Never Coming Home - Kate Williams - E-Book
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Never Coming Home E-Book

Kate Williams

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Beschreibung

Spannender Jugendthriller um 10 Influencer:innen auf einer einsamen Insel, die zur tödlichen Falle wird. Für Fans von «The I-Land» und «One of Us Is Lying». Jeder kennt Unknown Island – es ist das exklusivste Reiseziel der Welt. Weiße Sandstrände, türkisfarbenes Meer, Luxusunterkünfte … Nur geladene Gäste dürfen kommen und niemand über einundzwanzig. Plus: Es ist absolut kostenlos. Wer würde also nicht hinwollen? Über eine virale Kampagne werden die Türen des Resorts zum ersten Mal und exklusiv für zehn ausgewählte Influencer:innen geöffnet. Jeder kennt sie: Da ist die Gamerin, die Beauty-Bloggerin, das Rich Girl, der Superstar, der Nachwuchspolitiker, die Umweltaktivistin, der DJ, die CEO, der Sternekoch und der Sportler. Was sie nicht wissen: Sie wurden nicht wegen ihrer Followerzahlen auf die Insel eingeladen. Jede:r von ihnen hütet ein tödliches Geheimnis, und es scheint, als hätte jemand entschieden, dass die Zeit der Rache gekommen ist. Unknown Island ist kein Urlaub, es ist eine Falle. Und es sieht alles danach aus, als würden diese zehn trotz all ihres Einflusses nie wieder nach Hause zurückkehren ... «Social media has never been this scary.» Kirkus Reviews

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Seitenzahl: 442

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Kate Williams

Never Coming Home

 

Aus dem Englischen von Bettina Münch

 

Über dieses Buch

 

 

Jeder kennt Unknown Island – es ist das exklusivste Reiseziel der Welt. Weiße Sandstrände, türkisfarbenes Meer, Luxusunterkünfte … Nur geladene Gäste dürfen kommen und niemand über einundzwanzig. Plus: Es ist absolut kostenlos. Wer würde also nicht hinwollen? Über eine virale Kampagne werden die Türen des Resorts zum ersten Mal und exklusiv für zehn ausgewählte Influencer:innen geöffnet. Jeder kennt sie: Da ist die Gamerin, die Beauty-Bloggerin, das Rich Girl, der Superstar, der Nachwuchspolitiker, die Umweltaktivistin, der DJ, die CEO, der Sternekoch und der Sportler.

Was sie nicht wissen: Sie wurden nicht wegen ihrer Followerzahlen auf die Insel eingeladen. Jede:r von ihnen hütet ein tödliches Geheimnis, und es scheint, als hätte jemand entschieden, dass die Zeit der Rache gekommen ist. Unknown Island ist kein Urlaub, es ist eine Falle. Und es sieht alles danach aus, als würden diese zehn trotz all ihres Einflusses nie wieder nach Hause zurückkehren ...

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Kate Williams machte sich als Autorin der Jugendbuchtrilogie «The Babysitters Coven» einen Namen und schreibt für verschiedene Zeitschriften wie z. B. «Cosmopolitan» oder «Elle». Sie lebt mit ihrer Familie in Kansas.

Für meine Eltern, die gute Krimis lieben

DIE ERSTEN ZEHN

Margot Bryant (643 K Follower) Die CEO

Gründerin und CEO, @Forbes 20 unter 20. Die Zukunft heißt @SHEmail.

Manuel de La Cruz (1,3 M Follower) Der DJ

Miami Nice jetzt im Stream. Ich erwarte euch.

Graham Hoffman (121 K Follower) Der Politiker

Ehemaliger Stadtverordneter von Minneapolis. Derzeit Princeton ’24. #jungeDemokraten

Xander Lee (22,4 M Follower) Der Sportler

Bin einfach froh, hier zu sein. (Jeremia 29,11)

Emma Jane Ohana (6,6 M Follower) Das Rich Girl

plannedparenthood.org/donate

Chelsea Quinn (12,9 M Follower) Die Beauty-Bloggerin

Lange Wimpern, hohe Standards. youtube.com/chelseaquinntutorials

Frankie Russh (130,6 M Follower) Der Superstar

All meine für euch, babes, linktree.com/frankierussh

Robby Wade (8,6 M Follower) Der Starkoch

Koch & Restaurantbesitzer von @filet_and_chops. Host@yungcheffintv

Justice Wilson (236 K Follower) Die Umweltaktivistin

There is no planet B #Klimastreik2022 #Abschlussklasse2023

Celia Young (13,6 M Follower) Die Gamerin

[email protected]

1. Kapitel

Du bist nicht mehr in Kansas. Das war einer der Sprüche, die Justice Wilson sofort dazu brachten, Leute als langweilig und unoriginell abzuschreiben, aber jetzt konnte sie nicht anders, als es selbst zu denken. Sie war um die halbe Welt geflogen, und der Spruch passte einfach.

Die Tropen drängten herein, sobald die Flugzeugtüren aufgingen. Feuchtheiße Luft, die das Gehen in eine Art Schwimmen verwandelte, und Palmwedel, die im Wind hin und her schwangen, als wollten sie Kunden anlocken, um ihnen einen billigen Gebrauchtwagen anzudrehen. Bei ihrer Abreise aus Kansas City, heute Morgen oder letzte Nacht oder wann immer sie in den ersten Flieger gestiegen war, entsprach die Farbe des Himmels dem Asphalt, die Leute waren blass, und es war kalt gewesen. Aber nun war sie von Hitze und den wildesten Farben umgeben: türkisfarbener Himmel, smaragdgrüne Blätter, Menschen mit goldbrauner Haut, Flugpersonal in floralen Stoffen, mit Blumen hinterm Ohr oder am Hemd. Von Orten wie diesem hatte Justice immer geträumt, aber, meine Güte, war das heiß!

Sie richtete das Tuch, das sie um den Kopf gewickelt hatte, und fächelte sich Luft in den Nacken. Es war noch nicht mal sechs Uhr früh, aber die Sonne brannte bereits, und die Menschen vor ihr bewegten sich wie im Schlaf. Justice war zu aufgeregt, um genervt oder müde zu sein. Sie hatte drei Flüge und fast vierundzwanzig Stunden gebraucht, um hierherzukommen. Als sie den Reiseplan das erste Mal gesehen hatte, war es ihr angesichts der CO2-Bilanz eiskalt den Rücken hinuntergelaufen, aber man hatte ihr versichert, dass alles kompensiert werden würde. Sogar mehr als das, was nur einer der Gründe war, warum sie wusste, dass diese Reise es wert war. Ehrlich gesagt hätte sie die Reise auch ohne CO2-Ausgleich gemacht. Sie brauchte diesen Trip. Sie war noch nie weiter von zu Hause weg gewesen, und genau das wollte Justice gerade mehr als alles andere. Möglichst weit weg von zu Hause sein.

Ihr blieben noch mindestens ein paar Stunden, ehe ihre Eltern merken würden, wohin sie verschwunden war. Dann konnte ihr Vater mit Hausarrest drohen, ihr das Auto wegnehmen oder verlangen, dass sie nach Hause kommen sollte, es würde nichts nützen, denn sie wäre dann außer Reichweite, auf einer Privatinsel, auf der kein Flieger startete oder landete. Es war leichter, um Vergebung als um Erlaubnis zu bitten, und wenn Justice nach ihrer Woche im Paradies zurückkam, würden sogar ihre verklemmten Eltern einsehen, dass die Reise nach Unknown Island das Beste war, was sie für ihre Zukunft hätte tun können.

Endlich kam Bewegung in die Schlange. Justice stieg die Flugzeugtreppe hinab auf das betonierte Rollfeld, von dem die Hitze in Wellen abstrahlte. Sie trat zur Seite, stellte ihren Koffer ab und zog den Griff heraus, dann ging sie hinüber ins Flughafengebäude. Sie hatte mit einer Klimaanlage gerechnet, deshalb war sie überrascht, als sie durch die Türen trat und feststellte, dass es drinnen noch feuchter und stickiger war als draußen. Sie musste grinsen, als ihr das klar wurde, und sie lachte leise über sich selbst. Manchmal war sie wirklich eine echte Amerikanerin: zu erwarten, dass alles bequem und komfortabel war, mit einem Starbucks an jeder Ecke und einem UPS-Paketwagen in jeder Straße.

