Nie wieder Rotkäppchen - Eva König - E-Book

Nie wieder Rotkäppchen E-Book

Eva König

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Beschreibung

Titel "NIE WIEDER ROTKÄPPCHEN " scheint mir interessant und macht neugierig. Emotion wird geweckt.

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Lautes Schlüsselklappern reißt mich aus dem Schlaf und das darauffolgende Donnern der Stahltüren, die aufgesperrt werden und meistens mit lautem Getöse und großer Wucht wieder ins Schloss fallen, bestimmt seit Mai 2017 schon mehrere Monate meinen Tages- und Nachtablauf. Leider habe ich laute, rücksichtslose Geräusche schon immer verabscheut. Meine jüngsten Erinnerungen an solche liegen einige Jahre zurück. Es war bei einem Kurzaufenthalt in einer Uniklinik, wo ich wegen Verdachts auf Blinddarmdurchbruch eingeliefert worden war. Damals empfand ich allerdings die Tag und Nacht unverschlossene Zimmertüre als unangenehm – puh, heute wäre ich froh, wenn die vermaledeite Tür offen wäre!

Jetzt habe ich jedenfalls ausreichend Gelegenheit, meine Abneigung gegen laute Geräusche und einige andere Dinge zu neutralisieren bzw. endgültig ad acta zu legen. Da wären zum Beispiel die Duschen: Marke alte Jugendherberge, Stand 1950, oder das Essen: keine Vitamine, aber viel Pampf, und vor allem das ständige Herumgeschreie auf hallenden Gängen und die doch sehr eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten, und nicht zu vergessen das ständige vorprogrammierte Warten auf irgendetwas, während man in kleine, muffige Zimmer mit vergitterten Fenstern eingesperrt ist.

Für eine Frau mit leicht überdurchschnittlichen geistigen Voraussetzungen gibt es hier viel zu staunen, und trotz des Ernstes der Lage entbehren viele Situationen nicht einer gewissen Komik: Neulich lauschte ich einem Gespräch meiner Leidensgenossinnen, die sich über »Die???« unterhielten. Ich war einfach nur platt über so viel Naivität. Darauf komme ich noch zurück. Von der unfreiwilligen Komik der erteilten Anweisungen seitens der Beamtinnen will ich vorerst nicht sprechen. Alles zu seiner Zeit, denn die Zeit drängt: Es gibt total aufregende News!

Der Busch- bzw. Knastfunk funktioniert inhaltlich gesehen nicht immer zuverlässig, dafür aber schnell über mehrere Medien, die da wären: Fenstergebrüll, natürlich verboten, aber geduldet, dazu im täglichen Hofgang mit reichlich Gelegenheit zum Austausch, und vor allem die Hausmädchen und die Putzer, das sind die glücklichen Geschöpfe von uns, die einen JOB haben, schlecht bezahlt, aber immerhin bezahlt, und die das Essen verteilen, somit durchs Haus kommen bis in die Küche, die Beamtenzimmer putzen, die Gänge, die verlassenen Zellen, und dabei viel hören und sehen. Außerdem kommunizieren sie untereinander und haben mehr Aufschluss (= Zelle offen) im Gegensatz zum Einschluss (= Zelle zu). Dieser Knastjargon ist auch so ein Thema, auf das ich noch eingehen muss, aber später, um ja nichts zu verpassen. Der tägliche einstündige Hofgang – eine an und für sich triste Angelegenheit, da der Hof klein und grau ist, aber für die »Hungrigen« von uns – hungrig nach ein paar geschrienen tollen Aufforderungen seitens der Männer, die aus ihren Knastfenstern auf den Hof schauen – , also für diese Mädels ist das dann das Highlight des Tages. Ich zitiere: »Alter, was geht?«, »He, u, wie lange geht deine Strafe?«, und noch einige unmissverständliche Aufforderungen zum sofortigen SEX – wahnsinnig scharfsinnig, denn die Gelegenheiten dazu liegen auf der Hand: keine, und das auf längere Zeit. Und doch gibt es hier durchaus Liebeskummer, weil der Schwarm heute gar nix gesagt hat oder etwas besonders Verletzendes. Es wird auch per Hauspost geschrieben, natürlich von den Beamten hüben und drüben kontrolliert. Da schreiben sich Paare, die sich noch nie gesehen haben, da die sehr engmaschigen Gitter das einfach nicht zulassen. Ein wenig erinnert es mich an Brieffreundschaften, die man in grauer Urzeit voller Hoffnungen pflegte – ein totaler Schock trat ein, wenn das erste Foto eintraf oder der Angebetete persönlich anreiste.

Also, die heutige Sensation besteht aus einem Neuzugang und kommt über die Hausmädchen rein: Eine junge Frau im schlechten Zustand, weil völlig zugekifft oder mehr, liegt jetzt im Raum »O. G.«. Das ist ein Raum ohne Gegenstände und ähnelt einer Gummizelle in der Psychiatrie. Man hat dort einfach gar nichts – nicht einmal Toilettenpapier, und muss nach Benutzen der Toilette auf den NOTRUF drücken, damit die Spülung betätigt wird. Kein Raum, wo man wirklich hinmöchte. Leider ist er auch als Strafe zu bekommen, wobei das Bestrafungssystem nicht durchschaubar ist. In jedem Fall sollte man niemandem drohen, die Inneneinrichtung der Zelle nicht zertrümmern und nicht unbedingt in eine Rauferei verwickelt werden, nicht unvorschriftsmäßig bekleidet auf dem Gang erwischt werden und nicht frech zu den Beamten sein und vieles mehr, eben alles Mögliche, was verboten ist, und es ist viel verboten. Denn dann wird man zur »Chefin« zitiert und die Sache wird besprochen. Nun wird die Strafe verhängt, zum Beispiel verschwindet das gemietete TV für einige Zeit, die aufgeschlossene Zeit wird beschnitten, man darf also nicht aus der Zelle raus. Schlimmstenfalls ein Diszi, ein Disziplinarverfahren, was in die Akte eingetragen wird und bei Gericht das Strafmaß beeinflusst. Oder man wird eben in diesen, ich nenn das jetzt einmal Bunker gesperrt. Ganz scheußlich!!!! Diese Kammer des Schreckens wird 24 Stunden mit Kameras überwacht und die Übertragung kann man in einem bestimmten Blickwinkel vom Gang aus im Dienstzimmer sehen, und so weiß der gesamte Knast (flüster, flüster) Bescheid und beobachtet den Fortgang der Besserung oder in diesem Fall Ausnüchterung des bedauernswerten Häufleins Elend, das dort liegt. Vorerst bewegungslos.

