Nicht alle Mäuse sind grau - Rena May - E-Book

Nicht alle Mäuse sind grau E-Book

Rena May

5,0

Beschreibung

Was ist zu tun ... ... wenn man Maus heißt, leider mausgrau aussieht, und zu allem Übel auch noch einen charmanten Chef hat, der sich als Playboy entpuppt. Lesen sie die lustige Geschichte von einer grauen Maus, die plötzlich in allen Farben schillert.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

»Ich kündige, und zwar fristlos! Das ist zu viel! Das muss ich mir nicht bieten lassen. Ich lasse mich nicht weiter von ihren Freundinnen schlecht behandeln.«

Rumms! Eine Tür knallte.

Marie-Luise ruckte mit dem Kopf hoch und starrte mit offenem Mund auf den Flur.

Hey, was war denn hier los?

Frau Palm, Herrn Lindemanns Sekretärin, stürzte völlig aufgelöst an den halbhohen Scheiben des Großraumbüros vorbei und verschwand hinter der Tür mit dem Schild »Damen.«

Die Scheiben des Schreibbüros waren zwar schalldicht, aber irgendjemand hatte die Türe zum Flur nur angelehnt, und so konnte Marie-Luise, die in der Nähe der Tür saß, aufschnappen, was Frau Palm im Flur gerufen hatte.

Marie-Luises Augen klebten an der Tür zum Waschraum, aber im Moment blieb es still.

Es war doch niemand im Sekretariat der Chefsekretärin gewesen. Oder war Frau Palm telefonisch beleidigt worden?

Sie war ungeheuer neugierig.

Eigentlich saß Marie-Luise auf einem ungünstigen Platz im Schreibbüro, aber sie arbeitete erst seit einem knappen Jahr bei der Firma Lindemann und Partner und musste sich erst nach oben kämpfen.

»Piep, Piep«, riss ihr Computer sie aus ihren Gedanken. Erschrocken nahm sie die Finger von der Tastatur und überflog ihre Aufzeichnungen. Aber die Szene von vorhin beschäftigte sie mehr als ihr Computer.

Was mochte da wohl vorgefallen sein? Irgendetwas lief hier ab, etwas, was sie nur zu gerne wissen wollte.

Ihr Blick fiel auf den Topffarn, der sich den engen Platz auf ihrem Schreibtisch mit ihrem Computer teilte.

»Die arme Pflanze braucht wirklich mehr Aufmerksamkeit! Vielleicht Frau Palm auch.« Schnell griff sie nach einem Plastikbecher, huschte hinaus, überquerte den Flur und verschwand in der Damentoilette, in der vorhin Frau Palm Zuflucht gesucht hatte.

Schon als sie die Tür des Waschraumes öffnete, hörte sie das heftige Schluchzen der jungen Frau, das sofort abbrach, als Marie-Luises Gesicht hinter ihr im Spiegel erschien.

Frau Palm war Mitte zwanzig und bildhübsch, das musste der Neid ihr lassen. Selbst in diesem bemitleidenswerten Zustand wirkte sie attraktiv, obwohl ihre Frisur zerzaust, die Augen vom Weinen gerötet und verquollen und ihr Make-up verwischt war. Sie zog ein Taschentuch heraus und schniefte hinein, verzweifelt bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, am wenigsten vor ihrer jungen Kollegin aus dem Schreibbüro.

»Kann ich Ihnen helfen«, fragte Marie-Luise neugierig und mitfühlend zugleich.

»Nein, Danke! Ich habe nur einen Migräneanfall!«, wehrte sie hastig ab und ohne Marie-Luise eines weiteren Blickes zu würdigen begann sie hektisch mit einem feuchten Handtuch ihr Gesicht abzutupfen. Aus ihrer Tasche kramte sie Lippenstift und Puder hervor und versuchte, so gut es ging, die Tränenspuren auf ihren Wangen zu beseitigen.

»Sie sind ja immer noch da! Ich sagte Ihnen doch, ich käme alleine zurecht«, bemerkte sie unfreundlich, als ihr bewusst wurde, dass Marie-Luise abwartend hinter ihr stand.

»Ich wollte nur Wasser für meine Topfpflanze...«, versuchte Marie-Luise sich zu rechtfertigen. Aber Frau Palm sah über sie hinweg, klemmte ihre Tasche unter den Arm, zog geräuschvoll die Nase hoch und strebte zur Tür. Schon die Klinke in der Hand, drehte sie sich zu ihr um: »Lassen sie sich einen Rat von mir geben, verlieben Sie sich nie in den Chef, zumindest nicht in diesen hier.« Dann blinzelte sie, schaute Marie-Luise genauer an, zuckte abschätzend die Schultern und meinte dann herablassend: »Bei Ihnen besteht die Gefahr sowieso nicht! Sie würde er noch nicht einmal bemerken, wenn Sie auf seinem Schoß säßen!« Energisch riss sie die Tür auf und knallte sie so ungestüm wieder zu, dass die Füllung erzitterte.

Sprachlos starrte Marie-Luise ihr nach, dann fiel ihr wieder ihre Topfpflanze ein. Sie drehte den Hahn auf und ließ das Wasser in einen Becher laufen, während sie ihr Gesicht kritisch im Spiegel betrachtete: Dicke Brille, farblose, strähnige Haare, bleiche Haut! Mausgrau! Aber das wusste sie ja und damit hatte sie sich längst abgefunden. Vielleicht sollte sie doch mal eine Kosmetikberaterin aufsuchen?

Der Becher war randvoll, und das kalte Wasser lief ihr über die Hand. Sie riss sich von ihrem Spiegelbild los, goss einen Teil des Wassers ab und ging zurück an ihren Arbeitsplatz.

Es war ein Tag wie jeder andere! Oder doch nicht?

Herr Hoffmann, zuständig für das Personal des Großraumbüros, hatte an der Stirnwand einen separaten Arbeitsplatz. Er thronte gleichsam auf einem Podest, durch Sichtglaswände geschützt vor dem Lärm der Computer und doch immer in Blickkontakt mit seinen Angestellten. Seit geraumer Zeit telefonierte er.

Verstohlen beobachtete Marie-Luise ihren Chef, während sie darauf wartete, dass der Drucker ihre Statistiken, die sie aufgezeichnet hatte, auswarf.

Mit der rechten Hand presste Herr Hoffmann den Hörer an sein Ohr, als könne er dadurch besser hören, mit der linken fuhr er sich durch sein schütter gewordenes Haar. Untertänig, so kam es Marie-Luise vor, nickte er ständig mit dem Kopf, als könne ihn sein Gesprächspartner sehen. Mit wem er wohl sprach? Schließlich legte er behutsam den Hörer auf die Station zurück. Seine Blicke streiften durch den Raum, etwas abwesend, so als müsse er eine sehr wichtige Entscheidung fällen.

Ein erneuter Pieps Ton des Druckers rief Marie-Luise wieder an ihre Arbeit, und die ersten Blätter mit der Statistik schoben sich auf die Ablage. Flüchtig stieg noch einmal das Bild der schluchzenden Frau Palm vor ihr auf. Die Kolleginnen des Schreibbüros hatten nur selten Kontakt mit ihr. Marie-Luise kannte sie nur oberflächlich. Gelegentlich verteilte Frau Palm Schreibarbeiten, war also so etwas wie eine Chefin.

Sich in Herrn Lindemann zu verlieben?! Unsinn! Sie schüttelte heftig den Kopf über diese blöde Vermutung. Herr Lindemann saß doch in der Geschäftsleitung, den bekam sie doch nur selten zu sehen! Bei ihr bestand da wirklich keine Gefahr! Frau Palm soll gefälligst ihre guten Ratschläge für sich behalten! Nochmals schüttelte sie den Kopf, dann vertiefte sie sich in ihre Arbeit. Sie merkte noch nicht einmal, dass Herr Hoffmann seine Kabine verlassen hatte.

Das Großraumbüro hatte acht Mitarbeiterinnen, die aufgeteilt in zwei Reihen saßen, getrennt durch einen Gang, durch den Herr Hoffmann jetzt schlenderte. Ungeniert musterte er die einzelnen Angestellten.

Marie-Luise schrak zusammen, als er bei ihr stehen blieb und ihr über die Schulter blickte. Das mochte sie gar nicht, und das machte er sonst auch nicht. Sie kannte ihn als einen ruhigen, fairen Vorgesetzten.

