Nie gefragt - nie erzählt - Hans Riebsamen - E-Book

Nie gefragt - nie erzählt E-Book

Hans Riebsamen

0,0

Beschreibung

Viele Holocaust-Überlebende haben oft lange geschwiegen. Sie wollten ihre Kinder nicht belasten, die Kinder ihrerseits wollten die Eltern schonen. Hans Riebsamen begibt sich auf die Spuren des Traumas, das Holocaust-Überlebende und ihren Nachfahren zugefügt wurde. Diese Belastung besser zu verstehen, ist nicht nur für jüdische Familien wichtig, sondern auch für nicht-jüdische Deutsche. Die Töchter, Söhne und Enkel von 31 Familien erzählen, wie das Trauma sich auf sie ausgewirkt hat, und über ihre Versuche, es zu verarbeiten oder sich davon zu emanzipieren. Begleitet werden die Texte mit ausdrucksstarken Fotos des jüdischen Fotografen Rafael Herlich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 252

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Riebsamen, Rafael Herlich

Nie gefragt – nie ­erzählt

Das vererbte Trauma in den Familien der Holocaust-Überlebenden

Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag

© 2024 Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Satz: Bruno Dorn, Societäts-Verlag

Umschlaggestaltung: Bruno Dorn, Societäts-Verlag

Umschlagabbildung: Rafael Herlich

Printausgabe ISBN 978-3-95542-478-7

E-Book ISBN 978-3-95542-519-7

Besuchen Sie uns im Internet:

www.societaets-verlag.deAus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf eine geschlechtsneutrale ­Differenzierung verzichtet. Die hier verwendeten ­Personenbezeichnungen ­beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle ­Geschlechter.

Mit Dank an Nikolaus Hensel für seine Unterstützung.

Inhalt

Kapitel 1 – Liebesunfähigkeit

Porträt – Rafael Herlich

Kapitel 2 – Schweigen

Porträts – Michel Friedman

Porträt – Aviva und Ilana Goldschmidt

Porträt – Elli Kaminer-Zamberk und Joe Zamberk

Porträt – Harry Schnabel

Porträt – Rachel Heuberger

Porträt – Majer Szanckower

Porträt – Richard und Georg Heuberger

Porträt – Jerome Katz

Kapitel 3 – Verdrängen

Porträt – Gabor Perl und ­Nathalie Friedlender

Porträt – Judith Szepesi und Anita Schwarz

Porträt – Michael (Mischa) Simonsohn

Kapitel 4 – Trauma der Kinder und Enkel

Porträt – Michel Bergmann

Porträt – Gil Sobol und Daniela Sobol

Porträt – Adrian Josepovici

Porträt – Tobias Händler

Kapitel 5 – Stolz

Porträt – Daniel Neumann

Porträt – Lucy Meler und Judith Wrobel

Porträt – Jackie Trost

Kapitel 6 – Trutzburg Familie

Porträt – Fiszel Ajnwojner

Porträt – Basia Szlomowicz

Kapitel 7 – Viertes Reich

Porträt – Barbara Bišický-Ehrlich

Porträt – Georg Levi

Kapitel 8 – Engagement

Porträt – Manfred de Vries

Porträt – Benjamin Graumann

Porträt – Daniel Korn

Porträt – Nicole Faktor

Porträt – Pava Raibstein

Porträt – Roman Zurek

Porträt – Ron Jost

Kapitel 9 – Einsamer Überlebender

Porträt – Siegmund Freund

Autor & Fotograf

Einführung

Die Geschichte hinter dem Titelbild. Am 25. April 1939 hat ­Amalie Stutzmann ihren Sohn Markus Stutzmann zum Frankfurter Hauptbahnhof gebracht und ihn einem Kindertransport nach Palästina anvertraut. Einer Freundin in Palästina schrieb sie: »Ich schicke dir alles, was ich besitze.« Amalie Stutzmann sah in der Verschickung ihres Sohnes nach Palästina die einzige Chance, ihn vor weiteren Verfolgungen durch das Nazi-System zu schützen und ihm eine hoffnungsvolle Zukunft zu eröffnen. Der Zehnjährige kam mit 34 weiteren Kindern und Jugendlichen im März 1939 auf dem Schiff »Galiläa« in ­Palästina an und wurde in das Jugenddorf »Kfar Hanoar Hadati« (Dorf der religiösen Jugend) in der Nähe von Haifa aufgenommen. Auf dem Frankfurter Hauptbahnhof hat er seine Mutter zum letzten Mal gesehen.

71 Jahre später ist Markus Stutzmann, der sich in seiner neuen Heimat Abraham Bar Ezer nannte, nach Frankfurt zurückgekehrt, um an der Verlegung eines Stolpersteines für seine Mutter Amalie vor dem Haus Sandweg 11 teilzunehmen. Sie, die viele Jahre als Krankenschwester im Frankfurter Hospital der Georgine Sara von Rothschild’schen Stiftung gearbeitet hatte und nach dessen Schließung durch die Nazis im Mai 1941 am Jüdischen Krankenhaus an der Gagernstraße tätig war, wurde mit einem Transport von der Frankfurter Großmarkthalle aus am 11. oder 12. November 1941 in das Ghetto Minsk in Weißrussland deportiert, wo sie bald darauf ermordet wurde.