Am nächsten Vormittag ist der Neuzugang weg und das bedeutet, dass das Mädel irgendwo innerhalb der drei Etagen gelandet sein muss. Jawohl, bei uns. Beim Mittagessen sehen wir sie ganz kurz, denn sie hat noch keinen »Aufschluss«, sondern darf nur kurz zum Essenholen raus. Es ist immer sehr interessant und wird von allen genauestens beobachtet, wenn eine NEUE kommt. Hat etwas von einer Schule oder einem Internat an sich. Also, was ist nun zu vermerken? Sie taumelt sichtlich benommen mit ihrem Essenstablett – einer grauenhaften Fressschale ähnlich einem Hundegeschirr mit drei Abteilungen für Suppe, Hauptgericht und Salat (Dessert ist hier nicht), alles aus Metall und ebenso unhandlich wie unschön – durch den Raum. Die großen blauen Augen – wie kommt denn so ein braunhäutiges, dunkelhaariges Geschöpf zu diesen Augen? – blicken müde und erschöpft unter den dichten Wimpern hervor. Leo aus der Zelle neben mir seufzt theatralisch auf, Ronja markiert wie immer die Rockerbraut, unsere zarte blonde Madonna Martha sendet sofort Hilfsangebote mit entsprechenden Gebärden und sogar unser gestrenges Hausmädchen Sugar lässt sich zu einigen erklärenden, nicht unfreundlichen Worten herab: »Soße über die Nudeln oder übers Fleisch?« Es kommt keine Antwort. Die verwirrte und wohl auch verirrte Schönheit schweigt leidvoll vor sich hin. Sie ist AFFIG.

Inzwischen weiß ich, dass damit hier nicht etwa eitel oder so was gemeint ist, nein, »affig« meint »auf Entzug«. So spricht man in einschlägigen Kreisen und davon gibt’s hier jede Menge. Der Zustand »affig« ist ein grässlicher: Kotzen, Durchfall, Frieren, kalte Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit, endloses Gähnen, Niesanfälle – ist bei jedem etwas anders und hängt auch vom konsumierten Stoff ab. Wenigstens das ist mir erspart geblieben, denn ich bin ja eine Wirtschaftskriminelle, die es nicht verstanden hat, mit sehr viel Geld aus der Firma so umzugehen, dass es wieder zum geeigneten Zeitpunkt vorhanden war – sehr gefährlich und deshalb vorerst einmal weggesperrt in U-Haft – mehr oder weniger friedlich vereint mit Mörderinnen, Diebinnen, sonstigen Gewalttäterinnen oder einer nahezu unüberschaubaren Menge von Drogenmädels, teils Dealerinnen, teils Abhängige, die dann zu Diebinnen werden, da die Kohle für den Stoff ja irgendwie her muss – einige gehen dafür auf den Strich, das wird meistens aber lieber totgeschwiegen. Und bitte nicht zu vergessen die notorischen Schwarzfahrerinnen und die Damen, die eine Geldstrafe absitzen müssen. So eine Handvoll richtiger Drahtzieherinnen – vornehmlich auf dem Drogenparkett – halten täglich Hof beim Hofgang und lassen ihre Chefinnenrolle raushängen. Ob sie wirklich große Lichter sind oder ob sie doch eher nur Taschenlampenformat haben, kann ich nicht so richtig einschätzen. Nun haben wir diese Neue bei uns auf der s-Etage, womit sie es eigentlich ganz gut getroffen hat Das Gewaltpotenzial ist überschaubar – einige Russinnen muss man im Auge behalten, aber meistens sind wir friedlich und haben auch mitunter viel zu lachen.

Lea, unsere Putzerin, treibt besonders gern einigen Schabernack. Neulich rief sie durch das kleine hochklappbare Sichtfenster: »Frau König, bitte Notruf drücken!« Diese Vorrichtung wird von der Verwaltung für die Kommunikation bezüglich Besuchsankündigungen, morgendlichem Weckruf und Anweisungen aller Art genutzt und ich Esel stürzte natürlich sofort in Richtung dieser Sprechanlage an der Wand. Da hörte ich sie schon begeistert lachen und ihren persönlichen Schlachtruf »voll krass, Mann«, der immer bei gelungenen Aktionen zum Tragen kommt, durch den Gang schallen. Zu allem Überfluss erzählte sie umgehend den herumschwirrenden Hausmädchen, wie gut ihre Finte wieder mal geklappt hatte. Somit hatten alle inklusive mir etwas zum Lachen!

