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Stellt Euch vor, eine kleine Stadt am Rhein in einem Vierfamilienhaus. Ein kleiner Junge schleicht, sehr nervös und ganz vorsichtig durch das Treppenhaus, immer auf der Hut, dass niemand etwas mitbekommt. In seiner Hand der Schlüssel für das Schlafzimmer seiner Eltern, welches eine Etage höher als die restliche Wohnung liegt. Die Zeit ist günstig. Mama und Papa auf der Arbeit, der große Bruder nicht zu Hause. Leise geht der Schlüssel in das Schloss. Was macht er da und warum? Ganze 37 Jahre später fand er den Mut und das notwendige Selbstvertrauen sein Geheimnis öffentlich zu machen.
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Seitenzahl: 121
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Seit einiger Zeit macht meine Transidentität einen großen Teil meines Lebens aus. Genauer gesagt ist mein Weg, in der vergangenen Zeit sehr konkret in eine Richtung gegangen, die unser Leben sehr verändert hat
Ich bin froh, dass Silvia, meine Frau, mich dabei so unterstützt und mir jederzeit eine große Hilfe ist.
Die Darstellung meiner Erinnerungen und Gefühle, die mich sehr während der Zeit beschäftigen, halfen mir alles besser zu verstehen und in dem Ganzen einen roten Faden zu finden, die Entscheidungen leichter zu treffen oder einfach mit beiden Seelen zurechtzukommen. Vielleicht können andere Betroffene und Angehörige Parallelen zu meinen Erfahrungen erkennen und ihren Nutzen daraus ziehen.
Positive und negative Erfahrungen und Ereignisse liegen hinter mir und es werden noch mehr auf mich warten.
Dass ich transident bin, ist zum Glück kein Geheimnis mehr. Die Zeit, in der ich alles verheimlicht habe, ist lange vorbei. Es waren bewegte und bewegende Zeiten, die hinter mir liegen. Wirklich zu Ende wird mein Weg wohl nie sein, auch wenn ich heute viel weiter bin, als ich mir noch vor wenigen Jahren überhaupt vorstellen konnte. Was ich erlebt habe und wie ich mich weiterentwickeln konnte, versuche ich in diesem Buch zu beschreiben.
Die ersten Gedanken, ein Mädchen zu sein, kamen mir schon früh, ich denke es war, als ich etwa fünf Jahre alt war. Eine Vorstellung kam mir immer in den Sinn, wenn ich im Bett lag:
Meine Tante holte mich mit ihrem blauen Auto ab. Sie brachte mich zu einem mir unbekannten Ort. Dort stand eine Maschine. In diesen Apparat wurde ich hineingesetzt und wurde, wie auch immer, zu einem Mädchen. Wie ich auf solche Gedanken kam, kann ich nicht mehr sagen. Sie waren einfach da. Fakt ist, dass meine Tante damals einen hellblauen Ford 12M fuhr.
Die nächsten Erinnerungen liegen in meiner Schulzeit, mehr Bruchstücke, die ich zeitlich nicht genau einordnen kann. Ich erinnere mich an Besuche bei Verwandten und deren Gegenbesuche bei uns. Eine Cousine spielte bei uns im Hof. Es war schon etwas kühl und sie trug eine Nylonstrumpfhose.
Ich verstand damals nicht, warum nur sie so angezogen sein durfte und ich nicht.
Fußballspielen war ein großer Teil meiner Freizeitaktivität. Mein bester Freund war zu dieser Zeit im Fußballverein. Einmal durfte ich bei einem Auswärtsspiel mitfahren und - da zu wenige Spieler auf dem Feld standen - auch mitspielen. Meine fürsorgliche Mutter hatte Angst, ich würde mich erkälten, und zog mir eine ihrer Nylonstrumpfhosen an. Sie konnte es nicht wissen, aber ich freute mich sehr darüber.
Auch ein Ferienaufenthalt in Bayern ist Teil meiner Erinnerungen. Wie es so üblich war, kam es auf einer gemeinsamen Feier der Feriengruppen zu einer Modenschau. Ich lieh mir einen Rock und das passende Oberteil von unserer Herbergsmutter und stellte mich der gesamten Gruppe. Natürlich war ich nicht allein und alle Anderen aus dem Team zogen sich nach dem Auftritt wieder um. Ich versuchte mit allen Mitteln, den Abend in den geliehenen Kleidungsstücken zu verbringen.
Den unausweichlichen Nachfragen von den Freunden und der Gruppenleiterin versuchte ich aus dem Weg zu gehen. Jede Sekunde war wertvoll.