Begleitet wurde Markus Stutzmann/Abrahamn Bar Ezer bei seiner Reise nach Frankfurt von seiner Tochter Amalya Shachal und deren Sohn. Mit ihm, seinem Enkel, ist Markus Stutzmann während dieses Aufenthalts in der Mainmetropole zum Hauptbahnhof gefahren und hat ihm den Bahnsteig gezeigt, auf dem er zum letzten Mal seine Mutter gesehen hat. Der Fotograf Rafael Herlich hat die beiden damals zum Bahnhof begleitet und jenes Foto aufgenommen, das auf der ­Titelseite dieses Buches zu sehen ist.

Dieses Foto symbolisiert das Thema unseres Buches. Es zeigt das Glück eines Überlebenden, den die Nazis nicht ermorden konnten und dem es gelang, eine eigene Familie zu gründen. Das war ein Sieg über Hitler und seine Schergen, die das jüdische Volk vom Erdboden vertilgen wollten. Die Aufnahme weist aber auch darauf hin, dass die Kinder und Enkel der Überlebenden in der Tradition ihrer Großeltern und Eltern stehen und von deren Überlebenskampf geprägt sind: Die einen in einem belastenden Sinn, indem sie unter dem Trauma des überlebenden Familienmitglieds leiden oder dieses Trauma sogar geerbt haben; die anderen in einem Mut machenden Sinn, indem sie die Leiden der Großeltern oder Eltern in eine starke Kraft wenden, mit der sie gegen eine Wiederholung der unseligen Vergangenheit kämpfen.

Der Holocaust. Es war der vermutlich größte Mord in der ­Geschichte der Menschheit. Etwa sechs Millionen Juden hat das nationalsozialistische Regime in den zwölf Jahren seiner Herrschaft zwischen 1933 und 1945 umbringen lassen. Abertausende von Menschen wurden nach den Überfällen auf Polen am 1. September 1939 und auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 zuerst in großer Zahl von eigens gebildeten Sondereinheiten hinter der Front erschossen. Die Einsatzgruppen und Sonderkommandos aus Angehörigen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), Kriminalpolizei, des Sicherheitsdienstes (SD), der Ordnungspolizei und der Waffen-SS liquidierten auch massenweise Sinti und Roma, Kommunisten, angebliche Asoziale und Berufsverbrecher sowie physisch oder geistig Behinderte. Doch der Hauptfeind waren die Juden: nicht nur jüdische Männer, sondern auch Frauen, Kinder, Alte, Kranke. Das Ziel Hitlers und seiner Anhänger war die Ausrottung des Judentums.

Wo die Wehrmacht bei ihrem Ostfeldzug auf jüdische Bewohner traf, wurden diese, sofern nicht sofort erschossen oder totgeschlagen, in Ghettos gezwungen, wo viele verhungerten, an Krankheiten starben oder schlicht erschlagen wurden. Die Hälfte der sechs Millionen ermordeten Juden wurde indes in Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau, ­Majdanek oder Treblinka vergast: mit dem Blausäuregas Zyklon B in ­Auschwitz, mit Kohlenstoffmonoxid aus Gasflaschen in ­Majdanek, mit Abgasen von Benzinmotoren in Treblinka. Als gegen Ende des Krieges die Rote Armee immer näher rückte, ließen die Nazis viele Lager räumen, die Insassen wurden auf die berüchtigten Todesmärsche in Richtung Westen getrieben, auf denen noch einmal viele Tausende erfroren, an Erschöpfung starben oder totgeprügelt beziehungsweise mit einer Kugel liquidiert wurden.

Als Hitler 1939 der Wehrmacht seinen verhängnisvollen Befehl gab, Polen anzugreifen, und damit den Zweiten Weltkrieg vom Zaune brach, lebten knapp zehn Millionen Juden in Deutschland und den Ländern, welche die deutschen Armeen in den nächsten Jahren eroberten oder die, wie etwa Rumänien oder Ungarn, unter dem politischen Diktat Nazi-Deutschlands standen. Nach der deutschen Niederlage und dem Ende des Krieges in Europa im Mai 1945 hatten von den 9,5 Millionen Juden in Deutschlands Herrschaftsbereich gerade einmal 3,5 Millionen überlebt.

Die meisten dieser Überlebenden hatten vor den deutschen Verfolgern in ein anderes Land fliehen können, zuerst vor allem in die Tschechoslowakei, nach Frankreich, Holland oder Dänemark. Als diese Länder dann von den Deutschen besetzt wurden, fanden viele Zuflucht in England, Amerika und Palästina, nicht wenige auch in der Sowjetunion. Andere kämpften bei den Partisanen etwa in Weißrussland oder der Ukraine. Einige konnten sich unter falscher Identität durchschlagen, andere sich bei Einheimischen verstecken. Darüber hinaus überlebten zwischen 250.000 und 300.000 Juden in den diversen Zwangsarbeiterlagern und Konzentrationslagern oder überstanden die Todesmärsche nach der Räumung der Lager durch die deutschen Wachmannschaften. Fast alle, die von den Alliierten aus den Lagern befreit wurden, waren krank und stark geschwächt, manche starben tragischerweise nach der Befreiung, weil ihr Körper normales Essen nicht mehr vertrug und keine Diätkost zur Verfügung stand.