Nachdem unsere Neue wieder in ihrer Zelle verschwunden ist, sitzen wir in der Küche an unserem Tisch, um miteinander zu essen. Nicht alle kommen da zusammen. Manche ziehen es vor, in ihrem Zimmer zu speisen, aber der harte Kern trifft sich hier jeden Mittag und ratscht beim Essen ein bisschen. Das Thema heute ist natürlich klar: Anna Sophia Conti – so steht’s an der Zellentüre geschrieben, und schon der Name gibt Stoff für Spekulationen: eine Deutsche, Italienerin, Spanierin …? Da kommt einiges in Frage. In jedem Falle ist sie bildschön, groß – ich schätze mal ein Meter siebzig – , schlank mit langen Beinen und einer tadellosen Figur. Bestimmt ist sie nicht älter als höchstens 25. Ja, auch die Schönen dürfen ins Hotel Gitterblick. Leider sind die meisten hier einmal schön gewesen und nicht, weil sie schon so schrecklich alt sind, oh nein, da haben wir tolle Frauen um die 30, die keinen Zahn mehr im Mund haben, andere haben riesige Zahnlücken und die verbliebenen sind braun bis schwarz verfärbt. Die ehemals schöne Haut ist rissig und pickelig, die Haare strohig, und das sind ganz eindeutig Drogenschäden – macht aber nix, die noch einigermaßen schönen, jungen Mädels schreckt das gar nicht ab. Es scheint ihnen die Sache wert zu sein … Da fehlen mir die Worte und, ganz ehrlich, auch das Verständnis. Wenn schon sonst nichts zieht, dann doch wenigstens die Eitelkeit, die doch jeder weiblichen Person in die Wiege gelegt wird. Hier habe ich täglich Gelegenheit, anderes zu lernen – der sogenannte Suchtdruck ist einfach immer allgegenwärtig, und während ich vom Radeln draußen träume, von meinem Herzblatt, vom Shoppen, von meinen Katzen und solchen profanen Dingen, träumen meine Mädels ja nicht mal vom Sex, nein, nur vom Kiffen, Schnupfen, Spritzen und, und, und. Und da wird nicht nur geträumt; wie man hört, ist auch hier im Haus einiges unterwegs – allerdings wird regelmäßig kontrolliert und wenn die Urinprobe positiv ist, gibt’s halt wieder Bunker, die männlichen Beamten mit Hund rücken an und nehmen die verdächtigen Zellen auseinander und wenn’s ganz blöd geht, gibt’s auch noch für uns alle einen Strafeinschluss – das ist dann natürlich extra blöd. Also, wenn man nicht schon süchtig ist, man kann’s hier gut werden.

Wir sitzen also zusammen am Tisch und spekulieren um Anna Sophia herum. Das Delikt steht eigentlich schon fest: Drogen – aber was sonst noch? Da ertönt schon wieder der etwas barsche Befehl »Einschluss« und wir begeben uns in Richtung Zelle. Wird aber nicht lange dauern, denn der Hofgang steht ja noch an. Da ich eine Tageszeitung erwischt habe, lese ich die jetzt erst mal in Ruhe, und da stoße ich schon auf interessante Dinge: Ein Drogenring wurde ausgehoben, 40 kg Stoff sichergestellt, einige Tausend Tabletten und natürlich Koks. Nicht alle Beteiligten konnten festgesetzt werden, aber vier Männer und zwei Frauen gingen in die Falle. Das Ganze gelang überhaupt nur aufgrund eines Insidertipps – aha, da klingelt doch etwas. Vor drei Tagen kam eine Mitschwester ganz, ganz überraschend nach zehn Monaten U-Haft bereits am zweiten Prozesstag frei. Man sprach natürlich gleich von Verrat und seitens der Drogenbaronin (hält wie schon erwähnt auch täglich Hof hier) wurden leise, aber unmissverständliche Drohungen in diese Richtung geäußert. Na ja, solange sie hier ist, wird da nicht viel passieren, aber die Kontakte nach außen sollte man nicht unterschätzen. Beim täglichen Flanieren vor den Männerfenstern werden natürlich auch kleine Botschaften hin und her geschrien, denn wenn dort jemand entlassen wird oder neu eintrifft, gibt’s von draußen oder nach draußen einiges zu bestellen. So musste ich leider auch hören, dass eine mir ans Herz gewachsene und vor kurzem entlassene Frau wieder »voll drauf« ist und ich warten kann, dass sie wieder hier einfährt. Und genau auf diesem Weg ist natürlich solch ein Verrat eher ungünstig … Obwohl ich Drogen verabscheue und vor allem deren Wirkung, Verrat hasse ich noch mehr und da bin ich mit meinen Leidensgenossinnen wieder einmal total einig. Zudem sagt ein Knastsprichwort: Die Beamten und die Polizei lieben den Verrat – aber sie hassen den Verräter! Schlau, schlau!

Nun studiere ich den Artikel in der Zeitung noch einmal genau und meine Vermutung, dass unsere Neue da mit aufgeflogen ist, bestätigt sich. Es gibt einen kleinen Hinweis, demzufolge eine Tochter des Hauptverdächtigen, der sich auf der Flucht befindet, aufgegriffen worden sei – unter Einfluss von Drogen habe sie einen Polizisten getreten und einer Beamtin mehrfach ins Gesicht gespuckt. Außerdem wäre sie nicht vollständig bekleidet in Gewahrsam genommen worden. Na, wenn es unsere Anna ist, jetzt hat sie jedenfalls alles schön züchtig und vorschriftsmäßig an, denn darauf legt die Leitung der JVA schon großen Wert. Gott sei Dank darf ich – zurzeit noch als Einzige – meine eigenen Sachen tragen und diese müssen dann im Zwei-Wochen-Rhythmus von meiner herzallerliebsten Tochter oder deren Papa (mein Exmann) abgeholt und gegen saubere getauscht werden, dabei darf ich auch 45 Minuten besucht werden. Tolle Sache – auch meine eigene Bettwäsche und Handtücher darf ich haben, da ich ja zwar fürchterlich kriminell bin – so schlimm, dass der Staatsanwalt mich keine Minute freilassen will – , aber doch immerhin keinen »Sicherheitseintrag« habe. Das wiederum hängt eben mit meiner Drogenfreiheit zusammen. Wenigstens etwas!!!!

Bemerkenswert ist, dass mein Exmann das für mich macht, denn mein Herzblatt, mit dem ich die letzten 28 Jahre nun schon verbringe, lebt in der Nähe von Hamburg und hat zu alledem noch Besuchsverbot. Wegen Verdunkelungsgefahr, wobei wir zum Verdunkeln ja wohl ausreichend Zeit gehabt hätten. Ja, wenn man manchmal den Staatsanwälten und Richtern ins Hirn schauen könnte – ich glaube, da wäre viel Interessantes zu sehen.