Die Zeit lief. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, in BH und Nylons die Schularbeiten zu machen. Das ging auch sehr lange gut, aber ich wurde unvorsichtiger und eines Tages, ich hatte einen hellen Pullover an, sah mein Vater, was ich unter diesem trug.
Mein Vater flippte total aus. Er riss mir den Pullover vom Leib und den BH herunter. Seine Schläge mit dem Gürtel landeten abwechselt auf dem Rücken und dem Gesäß. Ob meine Mutter vor den Tür stand, kann ich heute nicht mehr sagen. Sie hätte nichts tun können. Niemand konnte etwas tun.
Auch jetzt noch kommen mir die Tränen, wenn ich nur daran denke. Irgendwann hatte er genug und ließ mich endlich in Ruhe. Der BH war weg, mein Versteck geoutet, meine persönlichen Sachen durchsucht und ich als pervers gedemütigt.
Seit dieser Zeit stand ich unter Beobachtung. Ich versuchte einen Ausweg zu finden. Die Gedanken an Flucht aus meinem Gefängnis erzählte ich nur meinem Stoffhund Wummi, den mir meine Mutter gestrickt hatte, als ich noch klein war.
Einige Zeit hatte ich schon Gitarrenunterricht und das war nun eine gute Möglichkeit, auf andere Gedanken zu kommen. Täglich Schule, Hausaufgaben, mit Freunden zum Fußball, Gitarre üben, zu Abend essen und dann ins Bett. Das war von nun an mein Leben.
Sonst ging nichts. Der Gedanke, dass ich ein Mädchen sein wollte oder bin, war nie weg. So sehr ich es auch versuchte, ihn zu vergessen oder durch andere Beschäftigungen zu unterdrücken, er verging einfach nicht.
Wir waren im siebten oder achten Schuljahr, da bekamen wir eine Referendarin. Eine bildschöne Frau, sehr jung, mit langem, blondem Haar. Ich hatte nur Augen für eines: ihren langen, rot bedruckten Rock mit schwarzem Bund. So einen wollte ich haben. Was sie uns versuchte beizubringen, war für mich Nebensache. Ich schaute im Laufe der Zeit immer wieder, ob ich so einen Rock finden könnte. Bis heute ist es mir nicht gelungen, leider.
Irgendwann hingen Nylonstrumpfhosen zum Trocknen im Bad. Es würde wohl nicht auffallen, wenn eine fehlte. Nun ging es darum ein geeignetes Behältnis zu finden. Die Wahl fiel auf eine Kunststofforange, die vom letzten Besuch im Chinarestaurant übriggeblieben war.
Auch die Besuche bei Freunden nutzte ich dazu, meinen Horizont zu erweitern. Da meine Mutter niemals irgendeine Art von Schminke besessen hat, musste ich in den Badezimmern der Freunde schauen, was es so gab.
Einmal nahm ich einen blauen Kajal mit und legte ihn in meine Schachtel mit den Schreibutensilien. Er fiel zwischen all den anderen Stiften nicht auf. Ab und zu, wenn ich ganz sicher allein war, konnten die ersten Schminkübungen im Badezimmer stattfinden.
Natürlich musste alles verschwunden sein, wenn die Eltern nach Hause kamen.
Zu der Zeit war mein Bruder bei der Bundeswehr und konnte mir nicht gefährlich werden.
Die Klassenfahrt im neunten Schuljahr ging auf die Nordseeinsel Norderney. Bei diesem Aufenthalt trafen wir auf eine Klasse aus Düsseldorf, die mit uns gemeinsam im Schullandheim wohnte. Durch Zufall bekam ich mit, dass eine Schulkollegin einigen der Düsseldorfer Löcher in die Ohren stach. Das Ganze blieb nicht unentdeckt. Die Düsseldorfer Lehrerin kam dazu, schaute und fragte zu meiner Überraschung: „Das kannst du? Machst du mir auch welche?"
Ich stand da, konnte nicht glauben, was ich da hörte und hatte selber nicht den Mut zu fragen, obwohl ich doch auch so gerne Ohrringe tragen wollte.
Die Schulzeit ging langsam, aber sicher zu Ende. Die Mitschülerinnen lernten mit der Zeit mit Farbe umzugehen, so dass ich ihnen die eine oder andere Art Schminktechnik abschauen konnte. Leider war es mir nicht möglich, mich in irgendeiner Form zu outen.
Die Angst, verstoßen, gehänselt oder verraten zu werden, war riesig. 30 Jahre später haben sich meine Ängste bestätigt. Auf einem Klassentreffen stelle ich meinen Schulfreundinnen von damals die Frage: „Hättet ihr mich in der Schulzeit als Frau bzw. Mädchen akzeptiert?“ Die meisten haben ehrlich geantwortet, dass sie mich wahrscheinlich, ohne die heutigen Informationen, nicht akzeptiert und massiv gemobbt hätten.
