Nebelfäden - C. Greene - E-Book

Nebelfäden E-Book

C. Greene

5,0

Beschreibung

Lara, die am ersten Tag ihres neuen Jobs feststellt, dass in der lukrativen Seidenfabrik einige Geheimnisse verborgen sind. - Tom, der seine Frau sucht und etwas ganz anderes findet. - Eve, die genau weiß, wo sie hin soll, aber nicht, wie sie an dem Schatten vorbei kommt. -- Diese und sechs andere Kurzgeschichten führen den Leser auf eine immer neue Reise. Spannend und mysteriös, stellt jede Geschichte die entscheidende Frage: -- Wo, in all dem Nebel, ist der Weg zu uns selbst? --- Eine Liste mit möglichen Auslösereizen (Triggern) gibt es auf http://www.wordsiweave.com/nf-trigger/

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Seitenzahl: 156

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Kaddy

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

In der Kürze liegt die Würze. Das trifft auf diese Geschichten auf jeden Fall zu! Sie reißen einen mit und regen auch zum Nachdenken an. Super Stories.
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Nebelfäden

NEUN KURZGESCHICHTEN

C. GREENE

»Nebelfäden - Neun Kurzgeschichten«

3. überarbeitete Auflage, April 2022

© Alle Rechte vorbehalten

C. Greene, c/o autorenglück.de, Franz-Mehring-Str. 15, 01237 Dresden

www.wordsiweave.com

Umschlag und Zierden: Sarah Scheumer , www.sarahscheumer.de

ISBN: 978-3-98510-826-8

ISBN Taschenbuch: 978-3-98595-251-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Eine Liste mit möglichen Auslösereizen (Triggern) befindet sich auf der letzten Seite.

Für Uwe,

der mir gezeigt hat, dass ich Flügel habe.

Und Sophie,

die mir gezeigt hat, dass ich sie benutzen kann.

Und für Dich, lieber Leser,

der du den Flügelschwingen lauschst.

Inhalt

Ein paar Worte der Autorin

Seidenfein

In Tenebris Veritas

Temporale Versetzung

42 Grad Celsius

Zahlen, Daten, Fakten

Immer

Last Eve

Weißer Hase

Zwischen den Stühlen

Danksagung

Über die Autorin

Ein paar Worte der Autorin

»Es fühlt sich an, als würde ich in den Nebel greifen und jedes Mal einen neuen Faden – eine neue Geschichte – herausholen. Die Fäden sind alle lose, getrennt voneinander und doch vereint dadurch, woher ich sie geholt habe.«

Wenn mir jemand Mitte 2016 erzählt hätte, dass ich kaum ein Jahr später eine Anthologie herausbringen würde, hätte ich ihm nicht geglaubt. Ich wollte nur ein paar Geschichten schreiben und sie einmal pro Monat auf meiner Website veröffentlichen, um vielleicht den einen oder anderen Leser zu finden.

Ich verfolgte verschiedenste Ideen, probierte mich aus, und was anfangs wie eine zusammenhangslose Sammlung an Gedankenfetzen erschien, fügte sich später zu einem Gesamtbild zusammen. Denn alle Geschichten, egal welchem Genre man sie zuordnen würde, kreisen um wenige Kernfragen:

Wer sind wir, wenn niemand zuschaut? Welche Entscheidungen treffen wir aus welchen Gründen? Was tun wir wirklich freiwillig und wann gaukeln wir uns den freien Willen vor? Kurz:

Wo, in all dem Nebel, liegt der Weg zu uns selbst?

Die Erstauflage der Anthologie beinhaltete neun Kurzgeschichten. In dieser Neuauflage habe ich nach jeder Geschichte einige meiner Notizen zusammengefasst, um einen kleinen Einblick in die Ideen, Inspiration und Gedanken dahinter zu geben.

Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Notizen Details der Geschichten beinhalten – und so spoilern können. Lies die Story Notes also am besten wirklich erst, wenn du die jeweilige Geschichte schon gelesen hast.

Viel Spaß!

Das Wärterhaus neben dem Eingangstor war nicht besetzt, doch direkt neben dem Fenster war ein Scanner angebracht, der wahrscheinlich für die Zugangskarte gedacht war.

