Nanni - Lo An - E-Book

Nanni E-Book

Lo An

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Beschreibung

Der Tod ihrer Mutter hat Nanni völlig aus der Bahn geworfen. Ihr alkoholkranker Vater ist kaum in der Lage, sich um sie zu kümmern. Auch die schon erwachsenen Geschwister bekommen nicht mit, dass sie völlig unbeaufsichtigt nachts unterwegs ist und dabei an die falschen Leute gerät. Viel zu früh auf sich alleine gestellt, verbringt sie ihre Freizeit am liebsten mit Tatjana. In ihrer kindlichen Naivität sehen sie immer nur das Gute in allen Menschen und bemerken nicht, dass sie sich in großer Gefahr befinden. Die beiden pubertierenden Mädchen sind mittendrin ihre Sexualität zu entdecken, abenteuerlustig und neugierig. Auch aufeinander.

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Schon seit über 30 Jahren verspüre ich den Drang, die Geschichte dieser Frau, jedem, der sie hören möchte, zu erzählen. Sie selbst schafft es aus verschiedenen Gründen nicht laut darüber zu reden.

Da ich nie ein Freund von Tinte und Papier war, habe ich jemand anderes gebeten, für mich zu schreiben. Wir sind beide keine professionellen Autoren, deshalb bitte ich um Nachsicht bei Fehlern in der Textgestaltung.

Es hat mich erstaunt, in diesem Buch nicht genügend Platz für alle ihre schrecklichen Erlebnisse gefunden zu haben.

Um ihrem Wunsch auf Anonymität nachzukommen, sind Namen von Personen, Lokalitäten und Orten frei erfunden.

Ich möchte eigentlich nur klarmachen, wie schön ein normales Leben sein kann. Das Verfassen ihrer Erzählungen hat mir deutlich gemacht über Unwichtiges wie z. B. nervtötende Chefs, anstrengende Verwandte oder viel zu neugierige Nachbarn hinweg zu sehen.

Jeder hat sein Päckchen zu tragen, aber mit einer anderen Sichtweise wird vieles erträglicher.

Danke Nanni

Inhaltsverzeichnis

1.

1991 - Neuer Auftrag

2.

1983 - Vergangenheit

3.

1991 - All inclusive

4.

1983 - Kindheit

5.

1991 - Verzweiflungstat

6.

1985 - Nachtleben

7.

1991 - Casino

8.

1985 - Spiel mit dem Feuer

9.

1991 - Plan B

10.

1985 - Lockangebot

11.

1991 - Flucht

12.

1986 - Heimat

13.

1991 - Am See

14.

1986 - Jasmin

15.

1991 - Angst

16.

1985 - Reich und Schön

17.

1991 - Panik

18.

1985 - Erster Auftrag

19.

1985 - Eva

20.

1985 - Alleine

21.

1985 - Abrechnung

22.

1991 - Schutz

23.

1985 - Zuhälter mit Herz

24.

1991 - Frauenhaus

25.

1985 - Abschied

26.

1985 - Kurier

27.

1991 - Zeugenschutz

28.

1991 - Untertauchen

Prolog

Die Mehrfachbelastung zehrt unfassbar an ihr. In den letzten neun Jahren gab es mehr Tiefen wie Höhen. Bis zur Geburt ihrer zweiten Tochter waren die seelischen Qualen reine Nebensache, aber seitdem sie nicht mehr nur für sich alleine sorgen muss, ist alles anders. Die Angst, ihr könnte auch dieses Kind genommen werden, lässt sie körperlich über ihre Grenzen hinausgehen. Mit dem Preis, permanent übermüdet zu sein und immer öfter nicht zu wissen, wann und wo sie gerade ist. Was natürlich dafür sorgt, viele ihrer schlechten Erfahrungen nicht verarbeiten zu können. Mit Erinnerungen an vergangene Tage versucht sie ihr aktuelles Leben anzupassen. Aber die Schattenwelt lässt sie einfach nicht mehr in ein normales zurückfinden…

Kapitel 1

1991 – Neuer Auftrag

Es ist ein verregneter, kalter Abend. Passend zu der Stimmung, die in mir aufkommt, wenn mal wieder das Telefon schellt und ich zu einem Kunden gehen muss.

Hoffentlich geht alles gut, und niemand merkt, dass ich mich bei Nacht und Nebel aus dem Haus schleiche,

denke ich laut, um mir selber Mut zu machen. Kaum zehn Minuten später fährt ein Auto vor. Ein kurzer Blick aus dem Fenster reicht, um mir zu bestätigen, dass es der dunkelgrüne Jaguar ist, den ich erwartet habe. Um Ärger zu vermeiden, beeile ich mich die drei Etagen von dem Mehrfamilienhaus hinunterzulaufen. Bei jeder Stufe schnürt sich mir der Hals enger zu. Die Angst, heute könnte es nicht gut laufen, frisst mich auf. So wie jedes Mal. In der Eile habe ich vergessen, mir eine Jacke überzuziehen. Das dünne rote Sweatshirt wird kaum ausreichen in dieser Oktobernacht. Allerdings lohnt es sich nicht, sich allzu große Gedanken darüber zu machen. Spätestens in einer Stunde habe ich weder Shirt noch die Bluejeans an. Auch die ausgetretenen Turnschuhe werden einem Paar eleganten High Heels weichen müssen. Vor der Eingangstüre bleibe ich stehen und versuche meine Gedanken zu sammeln. Denn ich will keine Schwäche zeigen. Mein Herz hämmert wie wild gegen meinen Brustkorb, und ich kann kaum atmen. Mit dem Handrücken wische ich mir schnell die aufkommenden Tränen aus dem Gesicht und greife mutig nach der Türklinke. Denn ich weiß, sobald ich in dieses Auto einsteige, gehört mein Körper mir nicht mehr. Der kalte Wind, der sich mit eisigem Regen mischt, schlägt mir ins Gesicht. Trotzdem gehe ich mit erhobenem Haupt auf den Jaguar zu, greife beherzt nach der Autotür und steige schweigend in den hinteren Teil des Wagens ein. Langsam hebe ich meinen Blick zum Beifahrersitz, um mich davon zu überzeugen, dass Niko selber mitgefahren ist, so wie immer. Also gibt es auch heute kein Entkommen und kein Erbarmen für mich oder eines der anderen Mädchen. Der Fahrer guckt in den Rückspiegel, nickt mir voller Mitleid zu und fährt mit quietschenden Reifen los.