Aber zurück in die Zelle – die Sprechanlage verkündet »Bereitmachen zum Hofgang«, das heißt Schuhe anziehen und Mantel oder was so passt, denn wenn dann scheppernd aufgesperrt wird, soll man natürlich auch wieselschnell ausrücken, um denn ein Stockwerk tiefer vor der Türe hinaus entsprechend lange rumzustehen und – was wohl? – zu warten. Aber die Türe geht auf und aus allen sechs Abteilungen vom EG, ersten und zweiten Stock strömen die Damen hinaus. Der Geräuschpegel ist extrem hoch, da ja auch ein riesiges Kommunikationsbedürfnis da ist und es ja überall hallt. In diesen Kreisen wird – ähnlich wie im Kindergarten oder in der Schule – prinzipiell immer leicht schreiend geredet. Man wartet ja auch keinesfalls, bis der andere fertig ist, dauert viel zu lange und hat man ja auch draußen nie gemacht. Auch das ist für mich eher schwierig – aber es ist nun mal so.

Nach einigen Minuten haben die Hauptakteurinnen ihre festen Plätze eingenommen. Mit respektvollem Abstand: Eine sitzt auf dem umfassenden Mäuerchen, eine auf der Bank in der Mitte und die Dritte auf der Treppe nahe Mauer. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind korpulent, um mich vorsichtig auszudrücken. Also fett. Noch zu erwähnen ist Karat, eine Frau Mitte 30, sehr dünn mit langen roten Haaren. Von ihr habe ich auch meinen Namen »ROTKÄPPCHEN« bekommen. Und das war so (das ist ihr Lieblingssatz, mit dem sie häufig eine Darlegung beginnt): Es gibt schon drei Mädels mit meinem Namen und Eva ist ja auch nicht sehr besonders. Da ich aber rote kurze Haare habe, sehr dicht und vom Schnitt her durchaus mit einer Kappe vergleichbar, war ich schon am dritten Tag Rotkäppchen. Durchaus schmeichelhaft für mich, da ich vom Alter her eher die Großmutter des gleichnamigen Märchens sein könnte. So sind aber die Fenstergespräche wesentlich einfacher. Telefon für Rotkäppchen ist klar und insgesamt nahm mich Karat von Anfang an unter ihre schützenden Fittiche, und das, obschon ich nichts zu bieten hatte. Denn hier gibt’s schon einige harte Währungen: Kaffee, Tabak, Papers zum Drehen der Zigaretten, denn da wir alle sehr wenig Geld haben und die Strafhäftlinge auch nur wenig einkaufen dürfen, ist eigentlich alles knapp. Vor allem dadurch, dass nur alle vier Wochen eingekauft werden darf, per Bestellung auf einer Liste – da herrscht dann so zehn Tage vor dem nächsten Einkauf bei den Rauchern Panik und da die Mädels durchschnittlich acht Tassen Kaffee pro Tag wegtrinken, ist auch dieser knapp. Von Zucker, Schokolade, Kuchen und Keksen nicht zu reden – ebenso Kosmetika. Na ja, ich hatte also gar nichts, und für die interessierten Lesben kam ich auch nicht in Betracht. Dazu gibt es ’ne heiße Story – man lerne daraus, eine Sprache, die man vor Jahrzehnten in der Schule gelernt hat, verändert sich auch. Ich denke da an Englisch. Nachdem hier einige nette Italienerinnen sind, spreche ich mit diesen Mädels gerne Englisch. Ich erzählte also, dass ich beim nächsten Einkauf einen Kuchen kaufen würde, um ihn mit meinen Girlfriends zuessen. Cara lachte mich begeistert an und drückte ihre Schulter an meine. Sie fragte auf Englisch zurück: »Wer ist dein Girlfriend?« – ich war fest davon überzeugt, dass Girlfriend einfach nur Freundin heißt, ganz ohne Beigeschmack. So holte ich zu einer umfassenden Geste mit dem Arm aus und sagte: »Ich habe a lot of girlfriends«, also eine große Menge davon. Caras Augen werden kugelrund und sie brach in großes Gelächter aus, da auch sie die Komik der Situation bemerkte. OMI Rotkäppchen und ihr Knastharem. Gelernt habe ich dabei, es muss »friendsgirl« heißen, wenn man es so meint wie ich. Den Kuchen haben wir dann aber doch alle zusammen verputzt und immer noch viel gelacht. Also Karat ist natürlich auch heute beim Hofgang unterwegs und das ist gar nicht so selbstverständlich, denn eigentlich wäre sie draußen, aber nachdem sie vor 14 Tagen endlich frei war – von der Verhandlung von Richters Gnaden und Weisheit (die muss ich hier sehr stark anzweifeln) direkt entlassen – ohne Therapie oder irgendeine Vorbereitung, erschien sie postwendend nach zehn Tagen wieder hier. Sie hat ja draußen weder eine Wohnung noch sonst einen Zufluchtsort und ein kurzer Stopp beim Bahnhof und schon nahm das Schicksal mal wieder seinen Lauf.

Nach ihrer Rückkehr habe ich sie gefragt: »Was ist denn nun schon wieder passiert?«, und die Antwort war sehr herzig: »Mei, Rotkäppchen, ich habe eine Packung Lammfilet und eine Tüte Pistazien geklaut – weißt – ich stand wieder mit dem Arsch an der Wand und hab was gebraucht, hätt ich gut verkaufen können. Aber besser, ich bin wieder hier.« Kurz und bündig und so geht’s hier halt wieder von vorne los – Entzug – Warten auf Anklage, Verhandlung und dann?