Er griff nach ihrem Namensschild. »Maus«, sagte er, »selten«.

Zum Glück sagte er nicht: »Selten dämlich.« Auch ihr Vorname gefiel ihr nicht, hatten ihre Eltern sie doch nach einer Tante, die sie noch nicht einmal leiden konnte, genannt.

Marie-Luise regte sich längst nicht mehr über die Bemerkungen der anderen auf. Sie hieß halt so, und sie konnte es nicht ändern, mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, und selbst, wenn sie sich einen neuen Namen hätte auswählen können; sie wollte es gar nicht mehr.

Herr Hoffmann stellte das Schildchen wieder auf seinen Platz und strebte zurück zu seinem Glaskasten.

Maus! Herr Hoffmann tippte den Namen in seinen Computer. Dieser Name dürfte nur einmal vorhanden sein.

Er hatte Recht. Marie-Luise. Einundzwanzig Jahre alt. Seit einem Jahr in seinem Büro. Unauffällig, fleißig, Fehltage O, leuchtete rot auf seinem Bildschirm.

Unauffällig! Und wie das stimmte, er wusste schon gar nicht mehr, wie sie aussah. An irgendetwas Graues erinnerte er sich. War wohl der Pullover. Genau die Richtige, wenn er das Telefongespräch eben mit Herrn Lindemann richtig verstanden hatte.

»Herr Hoffmann?« Lindemanns Stimme hatte sehr genervt geklungen. »Es hat Schwierigkeiten mit Frau Palm gegeben. Besorgen Sie mir bitte sofort Ersatz. Und Hoffmann – keine hübsche Person, keine Hübsche. Beachten Sie das bitte!« Immer noch wütend hatte der Chef das Gespräch abrupt beendet.

Der Personalleiter bemerkte, dass er während des Gesprächs unwillkürlich Haltung angenommen hatte und ließ die Schultern wieder herabfallen. Dann gestattete er sich ein kleines Lächeln. Pfiffen es doch die Spatzen vom Dach, dass Frau Palm eifersüchtig auf jede Freundin ihres Chefs war.

Er tippte auf »aus« und die Kurzbeurteilung des Computers von Marie-Luise Maus erlosch.»Grau, fleißig, unauffällig, genau die Richtige«, dachte er befriedigt.

»Frau Maus«, Marie-Luise hob erstaunt den Kopf, Herr Hoffmann stand schon wieder neben ihr. »Räumen Sie bitte Ihre Sachen zusammen. Die Sekretärin vom Chef ist plötzlich erkrankt, und ich möchte Sie bitten, für sie einzuspringen.«

»Aber ich«, Marie-Luise sah ihn benommen an, »ich kann doch nicht...«

»Sicher können Sie«, schnitt Herr Hoffmann rigoros ihren Einwand ab.

Mit fliegenden Fingern stopfte sie ihre Utensilien aus ihrer Schreibtischschublade in ihre geräumige Umhängetasche, hängte sie sich über die Schulter und zog mit verwirrtem Gesicht und ihrer Grünpflanze im Arm hinüber ins Chefsekretariat.

Im Großraumbüro hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so ruhig war es. Sieben Augenpaare folgten ihr, begleiteten sie hinaus und durchbohrten ihren Rücken, bis die Tür ihres neuen Arbeitszimmers hinter ihr zufiel.

Herr Hoffmann entfernte das alte Namensschildchen aus dem glänzenden Messingrahmen an der Sekretariatstür. Jetzt leuchtete nur noch in dezenten Buchstaben »Sekretariat Herr Lindemann« auf.

»Das reicht«, meinte er mit Nachdruck. Maus hätte dort auch wirklich nicht gut ausgesehen!

Marie-Luise blickte sich um. Der Schreibtisch war doppelt so groß wie ihrer, ihr gewesener, verbesserte sie sich in Gedanken. Die beigen Wände strahlten Ruhe und Gelassenheit aus, und ein feiner brauner Teppichboden gab dem ganzen eine elegante Note. Drucke in weichen braunen und gelben Grundfarben hingen an den Wänden.

»Nun stellen Sie mal Ihren Farn ab«, sagte Herr Hoffmann.

Sie merkte, dass ihre Hände sich um den Topf krampften. Vorsichtig setzte sie ihn auf einer Ecke der Schreibtischplatte ab. Sie musste unbedingt eine Unterlage besorgen. »Sie haben doch bis jetzt gute Arbeit geleistet, dann wird Ihnen Ihre neue Position nicht viele Schwierigkeiten bereiten«, beruhigte Herr Hoffmann sie.

»Nehmen Sie sich am besten einen Block und schreiben Sie sich meine vorläufigen Anweisungen und Ratschläge auf, dann können Sie sie nachher in Ruhe nachlesen.«

»Das Wichtigste zuerst.« Marie-Luise schrieb: »Wenn das Telefon klingelt, melden Sie sich mit Sekretariat Herr Lindemann. Ist ja logisch. Wenn Sie etwas nicht wissen, was am Anfang wohl öfters vorkommt, dann sagen Sie: Ich werde mich sofort erkundigen, geben Sie mir bitte Ihre Telefonnummer, ich rufe Sie zurück. Und das bitte freundlich. So«, er räusperte sich, »ich überlasse Sie jetzt sich selbst, richten Sie sich ein, in einer Stunde bin ich wieder bei Ihnen, dann werde ich Sie weiter einweisen. Kam ja auch für mich völlig überraschend. Ich hoffe, Sie werden mich nicht enttäuschen. Ich schätze Sie als sehr ehrgeizig ein.«

Marie-Luise nickte.

»Gut so!« Herr Hoffmann war zufrieden und schloss die Türe hinter sich. Immer noch wie betäubt, schüttelte Marie-Luise ihren Kopf, als ob sie dadurch alles besser begreifen könnte, dann ließ sie sich auf den gepolsterten Ledersessel hinter dem Schreibtisch fallen. Was war passiert? Wieso war ausgerechnet sie ausgesucht worden, Frau Palm zu ersetzen? Konnte sie den Anforderungen überhaupt gerecht werden? Oh mein Gott! Ehrgeizig? Nein, bis jetzt war sie nicht ehrgeizig gewesen. Aber sie würde sich bemühen, würde ihr Bestes geben. Und jetzt ging ihr erst auf, welche Chance ihr das Schicksal geboten hatte. Vielleicht, wenn sie ihre Sache gut machte, würde sie nicht nur Aushilfe bleiben. Und sie würde ihre Sache gutmachen!

Plötzlich ertönte eine Melodie. Sie horchte auf.

Das Telefon!

Sie zögerte, dann hob sie ab. »Sekretariat Lindemann. Herr Lindemann ist leider im Moment nicht erreichbar. Darf ich Ihren Namen notieren, den Grund Ihres Anrufes und Ihre Telefonnummer. Ich werde Sie sobald er da ist mit ihm verbinden. Danke, und auf Wiederhören.«

Sie hatte unwillkürlich den Atem angehalten und stieß ihn jetzt erleichtert aus. »Sekretariat Lindemann«, flüsterte sie ehrfürchtig, und noch einmal und noch einmal. Es klang so gut!

Das ganze Büro roch noch nach Frau Palms Parfüm. Sie stand auf und öffnete eines der beiden Fenster, die auf den Hof hinuntersahen. Die Sonne glitzerte auf den Dächern der geparkten Autos.

Als Herr Hoffmann eine Stunde später das Zimmer betrat, prangte der Farn auf der Fensterbank, Marie-Luises Sachen waren eingeräumt, ihre Tasche hing am Garderobenhaken und vor ihr lag ein Zettel mit den Notizen der Anrufer. Außerdem ein jungfräulich weißer Block und ein Kugelschreiber.

»Nun, kann es losgehen«, meinte er munter, als sie wie eine gespannte Feder aufsprang.

»Zuerst das Wichtigste, und das müssen Sie unbedingt beachten. Sehen Sie Herrn Lindemann als Chef und nicht als Mann an. Sozusagen als Neutrum, ich muss es so klar wie möglich ausdrücken, da Frau Palm…«, den Rest des Satzes verschluckte er, »dann kann eigentlich nichts schief laufen. So, und nun werde ich Sie Ihrem Chef vorstellen. Kommen Sie bitte mit.« Er klopfte an die Verbindungstür zum Büro des Herrn Lindemann und öffnete sie nach einem energischen »Herein.«

»Herr Lindemann, hier ist die Vertretung für Frau Palm.«

Er ließ Marie-Luise vortreten.