Sie würde sich umstellen müssen. Wenn sie eine richtige Klimaaktivistin werden wollte, wie sie es vorhatte, würde sie viel Zeit in Ländern des globalen Südens verbringen. Moment, war das hier eins davon? Wahrscheinlich nicht, denn trotz der fehlenden Klimaanlage machte der Flughafen einen ziemlich guten Eindruck.

Justice zwang sich, ihr Handy zu ignorieren, das in der Tasche ihres Handgepäcks steckte. Sie hatte es während des letzten Zwischenstopps kein einziges Mal eingeschaltet und widerstand auch jetzt dem Drang nachzuschauen, während sie die Zoll- und Passkontrolle absolvierte. Aufs Handy zu schauen, war aufregend, aber auch irgendwie beängstigend.

Sie fand eine Toilette, pinkelte, wusch sich die Hände und feuchtete ihr rotes Kopftuch an, bevor sie es sich wieder umband, was ein wenig Abkühlung brachte. Sie hatte während des Flugs ein bisschen schlafen können, deshalb war sie nicht allzu erschöpft. Trotzdem spürte sie, dass ihr Körper von der Zeitumstellung durcheinander war und nicht genau wusste, ob er essen, joggen oder aus den Latschen kippen wollte. Nachdem sie die Toilette verlassen hatte, rollte sie ihren Koffer zum Wartebereich, ließ sich auf einen leeren Stuhl fallen und trank einen großen Schluck Wasser aus ihre Thermosflasche, und erst dann gestattete sie sich, auf ihr Handy zu schauen.

Die Einladung war vor ein paar Monaten gekommen: eine kostenlose All-inclusive-Reise nach Unknown Island, einem hochkarätigen, exklusiven tropischen Resort. Rachel, die Pressesprecherin, mit der Justice telefonierte, hatte erklärt, dass Unknown Island für eine neue Art des Reisens stehe, die einem ermöglichen würde, dem Massentourismus aus dem Weg zu gehen und stattdessen mit handverlesenen Fremden zusammenzutreffen und sich auszutauschen. Justice sei eingeladen, Teil der Eröffnungsgruppe zu werden, einer kleinen, aber feinen Auswahl von zehn Influencer:innen der nächsten Generation. Der Slogan war vollmundig und kühn – Die Zukunft der Menschheit trifft auf die Zukunft des Reisens –, und auch wenn Justice es nur ungern zugab, fühlte sie sich ziemlich geschmeichelt, dass man sie in die Gruppe aufgenommen hatte.

Unknown Island habe sie ausgewählt, weil man der Überzeugung sei, dass gerade Justice mithelfen könne aufzuzeigen, wie ernst es ihnen mit Aspekten wie Nachhaltigkeit und Ökotourismus sei. Justice hatte Rachel eine Liste mit Content-Ideen geschickt, von denen die Pressesprecherin begeistert gewesen war. Sie hatte Justice sogar gesagt, man hoffe, dass dies der Beginn einer langfristigen Zusammenarbeit sein werde. Das hoffte Justice auch, denn diese Sache war vielleicht genau das Richtige, um sie auf der Warteliste für Harvard ganz nach vorn zu katapultieren.

Und dann sagten ihre Eltern natürlich Nein.

«Du bist erst siebzehn», erklärte ihre Mutter. «Du fliegst auf keinen Fall fast um den ganzen Globus, um mit einer Handvoll Fremder auf irgendeine Insel zu gehen.» Justice hatte versucht, erwachsen zu reagieren, und nicht darauf hingewiesen, dass sie, wenn sie einmal fast um den ganzen Globus flöge, am Ende nicht allzu weit von zu Hause ankäme.

Aber ihre Eltern hörten einfach nicht zu. Sie weigerten sich, weiter über die Sache zu diskutieren, weigerten sich, ihre Argumente anzuhören oder mit Rachel zu telefonieren, um im Detail zu erfahren, welche unglaubliche Gelegenheit sich Justice hier bot. Sie konnte förmlich spüren, wie ihr Harvard immer mehr entglitt, also hatte sie die Einverständniserklärung, die Rachel ihren Eltern schickte, selbst unterschrieben und zurückgesandt. Ihre Eltern hatten die ganze Sache vermutlich längst vergessen, trotzdem hielt Justice die Luft an, als sie ihr Handy wieder anschaltete und darauf wartete, dass es zum Leben erwachte, damit sie sich mit dem Gratis-WLAN des Flughafens verbinden konnte.

Sie entspannte sich, als sie sah, dass von ihren Eltern, die glaubten, sie verbrächte das Wochenende bei Nicole, keine Nachrichten eingetroffen waren. Doch dann begann ihr Handy zu summen und hörte einfach nicht mehr auf. Die Nachrichten strömten und sprudelten nur so herein, und Justice sah staunend zu, während ihr Herz mit jeder Nachricht schneller klopfte.

Obwohl das Resort noch nicht einmal eröffnet war, hatte Unknown Island bereits Millionen Follower. Zunächst war es in seinen Social-Media-Accounts selbst niemandem gefolgt – bis zum Vortag der Abreise, als Unknown Island anfing, seinen ersten zehn Gästen zu folgen. In der kurzen Zeit seitdem hatte Justice mehr Follower gewonnen, als sie zählen konnte, und die letzten beiden Dinge, die sie getan hatte, bevor sie in den Flieger stieg, waren, ein Video über Unknown Island zu posten, so, wie man sie angewiesen hatte. Und ihre Eltern zu blockieren.

Die Leute waren begeistert. Das Video hatte bereits mehr Kommentare erhalten als alles, was Justice je zuvor gepostet hatte. Natürlich gab es auch eine Menge Hate – manche bezeichneten sie als Heuchlerin, weil sie fanden, dass diese Art des Reisens verschwenderisch und der Natur gegenüber respektlos sei –, aber es gab auch massenweise Follower, die sie bestärkten und meinten, sie habe diese Reise verdient oder dass sie sie beneideten. Das war die Mehrheit der Kommentare, Leute, die zugaben, neidisch zu sein. Alle kannten Unknown Island, denn wer würde sich keinen kostenlosen Urlaub wünschen? Dass das Resort auch in Zukunft kostenlos bleiben würde, hatte stark dazu beigetragen, dass die Aufmerksamkeit der Welt auf Unknown Island gelenkt wurde. Das war eine ihrer größten Attraktionen: die hochkarätigen, handverlesenen Gäste, die allesamt ausgewählt wurden, weil sie den anderen Gästen – und der Welt – etwas zu bieten hatten. Niemand wusste, wem Unknown Island gehörte, und auf Justices Frage hatte Rachel nur geantwortet: «Ein milliardenschwerer Philanthrop, der anonym bleiben möchte.» Vielleicht Bill Gates oder Mark Zuckerberg, hatte Justice überlegt, das Thema aber nicht weiterverfolgt, aus Angst, sie könnte eine Grenze überschreiten und wieder ausgeladen werden.

Jetzt stand Justice auf, sah sich um und steckte das Handy wieder in die Tasche. Ihr bot sich hier eine Gelegenheit, die alles verändern könnte, und das hatte sie nötig. Sie machte sich auf den Weg, um die Person zu suchen, die sie abholen sollte.

 

Manny de la Cruz hatte auf einen Privatjet gehofft. Er war bisher nur einmal in seinem Leben mit einem PJ geflogen und nur noch einen #tbt-Post davon entfernt, wie ein Verlierer auszusehen, der verzweifelt die Vergangenheit ausschlachtete. Aber so schlimm war es nun auch wieder nicht, wem wollte er hier etwas vormachen? Erste Klasse war immer noch erste Klasse.

Er hatte Freunde, die noch nie in einem Flugzeug gesessen hatten. Außerdem hatte er ein super Foto von seinen Air Max 90’s gemacht, die unter einer Erste-Klasse-Decke hervorlugten. Das war nicht zu angeberisch, fand er. Es sah einfach so aus, als wollte er seine neuen Treter fotografieren, und nur der alte Mann neben ihm wusste, dass Manny fünf Minuten damit zugebracht hatte, die Decke so zu arrangieren, dass auch das Logo der Fluggesellschaft zu sehen war.

