohn. Sie trat auf Susanne zu, nahm ihre Hand und führte sie zu ihm. Hätte Max seine Frau nicht gestützt und auf den Stuhl gedrückt, wäre sie wohl über Manuel zusammengebrochen. Lena sah das alles, aber sie fühlte nichts. Sie war leer. Wie durch einen Nebel nahm sie Eva wahr, die ebenfalls ins Zimmer getreten war, ihr etwas zuflüsterte und sie dann hinausführte. Zusammen traten sie auf den Balkon am Ende des Korridors.

„Hör zu, Lena. Es hat keinen Sinn, wenn ihr alle drei hierbleibt. Es kann jeweils nur eine Person im Zimmer sein. Zudem sind während der Pflege- und Behandlungszeiten keine Besuche erwünscht. Die Pflegeleiterin wird einen Plan erstellen, in dem diese Zeiten ersichtlich sind. Ich würde euch vorschlagen, Sitzwachen von zwei bis drei Stunden zu vereinbaren. Es ist für alle wichtig, genügend Erholung vor dem nächsten Besuch zu haben. Der Assistenzarzt informiert Manuels Eltern entsprechend.“

Lena nickte nur. Sie war nicht fähig zu sprechen oder gar zu denken. Eva schien ihren Zustand richtig einzuschätzen und schlug vor, den Eltern die erste Schicht zu überlassen. Sicher würde eine Ausnahme gemacht, damit vorerst beide bleiben konnten.

Als Lena das Zimmer wieder betrat, hatten Max und Susanne verweinte Augen, schienen aber gefasster.

„Lena, der Arzt hat leider recht. Wir müssen uns auf eine längere Zeit einstellen, in der wir uns bei Manuel abwechseln. Bist du einverstanden, wenn Susanne und ich die erste Schicht übernehmen?“

Lena zwang sich zu einem Nicken und trat zu Manuel ans Bett. Sie beugte sich über ihn und ihre Tränen fielen auf die Verbände an seinem Hals. „Manuel, ich komme bald wieder. Du bist nicht allein, deine Eltern bleiben bei dir“, presste sie heraus. Max war hinter sie getreten und umfasste ihre Schulter. Diese kleine Geste überwältigte sie vollends. Sie griff nach Jacke und Tasche und verließ das Zimmer fluchtartig.

Wie war sie nach Hause gekommen? Sie hätte es nicht sagen können. Sie öffnete die Wohnungstür und wurde von ihrer Mutter in die Arme geschlossen. Die Anspannung löste sich, und Lena ließ ihren Tränen freien Lauf. Mam wartete ab, ohne Fragen zu stellen oder sie zu trösten. Dafür war Lena dankbar. Sie hatte vergessen, ihre Eltern anzurufen, doch Eva hatte es wohl getan.

Viel ruhiger lag Lena später auf dem Sofa, während sie Mam in der Küche hantieren hörte. Genau wie früher, wenn Lena krank gewesen war. Wie hatte sie jeweils als Kind die mütterliche Zuwendung genossen. Im Bett liegend hatte sie den Geräuschen in der Wohnung gelauscht. Aber am schönsten waren die Momente, wenn Mam sich auf ihren Bettrand setzte, sie streichelte oder ihr eine Geschichte erzählte.

Lena musste eine Weile eingeschlafen sein. Als sie aufwachte, brannte die Leselampe neben dem Sessel, in dem ihre Mutter las. Ruckartig setzte sich Lena auf und griff ihr Handy, um nach der Zeit zu sehen. Acht Uhr. Das war unmöglich! „Ich muss sofort zu Manuel.“

„Beruhige dich“, sagte Mam. „Max hat auf dein Handy angerufen. Ich habe mir erlaubt, den Anruf entgegenzunehmen, um dir ein wenig Ruhe zu gönnen. Er und Susanne sind um sieben Uhr nach Hause gegangen. Ich bin froh, hast du eine Weile geschlafen. Wenn wir etwas gegessen haben, machst du dich wieder auf den Weg. Ich bin übers Handy erreichbar.“

Auf der Intensivstation brannten die Nachtlichter so hell, dass kein Unterschied zum Tag auszumachen war. In der Mitte der Station waren die Computer der diensthabenden Ärzte und Pflegenden so angeordnet, dass die einzelnen Pflegezimmer durch Fenster einsehbar waren. Jede Bewegung der Patienten konnte mitverfolgt werden. Nur während der Pflege oder wenn den Angehörigen etwas Privatsphäre mit den Kranken gewährt werden sollte, wurden die Rollos geschlossen.