„Heute will ich keine Sperenzchen, Kleines!“, entfährt es Niko mit einem bösartigen Unterton. Ich zucke und drehe mich schnell zu dem Seitenfenster, um mich nicht seinem Blick stellen zu müssen, wenn er sich zu mir umdreht. Aber das wird er wahrscheinlich sowieso nicht machen. Er weiß, wie er auf die Frauen, die er betreut wirkt. Mit hoher Geschwindigkeit fährt der Jaguar zu zwei weiteren Adressen, um dort junge Frauen einzusammeln. Weil wir nun anscheinend komplett sind, dreht er sich auf seinem Sitz, um uns Mädchen begutachten zu können. Doch dann gilt sein Blick nur noch mir.

„Für dich geht es heute ins Casino, meine Hübsche. Dort wartet ein Kunde, dem wir selbstverständlich absolut verschwiegen gegenüber sein werden. Und für euch beide habe ich ein anderes Ziel. Verstanden?“

Wir drei Frauen nicken stumm und schauen uns ängstlich gegenseitig an. Meine Gedanken kreisen einzig und allein um meine kleine Lisa, die nun allein mit diesem Bastard zu Hause ist. Der einzige und doch ein sehr schwacher Trost ist, dass er ihr nichts Ernsthaftes antun wird. Schließlich ist sie sein Druckmittel, für das ich eher sterben würde, als zuzulassen, dass ihr auch nur ein Haar gekrümmt wird. Und doch bleibt die innere Unruhe, weil er, wenn er mal wieder Drogen genommen oder zu tief ins Glas geguckt hat, unberechenbar wird. Das Mädchen neben mir, sitzt auf dem unbequemen Mittelteil der Rückbank, zittert am ganzen Körper und kann sich ein Schluchzen nicht verkneifen. Wir wurden noch nie zusammen abgeholt. Ich schätze sie auf sechzehn oder siebzehn Jahre. Aber sie muss schon einige Male dabei gewesen sein, sonst würde sie sich auf den heutigen Abend freuen. So wie ich vor sechs Jahren, als ich nicht genug von dem Partyleben und dem schnell verdienten Geld haben konnte. Was gibt es Schöneres, als ein Designerkleid tragen zu dürfen und mit perfektem Make-up, einer Hingucker Frisur und ein paar Hundertern in der Tasche einen Abend an der Seite eines eleganten und charmanten Mannes zu verbringen? Welche Gefahren damit auf mich zukamen, war mir in dem Moment nicht bewusst. Der Jaguar kommt zum Stehen und reißt mich aus meinen Gedanken. Niko steigt aus und geht um den Wagen herum. Wir sind in einer dunklen Seitenstraße vom Rotlichtviertel. Wie immer schaut sich Niko ausgiebig nach rechts und links um, bevor er die hintere Wagentüre öffnet.

„Los Mädels … nicht so lahm. Zeit ist Geld und aus euch müssen wir ja erst Goldgänse machen.“

Das Mädchen zögert. Niko greift sie am Oberarm und zerrt sie mit einem kräftigen Ruck aus dem Wagen. Die Kleine stolpert heraus und landet unsanft mit den Knien auf dem Bürgersteig. Sie schreit kurz auf und fängt jämmerlich an zu weinen.

„Hör auf, Zicken zu machen. Mit mir bist du direkt ins Bett und konntest nicht hart genug gefickt werden, als ich mit der Kohle gewunken habe.“

Die Kleine umklammert seine Waden und weint immer lauter. Ihre Nase läuft und sie sagt kraftlos,

„Ich liebe dich. Warum willst du mich teilen? Ich will da nicht hin. Lass die beiden alleine zu den Kerlen ins Bett ... bitte.“

Er tritt nach ihr, um sie abzuschütteln wie einen räudigen Hund.

„Beweg sofort deinen Arsch rein und hör mit der Heulerei auf, sonst werde ich mich persönlich darum kümmern, dass du einen Grund zum Heulen hast!“

Er greift ihr ins Haar und zieht sie zu sich hoch. Als sich ihre Nasen fast berühren, zerrt er ihren Zopf nach hinten. Mit seiner Zunge leckt er quer über ihren nun freigelegten Hals und sagt mit bedrohlich leiser Stimme,

„Es wäre doch zu schade, wenn dieser makellosen Kehle etwas zustoßen würde und dir das Jammern im Halse stecken bleibt.“

Er hat die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da höre ich das Schnappen seines Messers und sehe, wie er mit der Klinge über ihren Hals kratzt. Sie hört sofort auf zu weinen. Ihr Atem geht tief und hastig. Niko lässt die Klinge in den Griff zurückschnappen und schubst die Kleine in Richtung Türe.

„Was ist ...? Braucht ihr auch eine Extraeinladung?“

Mir fällt erst jetzt auf, dass ich vor Schreck die ganze Zeit die Luft angehalten habe. Ich stoße die verbrauchte aus und nehme einen kräftigen Zug. Meine Lungen füllen sich so schnell mit der eiskalten Luft, dass es fast schon brennt. Mit zügigen Schritten setze ich mich mit der anderen zusammen in Bewegung. Hinter der Türe flüstert sie mir ins Ohr,

„Irgendwann schneide ich ihm seine Eier ab und gebe sie ihm zu fressen.“

Niko gibt ihr einen Stoß in den Rücken.