»Frau Maus!«

Herr Lindemann saß hinter dem Schreibtisch, und nickte ihr zu. Ihn als Neutrum anzusehen war fast unmöglich. Ein Bild von einem Mann. Mitte 30, groß, breitschultrig, schlank, soweit sie das beurteilen konnte, denn sie sah ja nur die obere Hälfte von ihm und sie konnte nicht feststellen, ob der Schreibtisch gnädig einen Bauchansatz verdeckte. Dunkle Haare, nach hinten gekämmt, markantes Gesicht, eigenwilliges Kinn und unglaublich blaue Augen.

Trotzdem hätte Herr Hoffmann sich keine Sorgen machen müssen; dieser Mann konnte ihr nicht gefährlich werden. Solche unerreichbaren Träume hatte sie noch nie gehabt. Sie lächelte verlegen.

Kurz kniff Herr Lindemann seine Augen zusammen, als sähe er nicht richtig, dann lächelte auch er. Und dieses Lächeln war einfach umwerfend.

»Ich hoffe, Sie machen Ihre Sache gut«, meinte er höflich. »Wenn Sie Fragen haben, stellen Sie sie ruhig«, dann wandte er sich an seinen Abteilungsleiter.

»Danke Herr Hoffmann.«

Er öffnete einen Aktenordner und blätterte darin herum; das Zeichen für sie beide, dass sie entlassen waren.

Als das Schloss hinter ihnen zuschnappte, starrte Werner Lindemann auf die Maserung der Türfüllung.

Mein Gott, Hoffmann hatte seinen Wunsch, keine hübsche Nachfolgerin zu suchen, wirklich wörtlich genommen. Er hatte ein graues Mäuschen ausgewählt, und sie hieß auch noch Maus! Er schluckte. Sie beleidigte fast seinen Schönheitssinn. Aber er hatte es ja selber so gewollt! Er schluckte noch ein zweites Mal.

Dann begann er entschlossen einen Schriftsatz zu korrigieren, den Frau Palm ihm in die Mappe gelegt hatte und der ihre Stimmung der letzten Tage widerspiegelte. Im Vorzimmer erklärte Herr Hoffmann Marie-Luise die Hierarchie der Firma. Herr Lindemann war Verkaufschef und Mitbesitzer der Firma. Er besaß 51% und seine verwitwete Mutter 49% der Firma. Außer ihm gab es noch den Finanzchef und den Personalchef der Firma in dem Stockwerk unter ihnen. Normalerweise wurde der Personalchef bei einem Wechsel der Angestellten zu Rate gezogen, aber in ihrem Fall bestimmte Herr Lindemann selbst, wen er einstellte, da der Personalchef in Urlaub war.

Sie notierte sich die Namen. Wenn diese Herren anriefen, dann musste sie sofort durchstellen.

Ansonsten würde ihr neuer Chef ihr Aufträge erteilen, Briefe diktieren, deren Wortlaut aber als Vordruck voraussichtlich im Computer einprogrammiert wäre. Am besten hätte sie anfänglich immer einen Block parat, um sich zu notieren, was neu für sie wäre.

»Und übrigens, Frau Maus«, sein Blick glitt bedeutungsvoll über ihren ausgeleierten Pullover, über ihre ausgebeulten Jeans und ihre Gesundheitssandalen. »Für das Vorzimmer des Chefs sind Sie nicht richtig angezogen. Besorgen Sie sich einen Rock, ein Kostüm oder irgend so etwas.« Seine Stimme klang missbilligend.

Sie sah an sich hinunter. Der Pullover war wirklich etwas weit und verdeckte fast die ausgebleichten Knie ihrer Jeans. Sie nickte zustimmend, aber da hatte Herr Hoffmann schon die Türe hinter sich geschlossen.

Sie seufzte. Er hatte ja Recht. Sie hatte aber heute Morgen, als sie ihre Kleidung heraussuchte, nicht im Traum daran gedacht, dass sie am Nachmittag im Vorzimmer des Chefs sitzen würde. Sie öffnete die Schreibtischschublade. Frau Palm hatte sie vergessen auszuräumen. Die Besitztümer ihrer Vorgängerin lagen noch darin. Parfüm, Bürste, Nagellack, eine schwarze Strumpfhose und zwei Liebesromane. Wie romantisch!

Sie selber verkniff sich diesen Lesestoff. Das weckte nur die Sehnsucht nach einem Partner, und den hatte sie nicht. Sie stopfte alles in eine Plastiktüte, vielleicht konnte sie die Sachen Frau Palm zuschicken, dann nahm sie einen Ordner mit abgelegten Briefen aus dem Regal und las sie durch.

Auf den ersten Blick konnte man den bevorzugten Schreibstil ihrer Vorgängerin erkennen. Wenn sie ein paar Briefe auswendig lernte, konnte sie da anknüpfen, wo Frau Palm aufgehört hatte.

Sie war gerade dabei, sich einige Firmennamen einzuprägen, die immer wieder vorkamen, da ertönte der Summer.

Ach du liebes bisschen, die erste Bewährungsprobe! Mit klopfendem Herzen und bewaffnet mit Block und Kugelschreiber, betrat sie das Allerheiligste.

»Hier, Frau Maus«, Herr Lindemann schob ihr eine Mappe zu. »Schreiben Sie bitte alles neu und legen Sie es mir nachher zur Unterschrift vor.« Er sah sie kaum an. »Und machen Sie mir bitte einen Kaffee.«

»Einen Kaffee?«, sie zögerte.

Er sah zum ersten Mal auf und kniff die Augen zu, als hätte er Schmerzen.

»Schwarz, stark und süß! Oder ist das unter Ihrer Würde, mir einen Kaffee zu machen?« meinte er ungeduldig.

Er musste unbedingt diese Landpomeranze loswerden, dachte er. Hoffmann konnte doch sicher etwas Besseres finden.

Sie schluckte und schüttelte den Kopf.

Frau Palm hatte die Zutaten irgendwo in ihrem Schrank; sie erinnerte sich schwach.

Wer sucht, der findet, dachte sie nach einer Weile zufrieden, als sie im Wandschrank fündig wurde.

Der Kaffee stand fast, so stark war er. Sie legte noch ein paar angetrocknete Plätzchen dazu, die sie neben der Kaffeedose entdeckt hatte. Vorsichtig balancierte sie die Tasse in sein Büro und setzte sie auf der Schreibtischplatte ab. Misstrauisch sah er von seinen Unterlagen auf, als sie die Tasse in seine Nähe schob. Wenigstens roch Frau Maus gut, stellte er dabei fest, nach irgendeinem fruchtigen Parfum, das beruhigte ihn.

Der Kaffee dampfte und überlagerte bald mit seinem Duft den ganzen Raum.

»Nächstes Mal nicht so schwarz«, mäkelte er. »Die Mitte, die Mitte, Frau Maus«, wiederholte er, »ist immer das Richtige.«

Das konnte ja heiter werden, seufzte Marie-Luise, als sie sich wieder an ihrem Schreibtisch niederließ. Sie würde so schnell wie möglich Frau Palms Briefe berichtigen, aber zuvor holte sie ein großes Heft hervor. Schwungvoll notierte sie per Hand »Chef« darauf, dann notierte sie: Kaffee, mittelstark, schwarz, zwei Löffelchen Zucker, Plätzchen!

Morgen musste sie sowieso für sich einkaufen, dann würde sie die Zutaten auffüllen.

Fünf Tage saß sie jetzt im Vorzimmer. Sie hatte sich zwei weiße Blusen und zwei dunkle Röcke gekauft. Solide, unauffällig, passend zu ihrer neuen Position. Mit einer Selbstverständlichkeit wickelte sie mittlerweile alle ankommenden Telefongespräche ab, als hätte sie hier immer gesessen. Da sie alles, was sie über die Firmen in Erfahrung bringen konnte, mit denen Herr Lindemann Geschäfte machte, nachgelesen und sich gemerkt hatte, fand sie sich schnell in den laufenden Verhandlungen zurecht. Zumindest wusste sie, welches Produkt zu welcher Firma gehörte, ob ihre Firma dort kaufen oder verkaufen wollte und wo im Computer alles abgelegt war. Ihr Heft hatte sich mit Notizen gefüllt.