So eine hatte in dem Umschlag gelegen, den Lara erhalten hatte. Sie kramte die Karte heraus und hielt sie an das Gerät.

Nichts rührte sich.

Sie versuchte es erneut und bemerkte erst dann, dass das Lämpchen an dem Scanner nicht leuchtete. Das Ding war außer Betrieb.

»Hallo?«, fragte sie. Keine Antwort.

Versteckt neben dem Wärterhaus war eine kleine Tür in das Tor eingelassen. Vorsichtig drückte Lara dagegen und entgegen Laras Erwartungen ließ sie sich ohne Probleme geräuschlos aufschieben.

Unfassbar. So ein großes Unternehmen, und dann kein Wärter, kein funktionierender Scanner und obendrein eine offene Eingangstür? Gut, sie sollte erst morgen hier erscheinen, aber es konnte doch jederzeit ein Gast kommen und niemand war da, um ihn zu empfangen.

Vielleicht waren ja alle panisch damit beschäftigt, die Zugangsbeschränkungen zu reparieren.

Lara nutzte die offene Tür und trat auf das Gelände. Mit der Tasche in der einen und dem Umschlag in der anderen Hand marschierte sie auf das Gebäude zu, das ihr auf dem Lageplan markiert worden war. Dort, so hieß es im Anschreiben, konnte sie ihre Sachen verstauen und auf ihre Ansprechperson warten. Abgesehen von diesem Gebäude befanden sich auf dem Gelände drei große Lagerhäuser.

Da würde Lara arbeiten.

Der Gedanke war so beängstigend wie aufregend.

Die Tür zu dem Hauptgebäude war nur angelehnt und Lara trat in den dunklen, kühlen Flur.

»Hallo?« Auch hier war alles still. Ein kurzer Blick nach rechts zeigte eine Küche, linkerhand befand sich eine steile Treppe ins Obergeschoss. Der Anweisung im Umschlag nach, lag ihr Zimmer mit der Nummer 102 dort oben, also stieg sie die Treppe hinauf.

Ihren ersten Arbeitstag hatte sie sich anders vorgestellt. Sie hatte immerhin ihre feinsten Sachen angezogen, auch wenn ein geübtes Auge sofort erkennen würde, dass die Bluse am Kragen einen Fleck hatte, der sich nicht mehr herauswaschen ließ und den sie unter dem Jackenkragen versteckte. Ihre Mutter hatte – in ihrem üblichen Übereifer – das Logo der Spider Silk Farms auf die Brusttasche der viel zu großen Jacke gestickt. Das zeuge von Unternehmensverbundenheit, hatte sie gesagt, und sie hatte beteuert, dass dies eine wichtige Qualität war, nach der Firmen in einem Arbeitnehmer suchten.

Lara fand ihr Zimmer sofort. Eine Nummerierung war überflüssig, denn vom Gang gingen nur drei Zimmer ab. Der Masse an Bewerbern bei dem Vorstellungsgespräch nach zu urteilen, hatte sie mehr Zimmer erwartet.

Und im Allgemeinen mehr Menschen.

Das Zimmer war klein, und hatte nur ein winziges Fenster. Das Bett füllte fast die gesamte Länge der rechten Wand aus und darauf lag ein offener Rucksack. Hosen, T-Shirts und Boxershorts lagen auf Bett und Fußboden, als ob jemand eilig nach etwas gesucht und dabei den Inhalt vollständig im Raum verteilt hatte.

Anscheinend war sie nicht die einzige Neue hier. Sie verglich die Zimmernummer an der Tür mit der Nummer auf dem Anschreiben. Nein, das hier war wirklich ihr Zimmer.

Wie blöd musste man sein, bei nur drei Möglichkeiten ausgerechnet das falsche Zimmer zu belegen?