Überlebende Juden aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern fanden nach dem Krieg oft ihre Dörfer und Heimstätten zerstört vor, und wenn ihre Häuser und Wohnungen noch existierten, wurden sie mittlerweile von anderen Leuten bewohnt, die nicht ausziehen wollten. In vielen Fällen waren die Rückkehrer nicht willkommen, ja, sie wurden zum Beispiel in Polen häufig sogar feindlich behandelt oder gar misshandelt. Fast alle hatten Teile ihrer Familie verloren, ihre noch lebenden Verwandten waren in alle Winde zerstreut.

Während die überlebenden Juden aus westeuropäischen Ländern wie Frankreich oder Holland oft in ihrer alten Heimat ihr Leben wiederaufnahmen, kehrten sehr viele Juden aus Osteuropa ihrem Geburtsland den Rücken und planten ein neues Leben – nach den Wünschen der meisten möglichst fern vom kriegsgeschädigten Europa. Um jedoch nach Amerika oder ­Palästina zu gelangen, mussten sie sich zuerst gen Westen in die amerikanische oder englische Besatzungszone des besiegten Deutschlands durchschlagen. Denn nur von dort war in der Regel eine Flucht übers Meer nach Amerika oder ­Palästina möglich. Die Alliierten richteten für sie vielerorts in Deutschland sogenannte DP-Camps, provisorische Lager für »Displaced Persons«, ein, also für entwurzelte und heimatlose Flüchtlinge. Dort wurden sie versorgt und warteten nun auf die Erlaubnis zur Einreise in das Land ihrer Träume.

Die größte Gruppe von Holocaust-Überlebenden ­wanderte in den 1948 gegründeten Staat Israel aus, insgesamt etwa 250.000 Personen. Große Anziehungskraft übten auch die Vereinigten Staaten aus, dorthin emigrierten mehr als 90.000 Überlebende und weitere 25.000 nach Kanada. Viele französische, holländische, belgische, tschechische, ungarische und sogar deutsche Juden entschieden sich dagegen, in ihrem Heimatland zu bleiben.

Kinder waren für viele Überlebende ein Schatz, sie stellten den lebendigen Beweis dar, dass die Nazis nicht über das ­Judentum gesiegt hatten. Nicht wenige hielten es für eine heilige Pflicht, Kinder zu bekommen als Antwort auf das Grauen des Holocaust. In den DP-Camps war die Geburtenrate hoch, und schon bald wuchs eine neue Generation von Juden heran, die sogenannte zweite Generation. Sie war geprägt von der Verfolgungserfahrung ihrer Eltern, wie Helen Epstein in ihrem Buch »Die Kinder des Holocaust« schon 1979 festgestellt hat. Alle von ihr befragten Kinder von Holocaust-Überlebenden sagten ihr, sie hätten oft in einer Art wortlosen Osmose die Einstellungen ihrer Eltern zu deren Holocaust-Schicksal absorbiert. Die Eltern hätten sie meistens nicht ausdrücklich zu bestimmten Einstellungen angehalten, sondern ihre Söhne und Töchter vielmehr durch stumme Zeichen, durch Haltungen und unausgesprochene Wünsche psychisch geprägt.

Seit den 1960er Jahren stellte sich immer deutlicher heraus, dass viele Töchter und Söhne von Holocaust-Überlebenden vom Trauma ihrer Eltern geprägt waren, manche hatten deren seelische Verwundung direkt übernommen. Seit ­Mitte der sechziger Jahre suchten nicht wenige aus der »Zweiten ­Generation« psychologische Hilfe bei Psychiatern, Analytikern oder in Kliniken. Vor allem in den Vereinigten Staaten und in Kanada waren Kinder von Überlebenden in Behandlung. Wie sich in den vergangenen Jahren herausstellte, gaben die Überlebenden ihr Trauma oft über die Generation der Söhne und Töchter hinweg auch an die Enkelgeneration weiter. Jedenfalls sind Angehörige der »Dritten Generation«, also die Enkel und Enkelinnen der Überlebenden, gegenüber ihren normalen Altersgenossen überdurchschnittlich oft in psychologischer Behandlung.

Um die zweite und dritte Generation geht es in diesem Buch. In 31 Porträts stellen wir Söhne, Töchter und Enkel von Holocaust-Überlebenden vor, lassen sie erzählen von der Lebensgeschichte ihrer Großeltern beziehungsweise Eltern, von ihrem Aufwachsen in »Schweige-Familien« oder auch von ihrer frühen Konfrontation mit den Horrorerfahrungen der Großeltern oder Eltern und ihrer Reaktion darauf. Der Fotograf Rafael Herlich, dessen Schicksal im ersten Porträt niedergeschrieben ist, hat vier Jahrzehnte lang das jüdische Leben in Deutschland und vor allem in Frankfurt mit seiner Kamera eingefangen. Seine Fotos in diesem Buch zeigen oft Überlebende in glücklichen Momenten: bei Bar Mitzwa-Feiern ihrer Enkel, bei der Hochzeit ihrer Kinder, bei Familienfesten oder Treffen von Gemeindemitgliedern. Die meisten dieser Überlebenden sind mittlerweile gestorben. Mit diesem Buch soll nicht zuletzt die Erinnerung an ihr Leben und Überleben für die nächsten Generationen festgehalten werden.