„Du kennst die Regeln. Keine Namen. Keine Gespräche. Solltet ihr einmal zu zweit gebucht werden, dürft ihr euch Künstlernamen ausdenken und euch gegenseitig heißmachen.“

Mit einem hämischen Grinsen geht er an uns vorbei und verschwindet durch eine weitere Tür. Der Fahrer verriegelt den Eingang und nickt in die Richtung, in die wir gehen sollen. Ich glaube, er hat Mitleid mit uns. Einerseits wirkt er wie ein großer Gorilla, der aufpasst, dass keine von uns wegläuft. Auf der anderen Seite sehe ich die Qualen in seinem Gesicht, wenn Niko seine ach so charmanten Überzeugungskräfte spielen lässt.

„Los, los, los ... nun kommt schon her!“,

ruft Eva. Sie ist die Frau mit den Zauberhänden. Aus einem noch so hässlichen Entchen wird bei ihr ein bezaubernder Schwan. Nein, nicht bezaubernd. Eine atemberaubende sexy Schönheit, der kein Mann widerstehen kann, passt wohl eher.

„Geh deine Haare waschen, während ich ihr das passende Outfit heraussuche.“,

sagt sie zu der anderen und hakt sich bei mir ein, um in Richtung Kleiderständer zu gehen.

„Du begleitest heute ein hohes Tier einer ziemlich großen Firma. Zuerst werdet ihr essen gehen. Es handelt sich dabei um ein Geschäftsessen. Also immer hübsch lächeln und so wenig wie möglich reden.“

Sie dreht mich, um mich von oben bis unten zu betrachten.

„36 ... oder 38? Hmm ... mal sehen, was ich da machen kann. Probier dieses Kleid und die schwarzen High Heels mit dem goldenen Stöckeln da drüben.“

Ich ziehe mein Sweatshirt über den Kopf und lege es über die Stuhllehne vor dem großen beleuchteten Spiegel, auf dem ich gleich sitzen werde, wenn sie mich zurechtmacht. Ebenso meine Jeans, Socken und Unterwäsche. Ich war nun schon so oft hier und weiß, wo alles liegt, was ich für den Abend brauche. Das Kleid hat ein schwarzes Corsage Oberteil und einen goldenen Tüll-Rock, der knapp über dem Knie endet. Da das Cocktailkleid keine Träger hat, wähle ich einen halterlosen schwarzen, spitzen BH und den passenden String dazu aus. Nachdem ich dort hineingeschlüpft bin, setze ich mich auf meinen Stuhl und fange an die ebenfalls halterlosen Strümpfe meine Beine hochzuschieben.

Nur schön langsam sonst flippt er direkt wieder aus. Letztes Mal habe ich beim Anziehen eine Laufmasche in den Strumpf gezogen. Als ich zum Auto gehen wollte, hielt Niko mich fest, öffnete die Wagentüre, setzte mich quer auf die Bank, ging vor mir in die Hocke und fing ganz sanft an, mir den Strumpf von meinem Bein zu rollen. Am Knöchel angekommen, entledigte er mich meines Stöckelschuhs und zog mir den Strumpf aus. Dann stellte er sich vor mich, packte den Strumpf an seinen zwei Enden, um ihn mir über den Kopf zu werfen. Nun lag dieser auf meinen Schultern wie ein leichter Schal. Er beugte sich zu mir runter und hauchte mir diese Worte ins Ohr,

„Das sind sehr kostspielige Sachen, die du da trägst. Und das nur, um deinen Kunden zahlungswillig zu machen.“

Er stellte sich wieder aufrecht hin und machte einen halben Knoten in den Strumpf, als solle ich ihn um den Hals tragen. Doch dann zog er mit einem Ruck an beiden Enden und schrie mir mit hasserfüllten Augen ins Gesicht,

„Wenn einer diesen Strumpf kaputtmachen darf, dann ist es dein Freier, der ihn dir vom Körper reißt. Und ich verspreche dir, der Tag wird kommen, wo auch du für mich anschaffen gehst, Kleines.“

Für mich kam das alles so überraschend, dass ich für einen Moment dachte, mein letztes Stündchen hätte geschlagen. Stattdessen ließ er los und zeigte mit dem Finger in Richtung Eingangstüre.

„Und jetzt wirst du dumme Gans dir einen neuen Strumpf holen und diesen mit dem nötigen Respekt vor anderer Eigentum anziehen, ansonsten fangen wir noch mal von vorne an. Nur dieses Mal lasse ich dann nicht los. Und während du dann langsam verreckst, vögel ich dir dein kleines Gehirn raus!“

Ich bekomme eine Gänsehaut und es schüttelt mich am ganzen Körper bei dem Gedanken daran. Als ich in die High Heels schlüpfe, schaut mich Eva schon fast ehrfürchtig an und meint,

“Du hast einen bewundernswerten Körper und könntest dir eine goldene Nase verdienen. Männer sind doch nur auf eine schnelle Nummer aus. Mach einfach die Augen zu, denk an einen anderen, mit dem du lieber im Bett wärst, stöhne ein bisschen herum und kassier dann ordentlich ab. Niko muss das ja nicht wissen und von mir erfährt er kein Wort.“

Mit den Fingern zieht sie einen imaginären Reißverschluss auf ihren Lippen zu, verschließt den mit einem Schlüssel, um diesen dann über ihre Schulter zu werfen. Ich mag Eva sehr gern. Sie ist eine Prostituierte, die auf eigene Gefahr arbeitet. Sie ist nymphoman und kann nicht genug Sex bekommen. Treue ist aus diesem Grund ein riesen Problem. Trotzdem hat sie einen Mann, der sie liebt. Er sagt, es ist ihm lieber, sie mache aus ihrer krankhaften Neigung ein Geschäft, anstatt das sie ihn immer heimlich betrügt und sie sich vielleicht irgendwann in einen anderen verliebt. Denn wie sie mir schon eben sagte, macht sie die Augen zu und denkt an ihren Schatz, während andere versuchen, ihre Gier zu stillen. Ich schenke ihr ein Lächeln und merke, wie mir die Röte ins Gesicht schießt.