Lena wurde von Anne, der diensthabenden Ärztin, eingelassen. „Wie geht es ihm, Anne?“, fragte sie ungeduldig.

„Doktor Lehmann kommt gleich vorbei und schaut nach ihm, dann wirst du es hören. Ah, da ist er ja, guten Abend, Herr Lehmann.“

„Guten Abend. Frau Nauer, setzten Sie sich eine Weile im Flur in den Wartebereich, ich komme nach der Untersuchung von Herrn Berger zu Ihnen.“

Wieder wartete Lena. Sie holte ihr Handy hervor, um sich abzulenken, und sah, dass einige Anrufe und Nachrichten eingegangen waren. Sie las jene ihrer Schwester Martina sowie die von Mam und Paps. Alle versicherten, in Gedanken bei ihr und Manuel zu sein. Eine SMS war von Christa Graf, ihrer Vorgesetzten; Lena sei bis auf Weiteres freigestellt. Sicher hatte sie auch das Eva oder Doktor Lehmann zu verdanken.

Lena sah, wie mehrere Ärzte Manuels Zimmer betraten und das Rollo heruntergelassen wurde. Was war los? Sie stand auf und ging im Flur hin und her. Sofort wurde sie von einem Pfleger gebeten, sich wieder zu setzen. Sie müsse sonst die Station verlassen.

Später setzte sich Doktor Lehmann zu ihr. „Frau Nauer, es sieht schlecht aus. Der Hirndruck steigt und wir können Herrn Berger nicht erneut operieren. Wir hatten eben eine spezialärztliche Beratung und sind der Meinung, nichts weiter unternehmen zu können. Leider gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Schwellung von allein zurückgeht. Wir werden die Lage morgen früh nochmals beurteilen. Ich habe Ihnen versprochen, immer zuerst Sie zu informieren. Daher bitte ich Sie jetzt, sich mit dem Schlimmsten zu befassen. Sie werden vielleicht zusammen mit uns Ärzten und hoffentlich auch den Eltern die Entscheidung zu treffen haben, die Geräte abzustellen. Kommen Sie bitte morgen um zehn in mein Büro. Einer der Ärzte wird Bergers ebenfalls einladen. Ich werde nach einer nochmaligen Beurteilung mit allen gemeinsam sprechen. Sie dürfen über Nacht hierbleiben oder sich mit den Eltern abwechseln. Überfordern Sie sich aber nicht, Sie werden morgen erneut Kraft brauchen.“

Herr Lehmann blieb eine Weile stumm neben Lena sitzen. Sie war nicht fähig, etwas zu erwidern. Tränen hatte sie in dem Moment keine. Sie sass nur da und starrte Doktor Lehmann an. Er hielt ihrem Blick stand.

Lena lag neben Manuel. Zwar hatte ihr jemand einen Lehnstuhl ans Bett gestellt, aber sie hielt es nicht aus, dort zu sitzen, um nur seine Hand zu halten. So hatte sie sorgfältig einige Kabel und Schläuche angehoben und sich neben ihn gelegt. Es war ihr klar, dass die Pflegenden das durch das Fenster zum Flur sahen, aber niemand griff ein. Man ließ sie gewähren. Sie brauchte Manuels Nähe. War es möglich, dass er die ihre wahrnahm? Sie hoffte es. Dann fing sie leise mit ihm zu reden an.

„Manuel, was ist nur in dieser kurzen Zeit geschehen? Vor ein paar Stunden habe ich dich angefleht, wieder gesund zu werden und mich nicht zu verlassen. Und jetzt – was soll ich tun? Weißt du, wie sehr ich dich liebe? Bei unserem ersten Treffen, damals auf Evas Geburtstagsfeier, fand ich dich auf Anhieb sympathisch. Du hast ihr gratuliert und dann freiheraus zugegeben, Simon hätte dich genötigt, auf diese Party zu kommen. Er habe gemeint, du bräuchtest dringend wieder einmal einen Anlass, dich in angenehmer Gesellschaft zu unterhalten, sonst würdest du deine doch recht annehmbaren Umgangsformen vergessen und zum Eigenbrötler werden. Eva hatte gelacht und dir geantwortet, sie fühle sich geehrt, dich als speziellen Gast allen einzeln vorzustellen. Am Anfang war es dir peinlich, das konnte ich gut sehen. Aber dann haben sich Eva und du mit Humor überboten, und alle hatten ihren Spaß und haben sich beteiligt.