Hans Riebsamen, der Autor der Texte, hat sich mehr als drei Jahrzehnte lang als Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in vielen Artikeln mit dem jüdischen Leben beschäftigt und Geschichten dazu veröffentlicht. Seiner Überzeugung nach ist Deutschland, das Land der Holocaust-Mörder, erst vollständig zur Normalität einer zivilisierten Kultur zurückgekehrt, wenn Juden hier ganz selbstverständlich Teil der Gesellschaft sind und der Antisemitismus ausgerottet ist. Juden sind für dieses Land wie die Rosen, die in vielen Weinbergen am Anfang einer Reihe von Reben stehen. Diese Rosen werden als erste von Schädlingen und Krankheiten befallen und dienen den Winzern als Alarmanlagen, die sie darauf hinweisen, dass der ganze Weinberg bedroht ist. Seit der Welle des Antisemitismus nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, dem Massaker an jüdischen Zivilisten sowie dem anschließenden Gaza-Krieg gegen die Hamas muss man konstatieren, dass der Judenhass noch immer tief in Deutschland verwurzelt ist und durch den Antisemitismus mancher ­Muslime sogar noch verstärkt wurde. Das ist eine ernüchternde Erkenntnis, die Erinnerungsarbeit umso wichtiger macht.

Kapitel 1

Liebesunfähigkeit

Porträt

Rafael Herlich

1954 in Israel geboren. Dokumentiert seit 1975 als Fotograf das jüdische Leben in Deutschland.Rafael Herlich mit dem Foto seiner Großeltern.

Bis zu jenem Anruf hat Rafael Herlich nicht im Geringsten geahnt, dass er einmal einen Halbbruder in die Arme schließen würde. Ob sie einen Emanuel Herlich kenne, der in Offenbach wohne oder gewohnt habe, hatte der Mann Rafael Herlichs Frau am Telefon gefragt. »Das ist doch der ­Vater meines Mannes«, lautete deren verblüffte Antwort. ­Rafael ­Herlich ist danach sofort ins Auto gestiegen und nach Essen zu seinem ihm bis dahin unbekannten Halbbruder ­Pierre gefahren. »Ich sah mich in ihm wie in einem Spiegel«, erinnert er sich an die erste Begegnung.

Heute empfindet er Pierre nicht mehr als einen ­Halbbruder, sondern als einen echten Bruder. Immer am Todestag ihres Vaters nimmt ­Pierre die Fahrt von Essen nach Frankfurt auf sich, damit sie beide zusammen am Grab eine Kerze anzünden können. Sie feiern zusammen, wenn sich die Gelegenheit ergibt, und Pierre kommt häufig zur Eröffnung einer der vielen Fotoausstellungen, die Rafael Herlich in Schulen, Kirchengemeinden und vor kurzem sogar im Europäischen Parlament in Brüssel ausgerichtet hat.

Mehr als 40 Jahre lang hatte der Halbbruder Pierre den Mann seiner Mutter für seinen leiblichen Vater gehalten. Doch eine Blutprobe, abgenommen vor einer Operation, entlarvte diesen Glauben als Irrtum. »Wer ist mein Vater?«, wollte er nun von seiner Mutter wissen. Die konnte und mochte das ein halbes Leben lang gehütete Familiengeheimnis nicht länger bewahren. Ja, der »Vater« sei nicht sein wirklicher Vater, eröffnete sie ihrem Sohn. Ein Emanuel Herlich aus Offenbach habe ihn gezeugt, doch er habe sie und das Kind verlassen. Pierre durchmusterte daraufhin alle Telefonbücher für die Rhein-Main-Region und rief alle Teilnehmer mit dem Namen Herlich an. So fand er Rafael Herlich.

Die Geschichte, die sein Halbbruder Pierre ihm erzählte, kam Rafael Herlich bekannt vor. Denn auch ihn und seine Mutter hatte Emanuel Herlich allein gelassen. Bald nach der Geburt seines ersten Sohns Rafael in ­Israel setzte er sich ins Ausland ab. In einem letzten Anruf aus der Schweiz schlug er der Mutter vor, doch dorthin zu kommen. Sie lehnte ab.

Der Bruch der Familie hat auch sie zerbrochen, nie kam die Mutter mehr ganz auf die Beine, nie fand sie sich im Leben mehr richtig zurecht. Abwechselnd lebten sie und ihr Sohn Rafael bei den Familien ihrer Brüder an verschiedenen Orten in Israel. »Immer waren wir nur Gast«, sagt Rafael Herlich über seine Jugend.

Damals in Essen, als Rafael Herlich seinem Halbbruder zum ersten Mal begegnet ist, drängte sich beiden unabwendbar die Frage auf: »Warum lässt ein Mann ein Baby allein?« Und das nicht nur einmal, sondern zweimal. Mittlerweile haben die Söhne von Emanuel Herlich zueinandergefunden: »Wir sind jetzt eine Familie«, sagt Rafael Herlich.