„Ich danke dir für das Kompliment, aber mir würde schon der eine ... der eine wahre richtige an meiner Seite reichen.“

Ich setze mich auf den Kosmetiker-Stuhl. Eva stellt sich hinter mich, umfasst mein Gesicht und zwingt mich, in den Spiegel zu schauen. Dann sagt sie mit einem schon fast mütterlichen Tonfall,

„Irgendwo da draußen ... irgendwann später ... dann wirst du ihn finden, deinen Traumprinzen. Aber glaube und vertraue nicht immer jedem x-beliebigen!“

Dann greift sie nach der Wasserspritze, um meine Haare zu befeuchten. Ich weiß, was nun kommt und nehme die Schale mit den großen Lockenwicklern auf meinen Schoß. Eva fängt an, eine Melodie zu summen und mir die einzelnen Strähnen meiner langen, lockigen Haare aufzuwickeln. Meine Mähne reicht mir fast bis auf die Hüften, aber Eva sind sie so zu langweilig. Da muss pepp rein, sagt sie ständig und zaubert mir die tollsten Frisuren.

„Du solltest dir mal etwas Farbe auf dem Haupt gönnen und die ollen Sweatshirts in den Müll werfen. Dann laufen dir die Kerle hinterher. Einer wird dann auch bestimmt dein Prinz sein.“

Sie zwinkert mir zu und summt fröhlich weiter. Wenn die Situation hier nicht so verfahren wäre, könnte man sich bei Eva fast heimelig fühlen. Während sie mich schminkt, mache ich grundsätzlich die ganze Zeit die Augen zu und versuche das letzte Bild von mir im Spiegel im Kopf zu behalten. Denn ich bin immer wieder aufs Neue überwältigt, dass die fertig geschminkte Frau ich sein soll. Der Kontrast ist unglaublich.

„So Süße, halt deine Augen geschlossen. Ich werde dir jetzt fantastisch lange Wimpern zaubern.“,

sagt sie und fängt an, mir etwas kaltes Nasses auf die viel zu dünn besiedelten Wimpern zu schmieren. Ich versuche mich zu entspannen. Denn es ist schon ein Unterschied, ob man nicht hinsehen möchte oder es einfach nicht kann. Ich spüre, wie sich mir jemand nähert und mit seiner Zunge mein Ohrläppchen ableckt, um es anschließend mit den Lippen zu umfassen und daran zu saugen. Mich schüttelt der Widerwillen, weil ich genau weiß, wer sich da an mir zu schaffen macht.

„Wenn du erst einmal mir gehörst werde ich dich ordentlich zureiten lassen. Danach bettelst du nach meinen Berührungen, das verspreche ich dir!“

„Verschwinde und lass mich meine Arbeit machen“!,

fährt Eva Niko an,

„Ansonsten kannst du dir eine andere Dumme suchen, die deine Pferdchen aufhübscht!“

Ich höre, wie er leise grummelnd verschwindet und atme auf.

„Danke Eva.“

Mehr kann ich nicht über die Lippen bringen. Eine kurze Zeit später stehe ich dort und betrachte eine Frau im Spiegel, die mir nie fremder war als heute. Vielleicht liegt es an dem jungen Mädchen, das wohl noch recht neu im Escort-Geschäft ist und meine eigene Vergangenheit aufbrodeln lässt. Eva stellt sich hinter mich und legt mir eine dezente goldene Kette mit einem kleinen Anhänger, der aussieht wie ein Brillant um den Hals. Dann drückt sie mir passende Ohrringe in meine Handfläche und schließt diese wieder.

„Pass nur gut auf diese edlen Escort-Juwelen auf.“,

flüstert sie kichernd. Wie alles in diesem Business ist es natürlich nur Schall und Rauch. Nach einer weiteren halben Stunde ist auch die andere Frau fertig. Auf das Mädchen brauchen wir heute nicht warten. Niko wird es sich nicht nehmen lassen, sie in die Schranken zu weisen und gefügig zu machen. Nach dieser Hölle wird sie beim nächsten Mal ohne zu murren machen was er sagt. Der Fahrer vom Jaguar entriegelt die Türe und begleitet uns zum Wagen. Ganz wie ein Gentleman öffnet er die Autotür und hilft uns beim Einsteigen. Niko wird uns nicht begleiten. Das ist auch nicht nötig, denn er weiß, wir würden keine Mucken machen und brav unseren Escort-Service antreten. Wir fahren etwa eine halbe Stunde schweigend durch die Nacht. Ihm hat die spezielle Behandlung für das Mädchen wohl auch nicht gefallen. Es regnet nicht mehr. Die Straßen glänzen wie große Spiegel und reflektieren sämtliche Lichtquellen, die auf sie treffen.

„Wir sind gleich da.“

Seine Worte brechen die unerträgliche Stille. Ich schaue auf und sehe, wie mir der Fahrer im Rückspiegel zunickt.

„Danke Mattes.“

Ich genieße es immer sehr mit ihm ohne Niko im Auto zu sitzen. Unsere Gespräche sind zwar nur kurz, aber freundlich. Manchmal frage ich mich, warum er diesen Job überhaupt macht. Es handelt sich um mein Reiseziel. Der Jaguar rollt langsam vor die große, in Gold gerahmte Glastür eines noblen Hotels.