Gegenüber vom Bett befand sich ein Waschbecken. In dem vergilbten Spiegel darüber prüfte Lara noch einmal ihr Erscheinungsbild. Sie hatte ihre braunen Haare nach hinten gesteckt und fuhr sich noch einmal kurz darüber, um die durch die Feuchtigkeit kraus gewordenen Härchen wieder glatt zu streichen. Die Perlenohrringe ihrer Großmutter hatte sie als Glücksbringer angelegt, aber sonst auf Schmuck und Make-Up verzichtet. Ihre Schuhe waren hübsch, aber flach – schließlich wusste sie noch nicht, was genau in ihren Aufgabenbereich fallen würde. Man erzählte sich, dass die Arbeit auf den Seidenfarmen eher fließend verteilt wurde. Was anfiel, wurde von allen erledigt.

Lara ging zurück nach unten und stellte ihre Tasche in der Küche ab. Die Sache mit dem Zimmer könnte sie auch noch heute Abend klären, wenn sie erstmal die anderen gefunden hatte. Es gab offensichtlich viel zu tun, wenn sie bis jetzt noch niemanden angetroffen hatte.

In den Unterlagen, die das Unternehmen Lara mit der Jobzusage zugesandt hatte, stand etwas von einer der Lagerhallen, in die sie zuerst gehen sollte. Sie steckte den Umschlag in ihre Tasche zurück und machte sich auf die Suche nach einem Vorgesetzten. Irgendjemand musste doch hier das Sagen haben. Und dieser jemand würde sich sicherlich freuen, wenn die Neue schon einen Tag eher da war.

Die Seidenfarm hier im Süden der Stadt war die kleinste der fünf Farmen des Unternehmens. Sie bestand aus lediglich drei Lagerhäusern, die Lara schon flüchtig gesehen hatte, und in denen die Seide produziert wurde. Durch ihre besondere Struktur hielt das daraus gewebte Material Wärme und Kälte vom Körper ab, schützte vor UV-Strahlung und passte sich perfekt an die Figur des Trägers an. Es war die Seide, die jeder trug, der über genügend Geld verfügte.

Lara gehörte definitiv nicht dazu.

Die Eingangstür der benannten Lagerhalle führte zunächst in einen kleinen, weißen Vorraum, von dem aus zwei weitere Türen abgingen. Lara klinkte an der Tür zur Halle, doch sie öffnete sich nicht. Der Scanner neben der Tür blinkte grün. Verdammt, die Zugangskarte. Sie hatte alle Unterlagen in den Umschlag zurückgesteckt und der befand sich, mit ihrer Tasche, noch im Haupthaus.

Nun gut, vielleicht brauchte sie die auch nicht sofort. Neben der anderen Tür befand sich kein Scanner, und sie ließ sich auch ganz einfach öffnen. Sie führte in ein Treppenhaus und Lara beschloss, ihre Suche zunächst hier fortzusetzen.

Auch im Treppenhaus war es außergewöhnlich still. Langsam musste sie doch jetzt mal auf einen ihrer Kollegen treffen. Spider Silk suchte ständig neue Leute und, zumindest in der Gegend, aus der Lara stammte, arbeitete mindestens einer von jeder Familie für das Unternehmen. Wo waren die denn alle?

Die Treppe führte sie in ein Obergeschoss und zu einer weiteren Tür mit Zugangsscanner. Doch hier brannte, genau wie beim Tor, kein Lämpchen und die Tür ließ sich problemlos aufdrücken.

Lara trat durch die Tür auf einen verglasten und mit einem Gitter verstärkten Gang, der rings herum an der Hallenwand innerhalb der Lagerhalle verlief. Die Halle musste um einiges gekühlt sein, denn trotz des Glases drangen eisige Temperaturen zu ihr durch. Jetzt war sie froh, ihre Jacke vorhin nicht im Haupthaus liegen gelassen zu haben.

Als sie durch das Glas nach unten schaute, erblickte sie einen Wald voll weißer Türme. Das war sie also, die mysteriöse Spinnenseide, aufgewickelt in meterhohe Kokons. Wie viele Spinnen wohl in einem solchen Kokon lebten? Lara hatte immer gedacht, Spinnen wären Einzelgänger, die sich nur zur Paarung zusammenfanden. Doch diese Kokons waren so riesig, dass sie von hunderten Spinnen erbaut worden sein mussten.