Aber ein Hubschrauber, das war cool. Vielleicht sogar noch cooler als eine Gulfstream. Als der Wagen durch das Tor fuhr und er den Heli auf dem Landeplatz stehen sah, spürte er, wie ihn die Aufregung packte. Das Ganze gab ihm das Gefühl, eine große Nummer oder ein Actionheld zu sein. Der Fahrer stieg aus und hielt ihm die Tür auf, dann holte er Mannys Tasche aus dem Kofferraum und stellte sie neben seinen Füßen auf den Boden.

«Danke, Buddy», sagte Manny. «Echt freundlich von Ihnen.» Er hielt dem Fahrer einen frischen Zehn-Dollar-Schein hin, der einmal längs in der Mitte gefaltet war, und der Mann nahm ihn mit einem Lächeln entgegen.

«Vielen Dank, Sir», sagte er. «Und gute Reise.»

Nur Sekunden, nachdem er aus dem Auto gestiegen war, begann Manny zu schwitzen. Er zog ein Tuch aus seiner Gesäßtasche und nahm die Baseballmütze ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Als jemand aus Miami war Manny an die Hitze gewöhnt, aber er war immer noch fürs Flugzeug gekleidet, trug Socken, Jeans und Hoodie. Hastig zog er den Hoodie aus und stopfte ihn in seinen Rucksack. Die Hitze erinnerte ihn an die Reisen zur Familie seiner Mutter, auch wenn diese Insel hier ganz anders war als alle anderen, die er je besucht hatte.

Er überquerte den Hubschrauberlandeplatz und spürte, wie mit jedem Schritt ein bisschen mehr Adrenalin aus seinem Körper wich. Er hatte die vergangenen zwanzig Stunden damit verbracht, sich permanent umzusehen und jeden ins Visier zu nehmen, in ständiger Erwartung, dass jemand von hinten auftauchen, ihn am Arm packen und sagen würde: «Sir, kommen Sie bitte mit.» Verdammt! Allein der Stress dieser Reise hatte ihn wahrscheinlich drei Jahre seines Lebens gekostet, aber es würde die Sache wert sein. Er hoffte, dass diese Reise den entscheidenden Anstoß geben und dafür sorgen würde, dass er den ganzen anderen Scheiß ein für alle Mal hinter sich lassen konnte.

Die Vertreterin von Unknown Island, mit der er gesprochen hatte, hatte ihm nie explizit gesagt, was er tun sollte, aber die Hinweise, die sie fallen ließ, waren klar und deutlich. «Hör zu», hatte Lindsey gesagt, «ich habe eine Menge Freunde in Miami, und alle sagen, dass es gut ist, einen Typen wie dich dabeizuhaben. Wir brauchen jemanden wie dich auf dieser Reise, um sicherzustellen, dass alle kriegen, was sie brauchen, damit es ihnen gut geht.» Natürlich. Damit hatte er Bescheid gewusst.

Lindsey hatte ihm mehrmals versichert, dass die Pass- und Zollkontrollen kein Problem sein würden, und sie hatte recht gehabt. Manny hatte gefürchtet, dass er den Beamten der Transportsicherheit vor die Füße kotzen würde, aber sie waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, über jemanden zu reden, der ständig seine Mittagspausen überzog, um ihm mehr als einen Blick zu schenken. Was den Zoll anging, hatte er erst gar niemanden zu Gesicht bekommen. Er hatte mit Lindsey immer nur am Telefon gesprochen, aber sie wirkte energisch und kompetent, und erst auf dem Weg hierher war Manny klar geworden, dass er sie nie gefragt hatte, wer ihre Freunde in Miami eigentlich waren.

Er fand es von Anfang an irgendwie seltsam, dass er einen von nur zehn Plätzen für diesen hochkarätigen Trip bekommen hatte, aber er vermutete, dass es von außen logisch genug erschien. Manny hatte im Laufe der Jahre mithilfe seiner Musik und den Leuten, die er kannte, eine ganz ordentliche Followerschaft aufgebaut, auch wenn der öffentliche Bekanntheitsgrad keinerlei Bedeutung hatte, wenn man Produzent werden wollte. Für einen Produzenten, sagte er sich immer wieder, kam es einzig und allein darauf an, wie viele Follower seine Follower hatten, und der Kommentarbereich unter Mannys Posts war immer mit blauen Häkchen übersät.

Es stimmte, dass keiner dieser Fans ihn je um einen Beat gebeten oder eine Zusammenarbeit vorgeschlagen hatte, aber er wusste, dass solche Dinge Zeit brauchten. Und nachdem es öffentlich gemacht worden war, dass er an dieser Reise teilnehmen würde, hatte er haufenweise DMs von Leuten bekommen, die ihn für Partys buchen wollten oder ihn aufforderten, sich nach seiner Rückkehr bei ihnen zu melden. Er hatte vor, genau das zu tun, und mehr. Schluss mit der Warterei darauf, dass jemand ihn um einen Track bitten würde. Von nun an würde er sie selbst verschicken.

Wenn er ehrlich war, hatte ihn die Gästeliste von Unknown Island mächtig enttäuscht, viel mehr als der fehlende Privatjet. Er war der einzige Musiker. Aber wie es aussah, gehörte das alles zum Plan: Er war darauf ausgelegt, einen mit Leuten zusammenzubringen, denen man ansonsten nie begegnen würde. Außerdem gefiel Manny die Zusammensetzung: vier Typen und sechs Mädchen, von denen zwei definitiv heiß waren. Die eine war ein reiches Partygirl aus LA, die andere war Frankie Russh. Vielleicht zählte sie als Musikerin?

Frankie war eine Tänzerin mit riesiger Followerschaft, und es gab Gerüchte, dass sie an einem Album arbeitete, aber Manny hatte keine allzu große Hoffnung, dass sie jemand war, mit dem er gern zusammenarbeiten wollte. Mädchen wie sie arbeiteten immer an einem Album, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie man «an einem Album arbeitete», wenn man weder Songs schrieb noch sang, kein Instrument spielte oder sonst wie Musik machte.

Manny machte sich auf den Weg zum einzigen schattigen Platz in Sichtweite, ein paar überdachten Picknicktischen auf der anderen Seite des glühenden Betons. Vier Personen saßen bereits dort: ein braun gebranntes blondes Mädchen in High Heels und kurzem Kleid, das sich mit zwei Zeitschriften Luft zufächelte; ein anderes Mädchen, das zu schlafen schien, und zwei weitere – ebenfalls weibliche – Wesen, die auf ihre Smartphones starrten. Sonst war niemand in der Nähe. Während Manny auf sie zuging, wurde ihm klar, dass es hier nichts gab, hinter dem er sich verstecken und seine Jeans ausziehen konnte. Er hätte sich im Flughafengebäude ein paar Minuten Zeit nehmen sollen, um sich frisch zu machen, aber er hatte es so eilig gehabt hinauszukommen, dass er nicht einmal aufs Klo gegangen war.

Als er den Hubschrauber passierte, beschloss er, sich die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen. Sicher, er war vielleicht nicht aus den besten Gründen hier, aber er war nun mal hier, also konnte er genauso gut das Beste daraus machen. Er hielt sein Handy in die Luft und vergewisserte sich, dass der Heli im Hintergrund gut zu sehen war, während er mit einem Lächeln im Gesicht ein paar Selfies knipste. Als er fertig war und sich umschaute, sah er, dass ihn die drei Mädchen, die nicht schliefen, beobachteten. Eine legte ihr Handy hin, stand auf und kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

«Hier», sagte sie und bedeutete ihm, ihr sein Smartphone zu geben. «Lass mich das machen, dann kannst du deinen Koffer mit aufs Bild nehmen.» Manny zögerte einen Moment. «Vertrau mir», sagte sie, «ich bin praktisch ein Profi.»

Manny gab ihr sein Handy, und sie trat ein paar Schritte zurück. «Jetzt gehst du da entlang und schaust mich nicht an», sagte sie. «Nie auf die Paparazzi achten.»

Manny lachte und befolgte ihre Anweisungen. Sie schoss mehrere Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln und gab ihm danach sein Handy zurück. «Danke», sagte Manny, als er es wieder einsteckte.

«Willst du sie dir denn nicht ansehen?», neckte sie ihn mit einem Lächeln. «Sie könnten totaler Mist sein. Vielleicht habe ich deinen Kopf abgeschnitten oder einen Winkel gewählt, der dir ein doppeltes Doppelkinn verpasst.»

Manny lachte. «Nö, nachher», erwiderte er. «Sie sind bestimmt super.»