Nach langwierigen und durchaus schmerzhaften Recherchen in Familie und Verwandtschaft glaubt er, eine Antwort auf das Verhalten seines Vaters gefunden zu haben. Sie lautet: Holocaust. »Mein Vater ist nicht Holocaust-Überlebender, er ist immer im Holocaust geblieben«, sagt der Sohn.

Emanuel Herlich zählt zu jenen NS-Verfolgten, die nie über ihr Schicksal sprechen konnten – nicht einmal mit ihren Kindern. Das Phänomen ist bekannt. Viele Überlebende von Konzentrationslagern plagten Schuldgefühle darüber, dass sie mit dem Leben davongekommen waren, während Millionen andere sterben mussten. Sie schämten sich dafür, dass sie von ihren Peinigern so erniedrigt wurden. Und viele wollten einfach nicht ihre Kinder mit ihrem schrecklichen Schicksal belasten. So ist es zum Beispiel dem 2012 verstorbenen Historiker Arno Lustiger ergangen, der seinen Kindern erzählte, die Häftlingsnummer auf seinem Arm sei eine Telefonnummer. Lustiger hat sich der niederdrückenden Last der Vergangenheit dadurch entledigen können, dass er irgendwann von seinen Erlebnissen öffentlich erzählte.

Sein Leidensgenosse Emanuel Herlich, der in Frankfurt einen Textilgroßhandel betrieb, verharrte dagegen sein Leben lang im Schweigen. Auch gegenüber seinem Sohn Rafael, der mit 18 Jahren von Israel nach Deutschland gekommen war, um den mittlerweile in Offenbach lebenden Vater zu treffen. Sein Leidensweg durch Arbeits- und Konzentrationslager war für Emanuel Herlich ein Tabuthema, er hat die Vergangenheit, seine ganzen Erinnerungen in sich hineingefressen.

Nur zwei Geschichten aus der Lagerzeit habe sein Vater preisgegeben, erinnert sich sein Sohn Rafael. Jene vom Apfelbaum und jene von der Flucht aus dem Zug. Der Apfelbaum trug reiche Früchte, Emanuel Herlich und seine ausgehungerten Mithäftlinge hätten sich nur zu gern den Magen vollgeschlagen. »Du darfst dir Äpfel nehmen«, ermunterte ein SS-Mann den Vater – doch dessen Instinkt warnte ihn. Ein anderer Häftling nahm die Einladung an und ging zum Baum – und der SS-Mann schoss ihm in den Rücken. Weil er die »Flucht« eines Häftlings vereitelt hatte, bekam er sogar eine Woche Urlaub.

Der Zug wiederum sollte Emanuel Herlich und seinen Zwillingsbruder Manuel in ein neues Lager tragen. Sie waren gewarnt worden, dass ein gewisser Doktor Mengele sich sehr für Zwillinge interessiere und laufend neue Geschwisterpaare für seine Versuche brauche. Nur die Flucht könne ihn retten, glaubte Emanuel Herlich und sprang vom fahrenden Zug. Die Wachleute verfolgten ihn. Der im Waggon zurückgebliebene Manuel hörte die Schüsse und glaubte seinen Bruder tot. Erst viele Jahre später, Emanuel Herlich lebte schon in Offenbach, haben sich die Zwillinge schließlich per Zufall wiedergefunden.

Ein einziges Mal, bei einem Besuch in seiner Heimatstadt Lodz lange nach Kriegsende, hat Emanuel Herlich öffentlich über seinen Leidensweg durch ein halbes Dutzend Ghettos und Lager gesprochen. Dem Reporter einer polnischen Zeitung stand er Rede und Antwort. Wahrscheinlich fiel es ihm leichter, einem Fremden seine Erinnerungen anzuvertrauen als seinem Sohn. Mit eigenen Augen, so sagte er dem Reporter, habe er mitansehen müssen, wie seine Frau und sein kleines Kind ermordet worden seien.

Im Ghetto in Lodz sollte er hingerichtet werden, weil er ein paar Kartoffeln gestohlen hatte. Ein Bekannter setzte seinen Namen auf die Liste der Bewohner, die an einer Seuche verstorben waren, Emanuel Herlich überlebte mit dem Namen eines anderen. Bei der Selektion auf der Rampe in Auschwitz war er der Gruppe der Todgeweihten zugeteilt worden, die sofort vergast werden sollten. Einem selektierenden Arzt zeigte Emanuel Herlich daraufhin seine starken Muskeln, deshalb schob ihn der Mann im weißen Kittel auf die andere Seite.

Sein Überlebenskampf in den Lagern, die Auslöschung eines Dutzend Familienmitglieder in der Shoa, besonders aber die Ermordung von Frau und Kind: Diese schrecklichen Geschehnisse scheinen Emanuel Herlich ein Leben lang verfolgt und sein Handeln in gewisser Weise zwanghaft bestimmt zu haben. Seine Frau in Israel etwa, Rafael Herlichs Mutter, war – wohl kein Zufall – das Ebenbild seiner im KZ ermordeten Frau. Seinem israelischen Sohn gab er den Namen seines ebenfalls ermordeten Vaters.