Damals hatte ich auch nicht den Wissensstand, erkennen zu können, was überhaupt mit mir los war und was Transsexualismus ist oder bedeutet. So erlebte ich meine Pubertät und musste mit dem Ergebnis von Mutter Natur leben.
Ich begann eine Lehre zum Radio- und Fernsehtechniker in einem Handwerksbetrieb. In dieser Zeit hatte ich sehr viel mit anderen Menschen zu tun, so dass ich bei Kundenbesuchen einiges, - wie Bewegungen, Kleidung und Schminktechniken, abschauen konnte.
Aber zwischen Arbeit und Schule war sehr wenig Zeit für mich persönlich übrig. Das Gitarre-Spielen gab ich auf, da die Zeit einfach nicht mehr ausreichte. Die wenige Freizeit am Wochenende war mit Freunden verplant.
Immer im Hintergrund standen die Eltern und ihre Kontrolle bei allem, was ich tat und ließ.
Funktionierte ich nicht so wie gewünscht, gab es Stress. Der beliebteste Spruch war: "Solange du deine Füße unter meinem Tisch hast, tust du das, was wir wollen!"
Eines Abends kam meine Mutter von der Arbeit nach Hause. Sie hatte einen Ohrring von ihrer Kollegin dabei, der repariert werden sollte. Die kleine Lötarbeit war schnell erledigt und ich nutzte die Gelegenheit sofort aus. Schnell war ich im Bad verschwunden und hatte den Ring schon im Ohr. Phantastisch.
Da ich keine Ahnung hatte, was ich da tat, kam es, wie es kommen musste. Ich hatte das Teil einfach in das Ohrläppchen gedrückt, leider zu hoch, so dass ich eine Ader getroffen hatte. Das Blut kam, ich konnte den Kopf gerade noch über das Waschbecken bringen und zog den Ohrring wieder heraus. Ich hatte Angst, dass meine Eltern etwas mitbekommen - und hatte Glück, dass die Blutung langsam nachließ.
Nach der Lehre und der Wehrdienstzeit gab es auf einmal die Möglichkeit, dem Gefängnis ab und zu entfliehen. Ich hatte zum ersten Mal ein eigenes Auto gekauft, durch meine Arbeit eigenes Geld und somit viel mehr Optionen, mein Ich auszuleben und - was noch wichtiger war - zu verstecken. Zum ersten Mal bekam ich die Möglichkeit, Kleidung, Schuhe, eine Perücke zu kaufen und in meinem Auto zu deponieren. Außerhalb des elterlichen Zugriffs sind nächtliche Ausflüge mehrmals pro Woche nun möglich geworden.
Auch wenn ich noch zu Hause wohnte, hatte ich endlich eine Chance gefunden, ich zu sein und ein bisschen mein Leben zu leben.
Zu dieser Zeit versuchten einige Freunde von mir, mich mit einer Bekannten zu verkuppeln. Ich hatte ja bis zu dieser Zeit noch keine Freundin gehabt und zu meiner gerade erst gewonnenen Freiheit passte das auch nicht. Nein, ich wollte nicht.
Die Ausflüge, jetzt auch tagsüber, wurden häufiger. Meist zog ich mich im Auto um, schminkte mich so gut es ging und suchte mir Plätze, wo ich niemandem begegnen würde. Wenn es doch zu Begegnungen mit anderen Leuten kam, versuchte ich schnell zum Auto zu kommen und zu flüchten.
Die Angst war groß. Die Menschen verstanden mich nicht, lachten, verstießen mich, auch wenn sie mich doch gar nicht kannten, so glaubte ich auf jeden Fall. Das Kopfkino hatte mich voll im Griff und ich wollte Begegnungen mit anderen Menschen unbedingt verhindern.
Meine Eltern hatten keine Ahnung, was ich so machte. Das Leben war viel einfacher geworden - und dann kam der August 1989. Mein Leben änderte sich auf einen Schlag. Es war die Zeit, in der ich meine jetzige Frau kennenlernte. Es war etwas ganz Neues, ein Gefühl, das ich vorher nicht gekannte hatte. Und ich tat alles, dass es nicht endete. Dazu kam die Angst davor, was geschähe, wenn sie von meinem Frausein erfahren und alles zu Ende sein würde, bevor es richtig begonnen hatte.
Alles, was ich bis dahin gekauft hatte, verschwand sofort im Müll. Nicht ein Teil durfte mich verraten, niemals.