«Aha», sagte sie, «so überzeugt bist du?»

«Ja, ich bin überzeugt», sagte er. «Nicht von meinem Talent als Model, aber von deinem als Fotografin.» Normalerweise hätte Manny sich die Fotos sofort angesehen, aber er würde seine erste Begegnung mit einem Mädchen wie diesem nicht vergeigen, indem er die ganze Zeit mit seinem Smartphone herumspielte. Das hier war schließlich Frankie Russh, und Manny war ein bisschen überrascht. Auf ihren Fotos im Internet sah sie so heiß aus, wie man im Internet eben aussah. Aber als echter Mensch war sie einfach hinreißend.

«Also», sagte er, als sie in den Schatten zurückkehrten. «Von wo bist du hergeflogen?»

 

Es dauerte keine fünf Minuten, und schon bahnte sich etwas an. Manny hatte sich allen Mädchen vorgestellt, auch wenn klar war, dass sie sich von ihren Social-Media-Kanälen bereits alle erkannten, aber es war offensichtlich, dass er nur Augen für Frankie Russh hatte. Inzwischen waren sie voll spielerischem Ernst dabei, sich kennenzulernen und sich über ihre Lieblingsflughäfen auszutauschen. Chelsea Quinn musste ihnen neidlos zugestehen, dass sie ein attraktives Paar abgeben würden, außerdem spielte ihnen die Gegensätze-ziehen-sich-an-Theorie in die Karten, denn Frankie gehörte zu den Mädchen, die nicht logen, wenn sie behaupteten: «Ich trage eigentlich kein Make-up», während er eher der Bad-Boy-Hip-Hopper war. Vor ein paar Minuten hatte Manny sein Hemd ausgezogen, was Tattoos auf Justin-Bieber-Niveau zum Vorschein brachte, Muskeln wie die von Barbies Ken und den Bund seiner Calvin-Klein Boxershorts, trotzdem glaubte Chelsea nicht, dass er angeben wollte. Es war wirklich so heiß hier draußen.

Himmel, sie würde sich am liebsten sofort ihr Kleid vom Leib reißen, es sich wie einen Turban um den Kopf wickeln und diesen Hubschrauber in Strumpfhosen besteigen. Stattdessen beschränkte sie sich darauf, sich mit ihrem Evian-Zerstäuber zu besprühen. Es wehte nicht das geringste Lüftchen, und Chelsea kam sich vor wie eine Buttercremetorte in der Sonne. Ihr Under-Eye-Concealer würde auch mit noch so viel losem Puder nicht an seinem Platz bleiben, und der Schweiß hatte ihre taufrische Foundation in Brei verwandelt. Sie suchte die Umgebung mit den Augen nach jemandem ab, der kommen und sie aus diesem Höllenfeuer auf Beton retten würde.

Natürlich entdeckte sie niemanden, und die ganze Sache kam Chelsea einmal mehr ziemlich merkwürdig vor. Als sie noch ihren Cover-Girl-Vertrag gehabt hatte, war sie bei einigen Openings dabei und viel unterwegs gewesen, aber man hatte sie auf diesen Reisen niemals auch nur eine Minute allein gelassen. Immer waren ein Werbeleiter, eine PR-Chefin, ein Marketingmensch und jede Menge Assistent:innen um sie herumgewirbelt und hatten sich um alles gekümmert. Sie hätte auf diesen Reisen kein gebrauchtes Taschentuch fallen lassen können, ohne dass es jemand schnappte, ehe es den Boden berührte.

Von Unknown Island hingegen war überhaupt niemand in Sicht. Nur ein Fahrer, der angeheuert worden war, um Chelsea vom Flughafen hierherzubringen, wo es nicht mal eine Flasche Wasser gab oder eine Möglichkeit, ihr Handy aufzuladen. Sie hatte es im Kopf grob überschlagen. Sie fünf brachten es, sämtliche Plattformen zusammengenommen, auf fast zweihundert Millionen Follower. Zugegeben, die meisten kamen von Frankie Russh, aber Chelsea hatte selbst fast dreißig Millionen, wenn sie alle zusammenzählte, was sie häufig tat, und das war, wie man es auch drehte und wendete, immer noch eine Menge. Also WTF? Wer flog fünf Influencer:innen um die halbe Welt, um sie dann in dieser glühenden Hitze langsam verdursten zu lassen? Sie saßen schon eine gefühlte Ewigkeit hier. Es schien, als warteten sie auf etwas, aber es war niemand da, den man fragen konnte, auf was.

Emma Jane war sofort, nachdem sie sich vorgestellt hatte, eingeschlafen und hatte sich seitdem kaum gerührt. Da Frankie und Manny auf dem besten Weg waren, #franny zu werden, oder welchen dämlichen Spitznamen die Leute ihnen auch geben würden, war Margot Bryant die Einzige, mit der Chelsea sich unterhalten konnte, aber sie brauchte nur wenige Minuten, um festzustellen, dass Margot Bryant eine der größten Nervensägen war, die sie je getroffen hatte.

Sie redete auf Chelsea ein, als hätten sie jede Menge gemeinsam. Sie erwähnte namhafte Make-up- und Hautpflegemarken, obwohl sie aussah, als hätte sie ihren Eyeliner mit dem Spachtel aufgetragen. Außerdem bezeichnete Margot sich immer wieder als CEO und versuchte, jedes Gesprächsthema mit ihrer Firma in Verbindung zu bringen, die offensichtlich auf einem E-Mail-Programm für Frauen basierte. Im Ernst? Benutz doch einfach Gmail, wie alle anderen auch! Und dann war da noch der Name: SHEmail! Als Chelsea ihn das erste Mal hörte, hatte sie vor Schreck ihren Kaugummi verschluckt. Margot macht bestimmt Witze, dachte sie. Aber das tat Margot nicht.

Chelsea war zu müde, um Margot abzustellen. Während sich die Labertasche immer weiter über sich und ihre Firma ausließ, schaltete Chelsea einfach ab und versuchte, positiv zu bleiben. Sicher, irgendetwas an dieser Geschichte stimmte nicht, aber es war eben auch das erste Mal seit einer Ewigkeit, das erste Mal seit –, dass Chelsea zu einem großen Event eingeladen worden war. Früher hatte sie davon geträumt, eines Tages an der Met Gala teilzunehmen oder auf der Pariser Modewoche in der ersten Reihe zu sitzen, aber inzwischen war sie froh, wenn sie zur Eröffnung eines Kosmetiksalons im Valley eingeladen wurde. Wenigstens hatte sie immer noch ihre Follower, und davon hatte sie eine Menge hinzugewonnen seit der Ankündigung, dass sie hierherkommen würde. Das musste doch für irgendetwas gut sein.

Margots unaufhörliches Geplapper weckte in Chelsea den Wunsch, ihre High Heels auszuziehen und ihr damit in die Augen zu stechen, aber dankenswerterweise wachte Emma Jane auf.

«Seht mal», sagte sie, während sie sich reckte und auf einen Golfwagen in der Ferne deutete, in dem zwei Leute saßen. «Vielleicht kommt uns jemand retten.» Alle sahen schweigend dem Golfwagen entgegen, der vor dem Picknicktisch stehen blieb. Ein Mann in einem Polohemd stieg aus und kam auf sie zu.

«Hallo», sagte er. «Ich bin Mario. Ich fliege euch zur Insel. Es tut uns leid, dass ihr warten musstet, aber einer der Gäste wird noch vermisst.»

«Was soll das heißen?», fragte Chelsea, die Augen mit der Hand abschirmend.

«Tja», fuhr Mario fort, «wir können sie nicht finden. Wir wissen zwar, dass sie im Flugzeug war, aber der Flieger hatte Verspätung, und nach der Landung konnten wir sie nicht finden.»

«Können Sie uns nicht einfach rüberfliegen und dann noch einmal zurückkommen, um sie zu holen?», fragte Chelsea.

«Ich wünschte, das ginge», sagte der Pilot, «aber der Hubschrauber wurde nur für einen Flug gebucht.»

Okay, noch ein Anzeichen dafür, dass hier irgendetwas faul war. All diese Ausgaben, um das Ganze aus dem Boden zu stampfen, und dann knausern sie beim Transport auf der letzten Wegstrecke?

«Vielleicht ist sie das?», sagte Margot da. Die anderen folgten ihrem Blick über den Hubschrauberlandeplatz, wo die Hitze flimmernd vom Betonboden abstrahlte, und sahen einen weißen Wagen durch das Tor kommen.