Also Karat nähert sich unserer Neuen, denn in den Hof darf man vom ersten Tag an – das ist so eine eiserne Vorschrift, jeden Tag steht uns eine Stunde Luft zu – , ich glaube, sogar bei den härtesten Strafen wird das durchgezogen – man muss dann eben zu einer anderen Zeit raus und muss eine Stunde alleine rumstehen oder gehen. Ich gehe ja konsequent 45 Minuten im Hof und zweimal 45 Minuten in der Zelle – nicht so richtig toll, aber es geht: fünf Meter hin und fünf Meter zurück. Alles zusammen gibt das pro Tag so an die acht bis zehn Kilometer und im Gegensatz zu allen anderen nehme ich hier eher ab als zu. Der typische Knast-Kummer-Speck oder Frustspeck ist für mich keine Option. Karat steht vor der Schönheit und schaut sie erst einmal freundlich an – »Wie geht’s dir?« »Geht so«, kommt in einwandfreiem Deutsch zurück. Aha, also Deutsch kann sie schon mal – gute Voraussetzung, und weil Karat eben Karat ist, legt sie Anna den Arm um die Schulter und geht mit ihr ein paar Schritte. Das tut zu Anfang richtig gut, denn wir alle haben Muffe, wenn wir so das erste Mal im Hof stehen oder so wie ich überhaupt das erste Mal im Knast sind. Ich war der festen Überzeugung, dass ich um mein Leben fürchten muss – einschlägige Erfahrungen hatte ich im Fernsehen bei entsprechenden Filmen gesammelt. Um bei der Wahrheit zu bleiben, das war bisher noch nicht der Fall – im Gegenteil, ich habe viel Verständnis und Hilfsbereitschaft kennengelernt. Natürlich gibt es auch im Knast Zicken und linke Bazillen. Aber das ist ja draußen auch nicht anders. Allerdings ist man hier gut beraten, Gefahrenherde zu meiden und keine allzu große Lippe zu riskieren – sonst könnte es doch unangenehm werden.

Wir laufen nun also zu viert: Karat, Lea (beste Freundin von Karat), Anna und ich. Es wird nicht arg viel gesagt, da Anna immer noch stark eingeschränkt reagiert und es jetzt erst einmal um »sozialen Kontakt« geht. Auch so ein Begriff von Karat, wenn sie mal da und mal dort ein wenig sitzt und hört und ratscht. Ich bin mit meinem Lauftempo (schnelles Gehen) auf die Dauer für die anderen sowieso zu schnell und so mache ich halt auch mal da und dort eine kurze Pause, damit mir nichts entgeht.

Diese Pausen muss ich auch recht konsequent einhalten, damit keiner beleidigt ist – sonst bekomme ich zu hören, »du hast mich wieder gar nicht gesehen« … eben ein bisserl wie in der Schule. Aber es ist ja auch informativ. So erklärte mir die Drogenbaronin ernst, was ich beim Umgang mit den anderen »Herrscherinnen« zu beachten habe – »Sind nicht ehrlich – pass auf, Rotkäppchen!« Und auch mit meinen Reichtümern an Kaffee und Süßigkeiten soll ich mal besser nicht so freigiebig sein – »Weißt, die nutzen dich aus« – und keine zwei Minuten später: »Ach, Rotkäppchen, hast für mich Kaffee? Ich hatte eine Teileinkaufssperre wegen aufsässigem Benehmen.« Um ehrlich zu sein, der Grad meiner Beliebtheit hat ganz klar mit dem Grad meiner »Ausschüttungen« zu tun. Ist halt wie im wirklichen Leben. Was auch sonst sollte so unglaublich attraktiv an mir sein? Aber wenn man es weiß, ist es auch gut einzuordnen. Ein paar rühmliche Ausnahmen gibt es schon auch.

Als ich nach 20 Minuten scharfem Gehen wieder bei unserer Anna aufschlage, erzählt Karat gerade anschaulich aus ihrem nicht ganz uninteressanten Leben, und ein zartes Lächeln stiehlt sich auf Annas Züge. Na, es wird doch! Für mich sind die so sehr Traurigen immer ein Grund mehr, diesen Knast zu hassen – aber die Momente versuche ich tunlichst zu umgehen. So bringe ich auch noch schnell einen meiner Witze zu Gehör und da lacht unser neues Küken auch ein wenig mit.

Der Hofgang ist schnell vorbei und wir rücken wieder ein. Da noch ein bisschen Zeit ist, besuche ich unsere lustige niederbayerische Senta (sie wohnt mit einer herben Russin zusammen) und erkundige mich nach dem Befinden. Es ist sehr durchwachsen – warum? Ein Brief vom Freund ist eingetroffen und Senta ist unzufrieden – zumal diese Briefe ja auch von den Beamten gelesen werden. Ja, was ist denn nun genau geschrieben worden? »Also, so ein Depp – der schreibt da ganz detailliert über Sex.« Ja, und? »Ja, spinnt der?« Das lesen die – da ist Senta also doch ein bisserl gschamig, wie man in Niederbayern sagt???? Hätte ich jetzt gar nicht so gedacht. Wir malen uns gerade mal aus, wie man damit umzugehen hat, da kommt eine kleine Maus – wir haben auch ein paar 16-jährige Kids bei uns – und fragt mich, was ich wohl von den angebotenen Essensdingen am liebsten mag. Ich erkläre also bereitwillig, dass ich mich sehr für Obst und harte Eier interessiere. Diese Äußerung löst bei der anscheinend jetzt doch sehr sexorientierten Senta einen Riesenlachanfall aus, obwohl ich wirklich an hartgekochte Eier und nix anderes gedacht hatte. Nachdem wir alle vermuten, dass in dem reichlich angebotenen Tee Hormone sind – diese Vermutung wird gestützt durch die Tatsache, dass man, so man ihm zuspricht, sehr schnell wachsende Haare und Nägel sowie eine Zunahme der Gesichtsbehaarung beobachten kann –, empfehle ich Senta nur unbedingt, wieder Tee zu trinken. Wir meiden diesen Tee nämlich konsequent und schon ist wieder alles normal. Ich versteige mich zu der Idee, Senta solle sich am besten in den Tee noch zusätzlich reinsetzen – geht wahrscheinlich, da die Teekessel riesig sind. Die Vorstellung erheitert uns sehr, während unser Kid nicht so recht weiß, um was es genau geht. Diese Rücksichtnahme könnten wir uns eigentlich sparen, denn die drei 16-Jährigen sind mit allen Wassern gewaschen – das Delikt für die Haft ist räuberische Erpressung – , bewaffneter Überfall und schwere Körperverletzung. Und dabei sind sie in mancher Hinsicht wirklich noch halbe Kinder und auf alle Fälle Kindsköpfe. Aber die Tatsachen sprechen natürlich eine andere Sprache.