Sie hatte festgestellt, dass Herr Lindemann ein Gewohnheitsmensch war. Genau um acht Uhr erschien er. Sie war selbstverständlich vorher da. Punktum anfangen und aufhören, wie im Großraumbüro, das war vorbei. Dann wollte er einen Kaffee ohne Plätzchen. Eine halbe Stunde später trug sie die Post hinein. Er besprach alles mit ihr, was für sie wichtig war und erteilte die daraus folgenden Aufträge. Er hatte ihr einen Terminkalender mitgegeben, damit sie wusste, wie sie seinen Tagesplan einteilen konnte, ihn, wenn es nötig war, an die Termine erinnerte und die Unterlagen bereitlegte.

Ab zwölf Uhr durfte sie keine Gespräche mehr durchstellen, es sei denn, er teilte ihr das ausdrücklich mit. Von vierzehn bis achtzehn Uhr war er wieder für jeden erreichbar.

Um sechzehn Uhr erwartete er wieder einen Kaffee, dieses Mal mit Plätzchen. Zweimal in der Woche fand eine Besprechung mit den leitenden Angestellten statt. Bei dieser Zusammenkunft führte sie das Protokoll.

Fast täglich rief eine Frau Bauer an, dann konnte sie sofort durchstellen. Das musste die Freundin von Herrn Lindemann sein.

Eine gewisse Routine war eingekehrt. Viele ihrer Notizen waren ausgestrichen. Wie gut, dass sie keine Hobbys hatte, so konnte sie sich ganz auf ihre neue Aufgabe konzentrieren. Aber auf ihrem Block prangte eine neue Notiz: »Englisch wiederholen«!

Herr Lindemann hatte ihr gesagt, seine Sekretärin müsse wenigstens eine Sprache fließend sprechen.

Trotzdem, rundherum zufrieden war sie nicht. Sie war nie viel ausgegangen. Sie war keine »Discoqueen«. Aber hier und da hatte sie mit Hedwig aus dem Großraumbüro ein Bier getrunken oder sich einen Film angesehen. Aber seit sie den »Sprung nach oben« gemacht hatte, schaute Hedwig geflissentlich über sie hinweg und als Marie-Luise sie fragte, ob sie einen Kaffee mit ihr trinken würde, warf sie den Kopf hoch, gab so etwas wie ein »Phhh« von sich und rauschte vorbei.

Schade, sie selbst hatte sich doch nicht verändert, nur ihre Arbeitsstelle. Jetzt saß sie, statt mit Hedwig in der Mittagspause in die Pizzeria gegenüber zu gehen, alleine in ihrem Büro, aß ihre mitgebrachten Brote und lernte Englisch. Sie konnte zwar einfache Telefonate in Englisch annehmen und weitergeben, aber mehr nicht.

Die Firma TMF aus Manchester stellte elektrische Spezialmaschinen her, und sie bemerkte sehr schnell, dass sie nicht ein technisches Wort übersetzen konnte. Gewiss, aus abgelegten Briefen konnte sie das deutsche Wort heraussuchen, aber die Begriffe in der fremden Sprache fand sie in keinem ihrer Wörterbücher. Also nahm sie das nächste Mal ihr Heft mit zur Postbesprechung und bat ihren Chef, ihr die Spezialbegriffe zu nennen und aufzulisten.

Abends saß sie dann zu Hause und lernte die neuen Wörter auswendig. Eine mühsame und langweilige Sache. Wie gerne wäre sie wie früher von Hedwig gestört worden, aber ihr Telefon blieb stumm. Ihre Freundin hatte sie wohl verloren. Sie fühlte sich ungerecht behandelt und einsam und so blieb ihr eigentlich nichts anderes übrig, als die restliche Zeit mit ihrer Karriereplanung zu verbringen. Sie wollte die beste Sekretärin sein, die ihr Chef je hatte. Nach diesem Entschluss ging es ihr besser. Sie war drei Monate in ihrer neuen Stelle, als Herr Hoffmann bei ihr auftauchte.

»Frau Maus, ich darf Ihnen sagen, Herr Lindemann ist sehr zufrieden mit Ihnen. Wenn Sie einverstanden sind, werden Sie als seine Privatsekretärin fest eingestellt.«

Sie konnte nur nicken, und voller Stolz schaute sie zu, wie er ein neues Schildchen unter Sekretariat Lindemann befestigte. »Frau Maus« prangte dort schwarz auf weiß. Verbunden war der Aufstieg sogar mit einer Gehaltserhöhung.

Oh, sie würde sich würdig erweisen, das schwor sie sich. Zur Feier des Tages kaufte sie sich eine blühende Topfpflanze für die Fensterbank. Eine Pflanze mit roten länglichen Blüten, die wie Flaschenputzer aussahen, und die sinnigerweise »Zylinderputzer« hieß.

Gegen viertel vor zwölf klopfte es leise und eine gepflegte, sehr elegante alte Dame trat ein, ohne auf ihr »Herein« zu warten.

Überrascht sah Marie-Luise von ihrem Computer hoch. Was machte eine alte Dame hier?

Klein, zierlich, hilflos, dachte Marie-Luise, sie stand auf und lächelte die Dame an. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie freundlich.

Ihr Gegenüber blickte sie mit wachen, dunklen Augen sekundenlang prüfend an. Das schneeweiße Haar, in dem eine einzelne schwarze Strähne Akzente setzte, ließen sie noch dunkler wirken. So etwas wie Erleichterung blitzte in ihren Augen kurz auf. Dann nickte sie hoheitsvoll.

»Maus steht draußen an der Türe, der Name passt zu Ihnen. Mein Name ist Lindemann, ich möchte zu meinem Sohn. Melden Sie mich bitte an.« Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Züge.

»Aber selbstverständlich«, beeilte sich Marie-Luise. Wie immer überhörte sie die Bemerkung über ihr Aussehen.

Wie oft schon hatte jemand ihr versichert, dass der Name zu ihr passte.

»Herr Lindemann, Ihre Mutter möchte sie sprechen.« Sie drückte den Rufknopf.

Sie bekam keine Antwort. »Herr Lindemann?« Sie horchte, sie hörte seine Stimme.

Irgendwie anders als sonst; rauer, und doch sanft, drängend. Er telefonierte gerade. Sofort ließ sie den Knopf nach oben schnellen, rot geworden, als hätte sie jemand beim Lauschen ertappt.

Sie hatte wohl den Hörer nicht schnell genug aufgelegt, denn die alte Dame wandte sich der Bürotür zu.

»Oh, er ist da«, sagte sie. »Ich habe seine Stimme gehört.

Bemühen Sie sich nicht, ich kenne den Weg.« Marie-Luise stand mit dem Rücken zu ihr, und so konnte sie nicht rechtzeitig reagieren. Als sie sich umdrehte, starrte sie bereits auf die zierliche, ach so hilflose Gestalt der Frau Lindemann, die hastig die Tür zum Zimmer ihres Sohnes aufriss.

»Hallo Bubi, deine Mutter ist hier. Mit wem telefonierst du denn da. Kenne ich ihn?«

»Aber Mutter«, dann ein kurzes »Ich ruf später wieder an«.

Die Tür fiel ins Schloss.

Marie-Luise schüttelte den Kopf. »Hallo Bubi«, hatte sie gesagt. Ausgerechnet ihr ach so erhabener Chef, der bei den Frauen so beliebt war, wurde von seiner Mutter respektlos »Bubi« genannt. Sie konnte es sich nicht verkneifen und grinste schadenfroh. Na ja, Mütter erschufen scheinbar immer noch lächerliche Kosenamen für ihre Kinder, die ihnen auch noch im Erwachsenenleben anhingen.

Immer noch amüsiert, begann sie einen Brief an die Firma TMF zu übersetzen.

Es war kurz nach zwei, da schnarrte seine Stimme durch das Sprechgerät. »Frau Maus, kommen Sie bitte in mein Büro!« Er sagte zwar bitte, aber es war unmissverständlich ein Befehl.

Marie-Luise fühlte ein Flattern in der Magengegend. Was mochte schief gelaufen sein?

Lindemann war wohl gerade in sein Büro zurückgekommen, denn er stand am Waschbecken, das in einer Schrankwand eingebaut war, und trocknete sich die Hände ab. Die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen verriet ihr sofort seinen Ärger.