„Nach dem Essen wird er mit dir ins Casino gehen. Du hast die Back-up-Nummer. Wenn etwas ist oder du fertig bist, rufst du sofort an.“

Der Portier öffnet meine Wagentüre. Ich nicke Mattes zu, alles verstanden zu haben und reiche dem Portier meine Hand, um mir beim Aussteigen helfen zu lassen. Er öffnet mir einen Flügel der Tür und sagt,

„Sie werden gebeten, es sich im Foyer auf einer unserer Sitzgruppen gemütlich zu machen.“

Ich bin beeindruckt von der Höhe und gigantischen Größe dieser Eingangshalle. Der Boden scheint aus feinstem Marmor zu sein, geschmückt von schweren roten Teppichen. Auf der rechten Seite befindet sich der Empfang aus hochglänzendem Teakholz. Dahinter arbeiten drei Angestellte, die geschäftig an ihren PCs zugange sind. Geradeaus sehe ich vier Aufzüge und links neben mir befinden sich mehrere schwarze Ledersitzgruppen. Dahinter entdecke ich eine kleine Bar mit sechs Hockern und einem sehr hohen Spiegelregal, in dem sich vor Sauberkeit glitzernde Gläser befinden.

Wie viel eine Übernachtung in diesem Haus wohl kostet?

Der Versuch, auf der Ledercouch zu sitzen ohne mein Outfit zu zerknittern, verlangt einiges von mir ab. Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt, wie eine reiche Frau zu bewegen. Oder wie ein Schicki-Micki Mäuschen, was für Geld und so ein Aussehen alles machen würde. Man erkennt sie schnell an einer sehr aufgespielten Arroganz. Umso mehr freue ich mich in ein paar Stunden wieder in meine gemütlichen Anziehsachen zu schlüpfen und mit der Make-up-Maske auch dieses Leben abzulegen. Irgendwo spielt jemand auf einem Flügel oder Klavier. Geduld war noch nie meine Tugend, also stehe ich auf und versuche den Ursprung der Töne zu finden. Die Musik ist sehr friedfertig, zieht mich in ihren Bann und lässt mich in Erinnerungen schwelgen…

Kapitel 2

1983 – Vergangenheit

…wie jeden Samstag fällt meinem Vater nicht einmal auf, dass ich mich aus der Wohnung schleiche. Ich ziehe mein schwarzes Lieblings Barrett an, die neue Jeans die ich mir vor ein paar Monaten in einer kleinen Boutique gestohlen habe und trage ein wenig zu viel Make-up auf. Es erinnert mich an meine Mutter, die nun schon fast ein Jahr nicht mehr ein Bestandteil meines Lebens ist. Diesen Lippenstift mochte Sie am liebsten. Er hat eine schlichte rosa Farbe. Ich bilde mir ein, Ihre Lippen auf meinen zu spüren, wenn ich ihn benutze. Sie war immer so sparsam mit ihrer Liebe, also war der Gute Nachtkuss für mich das schönste am Tag mit ihr. Unter der Kapuze meiner Jacke kann ich mich mit schnellen Schritten zu meinem bevorzugten Ziel bewegen. Der Versuch, von meinem Bruder, mit einem Funkgerät die Kontrolle zu haben, ob es mir gut geht, hat mir die Türe zu einer fremden Welt geöffnet. Ich stelle mich wohl sehr ungeschickt beim Funken an, sodass mittlerweile viele nette Menschen in mein Leben getreten sind. Die meisten sind Lkw-Fahrer, die ich sicherlich niemals persönlich treffen werde. Aber auf diesem Weg habe ich auch meine Freunde von der Band kennengelernt. Wahrscheinlich haben die Jungs nur Mitleid mit mir. Denn in dieser Clique bin ich definitiv die Jüngste. Ich genieße diesen speziellen Status und versuche mich, wie eine Zwanzigjährige zu verhalten. Die Band probt jeden Samstag. Auch heute. Und danach darf ich bestimmt wieder mit in die Pizzeria, wo der Billardtisch steht. Weil es keine Kneipe ist und es nie zu Unruhen kommt, duldet mich der Besitzer dort. Er weiß genau, dass ich minderjährig bin und alleine unterwegs. Mein Vater ist Alkoholiker und ich war früher ständig mit ihm in Kneipen. Meiner Mama war es zu peinlich, ihn aus den Lokalen abzuholen. Also wurde ich ins Auto gepackt und musste ihn daraus holen. Sie hat vor der Türe im Auto sitzend gewartet. Ich fand das eigentlich immer klasse. Denn er hat es sich nicht nehmen lassen, sein Bier auszutrinken und das Billardspiel zu beenden. Ich bekam dann immer eine Handvoll der sehr leckeren kandierten Erdnüsse aus dem Automaten, der auf dem Tresen stand. Dann habe ich mich oft verschluckt, weil ich sie zu hastig genascht habe, und bekam von Papa ein Malzbier. Und das wiederum konnte ich nicht so schnell trinken wie die Erwachsenen ihr richtiges Bier. Deswegen habe ich mich auf einen der großen Barhocker gesetzt und zugeschaut. Ab und zu hat er mir am Nebentisch, während er auf seinen eigenen Stoß wartete, ein paar Kniffe beigebracht. Aber jetzt, seit Mama nicht mehr lebt, trinkt er fast nur noch zu Hause…

Kapitel 3

1991- All inclusive

…auf der Suche nach dem Pianisten ertönt ein Ping neben mir. Ich drehe beim Gehen instinktiv den Kopf zu den Aufzügen, um zu sehen, wer aussteigen wird. Ein im Smoking gekleideter Mann, schätzungsweise Mitte vierzig, läuft zügig durch die Halle auf den Empfang zu. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Portier dreht er sich zu mir um. Er sondiert mich wie ein edles Möbelstück, drückt dem Portier Trinkgeld in die Hand und kommt langsam auf mich zu. Es fühlt sich an, als würde er mich mit den Augen ausziehen und mit seinen sicherlich manikürten Händen betatschen. Etwa einen Meter vor mir bleibt er abrupt stehen. Seine Augen wandern von meinem Gesicht zu meinen Brüsten, verharren dort eine gefühlte Ewigkeit, um dann meine Beine entlang zu fahren.