Auf den gerade ertönten Befehl »Einschluss« und das aggressive Schlüsselrasseln folgt nun das Donnern der Zellentüren, die nach und nach zugeworfen werden. Jetzt ist mal bis morgen früh wieder Schluss mit lustig. Die Gespräche über Sex lassen natürlich auch meine Erinnerungen wach werden und da gibt’s schon einiges, was eine Rückschau wert ist. Auch einige Erlebnisse, die noch heute mein Blut in Wallung bringen – aber auch eine Menge Dilettanten waren am Werk. Ist schon erstaunlich, wie spärlich gesät wirklich gute Liebhaber sind. Meistens sind diese für eine Ehe oder ernste Beziehung untauglich, aber im Bett eine Wucht. Bei genauem Betrachten schwebt über einem immer noch die von mir (und wahrscheinlich nicht nur von mir) verliehene Krone. Ich war, als ich ihn ganz zufällig kennenlernte, schon gut in der Mitte meines Lebens angelangt. Auf den ersten Blick sah er zwar gut aus, aber diese besonderen Fähigkeiten standen ihm nicht auf die Stirn geschrieben. Er wirkte ein wenig schüchtern, in seinem Job durchaus beeindruckend, aber immer, wenn wir alleine waren, lief eigentlich nichts. Und dann kam ein Abend, an dem er sich wohl ein bisserl Mut angetrunken hatte und – wie passend – aus gesellschaftlichem Anlass getanzt wurde. Ohoo, das war ja eine Anmache, direkter geht’s wohl nicht mehr: Er nahm meine Hand und legte sie ganz unauffällig während eines langsamen Liedes auf seinen männlichsten Körperteil – mal ganz direkt gesagt – , ich fühlte einen richtigen Prachtschwanz. Das war der Beginn einer fünfjährigen Affäre, mit HASI, die mir den besten SEX meines Lebens bescherte und eine Menge aufregender Abenteuer. Ein guter Teil des Genusses ist immer auch die Heimlichkeit – man hat ständige Angst erwischt zu werden und wenn es so richtig gefunkt hat, denkt man Tag und Nacht darüber nach, wann es wieder klappen könnte. Wir hatten unsere Rendezvous mal auf dem Dachboden des naheliegenden Hotels, in dem ich auch geschäftlich viel zu tun hatte, in und hinter schnell gefundenen Gebüschgruppen und natürlich auch hin und wieder eine ganze gestohlene Nacht. Dazu mussten gut ausgetüftelte Pläne geschmiedet werden, und plötzlich fand ich mich im ADLON in Berlin oder im SACHER in Wien in einer schicken Hotelsuite wieder. Aber das alles wäre recht uninteressant gewesen, wenn dieser Mann nicht eine solche Kanone im Bett gewesen wäre. Ich konnte alles das ausleben, was ich schon wusste, und gemeinsam entdeckten wir doch noch eine ganze Reihe neuer Variationen. Da lag ich nun also in meinem schmalen Gefängnisbett – in der großen Weltliteratur hieße das jetzt »auf meiner harten Gefängnispritsche«, aber so ganz dramatisch will ich es jetzt mal nicht machen. Also ich lag da, die Hand zwischen meinen Schenkeln, und schwelgte tatkräftig in den wunderschönen Erinnerungen, spürte schon beinahe seine fordernde Lippen auf den meinen, genoss seine sehr erfahrenen Hände auf meinen Brüsten – ich habe sehr kleine, feste Brüste, aber dafür sehen sie halt auch jetzt immer noch tadellos aus. Bei den großen Titten, kann ich hier gut beobachten, setzt die Erdanziehung schon sehr bald ein, und bevor ich in einen erotischen Traum sinke, sorge ich jetzt einfach selbst dafür, dass ich ein wenig Sterne sehe und genieße einen schönen langen Orgasmus. Gelernt ist halt gelernt!