Nach einiger Zeit zogen wir in eine gemeinsame Wohnung. Alles war gut. Kein Stress mehr mit den Eltern, Neues entdecken und Gefühle erleben, die vorher nie dagewesen waren.
Mit der Zeit fehlte mir etwas, so dass ich Karneval vorschlug, mich als Frau zu verkleiden. Das war unauffällig und für einen Moment war es wie früher.
So verging die Zeit, eine neue Wohnung, Autos, Urlaube, die einen oder anderen Krankheiten und immer ein klein bisschen Frausein im Stillen, ohne dass etwas zu merken war. Mehr traute ich mich nicht. Der gemeinsame Kinderwunsch erfüllte sich nicht und wir versuchten die Ursache zu finden. Ich ging bewusst zu einer Urologin.
Sie war transident, Mann zu Frau, und schon lange in ihrem Leben angekommen. Leider fehlte mir der Mut sie einfach nach dem zu fragen, was ich wissen wollte. Die Informationsdichte wie heute war leider noch nicht da und es fiel sehr schwer, andere auf das Thema anzusprechen, selbst wenn sie offensichtlich eine große Erfahrung weitergeben konnten.
Der Druck, einfach mal als Frau auszugehen und etwas zu unternehmen, wurde immer größer.
Trotzdem versuchte ich meine Beziehung zu Silvia, die immer enger und fester wurde, auf keinen Fall zu gefährden.
Immerhin gab es, als Silvia auf einer Fortbildung war, die Chance mein Frausein auszuprobieren, allen Mut zusammenzunehmen und einen Abend als Frau ins Kino zu gehen. Natürlich war alles an weiblicher Kleidung zuvor im Müll gelandet.
So kaufte ich mir einen Jeansrock, ein paar Ohrklipps und ein Top, welches ich unter einem hellen Blazer trug, den ich mir von Silvia ohne ihr Wissen ausgeliehen hatte. Ein Paar schwarze Pumps hatte ich noch von einer Karnevalfeier zurückbehalten. Eine rothaarige Perücke erstand ich für kleines Geld in einem Fachgeschäft, da ich ja eine neue für unsere Theatergruppe brauchte, ein Vorwand, der die Sympathie der Verkäuferin erwarb. So konnte ich einen guten Rabatt aushandeln.
Natürlich war ich noch nie in einer Theatergruppe gewesen, aber um meine Neigungen zu vertuschen, musste ich damals einiges verstecken oder auch erfinden, so dass ein Outing unwahrscheinlich war.
Ich machte mich also für den Ausflug fertig. Zum Kino musste ich ein paar Minuten laufen und kam dabei an einigen mir unheimlichen Ecken vorbei. Es war ja schon Abend und ich hatte Angst in unkontrollierbare Situationen zu kommen.
Glücklicherweise erreichte ich das Kino und suchte mir einen Film aus, kaufte eine Karte für „JFK“ und betrat den Kinosaal, der schon gut gefüllt war.
Beachtet hatte mich wohl niemand.
Umso überraschter war ich, dass etwa nach 90 Minuten, mitten im Film, das Licht anging. Den kurzen Hinweis an der Kasse, dass der Film Überlänge hat, muss ich wohl überhört oder total verdrängt haben.
Panik kam in mir auf. Die Reihen kamen in Bewegung, doch ich wollte nicht hinaus, wo mich die anderen Besucher gemustert hätten. Das Kopfkino arbeitete in diesem Moment auf Hochtouren. Um mich abzulenken nahm ich einen kleinen Taschenspiegel und sah, dass mein Lippenstift fast weggerieben war. Dafür hatten sich die Schneidezähne entsprechend verfärbt, da ich mir in meiner Nervosität ständig, auf die Unterlippe gebissen hatte. Also Taschentuch gezückt, Zähne gereinigt und ordentlich den Lippenstift erneuert. Nun konnte der Film weitergehen.
Natürlich musste ich wieder zurück zu meinem Auto. Die gleichen unwirklichen Straßen, die gleiche Angst entdeckt zu werden, nur wesentlich später in der Nacht. Glücklich kam ich wieder zu Hause an, legte die Kleidung ab und musste erst einmal duschen. Es war in allen Belangen aufregend und, im Nachhinein, unvernünftig. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen.
Der Entschluss stand fest: So geht es nicht und der Rock, die Schuhe, das Top, die Ohrklipps und die Perücke flogen wieder in den Müll - nichts ist passiert und es kann auch nichts mehr passieren.
Es war aufregend, schön, aber auch gefährlich nachts solche abenteuerlichen Ausflüge zu versuchen. Es musste einen anderen Weg geben mein Frausein zu erleben. Zum Glück habe ich nie wieder einen ähnlichen Ausflug gewagt.