„Dreh dich um die eigene Achse … aber ganz langsam. Ich will sehen, ob du dein Geld wert bist.“ Während ich mich anfange, auf der Stelle zu drehen, sagt er noch,

„Es heißt, es wäre an mir, dich zu überreden die Nacht bei mir zu verbringen. Also lass mich sehen, ob es sich lohnt, eventuell zu späterer Stunde, darum zu betteln.“

Mir gefriert das Blut in den Adern und der Kerl widert mich jetzt schon an.

“Es ist deine langjährige, zuverlässige Diskretion, den Kunden gegenüber, die deinen Preis bestimmt. Und die Chance, derjenige zu sein, der deinen Willen als Erster bricht, macht dich unbezahlbar.“

Er lacht laut auf und legt, dabei den Kopf in den Nacken.

„Diese Vorstellung macht mich scharf auf dich. Es ist fast so, als würde man eine Jungfrau vor die Flinte bekommen.“

Ich versuche es mir zu verkneifen, mit den Augen zu rollen.

Was ist das für ein jämmerlicher Idiot?

Und solche Leute haben so viel Geld, dass sie nicht wissen, was sie damit anstellen sollen. Es würde mich obendrein nicht wundern, wenn es zu Hause eine Frau gibt, bei der er nichts zu sagen hat. Er hat eine Dienstleistung gekauft und nicht meine Seele, also versuche ich ihn mit geschäftlichen Absprachen in seiner Predigt zu stoppen.

“Wie soll ich sie heute vor den anderen nennen? Und wie soll ich für sie heißen?“

Ich schaue mich bei meinen Fragen bewusst in der Halle um und lasse meinen Blick über die Decke schweifen, um ihm deutlich zu machen, dass er mich nicht die Bohne interessiert.

„Na … für dich wäre Frau Eisblock ganz gut. Doch so abgebrüht wie du hier vor mir stehst, bist du eher der Teufel in Person. Also werde ich dich Lutzie nennen. Mich wirst du Rolf rufen, klar? Am besten hältst du einfach die Klappe und wackelst mit deinem geilen Arsch vor mir herum denn dafür habe ich schließlich bezahlt!“

Ich schenke ihm ein übertriebenes Grinsen, drehe mich mit Schwung auf dem Absatz um und laufe provokant mit dem Po wackelnd Richtung Eingangstüre. Dabei drehe ich mich nach hinten und rufe,

„Na was ist? Warten da nicht irgendwo Kollegen auf dich, Rolfi-Häschen?“

Nachdem er seine Kinnlade wieder geschlossen hat, folgt er mir schnellen Schrittes. Der Portier steht schon bereit, um uns die Tür zu öffnen.

“Ich wünsche ihnen einen schönen Abend, darf ich bitten, die Dame, der Herr.“

In der Auffahrt vor dem Eingang steht ein schwarzer BMW mit sehr dunkel getönten Scheiben. Rolf hält mir die Beifahrertüre auf und sabbert mir ins tiefe Dekolleté als ich mich hineinsetze. Dann huscht er um den Wagen herum und steigt selber ein. Er startet den Motor und dreht sich zu mir um. Mit der rechten Hand umfasst er mein Kinn, zieht es ein Stück weit zu sich heran und kommt auf mich zu, als wollte er mich küssen. Aus Reflex versuche ich zurückzuweichen. Er fasst fester zu und grollt mir entgegen,

„Die nächsten Stunden gehörst du mir.“

Ich höre auf, mich dagegen zu wehren, worauf er loslässt und sich dem Straßenverkehr widmet. Gerade, als er wieder anfangen will mir irgendwelchen Blödsinn zu erzählen schellt sein Autotelefon. Er stöhnt genervt auf und greift nach dem Hörer.

“Ja … ja … ja. Ich fahre jetzt zu dem Geschäftsessen. Warte nicht auf mich.“

Bei diesen Worten dreht er sich, soweit er kann von mir weg. Als würde ich auf diese Weise weniger davon mitbekommen. Ich schüttele den Kopf und schaue aus dem Seitenfenster heraus. Nach ein paar Minuten biegen wir ab und folgen einer Landstraße, die zu einem funkelnden Casino führt. Er parkt den Wagen und stellt den Motor ab. Dann greift er in seine Smokingtasche und holt ein paar gefaltete Geldscheine, die von einer goldenen Geldklammer gehalten werden heraus.

“Ich gebe dir 200 Mark. Damit kannst du dir, spä-ter im Casino die Zeit vertreiben. Hauptsache, dein Arsch bleibt in meiner unmittelbaren Nähe, verstanden?“

„Verstanden.“,

antworte ich und verstaue das Geld in der goldenen Handtasche, die Eva mir passend zum Kleid ausgewählt hat. Von diesem Moment an kommt der geschäftliche Teil, den ich nicht verbocken darf. Allein der Gedanke, dass all dieser Müll hier meiner Tochter widerfahren könnte, löst einen Würgereiz in mir aus. Ich muss sie davor bewahren und das mit allen Mitteln. Oder ich schaffe es fortzulaufen. Weit weg, wo uns niemand findet und keiner kennt. Der Gedanke zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.