Der nächste Morgen beginnt um 6:30 Uhr mit einem Weckruf durch die Sprechanlage, und einige Minuten später sperrt die Beamtin – oha, heute ist es wirklich eine Nette und auch sehr Hübsche, die Barbie, wie sie durchaus liebevoll von uns genannt wird – auf. Ich gehe mal kurz den Gang rauf und runter – zum einen muss ich mir eine Zeitung organisieren und ein wenig soziale Kontakte pflegen. Und was ich sehe, Anna Sophia ist zum Leben erwacht. Sie spricht und ist gar nicht mal so schlecht drauf. So bleiben wir alle ein bisschen stehen und fragen unsere Neue aus: Das Schema der Abfragerei ist ziemlich festgelegt. U-Haft oder Strafhaft? Sie antwortet brav »U-Haft«. Wir stellen uns vor, denn wie Anna Sophia heißt, haben wir ja alle schon an der Zellentüre gelesen. Inzwischen ist sie auch nicht mehr allein im Zimmer – Mara ist bei ihr, ein nettes, aber sehr einfach gestricktes Wesen aus Würzburg. Sie muss hier sein, da ihre Mittäter in Würzburg einsitzen und man da auf strenge Trennung achtet, damit der Knast-Funk keine Absprachen zulässt. Es ist meistens total überflüssig, denn solche Absprachen sind schon lange vorher getroffen worden und wenn sie gebrochen werden, dann weil halt einer lieber rausgeht und dafür die anderen opfert. Kommt nicht so sehr oft vor, denn es gibt ja bekanntlich auch ein Leben nach dem Knast, und die »Kronzeugenregelung« trifft mit umfassendem Schutz und neuer Identität nur auf die wirklich ganz großen Haie im Becken zu. Hier sind meines Wissens keine. Nun schreitet unsere Befragung aber voran, von der unerschrockenen Olga (russische Zellengenossin meiner niederbayerischen Freundin Senta): »Was hast du gemacht?«, wird mit starker russischer Klangfärbung vorgebracht. Anna seufzt tief: »Ja, halt Drogen, und da haben sie bei mir was gefunden und high war ich auch, und die Unterwäsche, die ich anhatte, da war noch das Preisetikett und der Knoko, die Diebstahlsicherung, dran.« Wir lachen alle begeistert auf – »Ja, warum hast du das denn nicht wegemacht?«, fragt Lea. »Ich war einfach so zu«, ist die Antwort und alle – außer mir – pflichten ihr bei. Ja, ja, das ist halt so … Lea guckt mich an, »ja, Eva, voll krass, Mann«. Und wir brechen bei unserem Standardwitz wieder mal in Gelächter aus. Es soll halt auch heißen, dass ich davon gar keine Ahnung habe und nicht mitreden kann. Was ja auch zutrifft. So entsteht fix eine rege Unterhaltung über die unterschiedliche Wirkung von Speed, Gras, Crystal und natürlich Koks. Ich lausche, und nach dem, was ich so verstehe, macht das meiste davon benommen und man steht gewaltig neben sich – während man mit Speed und Crystal auch mal ein oder zwei Tage und Nächte durchmachen kann. Senta erzählt mir, dass sie immer vor dem Hausputz Speed schnupft, dann putzt sie wie ein ganzer Reinigungstrupp und fühlt sich dabei auch noch prima. Da ich ja auch immer alles vom erotischen Standpunkt her betrachte, frage ich Senta, sie erscheint mir da am kompetentesten – »Ist der Sex dann auch aufregender?« Ich sehe es schon an ihrem Gesichtsausdruck – Fehlanzeige! »Er steht dann nicht mehr so richtig«, murmelt sie etwas leiser. Also gibt’s gar keinen Grund für das Konsumieren – in dieser Hinsicht. Irgendwie habe ich mir das anders vorgestellt. Aber sie wird’s schon wissen! Da das Wochenende vorüber ist, findet der Hofgang jetzt wieder morgens von 7:30 Uhr bis 8:30 Uhr statt und wir machen uns bereit. Ist im Sommer, wenn es richtig heiß ist, eine tolle Uhrzeit, aber im Winter????!! Nach der üblichen Wartefrist vor der verschlossenen Hoftüre wird aufgesperrt. Allerdings dürfen wir immer noch nicht raus, da heute zwei Beamtinnen erst mal den Hof checken. Die Männer werfen mitunter Briefchen oder andere Päckchen (drugs) durch ihre Gitterfenster, und das wird dann von den Mädels gesucht und gefunden. Alles strengstens verboten, und nach Möglichkeit wird solch ein Teil jetzt schon entfernt. Als es dann so weit ist, bemerke ich auf der kleinen Treppe hinaus ein Gerangel und Geschubse, und schon steigert sich das Ganze zu einem höllischen Gekreische. Da fliegen feine Worte durch den Hof – Fotze, Missgeburt, Dreckstück, Mistkäfer, und die voluminöse Drogenbaronin, eine stark umstrittene Asiatin und Karat sind im Fighten. Wir versuchen mit vereinten Kräften die Streithennen zu trennen – gerade noch rechtzeitig, denn Frau Braun, eine ebenso resolute wie barsche Beamtin, erscheint auf der Treppe. »Was ist los? Wer ist beteiligt?« Aber nachdem wir uns strategisch günstig gruppiert haben, kann sie die Übertäterinnen nicht ausmachen. Aber die Drogenbaronin – unbelehrbar, und das keifende Asiatenteil müssen natürlich noch nachplärren und schon werden ihre Namen gerufen: »Sofort rein!« Oh je, das gibt mit Sicherheit wieder ein paar Tage Einschluss und großes Lamentieren am Fenster. Was war bloß wieder los? Die beiden können nicht miteinander – das ist bekannt. Die Asiatin – gerade mal 1 Meter 50 hoch – polarisiert schon die ganze Zeit. Eigentlich ist sie unsere Knastsklavin – nicht im üblichen Sinn. Sie macht sich selbst dazu, denn auf der Suche nach einer Freundin, die Anwältin ist – sie hat einige tolle, wahrscheinlich frei erfundene Stories auf Lager – , biedert sie sich da und dort an, verschenkt dann ganz freigiebig Kaffee und andere begehrte Dinge – spült der Auserwählten das Geschirr ab und macht sich insgesamt zum Affen.

Die Mädels gehen dann immer ein paar Tage darauf ein, merken dann aber, dass Tai – so heißt sie – eine aufdringliche und eher unangenehme Dame ist, und dann ist sie halt wieder solo und fängt entweder Krach an oder das Spiel beginnt von Neuem. Eigentlich helfe ich solchen Kreaturen, aber in diesem Fall habe ich das Problem, dass ich sie halt auch gar nicht ausstehen kann. Das beruht inzwischen auf Gegenseitigkeit und ich gehe ihr aus dem Weg, was sie nicht hindert, »dumme Pute« und anderes hinter mir herzurufen, allerdings so leise, dass ich es nicht höre. Es wird mir dann berichtet und meistens lassen wir es dabei. Meine Versuche, das mit ihr in einem direkten Gespräch zu klären, scheitern an ihrer angeborenen Feigheit. Gut zu vergleichen mit den kleinen kläffenden Hunderassen, die hinter den erwachsenen Doggen herkläffen – gerade mal so lange, bis der Große sich umdreht. Wobei ich zugeben muss, von der Körpergröße her bin ich ja auch nicht viel größer, aber das übersehen wir jetzt einfach mal.