Der verlassene Sohn Rafael hat als junger Mann dann doch noch zum Vater gefunden. Mehrmals besuchte er ihn in Deutschland, schließlich siedelte er nach Frankfurt über. Als Jugendlicher lautete für ihn die wichtigste Frage: »Warum ist mein Vater nicht zu meiner Bar Mitzwa gekommen?« Also zu jenem Fest, das für jüdische Jungen das wichtigste im Leben ist. Nie hat er eine Antwort bekommen. Als sein Vater im Jahr 2000 starb, stand Rafael Herlich vor seinem Grab und musste sich eingestehen: »Ich habe diesen Mann nicht gekannt.« Emanuel Herlich hat seinen Sohn nie in den Kindergarten gebracht, er hat ihm nie bei den Schularbeiten geholfen, stand ihm nie zur Seite, wenn er krank war. Es gibt nicht einmal ein Foto von ihm mit dem Vater und der Mutter.

»Wer bist du, Vater?«, fragt sich Rafael Herlich bis heute. Emanuel Herlich hat zwar zwei Frauen und Kinder sitzen lassen, doch er hatte durchaus auch seine guten Seiten. Er habe anderen geholfen, soweit es in seiner Macht gestanden habe, erinnert sich der Sohn. Vor allem engagierte er sich bei der Beerdigung von Juden. »Meine Familie hat kein Grab«, pflegte er zu sagen. Heute ist sein Sohn überzeugt: »Mein Vater hat mich geliebt auf eine Art, die ich nicht verstanden habe.«

Von einer Cousine erhielt Rafael Herlich auf seiner Suche nach dem Wesen seines Vaters die Information, dass sein Vater einst eine Frau und ein Kind gehabt habe und dass diese im Holocaust vor seinen Augen erschossen worden seien. Zwei Schwestern des Vaters haben damals das Morden überlebt, sie leben heute in Israel. Dorthin haben sie ein Foto mitgenommen, das Rafael Herlichs Großeltern zeigt, die er nie gesehen und die von den Nazis umgebracht worden sind. Dieses Bild hing in der Offenbacher Wohnung des Vaters, sein Sohn sah es, als er diesen zum ersten Mal in Deutschland besuchte. »Schau, Rafael«, sagte sein Vater, »dein Großvater sieht aus wie du.« Dieses Bild begleitet Rafael Herlich seither bei seiner Arbeit. Seine Großeltern haben kein Grab, es gibt für ihren Enkel kein Ort des Gedenkens an sie. Nur dieses Foto.

Vielleicht ist Rafael Herlich deshalb in Deutschland Fotograf geworden. Ein bekannter Fotograf, dessen Fotos vom ­jüdischen Leben in Deutschland in vielen Ausstellungen gezeigt werden. »Weiterleben – Weitergeben« hat er sein 2009 erschienenes Fotobuch betitelt. Es beginnt mit der schwarzweißen Fotografie der Großeltern, ebenjenem Bild, das viele Jahre im Wohnzimmer seines Vaters in Offenbach hing und dessen Eltern zeigt. Seine ermordeten Großeltern haben ihm nichts erzählen können und sein überlebender Vater hat es auch nicht gekonnt. »Jetzt muss ich erzählen«, sagt der Fotograf Rafael Herlich. Mit seinen Fotos. Mit seinen Bildern versucht er seine Familie neu zu erschaffen, den Kreis des Schweigens zu durchbrechen. Deshalb hat Rafael Herlich auch das ­vorliegende Buch, dessen Fotos von ihm stammen, zusammen mit Hans ­Riebsamen herausgebracht.

Liebesunfähigkeit. Emanuel Herlich, der Vater des Fotografen Rafael Herlich, hat zweimal in seinem Leben Frau und Kind verlassen. Er hat sich gegenüber seinem Sohn Rafael in dieser Sache nie erklärt. Dass das Verhalten des Vaters etwas mit dessen Holocaust-Trauma zu tun hat, steht für Rafael Herlich außer Frage. Tatsächlich ist Emanuel Herlich kein Einzelfall. Es sind einige Fälle von Holocaust-Überlebenden bekannt, die während ihres zweiten Lebens nach der Befreiung ihre Familie im Stich gelassen haben. Oder sollte man sagen: im Stich lassen mussten?

Der israelische Psychiater Hillel Klein, selbst ein Überlebender, hat festgestellt, dass einige seiner Patienten von einer tief eingewurzelten Furcht geplagt wurden, sich auf die Liebe zu einem anderen Menschen einzulassen. Denn sie hatten im Ghetto, im KZ, im Vernichtungslager oder vor den Gewehren von Erschießungskommandos oft die meisten ihrer geliebten Angehörigen verloren. Das Trauma, dem sie auch später in der Sicherheit ihres zweiten Lebens in Israel oder einem anderen Land nicht zu entrinnen vermochten, bestand in der Furcht, womöglich noch einmal geliebte Menschen verlieren zu müssen. In ihrem Unterbewusstsein glaubten sie, dass jemanden zu lieben bedeutet, ihn zu verlieren. Denn so hatten sie es ja während ihres Überlebenskampfes erleben müssen. Die Ehefrau, der Ehemann, die Eltern, Kinder, Onkel, Tanten, die Cousinen oder Nichten waren bei einer Selektion in die Reihe der Todgeweihten kommandiert und ins Gas geschickt oder, wie im Falle von Emanuel Herlich, erschossen worden. Da sie den Verlust von geliebten Menschen nie verarbeitet hatten, wurden sie später bei jeder neuen Liebe wieder von dem alten Verlustschmerz überwältigt. »Wen ich liebe, der überlebt nicht«, lautete ihre Urangst, weshalb sie eine neue Liebe nicht ertragen konnten, sondern sich ihr irgendwann wieder entzogen.