»Wie kommen Sie dazu, meine Mutter ohne meine Erlaubnis in mein Büro zu schicken?« Marie-Luise sah ihn erschrocken an, »Ich habe nicht, - ich konnte nicht. Ich habe den Rufknopf gedrückt, aber Sie haben nicht geantwortet. Und da…« Sie kam sich vor wie in der Schule, wenn einer der Lehrer etwas an ihr auszusetzen hatte.

Er ließ sie gar nicht zu Wort kommen. »Das nächste Mal halten sie sie bitte im Vorzimmer fest, bis ich erledigt habe, was immer ich gerade tue.« Er wandte sich ab und hing das Handtuch an den Haken.

Marie-Luise begann sich zu ärgern. Sie war keine Schülerin mehr, und sie konnte sich verteidigen. Sie blieb stehen.

»Ist noch etwas?« Ungeduldig sah er sie an. Sie schluckte den Knoten, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, herunter, atmete tief ein, um sich zu beruhigen und stellte befriedigt fest, dass ihre Stimme sehr ruhig klang.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihre Mutter gar nicht abgewartet hat, ob sie die Erlaubnis bekommt, Ihr Zimmer zu betreten. Ehe ich reagieren konnte, hatte sie die Türe zu Ihrem Büro geöffnet.«

»Dann beschäftigen Sie sie nächstens. Bieten Sie ihr einen Kaffee an, den können Sie ja mittlerweile ordentlich kochen«, setzte er giftig hinzu. »Unterhalten Sie sich mit ihr. Am besten über Bridge, das ist ihr ein und alles.«

»Ihr ein und alles«, das war wahrscheinlich ihr »Bubi«, schoss es Marie-Luise durch den Kopf. Sofort schob sie ihre Gedanken beiseite, sonst hätte sie wieder gegrinst und das würde sie jetzt besser sein lassen.

Sie räusperte sich. »Herr Lindemann, was ist Bridge?«

Er sah sie an, als wäre sie der schlimmste Dorftrampel.

»Das wissen Sie nicht? Es ist ein Kartenspiel«. Und ungnädig entließ er sie.

Auf Marie-Luises Liste erschien ein neues Wort »Bridge«.

Wenn sie die wichtigsten technischen Wörter des Englischkursus, den sie sich auf Band gekauft hatte und den sie jeden Mittag in ihrer Pause laufen ließ, in ihrem Gedächtnis gespeichert hatte, dann würde sie sich ein Bridgespiel besorgen.

Ein Spiel war schnell zu beschaffen, aber die Regeln, die der Verkäufer im Geschäft ihr erklärte, hatte sie bereits vor der Ladentür vergessen. Also durchsuchte sie die Buchläden nach einem Bändchen über Bridge und wurde fündig.

Anfangen konnte sie aber nicht viel damit, es war zu theoretisch aufgebaut. Ein paar Fachbegriffe konnte sie sich einprägen, das war aber auch alles. Sie hatte sich das Spiel so einfach wie Doppelkopf oder Skat vorgestellt, aber es war ganz anders, und alleine kam sie einfach nicht weiter. Und so griff sie zu, als sie im Anzeigenteil der Zeitung las. »Wer hat Lust, einem Bridge-Club beizutreten, auch Anfänger angenehm.«

Einmal die Woche besuchte sie jetzt das Vereinslokal, eingerichtet wie ein englischer Club. Wenigstens stellte sie sich einen Club so vor; sie kannte ja keinen. Die meisten Mitglieder waren ältere Damen. Man konnte kommen und gehen, wann man wollte, konnte etwas trinken und essen, spielen oder einfach nur beobachten, obwohl die meisten Spieler das nicht sehr gerne sahen.

Marie-Luise fand eine pensionierte Lehrerin, die sie mit Freude und Unnachgiebigkeit in die Geheimnisse des Spiels einweihte. Ihre Mitspieler waren zwar keine Jugendlichen, aber sie mochte das Spiel, man brauchte dafür Konzentration und Verstand, und außerdem wusste sie nun, wo sie hingehen konnte, wenn ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fiel.

Der Club organisierte alle paar Wochen Wettkämpfe, und an solch einem Sonntagnachmittag lief sie Frau Lindemann in die Arme.

»Es tut mir leid, dass ich Sie angestoßen habe, Frau Lindemann«, entschuldigte sie sich.

Ein ärgerlicher Blick traf sie. Aber sie schien Marie-Luise nicht wieder zu erkennen.

»Maus, Frau Maus. Die neue Sekretärin Ihres Sohnes.«

beeilte sie sich zu erklären. Die dunklen Augen betrachteten sie genauer. »Maus, ach ja.« Jetzt erkannte sie endlich Marie-Luise. Frau Lindemann musterte sie von oben bis unten. Ihr Blick glitt von Marie-Luises farblosen Haaren, die sie mit einem Gummiband zusammengebunden hatte, über ihre Bluse bis zu dem knielangen schwarzen Rock. Die ordentliche weiße Bluse mit dem viel zu kleinen Kragen und den zu großen Taschen auf der Brust war fest in den Rockbund gesteckt. Marie-Luise schob unangenehm berührt ihre dicke Hornbrille zu Recht.

»Endlich hat mein Sohn mal einen Ratschlag von mir angenommen. Ich sagte immer zu ihm, in dein Büro gehört etwas Unauffälliges, Solides, Fleißiges. Und das scheinen Sie ja zu sein.«

Zufriedenheit zog über ihr Gesicht.

»Ach, Emma, da bist du ja.« Nicht weiter an Marie-Luise interessiert, wandte sie sich ab. »Lass uns an Tisch sechs zusehen, dort spielt Dr. Roll. Das wird sicher ein interessantes Spiel werden.«

Die beiden Damen entfernten sich. Marie-Luise hatten sie vergessen.

»Etwas Solides«. Als wenn sie ein sächliches Wesen wäre, Marie-Luise sah ihnen betroffen nach.

Erst am Buffet traf sie wieder auf die alte Dame. Marie-Luise lächelte sie an.

Frau Lindemann zog ihre gepflegte Augenbraue in die Höhe, genau wie ihr Sohn, wenn ihm irgendetwas nicht passte, er aber nicht unhöflich werden wollte, und wandte sich ihr zu.

»Ach, Frau Maus, was ich Sie fragen wollte. Wie kommen Sie denn in diesen Club? Hat Sie jemand eingeladen?«

»Ich bin Mitglied dieses Clubs, und ich spiele auch«, erklärte Marie-Luise und fingerte unsicher an dem Armband ihrer Uhr.

»Sie spielen Bridge?« Etwas wie Hochachtung klang in ihrer Stimme auf, und ließ Marie-Luise aufhorchen.

»Wie kommen Sie denn zu diesem Spiel?«

Marie-Luise wand sich vor Verlegenheit. Sie konnte Frau Lindemann doch nicht sagen, dass ihr eigener Sohn diesen Vorschlag gemacht hatte.

Zum Glück erwartete sie wohl auch keine langen Erklärungen. »Das ist ja wunderbar.«

Sie drehte sich zu ihrer Freundin um, die gerade ein Lachsbrötchen auf ihren Teller schob.

»Ach, Emma, komm doch mal her. Darf ich dir Frau? Wie war noch mal der Name?«

»Maus.«

»Ach ja, darf ich dir Frau Maus vorstellen. Sie ist die neue Sekretärin meines Sohnes und sie spielt Bridge. Amalia hat sich doch vorige Woche die Hand verstaucht. Hier ist der Ersatz für sie.« Zufrieden beobachtete sie, wie ihre Freundin Marie-Luise die Hand schüttelte.

»Aber Frau Li...«

»Papperlapp. Sie werden sie vertreten.«

»Aber ich bin Anfängerin. Ich spiele noch nicht lange.«

»Unsinn. Ich werde Ihnen alles, was Sie nicht wissen, beibringen.«

»Aber…«

Frau Lindemann zog ihre Augenbrauen zusammen und eine Falte erschien auf ihrer Stirn. Diese Falte verhieß bei ihrem Chef auch nichts Gutes.

»Sie können gar nicht absagen, Frau Maus«, setzte sie mit einer tiefen Befriedigung hinzu. »Sie sind bei der Firma Lindemann angestellt und die Firma Lindemann gehört zu 49% mir.