„Wird auch Zeit, dass du deine nette Seite zeigst.“ Ich erschrecke, weil ich gar nicht mitbekommen habe, dass er ausgestiegen ist. Das passiert mir in letzter Zeit ziemlich oft. Mir fehlen Momente und Ereignisse. Es wird an der völligen Übermüdung liegen. Tagsüber arbeiten, danach meine Kleine versorgen und manche Nacht mit Idioten verbringen. Das zehrt sehr an meinem Körper. Er streckt seine Hand aus, um mir beim Aussteigen zu helfen. Gut erzogen, wie ich nun einmal bin, lege ich meine Hand in seine. Aber eigentlich ist es nur der pure Eigennutz. Ohne Hilfe schaffe ich es kaum, die großen in Kopfsteinpflaster gehaltenen Stufen raufzugehen. Würde ich mein eigenes Geld hier verspielen, hätte ich schon längst nach dem Architekten gefragt. Das kann auf keinen Fall eine Frau sein. Wir werden beim Betreten direkt in Empfang genommen. Einer der Angestellten führt uns im Casino in den Restaurantbereich. Rolf hebt grüßend winkend seine rechte Hand zu einer Gruppe anderer Smokingträger. Natürlich sind alle in Begleitung von sehr adrett gekleideten Damen. Mit seiner Linken umfasst er meine Taille und dirigiert mich so mit zu diesem Tisch. Ein Kellner zieht einen der Stühle, die eine strahlend weiße Husse haben, ein Stück weit zurück und signalisiert mit einer Handbewegung, dass ich mich dort hinsetzen soll. Ich zolle ihm nickend meinen Dank und begrüße mit gleichem Nicken die Menschen an diesem Tisch. Eines der wichtigsten Gebote im Escort-Service ist das Schweigen. Aber auch die gut betagten Damen der anderen tun es mir gleich. Ich werde diese reichen Pinkel und ihre ach so wichtigen Geschäftsessen nie verstehen. Und sobald der Alkoholpegel steigt, werden alle Benimmregeln über Bord geworfen. Ohne etwas zu sagen, servieren uns zwei Kellner ein Glas Champagner. Im Anschluss wird das Blumenbouquet aus weißen Rosen entfernt und die ebenfalls weißen Kerzen in den silbernen Ständern angezündet. Den Männern am Tisch werden Speisekarten, die in einer Mappe aus dunklem Leder eingefasst sind, gereicht. Das geschäftige Umherwerfen von Verkaufszahlen stockt abrupt. Auch Rolf liest sich zügig durch die Menüabfolge und klappt die Karte ziemlich laut wieder zu. Mit einer sehr arroganten Geste, ruft er einen der Kellner an unseren Tisch. Mit einem solchen Fingerschnippen würde ich noch nicht einmal meinen Hund herbitten. Schnellen Schrittes kommt dieser an seine linke Seite. Rolf bremst ihn mit einer Handbewegung, um ihn etwas auf Abstand zu halten. Er hält sich die Hand an seinen Mund, damit die anderen nicht mitbekommen, was er bei dem Kellner leise ordert. Dieser nickt ihm schweigend zu und verschwindet so schnell, wie er gekommen ist. Dann hebt Rolf sein Glas in die Luft und klopft mit seinem Messer leicht dagegen,

„Ich will euch heute Abend an meinem Erfolg vom letzten Quartal teilhaben lassen.“

Es folgt eine verlängerte Schweigeminute. Er erhebt sich und sofort kommt der Kellner mit einem Tablett, auf dem Papierrollen liegen, die mit einer Art Serviettenring gehalten werden. Jedem der Männer wird eine angereicht. Diese lehnen sich weit nach hinten, um den Damen deutlich zu machen, dass sie das nichts angeht. Ich grinse leise in mich rein und kann ein kleines Glucksen nicht verhindern. Rolf wirft mir einen tötenden Blick zu, der mir die Haare in meinem Nacken zu Berge stehen lässt. Die Männer rollen das Papier wieder zusammen, fixieren es mit dem Ring, stehen wie einstudiert gleichzeitig auf und erheben wortlos ihre Gläser.

“Cheers und auf einen fantastischen Abend. Welcher heute natürlich komplett auf meine Rechnung geht.“

Bei diesen Worten lacht er hämisch und deutet jedem Mann mit einem allessagenden Blick, dass er auch die Kosten für uns übernimmt. Dann beendet er seine Wichtigtuerei mit den Worten,

„Koste es was es wolle. Die Chipkarten für die Zimmer dürfen unsere netten Damen für uns in ihren Handtaschen aufheben.“

Kaum ausgesprochen, werden uns die Karten von den Kellnern übergeben.

„Wer weiß, wie sich der Abend entwickelt. Im Nebenraum wartet auf uns ein kleines Privatcasino in dem … alles … erlaubt ist.“

Er streicht mir mit dem Handrücken über meine Wange, hebt mir dann mit dem Zeigefinger das Kinn etwas an und lässt sich mit einem lüsternen Blick wieder neben mich auf seinen Stuhl sinken. Mir wird bei dem Gedanken so übel, dass ich mich erhebe, und um Entschuldigung bitte, um mir kurz die Nase zu pudern. Schnellen Schrittes bewege ich mich Richtung Empfang in der Hoffnung dort die Toiletten zu finden. Ich brauche jetzt dringend zwei Minuten, um meine Beherrschung wieder zu finden. Am liebsten würde ich raus an die frische Luft gehen, um eine Zigarette zu rauchen. Da das nicht geht möchte ich mich am zweitliebsten in eine der Toiletten einsperren und dort warten, ob Rolf vielleicht in der Zwischenzeit eine andere Frau für diesen Abend entdeckt. Ich weiß, dass es nur ein reines Wunschdenken ist denn bei den Frauen aus reichem Haus wird er keine willenlose Gespielin finden. Eine Mitarbeiterin vom Empfang wird auf mich aufmerksam und ruft mich beim Vorbeigehen an den Tresen. Sie sieht sehr elegant in ihrem schwarzen Kostüm und der weißen Bluse aus. Ein wenig wie eine Stewardess von einem sehr teuren Flug. Das wäre auch ein Beruf für mich.