«Herrje, hoffentlich», sagte Chelsea, und die anderen nickten beifällig. Der Wagen kam näher und blieb schließlich vor ihnen stehen, dann ging die hintere Tür auf und ein kleines Mädchen stieg aus. Der Fahrer rührte keinen Finger, um ihr zu helfen, also wuchtete sie ihren riesigen Koffer allein aus dem Kofferraum. Dann stand sie da und sah sie an. Die anderen erwiderten ihren Blick.

Das Mädchen zerrte seinen Koffer zu ihnen herüber. «Hi, äh, ist das der Hubschrauber nach Unknown Island?», fragte sie.

«Ist es», erwiderte Mario.

«Okay», sagte das Mädchen. «Ich bin Celia Young und soll mitfliegen.» Chelsea musste zwei Mal hinschauen, als sie Celias Namen hörte. Also das war die berühmte Gamerin? Der Teenager, der dafür bekannt war, erwachsene Männer zum Weinen zu bringen? Sie sah aus wie zwölf.

Mario klatschte in die Hände. «Fantastisch!», sagte er. Er zog ein Walkie-Talkie aus seinem Gürtel und sprach hinein. Wenige Minuten später begannen sich die Hubschrauberrotoren zu drehen. Chelsea breitete die Arme weit aus und ließ sich von den Windböen den Schweiß trocknen. Das Paradies erwartete sie. Keine Brise hatte sich je so gut angefühlt.

 

Sei nie die berühmteste Person im Raum. Das war einer der ersten Ratschläge, die Roger Frankie zu Beginn ihrer Zusammenarbeit gegeben hatte, und in den zwei Jahren seitdem war dieser Tipp Teil ihres gemeinsamen Evangeliums geworden. Roger war mehr als nur Frankies Manager. Er war der Vater geworden, den sie nie hatte, ihr sechsundvierzigjähriger Busenfreund und der einzige Mensch, dem sie noch vertraute.

Warum war sie dann hier? Das Wirbeln der Rotoren war ohrenbetäubend, und jedes Haar, das nicht zurückgebunden war, peitschte einem ins Gesicht, trotzdem grinsten alle, als sie vom Boden in den Himmel aufstiegen. Frankie zwang sich, ebenfalls zu grinsen. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als sei sie alles andere als begeistert darüber, hier zu sein, aber … sie war alles andere als begeistert darüber. Irgendetwas stimmte nicht. Wo waren sie alle? Wo waren die Presseleute, die Marketingmenschen, das Sicherheitspersonal?

Am Flughafen war niemand außer einem Fahrer aufgetaucht, um sie abzuholen. Er hatte ihr mit den Taschen geholfen, aber nichts unternommen, um die Leute daran zu hindern, sie zu fotografieren, oder den rotgesichtigen Amerikaner davon abzuhalten, sie ungefragt zu umarmen. «Meine Tochter liebt dich!», hatte der Mann gesagt, aber Frankie hatte gemerkt, dass er log. Sie wusste, dass er keine Tochter hatte, und sein Arm hatte eine ihrer Brüste gestreift.

Sie spähte aus dem Fenster auf den klaren, blauen Südpazifik, der sich unter ihnen in alle Richtungen aufwarf und ausdehnte wie Zuckerguss, dann warf sie einen schnellen Blick auf ihre Mitreisenden. Das Ausbleiben eines herzlichen Empfangs konnte sie verschmerzen, aber diese Leute machten ihr zu schaffen. Was sollte das für eine Gruppe sein?

In dieser Woche blickte alle Welt auf Unknown Island. Das Opening war eines der am heißesten erwarteten Launch-Events der jüngeren Geschichte, und es hatte einen Wahnsinnshype darum gegeben, wer als Erstes eingeladen werden würde. Roger hatte schon vor Monaten begonnen, Frankies Einladung auszuhandeln. Unknown Island bezahlte ihr eine Riesenstange Geld, und es gab eine strikte Geheimhaltungsvereinbarung, die miteinschloss, dass Frankie erst auf dem Weg zur Insel erfahren würde, wer die anderen Gäste waren.

Das hatte einen gewissen Reiz, und Frankie hatte viel Zeit damit verbracht, sich vorzustellen, wer die anderen sein würden. Amanda Gorman vielleicht? Oder Billie Eilish? Aber weit gefehlt. Statt um Amanda Gorman und Billie Eilish handelte es sich um ein merkwürdiges Sammelsurium von Leuten, von denen Frankie größtenteils noch nie gehört hatte. Ihr war durchaus klar, dass sich bei diesem Unknown-Island-Projekt alles um sorgfältig zusammengestellte Gruppen aus unterschiedlichen Lebensbereichen drehte, aber diese Gruppe war wohl kaum … exklusiv.

Natürlich hatte Frankie über niemanden Nachforschungen angestellt; sie hatte sich einfach nur ihre Zahlen angesehen. Durch die Zusammenarbeit mit Roger hatte sie gelernt, dass man feststellen konnte, wie es um die Karriere einer Person bestellt war, wenn man sich anschaute, auf welchem ihrer Social-Media-Kanäle am meisten los war. Ging die Person auf einer neueren Plattform durch die Decke, sollte man sie im Auge behalten. Hatte sie ihre größte Followerschaft auf Instagram, war die Karriere am Abflauen, und wenn sie die meisten Follower bei Twitter oder Facebook hatte, konnte man sie vergessen. Die Person war so gut wie erledigt.

Frankie hatte auf TikTok Karriere gemacht und lebte in ständiger Angst, dass die App von einer neuen abgelöst werden und TikTok als öde Plattform für Eltern zurückbleiben würde, die Witze über Wein oder Grillpartys machten. Frankie brauchte etwas Neues, damit sie die sozialen Medien hinter sich lassen konnte, ehe diese sie verließen, aber dieses Neue ließ sich Zeit. Obwohl sie ihre eigene Make-up-Linie besaß, eine Kleiderkollektion herausgab und eine eigene Reality-Show moderiert und produziert hatte, betrachteten die meisten Leute sie immer noch als ein Mädchen, das Tanzvideos postete. Sie hatte eine der größten Followerschaften der Welt, aber es war schwer, darüber noch in Erregung zu geraten. Denn was wollten einhundertdreißig Millionen Menschen auf TikTok, besonders, wenn die meisten von ihnen bereits in den Zwanzigern waren? Tanzvideos. Sie wollten Tanzvideos.

Frankie hatte gehofft, ihre Mitreisenden auf diesem Trip wären ein Signal, dass sie eine Stufe hinaufgeklettert war. Aber nein. Diese Leute benutzten definitiv immer noch Hashtags. Roger hatte gesagt, er sei ziemlich sicher, dass sie die Einzige war, die bezahlt wurde, und dass alle anderen nur wegen der Exponierung dabei waren. Exponierung, ha! Frankie konnte sich kaum noch an diese Zeiten erinnern, so lange waren sie her. Heutzutage trank sie nicht einmal einen Kaffee, ohne dafür bezahlt zu werden.

Roger hatte ihr versichert, dass sie die Sache abblasen konnte, und sie wusste, dass er es ernst meinte. Aber ihr Konto hatte im letzten Jahr schwer gelitten, und Frankie musste das Geld wieder reinholen, solange sie es noch konnte. Außerdem wurde auch Roger bezahlt, wenn sie bezahlt wurde. Und wenigstens das war sie ihm schuldig, wenn man bedachte, dass sie ihm nie wirklich würde vergelten können, was er für sie getan hatte, wenn er ein ums andere Mal hinter ihr aufgeräumt hatte.

Frankie war froh, dass sie eine Sonnenbrille trug und niemand in ihren Augen lesen konnte. Ihre Headsets waren so verkabelt, dass sie miteinander sprechen konnten, und als Margot aufschrie: «Oh, mein Gott, Delfine!», reckten alle den Hals. Manny fing Frankies Blick auf und lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück.

Wenigstens war Manny süß, und Chelsea Quinn schien auch nicht ganz daneben zu sein. Celia Young war Frankie natürlich schon begegnet, aber das würde sie nicht ansprechen, solange Celia es nicht tat. Sie konnte diese Reise überstehen; sie musste sich nur zurückhalten und versuchen lockerzulassen. Es war nur eine Woche. Nichts konnte wirklich schlimm sein, wenn es nur eine Woche dauerte.