Wir spielen immer samstags, und am nächsten Samstag um vier kommen Sie bitte vorbei. Ich rufe Sie im Laufe der Woche an und gebe Ihnen die Adresse und die Wegbeschreibung durch.« Mit einem abschließenden Kopfnicken ergriff sie den Arm ihrer Freundin.

»Wo stehen die Teller, meine Liebe? Wie war das Lachsbrötchen?«

Marie-Luise war entlassen. Soweit zur zierlichen, "hilflosen" alten Dame, dachte sie und starrte immer noch ungläubig hinter ihr her.

Der Spaß am Bridgenachmittag war verflogen. Sie stocherte lustlos auf ihrem Teller herum.

Sie beschloss nach Hause zu fahren.

Wie kam sie nur aus dieser Falle heraus? Ihre mangelhafte Erfahrung im Spiel war nicht das Einzige, was ihr Herzklopfen verursachte. Wie benahm man sich bei diesen alten Damen? Was brachte man mit, was zog man an? Ob sie den Chef fragen konnte?

Freitagnachmittag nahm sie ihren ganzen Mut zusammen.

Schließlich hatte er diese Lawine ins Rollen gebracht.

»Herr Lindemann«, wieder einmal sah er kaum von seinem Computer hoch.

Sie räusperte sich.

»Nun, was ist?« Es klang sehr ungeduldig. »Ist es sehr wichtig?«

Ein erneutes Räuspern. Eigentlich viel zu laut: »Ich bin morgen bei Ihrer Mutter eingeladen.«

Er ruckte herum. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte ihr. »Wie bitte?«

Er zog die linke Augenbraue irritiert hoch.

»Ich soll morgen Nachmittag um vier Uhr bei ihr erscheinen.«

»Wieso?«

»Wieso? Sie sind an allem schuld«, warf Marie-Luise ihm vor. »Sie mit Ihrem Unsinn, ich solle Bridge lernen. Jetzt darf ich eine Amalia ersetzen, die im Krankenhaus liegt.«

Oh Gott, so hätte sie mit ihrem Chef nicht sprechen dürfen. Mit schlechtem Gewissen beobachtete sie die ganze Scala der Gefühle, die über sein Gesicht huschte. Unverständnis, Ärger, schließlich Heiterkeit.

Plötzlich warf er den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Er lachte, dass ihm die Tränen die Wangen herunter liefen. Mit dem Taschentuch wischte er sie ab, schniefte noch einmal und beruhigte sich dann.

Er grinste erneut, als er meinte. »So, Mäuschen, Sie haben sich von meiner Mutter einfangen lassen. Herrlich! Dann sehen Sie mal zu, dass Sie sie zufrieden stellen. Hier ist die unterschriebene Post. Nehmen Sie die Briefe mit und schauen Sie nicht so ängstlich, sie frisst Sie schon nicht.«

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Sein Gesicht wurde ernst. »Haben sie überhaupt schon mal Bridge gespielt?«

Sie nickte. »Die Grundbegriffe kenne ich. Aber ich weiß nicht wie so ein Nachmittag bei Ihrer Mutter abläuft.

Was bringe ich mit, was ziehe ich an?«

»Gut. Da ich an allem schuld bin«, er schmunzelte, »gebe ich Ihnen ein paar Tipps. Kaufen Sie meiner Mutter Nougatpralinen. Nicht zu viel. Sonst muss ich den Rest wieder mal aufessen. Ziehen Sie das an, was Sie im Büro auch anziehen.« Er sah an ihr herunter. »Mutter mag Solides. Begrüßen Sie die Damen mit Handschlag und hören Sie geduldig zu, auch wenn sie das dritte Mal von ihrem letzten Arztbesuch berichten. Bleiben Sie ruhig und konzentrieren Sie sich auf das Spiel. Bei einem guten Bridgepartner toleriert Mutter alles, fast alles«, verbesserte er sich.

Den ganzen Freitagabend, der sonst dem Fernsehen und einer Thunfischpizza gewidmet war, während sie sich gemütlich in die Kissen ihrer Couch kuschelte, saß sie nun am Küchentisch und probierte Spielzüge aus, die in ihrem Übungsbuch beschrieben waren.

Die Stunden bis Samstag waren viel zu kurz, und plötzlich drängte die Zeit, sie musste sich fertig machen. Mit fliegenden Fingern knöpfte sie ihre frische weiße Bluse zu. Besah sich noch einmal im Spiegel, oh ja, sie sah sehr solide aus. Zufrieden griff sie nach der hübsch verpackten Pralinenschachtel - nicht zu groß und nicht zu klein – nahm den Regenmantel vom Garderobenhaken und machte sich auf den Weg.

Nach Frau Lindemanns Wegbeschreibung musste sie den Bus zweimal wechseln. Die alte Dame wohnte in einem Stadtviertel, in dem Marie-Luise noch nie gewesen war.

Hohe Hecken oder Steinmauern schirmten die Grundstücke vor neugierigen Blicken ab. Es war kaum Verkehr. Ihr eigenes kleines Appartement lag an einer sehr befahrenen Ausfallstraße, hier dagegen war es ruhig.

Kastanien säumten die Gehwege. Vögel zwitscherten, und hier und da bellte ein Hund.

Fast wie auf einem Friedhof! Ob hier nur ältere Leute wohnten? Ihr Herz klopfte und je näher sie der Kastanienallee Nr. 24 kam, desto langsamer wurde ihr Schritt.

Hoffentlich machte sie einen guten Eindruck!

Sie war da! Ein wunderschönes schmiedeeisernes Tor grenzte das Grundstück ab. Dahinter sah sie eine alte Villa mit zwei Fachwerktürmchen. Geranien blühten in Fülle auf den Fensterbänken. Alles wirkte freundlich und einladend. Zwischen Haus und Mauer sah sie einen schmalen gepflegten Vorgarten und keinen Park, wie sie sich ausgemalt hatte.

Und plötzlich war ihr wohler. Es war völlig gleichgültig, ob alles glatt lief. Frau Lindemann war letztendlich eine alte Frau. Schlimmstenfalls war das ihre erste und letzte Einladung.

Schließlich war sie keine Braut, die auf das Wohlergehen ihrer Schwiegermutter angewiesen war. Im Gegenteil, sie tat Frau Lindemann sogar einen Gefallen, wenn sie für die erkrankte Freundin einsprang. Mit wieder gewonnenem Selbstvertrauen drückte sie auf den Klingelknopf.

Kein Butler und kein Dienstmädchen öffneten, sondern Frau Lindemann selbst.

»Nett, dass Sie da sind. Die anderen sind sehr gespannt, wie Sie sich in unsere Runde einfügen werden.«

Durch eine dunkel getäfelte Diele führte sie Marie-Luise in einen Wintergarten.

Kaffeeduft erfüllte den Raum. Zwei Damen sahen ihr neugierig entgegen. Sie erkannte Emma und begrüßte sie zuerst dann die andere Dame, die sich Hildegard nannte. Ein Platz wurde ihr zugewiesen.

Frau Lindemann teilte die Karten aus, nachdem sie Marie-Luise gebeten hatte ihnen den Kaffee auszuschenken. Zwischendrin lauschte sie dem Gespräch der alten Damen, wie ihr Chef es ihr geraten hatte und es gelang ihr sogar zweimal ein besonders raffinierter Spielzug, der ihr ein anerkennendes Kopfnicken ihrer Gastgeberin einbrachte.

Der Nachmittag verging wie im Fluge. Die Partie war zu Ende. Frau Lindemann bedankte sich bei ihr, dass sie eingesprungen war und fragte, ob sie schon mal auf sie zurückgreifen könne, wenn wieder jemand ausfiele.

Euphorisch nickte Marie-Luise.

Die anderen wollten noch zusammen essen.

»Wo haben Sie ihr Auto stehen?«

Das war die Verabschiedung.

»Ich bin mit dem Bus gekommen.«

Frau Lindemann zog ihre linke Augenbraue in die Höhe. »Sie haben kein Auto? Bezahlt mein Sohn Ihnen so wenig? Also, dann auf Wiedersehen, voraussichtlich nächsten Samstag.«

Sie fand sich vor der Eingangstür, ehe es ihr bewusst wurde. Erleichtert trat sie auf den Kiesweg, der zum Gartentor führte. Sie fühlte sich, als hätte sie eine schwierige Prüfung bestanden.

Montagmorgen war Herr Lindemann schon vor ihr da. Er bedachte sie mit einem vielsagenden, amüsierten Blick.