Im Lauf des Abends haben wir zwei uns lange auf dem Balkon unterhalten und gemerkt, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. Beide bevorzugen wir die leiseren Töne. Freunde treffen wir im kleinen Kreis und große Anlässe meiden wir, wenn möglich. Sicher aber Geburtstagsfeiern von Leuten, die wir nicht kennen, oder? Dafür lieben wir lange Wanderungen und Radtouren. Du hast gleich vorgeschlagen, am nächsten Morgen etwas zu unternehmen. Ohne zu überlegen, habe ich eingewilligt. So sind wir nach der Feier beide nur kurz zu Hause vorbeigegangen, um uns umzuziehen. Dann sind wir im Morgengrauen ins Emmental gefahren, sind auf den Napf gewandert und haben einen grandiosen Sonnenaufgang beobachtet. Ich erinnere mich an alles, als wäre es gestern gewesen. Die Geräusche, die Düfte, die Farben und das Gefühl, neben dir zu sitzen und den Moment in mich einsinken zu lassen. Ich hätte es damals nicht zugegeben, doch ich habe mich Hals über Kopf in dich verliebt. Ja, Manuel, gleich am ersten Tag! Seitdem ist diese Liebe stetig gewachsen. Von ganzem Herzen hülle ich dich darin ein, damit du sie spürst, dort, wo du jetzt bist.“ Lenas Stimme brach und mit größter Mühe hielt sie ihre Schluchzer zurück.

Es wurde draußen hell, als Lena gebeten wurde, für eine Weile das Zimmer zu verlassen. Sie trat ins Freie, um sich im nahegelegenen Park mit einem Kaffee aus dem Automaten auf eine Bank zu setzen, obwohl es im März morgens noch kalt war. Wieder sah sie auf ihrem Handy die verpassten Anrufe. Zumindest Max würde sie zurückrufen. Doch diesen Moment, in dem sie sich ruhig fühlte und Manuel ihr nahe war, wollte sie nicht loslassen. Komisch, außer Liebe und Frieden spüre ich nichts.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus den Gedanken. Sie nahm Max‘ Anruf entgegen, der ihr zuvorgekommen war.

„Hallo Lena, bist du noch in der Klinik?“

„Ja, aber vorhin haben sie mich aus dem Zimmer geschickt. Ich sitze im Park. Bitte entschuldige, dass ich euch nicht früher angerufen habe, ich ...“

„Ich bin dir dankbar, dass du die ganze Nacht geblieben bist. Ich habe versucht, dich anzurufen, um dich genau darum zu bitten. Ich wollte mich um Susanne kümmern, es ging ihr miserabel. Glücklicherweise haben wir beide ein paar Stunden geschlafen. Vorhin hat ein Arzt angerufen, wir sollten um zehn Uhr zu Doktor Lehmann kommen, er würde uns über den neuesten Stand informieren. Was weißt du schon?“

„Herr Lehmann hat mir gestern Abend gesagt, wir müssten auf alles gefasst sein. Max, ich halte das nicht aus.“

„Doch, Lena, wir halten das gemeinsam aus. Für Manuel! Wir hören uns an, was die Ärzte zu sagen haben. Vielleicht gibt es ja Hoffnung. Susanne und ich werden alles unternehmen, um unseren Sohn zu retten. Alles! Wir treffen dich um zehn bei Doktor Lehmann im Büro.“

Nach dem Gespräch blieb Lena eine Weile sitzen. Dann verließ sie den Park, ging zu ihrem Fahrrad und fuhr heim. Sie setzte sich in die Küche, um gleich wieder aufzustehen und ruhelos von einem Zimmer ins andere zu gehen. Auf einmal hörte sie, wie die Wohnungstür mit einem Schlüssel geöffnet wurde. Manuel!, durchzuckte es sie. Dann sah sie ihre Schwester, Martina, die leise zur Tür hereinkam.

„Lena, du bist wach!“

„Tina“, schluchzte sie auf.