 

Als er in den Van stieg, warf Xander Lee einen einzigen Blick auf die Palmen und wusste, dass er nie wieder Football spielen würde. Er hatte dem Sport viel zu verdanken, aber er hatte ihn nie um die halbe Welt gebracht, um dort einen kostenlosen Urlaub zu verbringen. Das hatte das Tanzen geschafft. Genauer gesagt, Videos, in denen er tanzte. Und wenn Xander es ganz genau nahm, waren es Videos, in denen er mit nacktem Oberkörper tanzte. Das liebten die Leute, das liebten die Mädchen, und diese Reise war der Wendepunkt. Xander war kein Sportler mehr. Er war Influencer. Schon jetzt hatte er auf Instagram fast so viele Follower wie Tom Brady, dabei hatte er nie einen einzigen Super Bowl gewonnen.

Als die Mitarbeiterin von Unknown Island sich bei ihm gemeldet hatte – Monika? Michelle? Den Namen wusste er nicht mehr –, war das wie ein Geschenk des Himmels gewesen. Zwar nicht das, für das er gebetet hatte, aber dennoch war es der Beweis, dass Gott noch über ihm wachte.

Xander hatte Urlaub bitter nötig. Er brauchte Zeit zum Nachdenken und um Ordnung in seinen Kopf zu bringen. Alles war so schnell gegangen, dass er keine Zeit gehabt hatte, sich mit irgendetwas auseinanderzusetzen, all die Fäden zu entwirren, die ihm das Gehirn verstopften, herauszufinden, was passiert war. Und ob es wieder passieren würde. Xander schob den Gedanken beiseite. Er dachte an nichts anderes mehr. Aber hier und jetzt war es nicht nötig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Die Farben um ihn herum waren so leuchtend, dass sie künstlich wirkten. Xander betrachtete die Felder und die Küstenlinie, an denen der Van vorbeisauste. Abgesehen von einer Familienreise nach Hawaii vor ein paar Jahren war er noch nie irgendwo in den Tropen gewesen, und schon gar nicht so weit weg. Die Fahrt zum Hafen dauerte nur ein paar Minuten. Sobald sie ankamen, schnappte Xander seine Tasche, sprang aus dem Wagen und bedankte sich beim Fahrer, ehe dieser um den Wagen eilen konnte, um ihm behilflich zu sein.

Ein kleines weißes Motorboot lag am Anleger, und ein alter, barfüßiger Mann in Badehose und Poloshirt lud gerade einen Rucksack ein. Der Rucksack gehörte einer großen, attraktiven Schwarzen, die Xander aus dem Flugzeug und von ihrem Social-Media-Profil wiedererkannte. Sie trug Jeansshorts, ein gelbes Tanktop und trank gierig aus einer blauen Wasserflasche mit einem Black-Lives-Matter-Aufkleber. Als er näher kam, lächelte sie.

«Hallo», sagte sie strahlend. «Ich bin Justice. Ich glaube, wir waren im gleichen Flieger.»

Xander erwiderte ihr Lächeln und streckte die Hand aus. Sie schüttelte sie und wischte ihre Hand dann an ihren Shorts ab. «Tut mir leid», sagte sie. «Es hat nichts mit dir zu tun. Ich bin einfach verschwitzt.»

Xander lachte. «Ich komme aus Texas», sagte er. «Ich bin das feuchte Wetter gewöhnt.»

«Oh, cool», sagte sie. «Ich komme aus Kansas City.» Wenn man zu Hause nur zwei Bundesstaaten voneinander entfernt lebte, machte einen das hier in der Fremde praktisch zu Nachbarn.

Xander verkniff es sich zu sagen, dass sie nicht mehr in Kansas war. «Bist du Schwimmerin?», fragte er stattdessen, mit einem Blick auf ihre definierten Arme und breiten Schultern. Sie sah ihn an und strich mit der Hand über ihren linken Bizeps. Xander bereute sofort, den Mund aufgemacht zu haben. Er wusste nie, was ein Mädchen verunsichern würde. Aber zu seiner Erleichterung begann sie zu grinsen.

«Lagen und Vierhundert-Meter-Freistil», sagte sie. «Ich verpasse einen Wettkampf, während ich hier bin. Mein Trainer wird nicht erfreut sein.»

«Dann hast du ihn nicht vorgewarnt?», fragte Xander. Er hatte sein Leben lang so gut wie alles mit seinen Trainern abgeklärt und konnte sich nicht vorstellen, einfach nicht zu einem Spiel zu erscheinen. Justices Miene veränderte sich bei dieser Frage. Er konnte ihre Augen hinter der Sonnenbrille zwar nicht sehen, aber zwischen ihren Brauen hatte sich eine Falte gebildet.

«Lange Geschichte», erwiderte sie, ehe sie die Augen abwandte und wieder einen Schluck aus ihrer Flasche nahm. Dann warf sie einen Blick auf ihr Handy, was sie während ihrer kurzen Unterhaltung schon ungefähr fünfzehn Mal getan hatte. Xander wurde den Gedanken nicht los, dass sie irgendetwas zu beunruhigen schien.

«Haben sie dir angeboten, mit dem Hubschrauber zu fliegen?», fragte sie. «Ich fand, es wäre eine zu große Verschwendung», fügte sie hinzu, als er nickte.

Xander kam die Aussage seltsam vor. Er bezweifelte, dass Justice dafür bezahlte, also warum machte sie sich dann Gedanken um Verschwendung?

«Ich fliege nicht mit Hubschraubern», sagte er, auch wenn dies das erste Mal gewesen war, einen Flug abzulehnen.

«Ruhe in Frieden, Kobe», fügte er hinzu.

Justice lächelte wehmütig. «Ja», sagte sie. «Da ist was dran. Ruhe in Frieden.»

Der Mann im Poloshirt kletterte aus dem Boot und kam auf sie zu. «Fahren wir», sagte er in einem Ton, bei dem Xander nicht wusste, ob es eine Frage oder ein Befehl war.

Er warf Justice einen Blick zu, die ihm achselzuckend zulächelte und noch einmal auf ihr Handy sah, ehe sie es in ihren Rucksack steckte.

«Wir sind bereit», sagte Xander. Er ging über den Anleger und sprang ins Boot, dass es im Wasser schaukelte. Er drehte sich um, um Justice zu helfen, aber der Mann streckte ihr bereits seine Hand entgegen. Sie setzte sich auf eine der Bänke und nahm ihren Rucksack zwischen die Beine, dann wickelte sie ihr Kopftuch ab und steckte es weg.

«Gibt es Schwimmwesten?», fragte Justice, die gegen das Dröhnen anschreien musste, mit dem der Motor zum Leben erwachte.

«Nein», rief der Mann zurück und fuhr aufs offene Wasser hinaus. «Aber ich bringe euch sicher rüber. Ich befahre das Wasser hier seit fünfzig Jahren. Ihr ertrinkt heute nicht.» Genau in diesem Moment traf das Boot auf eine Welle, stieg hoch in die Luft und sackte ruckartig wieder nach unten.

Xander lachte, aber Justice schrie auf vor Schreck. «Ich dachte, du wärst Schwimmerin?», neckte er sie.

«Ja, im Schwimmbecken», sagte sie. «Es gibt nicht viele Wellen in Kansas!» Sie grinsten beide, während sich das Boot immer weiter vom Ufer entfernte. Xander atmete tief durch und spürte, wie sich der Stress in seinem Körper aufzulösen begann, als die Meeresluft in seine Lungen strömte. Er schmeckte Salz auf den Lippen. Das Wasser, das unter ihnen vorbeirauschte, war hell und klar, und Xander sah sich staunend um. Es fühlte sich an wie ein Traum, so weit weg zu sein, an einem Ort, an dem ihn niemand kannte und niemand irgendwelche Erwartungen hatte, wer er sein sollte. Abgesehen von den zweiundzwanzig Millionen Menschen, die ihm auf TikTok folgten, natürlich.

Als Xander im vorletzten Sommer angefangen hatte, auf TikTok zu posten, hatten ihn seine Teamkollegen aufgezogen. «Alter», hatten sie gesagt und gelacht, «das ist so schwul.» Dann hatte er die erste Million Follower erreicht, dann zwei Millionen, drei Millionen, es hörte einfach nicht auf. Seine Teamkollegen lachten längst nicht mehr; stattdessen wollten sie ständig, dass er bei ihren eigenen Postings mitmachte.