Dem Sohn von Emanuel Herlich ist es besser ergangen. Rafael Herlich ist bei seiner Frau und seinen Kindern geblieben. Die Familie wurde sein ein und alles, sie gibt ihm bis heute Kraft und Lebenssinn. Seitdem Rafael Herlich Stückchen für Stückchen mehr über seinen Vater erfahren hat, seitdem er ein Foto seiner Großeltern besitzt und weiß, wie Oma und Opa ausgesehen haben, konnte er auch den ausgelöschten Teil seiner Verwandten in seinen Lebensbaum integrieren. Doch seine ermordeten Vorfahren und sein schwer traumatisierter Vater haben ihm auch die Bürde auf die Schulter gelegt, an ihr Schicksal und das ihrer Millionen Leidensgenossen zu erinnern. Je älter Rafael Herlich wird, desto intensiver kommt er seiner angenommenen Pflicht nach, seiner Umwelt jene Menschen zu zeigen, die durch die tiefste Hölle des großen Judenmordens gegangen sind und ihr entkommen konnten. Fast manisch bereitet er neue Ausstellungen mit Fotos von Holocaust-Überlebenden vor, zieht von Schule zu Schule, um jungen Leuten vom Schicksal jener Frauen und Männer zu berichten, die oft wie durch ein Wunder der Erschießung oder Vergasung entkommen konnten. Das ist seine Art, die Verletzungen zu heilen, die das Verschwinden und später das Schweigen seines Vaters in seiner Seele angerichtet haben.

Als Fotograf, der ein knappes halbes Jahrhundert jüdisches Leben in Deutschland und vor allem in Frankfurt dokumentiert hat, besitzt Rafael Herlich einen Schatz an Aufnahmen von Holocaust-Überlebenden, wie ihn sonst wohl kein anderer in diesem Land sein Eigen nennt. Seine Fotos zeigen diese Männer und Frauen meist in glücklichen Momenten: bei der Hochzeit eines Sohnes oder einer Tochter, bei der Bar Mitzwa eines Enkels, bei der Feier eines Jubiläums. Sie strahlen oft einen Optimismus aus, der belegt, dass ein Leben nach der Hölle möglich ist. Ein glückliches Leben sogar, zumindest in manchen Momenten. Das Bild aller Bilder bleibt für Rafael Herlich jedoch die vergilbte Aufnahme seiner ihm unbekannt gebliebenen Großeltern, das einst in der Wohnung seines Vaters hing und das nun zu ihm gekommen ist. Dieses Foto steht deshalb am Anfang dieses Buches.

Kapitel 2

Schweigen

Schweigen. Nicht darüber sprechen. Auch nicht fragen. Viele Holocaust-Überlebende haben ihren Kindern nichts erzählt von ihren Erfahrungen im Ghetto oder im Lager. Manche ihr ganzes Leben lang, andere so lange, bis sie endlich die Kraft und den Mut fanden, sich zu öffnen, das Trauma zu durchbrechen, die schrecklichen Erinnerungen in Worte zu fassen.

Manchmal wollten die Eltern ihre Kinder durch ihr Schweigen einfach nur schützen. »Warum sollten sie es erfahren. Es hatte ja nichts mit ihnen zu tun«, hat eine Überlebende einmal gesagt. Die Töchter und Söhne sollten unbeschwert aufwachsen, nicht von der Last der Erinnerungen, die den Vater oder die Mutter so drückte, aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht werden. Sie sollten »normal« leben können, so wie andere Kinder.

Andere Überlebende haben aus Selbstschutz geschwiegen. Immer wieder die bösen Erinnerungen wiederaufleben zu lassen: Erinnerungen an die Angst, die Panik, die Verzweiflung, die sie ertragen hatten, an den Hunger, die Kälte, die Schläge der Aufseher oder an die Ohnmacht gegenüber einem grausamen System, das sie entmenscht und zu Nummern gemacht hatte. Das hätte ihr oft labiles psychisches Gleichgewicht ins Wanken gebracht, sie aus der Lebensbahn geworfen, ihr Familienleben gefährdet, ihre neu gefundene berufliche Existenz bedroht.

Es war freilich kein Verschweigen, wie es in Familien von NS-Tätern und Mitläufern herrschte. Dort wollten die Väter und Mütter ihre Verstrickungen in das nationalsozialistische System oder in manchen Fällen ihre Beteiligung an Verfolgungen und Mordaktionen verbergen, wollten ungeschoren davonkommen.