Etwa zehn Kokons zählte sie in der Halle, die – abgesehen von einigen staubigen Spinnweben hier und da – überraschend sauber aussah. Bis auf die hinterste Ecke, die Lara erst jetzt bemerkte. Ein riesiges Nest war dort gesponnen, sicherlich dreimal so groß wie einer der Kokons, und es war dunkel und dreckig.

Eine Tür öffnete sich unterhalb Laras Füßen und fiel mit einem lauten Krachen sofort wieder ins Schloss. Endlich war da jemand. Lara klopfte aufgeregt an die Glasscheibe, doch das Geräusch klang dumpf.

»Wow«, hörte sie die Stimme eines jungen Mannes. »Das ist ja irre.«

Die Stimme kam von der oberen Ecke des Glasgangs und als Lara genauer hinsah, entdeckte sie einen Lautsprecher. Das Glas war anscheinend so dicht, dass kein Geräusch durchkam.

Der Mann trat nun weiter in die Halle hinein. Bedächtig streichelte er einen der Kokons, als könne er kaum glauben, sie berühren zu dürfen. Anscheinend war er auch neu hier und wurde gerade eingewiesen. Das erklärte, warum Lara bis jetzt niemanden gesehen hatte. Sie war zwar einen Tag zu früh, aber doch zu spät für die Einweisung.

Das würde den guten ersten Eindruck wieder zunichtemachen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Lara eine Bewegung in der Halle, hinten in dem riesigen Netz. Es ruckelte und wackelte und schien sich irgendwie zu öffnen. Die dunkle Farbe war keineswegs Dreck, wie Lara nun bemerkte. Sie war ein Schatten.

Ein Schatten von dem, was jetzt daraus hervortrat.

Eine Spinne.

Eine Spinne, die größer war als eine Spinne das Recht zu sein hatte. Lara war, zugegebenermaßen, keine Leuchte in Biologie gewesen, doch von solchen Spinnen hätte sie sicherlich gehört. Vogelspinnen galten als die größten Spinnen der Welt, und sie waren etwa handtellergroß.

Doch diese Spinne hier war mindestens zwei Meter groß – nur ein bisschen kleiner als die Kokons in der Halle.

Die Kokons, in denen wahrscheinlich doch keine Spinnenkolonien lebten. Das waren wohl eher Netze für ihre Riesenspinnenkinder.

Lara schüttelte sich.

Die Spinne bewegte sich scheinbar lautlos auf den jungen Mann zu. Der war gerade noch damit beschäftigt, die Größe der Kokons zu bestaunen, als er die Spinne entdeckte.

Er sagte nichts. Von hier oben konnte Lara seinen Gesichtsausdruck nicht lesen, doch sie hörte seine zögerlichen Schritte rückwärts auf die Tür zu. Er klinkte. Sie öffnete sich nicht.

»Hey«, rief er. Die Spinne zuckte hinter einem Kokon zurück. Er atmete auf. Doch, für ihn nicht sichtbar, wich die Spinne nun zur Seite aus. Lara klopfte wieder gegen das Glas, doch es verhallte dumpf. Nicht mal die Spinne blickte zu ihr auf.

»Hallo«, rief der junge Mann, diesmal auf die Tür gerichtet. Von innen gab es keinen Scanner, das hatte er nun bemerkt. Seine Stimme nahm einen leicht panischen Unterton an. »Hallo, die Tür! Die Tür klemmt!« Er hämmerte dagegen, doch sie öffnete sich nicht. Er klinkte erneut, wieder und wieder.

Die Spinne unterdessen hatte sich lautlos ihren Weg durch die Kokons gebahnt. Lara schlug die Hand vor den Mund. Sie musste etwas tun. Sollte sie zurück ins Haupthaus, ihre Karte holen? Oder lieber jemanden finden, der hier arbeitete? Warum kam niemand?

Der junge Mann hatte die Spinne nun gesehen und ließ sich langsam, die Hände beschwichtigend vor sich gehalten, rückwärts in die Halle drängen. Nein. Lara schüttelte den Kopf. Sah er nicht, dass sein Weg zur Tür nun abgeschnitten war?