»Meine Mutter findet Sie nett. Was immer sie damit meint.« Er grinste unverschämt. »Außerdem hat sie mir vorgeworfen, ich würde Sie schlecht bezahlen. Wenn Sie mir meine Mutter vom Leibe halten – ich musste nämlich auch schon beim Bridge einspringen, eine von diesen alten Tanten ist meistens krank – dann könnte ich mir glatt eine kleine Gehaltserhöhung überlegen.« Immer noch grinsend sah er ihr nach, wie sie mit hochrotem Kopf aus dem Büro stürmte.

Er hielt Wort. Am nächsten Ersten entdeckte sie auf ihrer Lohnabrechnung mehr Geld. Sie beschloss, die Gehaltserhöhung für die Abzahlung eines Autos zu verwenden.

Und bald konnte sie vom Bürofenster aus stolz auf das matt glänzende Dach ihres grünen Golfs blicken.

Aber vorher musste sie ihre neue Pflanze, die sie sich selbst zur Feier des Tages gekauft hatte, etwas zur Seite schieben.

»Na, bewundern Sie ihr neues Auto?« Ihr Chef war gerade in ihr Büro gekommen, um die Formulierung eines kniffligen Briefes mit ihr zu besprechen. Sie nickte.

»Eine neue Pflanze?« Er besah sie sich genauer. » Ah, eine Cassia, oder auf Deutsch Gewürzrinde, blüht sehr schön.

Sie müssen sie reichlich gießen und öfters düngen.

Übrigens auch die Zylinderputzerpflanze braucht viel Wasser, die daneben steht. Ich kenne mich ganz gut mit Topfpflanzen aus. Wenn meine Mutter nicht zuhause ist, habe ich ihren Wintergarten zu pflegen, dabei habe ich festgestellt, dass ich eine grüne Hand habe, wie man so sagt.«

Es war ein herrlicher Sommertag. Sonnenstrahlen tanzten auf Marie-Luises Nase, hüpften über den Bildschirm ihres Computers und erwärmten den glänzenden Lack ihres Schreibtisches. Vielleicht sollte sie sich eine längere Mittagspause gönnen und mit der Arbeit früher Schluss machen. Eigentlich könnte sie es sich erlauben, dachte sie. Es hatten sich schon viele Überstunden angesammelt. Das zweite Mal sah sie bereits auf ihre Armbanduhr. Sie war unschlüssig. Lindemann war noch da. Vielleicht hatte er noch Arbeit für sie. Noch zehn Minuten, dann begann die offizielle Mittagspause. Sie hatte noch nie auf die Uhr gesehen, aber heute wollte sie sich ihr Gesicht von der Sonne wärmen lassen und die Freizeit genießen… Es klopfte energisch an ihre Bürotüre. »Herein!« Eine junge Frau betrat das Büro »Guten Morgen.«

Sie erkannte die Stimme sofort. Die Freundin ihres Chefs. Frau Bauer!

»Guten Morgen. Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte Marie-Luise. Sie bemühte sich, ihre plötzliche Verlegenheit zu verbergen.

»Ich bin mit Herrn Lindemann verabredet. Können Sie ihm bitte Bescheid sagen, dass ich híer bin?«

Marie-Luise schaute auf die Rufanlage. »Er telefoniert gerade. Setzen Sie sich doch bitte einen Moment. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

Unauffällig betrachtete sie die junge Frau, während der Kaffee durch die Maschine lief. Frau Bauer war Mitte Zwanzig. Kurzes blondes Haar, blaue Augen, sportliche Figur und sie hatte ein nettes offenes Gesicht. Sie stellte den Kaffee vor sie hin.

Eigentlich hatte sie sich die Freundin des Chefs etwas anders vorgestellt. Eine Sirene! Langes blondes oder schwarzes Haar. Eng anliegendes Kleid und die höchsten Absätze, die es gibt. Aber Frau Bauer trug kurze Jeans, ein T-Shirt mit der Aufschrift "Ich habe Power" und Tennisschuhe. Sie wirkte burschikos und selbstbewusst.

Sie nickte dankend mit dem Kopf und schlürfte den dampfenden Kaffee.

Herr Lindemann telefonierte immer noch.

»Schönes Wetter heute.«

Marie-Luise fing ein Gespräch an.

»Das wollen wir auch ausnutzen«, meinte Frau Bauer.

»Werner und ich haben uns zu einem Match verabredet.

Tennis«, setzte sie hinzu, als Marie-Luise sie verständnislos ansah.

»Wissen Sie, wir haben uns im Tennisclub kennen gelernt.

Und ich bin froh, dass Werner so sportlich ist.«

Der Besetztknopf leuchtete immer noch auf. Was machte man mit der Freundin des Chefs, wenn sie warten musste.

Bridge wandte sie bei seiner Mutter an. Also versuchte sie es hier mit Tennis.

»Leider kann ich kein Tennis spielen«, sagte sie bedauernd. Frau Bauer war aufgestanden und stellte jetzt die leere Tasse auf Marie-Luises Schreibtisch ab. »Das ist aber schade. Eigentlich gehört Tennisspielen doch zum guten Ton. Ist er jetzt endlich frei?« Ihre Stimme hatte einen ungeduldigen Klang bekommen.

»Ah, es ist aufgelegt.« Marie-Luise hob den Hörer auf.

»Herr Lindemann, Frau Bauer wollte sie sprechen. Sie wartet hier in meinem Zimmer.«

»Birgit? Gut, schicken sie sie rein.« Seine Stimme klang überhaupt nicht begeistert.

Mittlerweile war die Mittagspause schon zur Hälfte vorbei. Marie-Luise musste sich mit der Bank vor dem Parkplatz für ihr Sonnenbad begnügen, für alles andere war jetzt die Zeit zu knapp geworden. Zuvor aber schrieb sie ein neues Wort in ihr Heft: "Tennis".

Auch darüber gab es ein Buch. Und sie merkte sich was "Aus" hieß, was ein "Ass" anrichten konnte und was "Loft" bedeutete. Die Regeln konnte sie bald auswendig, aber das Praktische fehlte.

Einige Zeit später teilte ihr Herr Lindemann mit, dass er sich zu einem dreiwöchigen Urlaub entschlossen hätte und sie dann auch Urlaub nehmen müsse, und so entschloss sie sich, einen Tenniskurs zu buchen.

Zuerst musste sie noch zwei Karten für einen Flug in einen griechischen Club buchen: Ein Doppelzimmer für Birgit Bauer und Werner Lindemann.

Die vierzehn Tage in einem Tenniscamp im bayrischen Wald taten ihr gut. Alle Gäste in ihrer Pension waren Tennisanfänger. Manche nahmen den Kurs nicht sehr ernst, aber sie übte verbissen. Sie nahm sich vor, wenn sie zu Hause war, erst einmal einen preiswerten Club zu suchen, damit wie weiterspielen konnte.

Abends waren sie wie eine große Familie. Sie saßen im gemütlichen Schankraum, redeten, tranken und lachten zusammen. Marie-Luise genoss es, dazu zu gehören.

Aber als sie ihre Schüchternheit ablegte, waren die vierzehn Tage vorbei.

Den Rest des Urlaubs verbrachte sie zuhause und erledigte alles, was sich angehäuft hatte.

Außerdem wollte sie mal ausgiebig bummeln und ins Kino gehen. Vieles hatte sie sich vorgenommen, als Frau Lindemann anrief. »Es ist mir sehr peinlich Frau Maus, aber mein Sohn ist nicht da und ich muss dringend eine Freundin besuchen, die krank ist. Könnten Sie sich bitte um unser Haus kümmern, es sind ja nur noch zwei Tage, bis er zurückkommt.«

»Aber ich, ich habe...«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, kürzte Frau Lindemann ihr den Satz ab. »Wissen Sie, zu Ihnen habe ich Vertrauen.

Der Taxifahrer, der mich zum Bahnhof fährt, bringt Ihnen den Hausschlüssel vorbei.«

Alles, was Marie-Luise geplant hatte, fiel jetzt ins Wasser.

Wie hatte sie sich nur von Frau Lindemann einwickeln lassen? Nein, einfangen lassen, nannte der Chef das.

Jetzt konnte sie morgens die Rollläden hoch und abends wieder runterlassen.

Der Freundin ihres Sohnes hätte die Seniorin so etwas nie zugemutet.