„Guten Abend, mein Name ist Michelle. Kann ich Ihnen helfen?“

Die nette Stimme holt mich sofort wieder zurück in die, nicht so schöne, Realität.

„Wo sind bitte die Waschräume?“,

frage ich und krame ohne es zu bemerken die Schlüsselkarte vom Zimmer hervor.

„Ohh ... möchten Sie schon vor dem Essen auf das Zimmer? Ist alles in Ordnung?“

Ich werde hochrot vor Scham und antworte stotternd,

„N-nein, i-ich hahabe mich vergriffen. Das ist nicht meine Karte!“

Michelle taxiert mein Outfit holt tief Luft und versucht den direkten Blickkontakt zu vermeiden.

“Natürlich gnädige Frau … mein Fehler … verzeihen Sie. Die öffentlichen Waschräume unseres Hauses befinden sich da hinten, rechts neben der Bar.“

Ich nicke dankend. Worte bringe ich jetzt keine zusammen. Schließlich denkt sie jetzt von mir, dass ich gar nicht schnell genug auf das Zimmer kommen kann, um Geld zu verdienen. Denn so machen es die Professionellen. Wenn die Männer erst einmal anfangen, ihre Kohle in solchen Etablissements zu verlieren, gehen die Mädels ohne Vorkasse meistens leer aus. Zu oft musste ich schon mit ansehen, dass die Männer Haus und Hof verzockt haben und die Hostessen aus dem horizontalen Gewerbe am Ende sogar die Heulsusen trösten müssen. Natürlich ohne Bezahlung. Denn es könnte ja sein, dass man sich dort wieder begegnet. Also die gleiche goldene Regel wie überall *DER KUNDE IST KÖNIG*. In der Hoffnung, dass niemand dieses Gespräch mitbekommen hat laufe ich schnellen Schrittes zur Toilette. Das kann mich und auch meine kleine Maus in ernsthafte Gefahr bringen. Diese Situation ist neu für mich. Noch nie wurde ich einschließlich Hotelzimmer gebucht. Nico will mich gefügig machen. Da mir körperliche Schmerzen, die er mir hin und wieder zufügt, nicht meinen Willen brechen, versucht er es jetzt auf diese ekelhafte Art und Weise. Die Unwissenheit macht mich verrückt. Geht es den anderen Frauen wie mir? Was erwartet mich in dem separaten Casino? Wird mich unser Fahrer abholen? Ist meine Tochter in Sicherheit? Was soll ich nur tun? Ich lehne mich gegen die verschlossene Türe der Kabine und versuche mit aller Macht nicht zu heulen. Ein zerstörtes Make-up wäre fatal.

Ach menno Eva, nie bist du da, wenn ich dich am nötigsten brauche!

Es keimt eine innere Wut wieder auf. Eine Wut, die vielleicht nicht gerechtfertigt ist.

Papa, warum beschützt du mich nicht?

Bei dem Gedanken an ihn füllen sich meine Augen mit Tränen und lassen mich an die schwierigen Zeiten mit meinem Vater erinnern…

Kapitel 4

1983 – Kindheit

…es ist acht Uhr morgens. An einem Sonntag. Papa kommt aufgeregt in mein Zimmer und sagt, ich soll endlich aufstehen.

Was hat er schon wieder gemacht?

Ich schlüpfe in meine gehäkelten Hausschuhe. Allmählich entstehen die ersten dünnen Stellen in der Wolle. Aber ich kann mich einfach nicht von den Dingern trennen. Das war die letzte Handarbeit von Mama für mich. Als sie noch lebte, wollte ich sie gar nicht tragen. Mama war nicht zu bremsen, wenn ihr wieder irgendetwas zu Ohren gekommen ist was man selbst und kostengünstig herstellen kann. Mit fünf Kindern bleibt einem auch kaum eine Wahl. Ich schlürfe wenig begeistert ins Bad, um mir mein Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Den Rest schenke ich mir fürs Erste. Mal abwarten, warum ich sonntags so früh aus dem Bett geworfen wurde. In unserer kleinen Wohnung ist kaum Platz für die Möbel, die wir aus unserem Haus mitgenommen haben. Deshalb haben wir einen Raum zwischen unseren Schlafzimmern, was Büro, Fernsehzimmer und Esszimmer in einem ist. Papa ist nicht der tollste Vater, aber es war ihm schon immer sehr wichtig, dass das Frühstück ausgewogen ist. Er sitzt schon vor seinem, was wie jeden Morgen eine Flasche Bier ist, und tippt nervös mit den Fingerkuppen auf der Tischplatte herum. Ich ahne nichts Gutes und setze mich neben ihn auf das Klappsofa. Vor mir ein geschmiertes Butterbrot und eine Tasse warmer Malzkaffee. Er räuspert sich und sagt mir dann mit zitternder Stimme,

“Du musst dich heute ausnahmsweise einmal wie ein Mensch anziehen. Und nicht wie ein durchgeknallter Neue-Deutsche-Welle-Hippie. Es ist mir sehr wichtig. Wir treffen uns um 14:00 Uhr mit einer Frau, die gut zu mir passt. Also versau mir das nicht. Und am besten redest du nicht so viel. Immer wenn ich mich mit einer Frau treffe, vergraulst du sie mit deinen traurigen Geschichten. Ich bin selber untröstlich, dass meine Hanni so jung sterben musste.“

Es zerreißt mir das Herz. Warum will er Mama nur mit Gewalt ersetzen?

Ich bin als einzige noch zu Hause und ihm egal geworden. Seltsamer Weise vermisse ich die Zeiten, wo wir Kinder um Punkt 17:00 Uhr aus seinem Blickfeld verschwunden sind. Denn immer, wenn er selbstständig mit dem Bus nach Hause gekommen ist, wussten wir, dass er sauer ist, weil Mama ihn