»Hallo du«, sagte er ruhig. »Ich tu dir nichts. Ich bin auch gleich wieder weg. Ich muss nur kurz da zu der anderen Tür. Ganz ruhig.«

Die andere Tür, die Lara gar nicht bemerkt hatte, lag hinten in der Halle, direkt neben dem riesigen Spinnennetz. Und daneben war ein Scanner für die Zugangskarte. Dieses Unternehmen musste wirklich in die Sicherheit investieren.

Lara stand noch immer wie erstarrt auf der Anhöhe. Sie sollte jemanden holen. Doch wen? Etwas rufen. Doch was? Irgendwas.

Die Spinne, so riesig und doch wendig, folgte dem jungen Mann durch die Halle, trieb ihn hierhin und dorthin. Zur Tür, ja, aber auch direkt in den dichten Kokon-Wald hinein. Und dort, zwischen den Kokons, sah Lara im letzten Moment etwas schimmern.

Er schrie auf, als sein Rücken gegen das Netz stieß. Er versuchte sich loszureißen, doch die Fäden klebten an ihm, zerrten ihn weiter und weiter in sich hinein. Mit jeder Bewegung verbanden sie sich fester miteinander. Der Mann war gefangen, in der Mitte der Halle, zwischen zwei Kokons. Er schrie lauter und kämpfte gegen das undurchdringliche Netz.

Die Fäden sind reißfest, dachte Lara, während die Spinne sich bedächtig ihrer Beute näherte und in Windeseile mehr Fäden spann.

Dann verstummte das Schreien plötzlich.

Binnen Sekunden war von dem jungen Mann nichts mehr zu sehen. Nur ein Kokon, gut zwei Meter hoch, in blütenreinem Weiß.

»Du bist ja hardcore.« Lara zuckte zusammen, drehte sich und stolperte über ihre eigenen Füße. Sie landete hart auf dem Fußboden. Vor ihr hatte sich ein Kerl aufgebaut, etwas älter als sie, mit breiten Schultern und noch breiterem Stand. Seine blonden Haare standen wüst in alle Richtungen ab. Auf seiner Jacke war das Spider Silk Symbol aufgestickt.

Zu ihrer Überraschung lachte er.

»Mensch«, sagte er, »du bist ja eine. Guckst dir ohne Probleme die Futterzeit unserer lieben Gerda da an, aber beim leisesten Geräusch kippst du aus den Schuhen.« Er reichte ihr die Hand und half ihr zurück auf die Füße.

»Der Typ hätte eigentlich gestern schon anreisen sollen,« fuhr er fort. »Für morgen ist eine weitere Futterration angesagt. Nicht für Gerda, klar. Aber trotzdem. Ich habe immer gern einen Tag Zeit dazwischen. Die Arbeit wird ja nicht weniger. Ich bin übrigens Carl.«

Er hielt ihr die Hand noch einmal hin und Lara schüttelte sie zögerlich.

»Und du bist…?«

»Oh, ich bin… die Neue. Lara.«

»Die Neue? Oh wow. Das haben die mir da oben gar nicht gesagt! Aber dich schickt der Himmel. Seit Monaten bettele ich, dass noch jemand mit anpackt. Seit Monaten. Das schafft ja keiner alleine. Kaum zu glauben, dass sie mich endlich erhört haben.«

»Du bist hier allein?« fragte Lara. Ihre Stimme klang anders, so fremd, so normal zugleich. Was hatte sie dort eben gesehen?

»Ja, kaum zu glauben, oder? Kein Budget, sagen die immer. Aber mal ehrlich, wir produzieren hier die teuerste Seide der Welt und die können nicht mal zwei Leute hier beschäftigen, die dafür sorgen, dass unsere Spinnchen glücklich sind?« Hatte er eben Spinnchen gesagt?