Montags nach dem Urlaub betrat der Chef als erstes ihr Büro. Er war braungebrannt und sah aus wie das blühende Leben. »Na, Mäuschen, ist der Urlaub Ihnen gut bekommen?«

Dann stutzte er. »Eigentlich wirken Sie ein bisschen blass um die Nase. Was haben Sie denn gemacht? Zuviel gesumpft?« Verlegen sah sie ihn an. »Ich habe einen Tenniskurs gebucht.«

»Oh«, amüsiert sah er sie an. »Sport! Dann ging es Ihnen so wie mir. Nur, dass Sie es sich freiwillig ausgesucht haben«, grummelte er, dann drehte er sich um und ergriff die Klinke seiner Türe. »Ach, übrigens die Tüte dort«, er hatte eine Plastiktüte mit einem Blumentopf auf ihrem Schreibtisch abgestellt, »ist ein Dankeschön von meiner Mutter. Sie haben die Pflanze neulich bei ihr so bewundert. Deshalb hat sie Ihnen in der Gärtnerei die gleiche bestellt. Sie ist voll des Lobes über Sie. Habe ich Ihnen schon gesagt, dass sie Sie nett findet? Nun gut, fangen wir an zu arbeiten.«

»Chef!«, rief sie hinter ihm her, »im Sportteil der Zeitung war ein Artikel über Ihren Tennisclub. Ich habe ihn ausgeschnitten und auf Ihren Schreibtisch gelegt. Es wird sie sicher interessieren.«

»Danke.« Die Türe klappte hinter ihm zu.

Vorsichtig hob sie den Topf aus der Tüte. Ein orangefarbener Hibiskus voller Blüten und Knospen. Sechs zählte sie. Herrlich! Langsam wurde der Platz am Fenster zu eng.

Das schöne Wetter hielt an. Birgit Bauer erschien am nächsten Mittag wieder im Büro, im Jogging-Anzug.

»Frau Bauer«, meldete sich Marie-Luise bei ihrem Chef.

»Sie möchte Sie zum Joggen abholen.«

»Oh, Gott!« stöhnte Lindemann. »Nimmt das denn nie ein Ende? Muss das sein? Hatte sie sich denn vorher angemeldet? Geben Sie sie mir ans Telefon.«

»Bärchen«, meinte Birgit, »ich wollte dich überraschen.

Ach, du hast eine Besprechung und kannst nicht weg?«

Sie zog einen entzückenden Schmollmund. »Oh, wie schade. Ich hatte mich soo darauf gefreut. Dauert das denn wirklich noch so lange?«

Irgendetwas Tröstliches musste er ihr gesagt haben, denn die Unmutsfalten auf ihrer Stirn glätteten sich.

»Tschüss, bis heute Abend, Bärchen.«

Mit dem Hörer in der Hand drehte sie sich zu ihr um.

Gerade noch rechtzeitig verkniff sich Marie-Luise ein Grinsen. »Bubi, Bärchen«, und das alles zu ihrem Chef.

»Werner möchte mit Ihnen noch sprechen.« Sie reichte Marie-Luise den Hörer.

»Frau Maus, sind Sie noch dran?«, vergewisserte er sich.

»Gut. Haben Sie so etwas wie Jogging-Kleidung? Nein?

Dann gehen Sie sich etwas kaufen. Birgit kann Sie beraten. Ich gebe Ihnen zwei Stunden frei, drehen Sie mit Birgit ein paar Runden. Die Sportkleidung geht natürlich auf die Firma. Und bestätigen Sie Birgit bitte, dass mein Verkaufsleiter noch bei mir sitzt, und dass uns die Köpfe rauchen. Bitte, bitte Mäuschen!«

Dann legte er auf.

Verwirrt sah Marie-Luise auf den Hörer in ihrer Hand.

Sicher würde sie bestätigen, dass der Verkaufsleiter bei ihm saß. Aber eigentlich stimmte es ja nicht. Wenn sie schon für ihn lügen musste, dann war die zweite Bitte eine Unverschämtheit – Joggen! Manchmal war er doch wie seine Mutter, stellte sie erbittert fest.

Sie sah an sich herunter. Flache Schuhe, dunkler Hose, weiße Bluse. Damit konnte man wirklich nicht laufen.

Dann fiel ihr ein, dass die Sportkleidung die Firma bezahlte, 51 % Herr Lindemann, und 49 % seine Mutter.

»Frau Bauer, ich würde Ihnen gerne anbieten mitzulaufen, aber so angezogen kann ich das wohl nicht. Vielleicht helfen Sie mir beim Aussuchen der Laufschuhe?«

Birgit war sofort einverstanden.

Eine Stunde später keuchte Marie-Luise durch den Park.

Ihr Herz klopfte wie wild, der Schweiß stand ihr auf der Stirn und die Beine wurden schwer und schwerer.

Neben ihr lief leichtfüßig und normal atmend Birgit und dabei fragte sie Marie Luise auch noch aus. Direkt und ohne sich zu genieren.

»Hatte Werner viele Freundinnen? Nicht dass es mir etwas ausmachen würde. Aber ein Mann, der so gut aussieht, über dreißig ist, und außerdem eine Firma besitzt, muss doch allerhand Eroberungen gemacht haben.«

Marie-Luise schüttelte den Kopf. Normalerweise würde sie sich diese Ausfragerei sofort verbieten, aber wenn der Chef sie schon zum Joggen schickte, konnte sie auch über ihn sprechen.

»Nein, ich kenne eigentlich nur Sie.« Dass er einen Ruf als Casanova hatte, das sollte Birgit selber herausfinden.

Sie nutzte die Gelegenheit, sich die Schweißtropfen von der Stirn zu wischen, dabei bemerkte sie, dass ein zufriedener Ausdruck über das wenig erhitzte Gesicht ihrer Jogging- Partnerin huschte.

»Und die Mutter? Wie ist die Bindung zu ihr? Ich meine, ein Mann über dreißig, nicht verheiratet, da muss man ja schon misstrauisch werden. Vielleicht hängt er zu sehr an seiner Mutter? Ödipuskomplex oder so? Nicht, dass mir das etwas ausmacht.

Ich würde schon mit der Situation fertig.«

Dann startete sie wieder mit ihren langen Beinen den Lauf und Marie-Luise musste sich sputen, um sie einzuholen.

»Kennen Sie seine Mutter?« Birgit blieb stehen.

Obwohl Marie-Luise dankbar für jedes Päuschen war, jetzt wurde es ihr zu viel.

»Wenig«, stieß sie ungeduldig hervor.

»Aha, und welche Hobbys und Vorlieben hat Werner? Ich meine, ich kenne ihn gut, aber vielleicht kennen Sie ihn als seine Sekretärin besser als ich.«

»Ich glaube kaum«, ärgerte sich Marie-Luise. »Ich bin erst seit ein paar Monaten seine Sekretärin. Ich habe noch nie mit dem Chef ein Gespräch geführt, das über das Geschäftliche hinausgeht. Und Geschäftliches gehört sicher nicht hier her.«

»Nein, nein«, beeilte sich Birgit zu beschwichtigen.

»Ich finde es nur immer klug, wenn man seinen Partner gut kennt.«

Die verlängerte Mittagspause war zu Ende. Birgit fuhr Marie-Luise mit ihrem Auto zurück zur Firma.

»Ob Werner jetzt wohl...«

Marie-Luise überflog mit den Augen den Parkplatz des Chefs: leer! »Sein Auto steht nicht mehr auf seinem Platz, also ist er nicht da«, wimmelte sie Birgit ab. Der Chef würde schon seine Gründe haben, warum er noch nicht zurück war. Das ging sie aber nichts an.

»Also dann Tschüss«, verabschiedete sie Frau Bauer.

Die stieg in ihren kleinen Wagen. »Ich ruf mal an, wenn ich einen Tennispartner brauche«, rief sie, während sie das Fenster runterkurbelte. »Gegen eine kleine Gebühr kann man Gäste zum Spielen mitbringen.«

»Das wäre sehr nett«, freute sich Marie-Luise.

Wahrscheinlich wollte sich Birgit Bauer nur gut mit Lindemanns Sekretärin stellen. Aber wenn sie dafür Spielen konnte, hatte sie nichts dagegen. In ihrem Büro machte sie sich frisch, und stellte dann fest, dass der Chef wirklich nicht da war.