Xander hatte vor, in dieser Woche jede Menge Content zu sammeln, sich für seine Videos die tropische Kulisse zunutze zu machen, und sobald er wieder zu Hause wäre, würde er die Mannschaft verlassen. Wenn er dadurch sein Stipendium verlor, würde er damit klarkommen. Der College-Sportler war Teil seiner Marke gewesen, aber das war vorbei. Es war Zeit für einen Kurswechsel.

Er wandte sich an den Bootsführer. «Wie lange dauert die Fahrt?», fragte er.

«Ungefähr eine halbe Stunde», erwiderte der Mann und suchte mit den Augen den Horizont ab. «Bloß ein paar Meilen geradeaus, aber dann müssen wir drumherum.»

«Warum das?» Xander musste gegen den Wind anschreien.

«Die Insel ist sehr abgelegen!», schrie der Fahrer zurück. «Und von Korallenriffen umgeben. Gut zum Surfen, aber schlecht für Boote. Gibt nur einen Weg rein und raus.»

«Ich hoffe, dazu komme ich diese Woche», sagte Xander. «Zum Surfen.»

Der Mann nickte. «Gibt riesige Wellen hier», sagte er. «Mit die größten auf der Welt. Eher nichts für Anfänger.»

Xander wandte sich ab und schaute aufs Wasser. Es war glatt wie eine Eisfläche. Der Mann schien seine Gedanken zu lesen. «Es gibt noch Sturm diese Woche», sagte er. «Warten Sie’s ab. Die größten Wellen, die Sie je gesehen haben.»

«Vielleicht bleibe ich doch lieber beim Stand-up-Paddeln», sagte Xander. Das war als Scherz gemeint, aber der Mann nickte ernst. Sein Verhalten hatte etwas Merkwürdiges. Er wirkt fast abweisend.

«Und wie ist die Insel so?», fragte Xander weiter.

«Keine Ahnung», erwiderte der Mann. «Hab sie nie betreten.»

«Arbeiten Sie denn nicht für Unknown Island?», fragte Xander, und der Mann schüttelte den Kopf.

«Ich fahre nur das Boot. Bin angeheuert worden, Sie rüberzubringen und abzusetzen, mehr nicht.»

«Aber Ihr T-Shirt», sagte Xander, und der Mann schaute auf sein weißes Polohemd mit dem Unknown-Island-Logo auf der Brust.

«Man nimmt, was man kriegen kann», sagte der Mann achselzuckend. Xander beschloss, das Thema fallen zu lassen, aber zu seiner Überraschung redete der Mann weiter. «Kann auch bloß ein Fremder auf die Idee kommen, auf der Insel ein Hotel aufzumachen», sagte er. «Die Einheimischen würden sich hüten. Viel zu abgelegen und zu viele Geister.»

«Geister?», fragte Xander.

«Da war früher ein Gefängnis», sagte der Mann. «Wo man die Leute zum Sterben hingeschickt hat. Ohne Boot kam keiner rein und keiner raus. Und Geister können nicht schwimmen.»

«Oh, mein Gott!» Justices Schrei ließ Xander herumfahren. Sie zeigte auf etwas und war so aufgeregt, dass ihr Finger zitterte.

«Schau nur, Delfine! Eine ganze Schar!» In diesem Moment sprang einer wie auf Kommando aus dem Wasser und absolvierte einen kompletten Rückwärtssalto, ehe er mit einem Platschen auf die Wasseroberfläche schlug. Dann noch einer und noch einer. Justice war so aufgeregt, dass sie wie ein kleines Kind in die Hände klatschte. Xander warf einen Blick auf den Bootsführer, der die Lippen grimmig zusammenpresste und von den Delfinen völlig unbeeindruckt zu sein schien.

Xander kam zu dem Schluss, dass der Mann verrückt sein musste. Sie waren hier ganz offensichtlich im Paradies. Außerdem glaubte Xander nicht an Geister.

2. Kapitel

Graham Hoffman nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Er hatte auf dem Flug nicht eine Minute geschlafen und keine Ahnung, wie lange er schon wach war. Er war so müde, dass die Worte vor seinen Augen verschwammen. Er las Sharons SMS noch einmal, um sicherzugehen, dass er sie richtig verstand. Die Nachricht war so lang, dass sie in drei Teilen ankam, von denen jeder fast das ganze Display ausfüllte.

Graham!!! Es tut mir wirklich furchtbar leid, und ich werde alles erklären, wenn ich ankomme, im Augenblick kann ich nur sagen, dass du unsere Rettung bist und ich wahnsinnig froh bin, dass wir jemanden wie dich dabeihaben. Es gibt Riesenstress mit unseren Investoren – irre!!! –, und die Marketing-, PR-Leute und ich stecken hier fest und betreiben Schadensbegrenzung. Wir schaffen es erst nach dem Frühstück auf die Insel. Es ist ein Albtraum! Du musst mich vertreten. Du bist der Einzige, der die Erfahrung dafür hat.

Heiß die anderen einfach auf der Insel willkommen und schieß ein Gruppenfoto, sobald alle da sind. Das leitest du dann an mich weiter, damit ich zumindest das Foto pünktlich posten kann. Wenn sich irgendjemand über sein Zimmer beschwert, erinnere sie daran, dass es ein Soft Opening ist und wir an den letzten Macken noch arbeiten.

Geh in mein Büro. Auf dem Schreibtisch liegt ein Stapel Willkommensbriefe. Bitte verteile sie nach dem Frühstück. NICHT VORHER! Nach dem Frühstück. Du bist unsere Rettung – hab ich das schon gesagt?! Lol. Aber es stimmt – und der Einzige, der mir gerade helfen kann. Es wird sich für dich lohnen, und sobald ich ankomme, reden wir über eine zusätzliche Vergütung. DU BIST DER BESTE! ICH KANN DIR GAR NICHT GENUG DANKEN.

Es war gut, dass Sharon ihn immer mit Lob überschüttete und so sichtlich beeindruckt war von seiner bisherigen Arbeit, denn jedes Mal, wenn Graham mit ihr gesprochen hatte, hatte die Marketing-Direktorin von Unknown Island unglaublich verpeilt gewirkt. Sogar so verpeilt, dass er im Grunde nie wirklich mit ihr gesprochen hatte. Sie hatten immer per SMS oder E-Mail kommuniziert, weil Sharon ebenso viele technische Schwierigkeiten wie Investorenprobleme zu haben schien. Schlechte Verbindung, Zoom-Störung und was es sonst noch alles gab. Graham konnte das wohl verstehen. Es war sicher nicht einfach, eine abgelegene Insel mit Internet auszustatten. Die jetzige Situation war der perfekte Beweis dafür: Er hatte versucht, Sharon zu antworten und sie zu fragen, ob sie vielleicht kurz am Telefon miteinander reden könnten, aber die Nachricht war nicht rausgegangen. Sie hing immer noch im Postausgang.

Sharons SMS war fast auf die Sekunde genau in dem Moment aufgepoppt, als Graham auf der Insel ankam. Bis er die Nachricht zu Ende gelesen hatte, war das Boot, das ihn und Robby Wade abgesetzt hatte, bereits wieder auf dem Meer verschwunden. Jetzt saß Graham in Sharons Büro, an dem, was er für ihren Schreibtisch hielt, und tatsächlich lag dort ein Stapel Umschläge aus dickem, fein geripptem Papier, das teuer aussah; jeder Umschlag war in elegant verschnörkelter Schrift an einen anderen Gast adressiert.

Einer von ihnen trug seinen Namen, und Graham hätte ihn am liebsten sofort geöffnet, um zu sehen, worum es bei dem ganzen Wirbel ging, aber der Umschlag war mit schwarzem Wachs versiegelt, in dem die Initialen UI prangten. Wenn er ihn öffnete, würde er ihn nicht wieder richtig verschließen können. Egal, die Briefumschläge nach dem Frühstück zu verteilen, war kein Ding. Es war die Sache mit dem «Soft Opening», die schwierig werden würde, denn diese Eröffnung war so «soft», dass es wehtat.