»Kaum zu glauben«, hauchte Lara. Carl führte sie durch das Treppenhaus hinunter und aus der Lagerhalle. Lara erschauerte als sie nach draußen in die trockene Hitze trat. Ein Mensch war da drinnen. Eine Riesenspinne war da drinnen. Und die Kokons …

»Wir werden erst heute Abend aufräumen und ernten. Jetzt ist Gerda noch zu aufgeregt. Wo kommst du eigentlich her?«

»Norden.« Lara hatte sich angewöhnt, ihre Herkunft nicht weiter zu spezifizieren. Das Viertel, aus dem sie stammte, war als das ärmste Ghetto der ganzen Stadt verschrien. Nicht zu Unrecht, das musste sie zugeben. Doch wann immer sie ihre Adresse angab, hoben die Leute ihre Augenbrauen und aus einem vielversprechenden Bewerbungsgespräch wurde plötzlich ein, »Wir suchen niemanden.« Wie sollte es da besser werden für die Menschen in ihrem Viertel? Der Job hier war ein Geschenk des Himmels.

»Von der Nordfabrik? Was hast du denn verbrochen, dass sie dich hier her versetzt haben? Na ja, mir soll’s egal sein. Aber hier wirst du ein bisschen mehr anpacken müssen als du gewöhnt bist.«

Lara setzte an, ihm zu widersprechen. Nicht aus der Nordfabrik, sondern … Nein, das sollte sie vielleicht nicht erwähnen.

Carl ging direkt ins Haupthaus in das Zimmer, das Lara eigentlich bewohnen sollte. Beim Anblick des Bettes seufzte er.

»Erst zu spät kommen und dann noch so eine Unordnung hinterlassen. Sowas kann ich vielleicht leiden.« Er begann, die Sachen auf dem Bett achtlos zurück in den Rucksack zu stopfen. Nach einem Moment sah er Lara an. »Bist du da um zu helfen oder um zuzuschauen?«

Zögerlich widmete Lara sich dem anderen Ende des Bettes. Unter einer Reihe von Elektronik fand sie einen Umschlag, dessen Inhalt sie auf die Bettdecke schüttete.

Der Brief darin sah genauso aus wie der, der unten in ihrer Tasche lag. Es war derselbe Lageplan, dieselben Anweisungen. Unter dem Schreiben war noch der Klebestreifen für die Zugangskarte.

Carl hatte gesagt, für morgen sei noch ein Neuankömmling geplant.

Lara sollte eigentlich erst morgen anreisen.

Carl wusste nichts von einer neuen Hilfe.

Aber für so etwas wurden doch keine Bewerbungsgespräche geführt, oder? Niemand führte ein Gespräch mit jemandem, den er …

Carl riss sie aus ihren Gedanken, indem er ihr das Papier aus der Hand nahm.

»Du machst mich fertig, Mädchen. Du willst jetzt hoffentlich nicht noch eine Trauerfeier abhalten? Was macht ihr denn den ganzen Tag da oben?«

»Ich … wir …« Lara holte tief Luft und stählte sich. »Ich musste so etwas noch nie machen.« Es war wenigstens keine Lüge.

Carl schüttelte seufzend den Kopf.

»Das sehe ich.« Er deutete auf ihre Schuhe. »Bürojob, nehme ich an? Tja, tut mir leid, aber hier musst du alles machen. Auch aufräumen.«

Lara nickte. Sie griff nach den restlichen Sachen des jungen Mannes und folgte Carl hinaus. Hinter dem Haupthaus befand sich eine tiefe, brunnenähnliche Grube, in die Carl ohne zu zögern den Rucksack warf. Lara tat es ihm nach.

»Der erste ist immer der schwerste«, sagte Carl und zeigte auf das Tablet, das vor ihr an dem Grubenrand angebracht war. »Den roten.«

Lara tippte auf den roten Button auf dem Bildschirm. Unter ihr zischten Flammen aus den Grubenwänden.

Binnen Sekunden war von dem Rucksack nichts mehr erkennbar.

Als Lara Carl erklärte, sie hätte keine Zugangskarte bekommen, seufzte er und murmelte etwas von inkompetenten Bürokraten. Er holte in der Küche eine Blanko-Karte aus einem Schubfach, zog sie über ein Tablet und reichte sie ihr dann.

»Das System hier hat seine Macken«, sagte er. »Es spinnt eben manchmal.« Er schaute Lara mit großen Augen an und lachte dann schallend über seinen eigenen Witz. Lara hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.