Das Schweigen von Überlebenden dagegen war der Versuch, nicht immer wieder in den Strudel der bösen Erinnerungen gerissen zu werden. Andernfalls wären sie in ihrem neuen Leben gelähmt worden. Das Trauma, das faktisch jeder Überlebende erlitten hat, wäre wieder neu hervorgetreten und hätte sie vielleicht verschlungen. »Retraumatisierung« nennen Psychoanalytiker diesen Vorgang. Jetzt, nach dem Pogrom an ­israelischen Juden durch die Hamas, haben viele, wenn nicht die meisten der noch lebenden 245.000 Holocaust-Überlebenden, davon 14.000 in Deutschland, eine solche Retraumatisierung wiedererlebt.

In allen Fällen haben sich die einstigen Verfolgungen tief in die Körper und Seelen der Überlebenden eingebrannt. Viele haben dadurch ihr grundsätzliches Vertrauen in die Welt verloren, auch das Vertrauen in ihre Mitmenschen, von denen sie annahmen, dass sie nie richtig verstehen und nachempfinden könnten, was ein Überlebender durchgemacht hat.

Kurt Grünberg, ein Frankfurter Psychoanalytiker, der seit vielen Jahren mit Überlebenden arbeitet, berichtet von einem Patienten, der ihm gegenüber immer und immer wieder den Satz wiederholte: »Was soll ich denen erzählen?« Der Patient hatte während des Krieges drei Jahre lang in Polen in einem Versteck gelebt und kroch nur nachts aus seinem Kellerloch, um sich Essen zu beschaffen. Schließlich wurde er von polnischen Kindern aufgescheucht. Sie liefen hinter ihm her und riefen die ganze Zeit: »ein Jude, ein Jude«. Die Deutschen schnappten ihn daraufhin und verbrachten ihn in ein Konzentrationslager. Er überlebte und heiratete nach dem Krieg eine nichtjüdische Frau, die ihn umsorgte, mit der er sich aber nicht über seine Verfolgung austauschen konnte. Als er bei Grünberg in psychotherapeutischer Behandlung war, lebte er zurückgezogen und einsam. Sein Standardsatz »Was soll ich denen erzählen?« bedeutete laut Grünberg: »Niemand kann mich verstehen.« Deshalb begab er sich ins Schweigen.

Porträts

Michel Friedman

Kam 1956 in Paris zur Welt. 1965 übersiedelte er mit seinen Eltern nach Frankfurt am Main und studierte nach seinem Abitur Jura. Friedman ist neben seiner Tätigkeit als Anwalt und Publizist auch als Moderator tätig. Seit 2016 lehrt er als Honorarprofessor an der Frankfurt University of Applied Sciences.Michel Friedman mit dem Foto seiner Eltern und ihm in der Mitte.

Der Judenretter Oskar Schindler ist Ehrengast von Michel Friedmans Bar Mitzwa in Tel Aviv gewesen. Der Grund dafür: Friedman verdankt Schindler in gewisser Weise sein Leben. »Ohne Schindler gäbe es mich nicht«, sagt der Publizist und Moderator. Denn sein Vater und seine Mutter waren Schindler-Juden, sie und die Großmutter mütterlicherseits standen auf »Schindlers Liste« und wurden damit als Arbeiter in Schindlers »Deutsche Emailwarenfabrik« in dem von den Deutschen besetzten Krakau vor der Deportation nach Auschwitz bewahrt. Als einzige ihrer Familien überlebten sie den Holocaust.

Ungefähr 1.200 Juden hatte Schindler während des ­Krieges vor der Gaskammer gerettet, indem er sie unter Einsatz seines Lebens in seiner Fabrik beschäftigte und für ihr Wohl sorgte, soweit dies in den damaligen schlimmen Zeiten möglich war. Weltweit bekannt wurden seine konspirativen Aktionen erst lange nach seinem Tod, nämlich 1993 durch den Film »­Schindlers Liste« des Hollywood-Regisseurs Steven Spielberg.

Nach dem Krieg ist Schindler geschäftlich gescheitert, er wurde deshalb von seinen »Schindler-Juden« jahrelang in verschiedenster Weise unterstützt – auch von den Friedmans, bei denen er zuweilen zu Gast war. Michel Friedman erinnert sich an einen Mann, stark wie ein Baumstamm, mit sehr lauter Stimme. In Friedmans 2022 erschienenen Buch »Fremd« schreibt er über den Judenretter: »Dieser Mann, ein Lachen wie Löwengebrüll, groß wie ein Bär. Dieser Mann, der meine Familie gerettet hat. Dieser Mann, der anders war.« ­Schindler, so erzählt Friedman, sei im Nachkriegsdeutschland oft als »­Judenfreund« beschimpft worden. Tatsächlich ist er eine Bedrohung gewesen für jene, die zu ihrer Verteidigung immer gesagt hätten, man habe ohnehin nichts gegen die Nazis unternehmen können, glaubt Friedman. Hinter dieser Verweigerung habe sich ein Selbstbetrug der Deutschen verborgen, der bis weit in die achtziger Jahre angedauert habe.

Für seine Eltern sei die Existenz Schindlers ein Grund dafür gewesen, nicht völlig an der Menschheit zu verzweifeln: »Schindler hat uns gezeigt, was ein Mensch ist.« Auch er selbst, so bekennt Michel Friedman, hat dieses Judenretters wegen ein Grundvertrauen in die Menschen behalten. Schindlers Taten seien für ihn bis heute eine Antriebsfeder sich einzumischen, wenn immer Unrecht geschehe.