Soweit Graham bisher gesehen hatte, war das Hotel mehr als unfertig. Es gab einen Swimmingpool und einen Whirlpool, die beide in Ordnung aussahen, aber in ihrer Nähe befanden sich keinerlei Sitzgelegenheiten. Nicht ein einziger Liegestuhl. Das Meer war himmelblau und der Sand weich und weiß, aber der Strand war eindeutig noch nie geharkt worden. Er lag voller Zweige, und als Graham zum Wasser hinuntergelaufen war, wäre ihm fast eine tote Schlange vor die Füße gespült worden. Eine große Schlange noch dazu, mindestens einen Meter lang, mit breiten schwarz-weißen Streifen. Graham war froh, dass niemand in der Nähe gewesen war, der ihn schreien hörte. Aber das hieß auch: Es war niemand in der Nähe.

Er hatte sich auf die Suche nach Hotelangestellten gemacht, um ihnen von der Schlange zu erzählen, aber nur zwei Personen gefunden. Eine davon war eine Frau, die in der Küche arbeitete und vollauf damit beschäftigt zu sein schien, Robby bei den Frühstücksvorbereitungen zu helfen, sodass Graham sie nicht stören wollte. Die andere Person war ein Mann, der tatsächlich immer noch dabei war, in den Bungalows die Türen einzubauen. Auch das erschien Graham wichtiger als die Schlange, denn normalerweise erwarteten die Gäste, dass ihre Hotelzimmer Türen hatten, da konnte er ihnen noch so viel erklären. Er war sich nicht sicher, welche Sprache der Mann sprach, aber es war definitiv nicht Englisch, denn alles, was er zu verstehen schien, war das Wort «Schlange».

«Schlecht! Bleiben weg!», sagte der Mann, deutete mit zwei gekrümmten Fingern Fangzähne an und zischte, um eine Schlange nachzuahmen. Graham lächelte nur und ging davon.

Der Tisch im Speiseraum war eingedeckt, aber das Mobiliar war billig und zusammengewürfelt. Das gleiche Bild bot die Lobby. Auf einem der Sofas prangte ein Fleck, und der Boden sah aus, als sei er noch nie gefegt worden. In den Ecken häuften sich tote Fliegen. Die Wände hatten Löcher, aus denen unangeschlossene Kabel sprossen, als wären es Schlingpflanzen, und das fluoreszierende Licht flackerte und bestrahlte die rauen Kanten der Trockenmauer. Alles, was aus Stoff war, verströmte einen leichten Modergeruch. Unknown Island war kein Resort, es war eine Absteige und hatte mit den Bildern nicht die geringste Ähnlichkeit.

In dem Promo-Video, mit dem Unknown Island seine Marketingkampagne gestartet hatte, wirkte alles prachtvoll und mondän. Models, die aus Booten sprangen, Strände entlangliefen und in den Wellen herumspritzten. Sex und Glamour, so was in der Art, und alle Fotos, die in den Accounts von Unknown Island gepostet worden waren, strotzten nur so vor Luxus. Weiche, weiße Bettlaken, überall Sträuße mit weißem Jasmin, brennende Kerzen, poliertes Mahagoni, gebratene Schrimps und Cocktails, verziert mit Orchideen. Auch wenn er noch jung war, verfügte Graham über genügend Marketingerfahrung, um zu wissen, dass ein bisschen Übertreibung dazugehörte, aber dieses Maß an Übertreibung verschlug einem die Sprache. Er wusste jetzt schon, dass die anderen Gäste stocksauer sein würden, wenn sie ankamen, dabei hatte er sich die Zimmer noch gar nicht angesehen.

Und dann war da noch das Frühstück.

Robby Wade gehörte zu den Gästen, aber er war auch für das Frühstück verantwortlich. Robby war erst siebzehn und bereits ein prominenter Koch mit einem super erfolgreichen YouTube-Kanal und einem gut besuchten Restaurant in Atlanta. Es leuchtete ein, die erste Mahlzeit auf der Insel von einem großen Namen zubereiten zu lassen, aber als Graham Robby auf der Überfahrt gefragt hatte, was er zum Frühstück auftischen würde, hatte Robby geantwortet: Biscuits and Gravy. Es war über dreißig Grad heiß. Wer wollte schon in Badeklamotten Buttermilchbrötchen mit Wurstbrät in Rahmsoße essen und sich dann an den Strand legen? Anscheinend hatte Graham das Gesicht verzogen, denn Robby war mächtig beleidigt. «Das ist mein Spezialgericht», erklärte er. «Sie haben es ausdrücklich geordert.»

Das Büro war natürlich nicht klimatisiert, und die Hitze machte es Graham schwer, klar zu denken. Er stammte aus Minneapolis, und selbst wenn die Temperaturen dort unter null Grad fielen, brauchte er nicht mehr als eine Windjacke. In der kurzen Zeit auf der Insel hatte er bereits zwei T-Shirts durchgeschwitzt; wenn er in dem Tempo weitermachte, würde er bald waschen müssen. Er schnappte sich ein Taschentuch und wischte sich die Stirn ab, dann hielt er nach etwas Ausschau, um es zu entsorgen. Aber einen Mülleimer gab es natürlich nicht. Das Büro war spärlich eingerichtet und enthielt nichts Persönliches, so als wäre Sharon noch nie hier gewesen.

Abgesehen von Schreibtisch und Schrank, dem Computer und einem unbequemen Stuhl war der einzige andere Gegenstand im Raum ein Tresor, ein großer grauer Metallklotz, der merkwürdig bedrohlich wirkte. Zweifellos brauchte ein Resort wie dieses einen Tresor, aber warum versteckte man ihn nicht in der Wand oder fand eine andere Möglichkeit, ihn zu tarnen. Es ließ den Raum wirken wie ein Kautionsbüro oder ein Pfandhaus, zwielichtige Orte, die Graham nur aus dem Fernsehen kannte. Er schaute auf sein Handy und sah, dass die SMS an Sharon immer noch nicht gesendet worden war. Wenn die anderen Gäste hier ankamen, hatte er zwei Möglichkeiten: Er konnte in aller Unschuld die Hände heben und ihnen wahrheitsgemäß sagen, dass er nichts mit all dem zu tun und keine Ahnung hatte, was hier vor sich ging. Oder er tat, was in seiner Macht stand, um Sharons Anweisungen zu befolgen.

Als sie an Graham herangetreten war und ihm angeboten hatte, der Ansprechpartner für die ganze Geschichte zu werden, war er begeistert und geschmeichelt gewesen. Es war eine große Aufgabe, und es beeindruckte ihn, dass sein Ruf bis ganz nach oben, bis zu den Leuten von Unknown Island, durchgedrungen war, wer immer sie auch sein mochten. Und genau das war das Problem: Er hatte keine Ahnung, wer hinter Unknown Island steckte. Ja, die Ausführung ließ vielleicht ein bisschen zu wünschen übrig, aber sie hatten eindeutig Geld, und zwar eine Menge, und die Marketingkampagne war wahnsinnig erfolgreich gewesen. Sie hatten dafür mit NothingBurger Media zusammengearbeitet, und die Leute da waren echt große Nummern. Je länger Graham darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, in dieser Sache lieber nichts anbrennen zu lassen, weil er nach wie vor nicht wusste, wohin das Ganze führen würde. Er hatte sich immer für einen Problemlöser gehalten, also musste er jetzt einfach ein paar Probleme lösen.

Er würde tun, worum Sharon ihn gebeten hatte, aber gleichzeitig auf jeden Fall dafür sorgen, dass ihn niemand für die Situation verantwortlich machte. Und er würde den anderen klarmachen, dass es hier eine Klimaanlage gäbe, wenn er etwas zu sagen hätte.

 

Robby Wade wusste, dass kein Mensch am Strand Buttermilchbrötchen mit Wurstbrät in Rahmsoße essen wollte. Er hatte Obstteller und Joghurt-Parfaits zubereiten wollen, aber Suzanne von Unknown Island hatte nun mal Biscuits and Gravy bestellt. Und vielleicht war das gar nicht so dumm?

Das traditionelle Südstaatenfrühstück Biscuits and Gravy war sein berühmtestes Gericht. Es stand im Mittelpunkt seines ersten Videos, das viral ging, als er gerade einmal fünfzehn war. Das Internet war begeistert: Ein schwarzer Teenager mit Südstaatenakzent und der Ausstrahlung eines Jamie Oliver kreierte Gerichte, die aussahen, als seien sie geradewegs den Seiten der Kochzeitschrift Bon Appétit