„Ich bin da! Wenn du erlaubst, begleite ich dich zur Klinik. Max hat mich eben angerufen und mir von dem bevorstehenden Gespräch mit Doktor Lehmann berichtet. Ich werde vor dem Arztbüro auf dich warten. Es ist jetzt bald neun Uhr. Wir könnten einen Teil der Strecke zu Fuß gehen, das wird uns beiden guttun.“

„Tina, vielleicht wird Manuel sterben! Und ich soll den Anstoß geben, die Geräte auszuschalten. Ich! Verstehst du? Wer bin ich denn? Ich kann doch nicht Manuels Tod beschließen!“

„Jetzt warte ab, was die Ärzte zu berichten haben. Max und Susanne setzen Hoffnung darauf, das hat er mir eben gesagt. Aber wenn das Schlimmste eintrifft, wirst du die Kraft haben, es durchzustehen. Ich kenne dich, Lena! Zudem bist du nicht allein. Du hast uns, Mam, Paps, mich, Eva und Simon. Wir sind bei dir und für dich da, komme, was wolle.“

Kapitel 4

Begleitet von Martina fuhr Lena erneut in die Klinik. Sie nahmen den Bus und stiegen einige Haltestellen zu früh aus, um das letzte Stück zu Fuß zu gehen. Die Bewegung und die kühle Luft beruhigten Lena ein wenig. Am liebsten wäre sie gerannt, doch sie wollte nicht verschwitzt ankommen.

Wie am Tag zuvor warteten Manuels Eltern bereits im Flur. Nach der Begrüßung sassen alle stumm da. Erst gegen elf Uhr kam Doktor Lehmann und bat sie in sein Büro. Umständlich lange wusch er sich die Hände, setzte sich dann hinter seinen Schreibtisch und legte einen Stapel Papier vor sich hin. Endlich fing er an zu reden.

„Es fällt mir schwer, dieses Gespräch mit Ihnen zu führen. Wir haben heute früh Herrn Berger nochmals gründlich untersucht und getestet. Anschließend haben die involvierten Spezialärzte die einzelnen Resultate erläutert.“ Hier legte er eine lange Pause ein.

„Leider gibt es nichts Erfreuliches zu berichten. Der Hirndruck ist gestiegen. Es ist anzunehmen, dass dadurch weitere Schäden entstanden sind.“

Susanne wimmerte hörbar, während Max scharf die Luft einsog. Lenas Hände waren klamm, und um ihren Mund zuckte es.

„Wir sind hier in einer Universitätsklinik, Herr Lehmann. Sie dürfen nicht einfach aufgeben!“, sagte Max mit gepresster Stimme. „Was schlagen Sie vor? Sollen wir Manuel in eine andere Klinik fliegen lassen? Wo wären sie fähig, ihm zu helfen? Oder was erwarten Sie von uns?“ Den letzten Satz hatte er beinahe geschrien.

Jetzt kommt’s, dachte Lena und Übelkeit stieg in ihr auf. Herr Lehmann schien es zu bemerken, denn er ging zu einem Kühlschrank und reichte ihr eine Flasche Wasser, die sie mit einem dankbaren Nicken annahm. Sie trank in kleinen Schlucken und hielt sich dann mit beiden Händen an der Plastikflasche fest, als wäre sie ein Anker.

Herr Lehmann griff zu seinen Papieren, räusperte sich und sagte mit belegter Stimme: „Manuel Berger hat eine Patientenverfügung verfasst. Er will nur symptommildernd behandelt werden, wenn anzunehmen ist, dass seine Urteils- und Handlungsfähigkeit nicht wiedererlangt werden können. Auf einem handschriftlichen Beiblatt steht: Ich, Manuel Berger, verfüge, dass meine Partnerin und Vertretungsperson, Lena Nauer, meinen Willen vollumfänglich umzusetzen hat. Sollte dies bedeuten, Untersuchungen und Operationen zu unterlassen oder Geräte auszuschalten, bitte ich meine Eltern, Susanne und Max Berger, dies zu respektieren und Lena zu unterstützen, meinen ausdrücklichen Willen gegenüber dem Behandlungsteam kundzutun und durchzusetzen.“ Herr Lehmann räusperte sich erneut. Seine bekümmerte Mine ließ erahnen, wie ihn die Situation belastete.

Lange sassen alle still da, im eigenen Schmerz gefangen. Dann ergriff Doktor Lehmann erneut das Wort.

„Sie haben gefragt, ob man Ihrem Sohn an einem andern Ort helfen könnte. Gäbe es nur die geringste Hoffnung, hätte ich Ihnen dies sofort mitgeteilt. Aber die gibt es nicht. Die Hirnfunktionen sind leider nicht mehr vorhanden. Sein Wille, in einem solchen Fall die Geräte auszuschalten, ist daher von Gesetzes wegen für uns Ärzte bindend. Frau Nauer hat die belastende Pflicht, ihren Partner zu vertreten. Ich bitte Sie alle, tragen Sie diese schwerwiegende Entscheidung gemeinsam. Zwingen Sie Manuel nicht, lange in dieser Situation verharren zu müssen. Ich schlage vor, dass Sie sich jetzt eine Weile zurückziehen. Wir stellen Ihnen ein Zimmer zur Verfügung, wo Sie ungestört miteinander reden können. Um fünf Uhr treffen wir uns wieder. Sicher haben Sie dann viele Fragen. Dafür werde ich mir gerne Zeit nehmen.“ Herr Lehmann griff zum Telefon und gab eine Anweisung.

Das Wartezimmer sah eher wie ein kleines Wohnzimmer aus. Neben einem Tisch mit Stühlen stand in einer Ecke eine Sitzgruppe. Auf dem Beistelltisch hatte jemand Getränke und Sandwiches hingestellt. Lena wurde jetzt wieder von Martina begleitet. Steif sassen die vier in den Sesseln. Susanne ergriff als Erste das Wort.

„Wie wagt jemand, von mir zu verlangen, Manuels Sterben zu beschließen? Mein kleiner Junge! Lena, richte den Ärzten von mir aus, alle Geräte auszuschalten. Manuels Leiden soll ein Ende haben. Aber unter keinen Umständen sehe ich mich in der Lage, seinen Tod mitzuerleben. Das schaffe ich nicht“, schluchzte sie auf! „Max, lass uns ein letztes Mal zu Manuel gehen. Und dich, Lena, bitte ich, uns etwas Zeit allein mit ihm zu gönnen.“

Wie gebannt hatte Lena Susanne angestarrt. Nie im Leben hätte sie erwartet, dass sie so über sich hinauswachsen würde. Auf einmal ergriff sie große Ehrfurcht vor dieser Frau, die sie schon so oft geärgert hatte. Sie stand auf und schloss Susanne fest in die Arme. „Ich danke dir!“, flüsterte Lena unter Tränen.

„Ich sehe es wie du, Susanne“, sagte Max mit belegter Stimme. „Ich werde dich später zu Herrn Lehmann begleiten, Lena. Aber dann fahre ich nach Hause. Wir überlassen es dir, ob du bis zuletzt bei Manuel bleiben wirst. Wir verstehen es beide, wenn du das ebenfalls nicht schaffst. Komm Susanne, gehen wir zu unserem Sohn.“

„Wartet“, presste Lena mit zittriger Stimme hervor. „Ich werde Herrn Lehmann selber aufsuchen. Du brauchst mich nicht zu begleiten, Max, wenn du dies nicht ausdrücklich wünschst. Ich fühle mich von euch beiden getragen, und das ist mir enorm wichtig. Bitte schreibt mir, wenn ihr die Klinik verlässt.“ Nach diesen Worten ging sie zum offenen Fenster und atmete die frische Frühlingsluft ein. Sie drehte sich nicht mehr um und sah nicht, wie Susanne und Max das Zimmer verliessen.

Lena hatte Martina vergessen, die jetzt neben sie trat und ihr die Wange an die Schulter legte. So standen die beiden Schwestern lange beisammen. Dann drehte sich Lena zu Tina um und sah deren Tränen. Endlich durfte sie auch den ihren freien Lauf lassen. „Manuel, ach, Manuel, warum?“, wimmerte sie.

Erneut sass Lena an Manuels Bett und versuchte, sich innerlich mit ihm zu verbinden. Letzte Nacht war ihr das gelungen. Aber jetzt sah sie nur einen Menschen, der durch die dicken Verbände aussah wie eine Mumie. Hier lag nicht mehr ihr geliebter Manuel. Panik ergriff sie, und instinktiv überprüfte sie die Monitore. Dann streichelte sie wieder die Hand auf dem Laken. Finger und Handrücken waren geschwollen und Lena hoffte, dass Manuel keine Schmerzen hatte. Letzte Nacht hatte sie das Bedürfnis gehabt, mit ihm zu reden. Aber jetzt ertappte sie sich dabei, wie sie mehrmals auf die Uhr schaute und erleichtert war, als es endlich fünf Uhr wurde.

Lena klopfte an die Bürotür von Doktor Lehmann. Er bat sie herein und Platz zu nehmen.

„Sie kommen allein, Frau Nauer“, stellte er überflüssigerweise fest.