Nun ist auch schon Karat wieder an unserer Seite und Lea, Anna und ich umrunden den Hof. Karat hat Neuigkeiten: »Du, Anna, die Schoko (Dealergröße Nr. 2) will dich mal sprechen.« Anna zuckt mit den Schultern – »Und das ist wer?« Karat deutet auf eine dicke Frau, die ihre ausufernde Figur dem Hang zu Schokoriegeln zu verdanken hat – wird jedenfalls gemunkelt. Sie hat ungepflegte, lange Haare und ein teigiges Gesicht mit kleinen wachen Schweinsäuglein. Überraschend schön ist ihre Stimme, auch beim Singen in der sonntäglichen Messe hört man sie und das ist richtig schön. Nachdem wir ja alle sehr wissbegierig sind, geht Anna nicht allein zu Schoko, da müssen wir schon mit. »Hallo, du Schönheit«, eröffnet Schoko das Gespräch – es wird ihr auch ein zu schönes Mädchen nachgesagt und dass sie draußen eine »Frau hat«, also vom andern Stern ist. »Setz dich doch mal kurz zu mir«, und Anna setzt sich, ganz die wohlerzogene Tochter. »Ich kenn den Papa – schon lange, war einmal ein heißer Feger.« »Aha«, kommt nun mäßig interessiert zurück. »Ja, und dein Onkel Sergio ist ja auch gut im Geschäft.« Auch dazu weiß Anna nichts zu sagen. »Also, das ist so – du bist mal lieber schön ruhig, wenn die Kripo von dir etwas wissen will, gell?« Anna nickt, »bin ja nicht behindert …« »Ist besser so für dich«, meint Schoko, und Anna nickt. »Noch einmal, war’s das jetzt?«, fragt sie ein wenig schnippisch und Schokos Gesicht verdunkelt sich deutlich. »Ja, schon, ich mein es mit dir ja nur gut.« Anna nickt wieder und macht sich auf den Weg, und wir mit. Aber Schoko hält mich am Ärmel fest. »Fräulein Rotkäppchen (das Fräulein ist ja durchaus schmeichelhaft und auch nett gemeint), machst du ihr schon klar, was Sache ist? Der Sergio versteht da nämlich keinen Spaß und ich auch nicht.« »Ja«, sage ich, »aber weiß sie denn so viel – ist doch noch ein halbes Kind?« »Täusch dich mal nicht«, meint Schoko, »die hat’s faustdick hinter ihren hübschen Ohren. Die hat dem Hassan total den Kopf verdreht und jetzt sitzt er für sechs Jahre, weil sie ihm den ganzen Stoff unters Bett geschoben hat, als die Bullen kamen, und schwupp war sie beim Fenster draußen.« Kluges Kind also. Ich frage nach: »Warum ist Hassan dann nicht auch getürmt?« Schoko grinst – »Der war auf dem Lokus und hat die Hosen nicht rechtzeitig hochgebracht. Und weißt ja selber, mit runtergelassenen Hosen läuft man nicht so besonders schnell.« Ein raues Lachen, begleitet von einem dem Rauchen geschuldeten Hustenanfall, beendet die Story. Na, ich werde mal abwarten, wann ich Gelegenheit zu einem näheren Gespräch mit Anna habe. In den ersten Tagen sind alle immer um die Neuen rum. Und siehe da, wir werden beide zur Blutabnahme gerufen und auch da muss wieder ausgiebig gewartet werden – aber nur wir zwei. So ergibt sich eine erstklassige Gelegenheit, eine unverfängliche Unterhaltung zu beginnen. Ich erfahre mühelos, dass Anna gerade einmal 20 Jahre alt ist, die mittlere Reife am Anna-Gymnasium gemacht hat und sich dann schon – leider – sehr früh auf den Drogenpfad begeben hat. Vor einigen Monaten traf sie dann eben auf diesen Hassan, der ja ein total ausgekochtes Bürschchen ist, das weiß sogar ich – nämlich von Lea. Bei einem Model-Casting, bei dem Anna zwar nicht mitmachte – schade, da hätte sie wahrscheinlich gute Chancen gehabt –, begegnete sie Swen aus Hamburg, dem Fotografen des Ganzen. Ihre schönen Augen funkeln begeistert und mir ist klar, da hat’s jemanden ordentlich erwischt. Sie reiste also postwendend hinter Swen her und machte in Hamburg nicht nur Bekanntschaft mit dem Meer und vielen großen Schiffen – nein, in erster Linie auch mit Koks. Swen scheint auf diesem Gebiet gut unterwegs zu sein. Papa Conti versuchte mittels seines Einflusses in der Szene dem möglichst schnell ein Ende zu machen, denn Swen zählt stolze 42 Lenze und erschien Papa entschieden zu alt und zu abgekocht für seinen kleinen Engel. Funktionierte natürlich gar nicht, und das Unglück nahm seinen Lauf: Razzia in der Nobeldisco »PILOT«, und wer saß dort komplett zugekokst – in der Handtasche noch ein schönes Paket von dem Zeug? Prinzessin Anna, in der tollen geklauten Unterwäsche von La Perla. Von Swen und seiner Clique weit und breit keine Spur. Ich nicke mitleidig und bin mal gespannt, ob sie so naiv ist, tatsächlich zu glauben, das wäre jetzt nur so ein blöder Zufall. Da schaut sie mich an und sagt: »Was denkst du? Du bist doch schon ziemlich alt und hast auch viel Erfahrung.« »Dankeschön« – ich schluck erst mal, aber sie hat da schon recht – allerdings, meine Erfahrung schließt zwar eine ganze Reihe toller und weniger toller Typen ein, Drogen aber eher nicht. »Ja«, ich seufze noch ein bisschen, damit es nicht zu hart klingt, aber ehrlich bin ich nun mal: »Anna, ich glaube, das ist ein Scheißtyp – der hat dich voll reinlaufen lassen und sich aus dem Staub gemacht.« Sie schluckt jetzt ihrerseits schwer, und fast scheint’s, als wolle sie weinen, dann aber wirft sie ihre tolle Mähne zurück und sagt, »ehrlich, ich hab’s mir auch schon gedacht.« Und dann schweigen wir ein bisschen – da gibt’s ja auch nicht mehr viel zu sagen. Ich knüpfe vorsichtig an, »Männer haben insgesamt weniger Mumm als wir Frauen. Wie stehen denn deine Eltern zu der ganzen Sache, und hast du eigentlich Geschwister?«

»Also, die Mama ist in Venedig, da ist auch meine Oma und die braucht die Mama, weil’s ihr gerade nicht so gut geht, sie hat eine neue Hüfte gekriegt. Papa und Onkel Sergio kümmern sich mit den anderen in München um die Geschäfte. Meine zwei Brüder sind beim Studium und Angelina, meine kleine Schwester, ist im Internat.« »Geschäfte in München, was muss ich mir da drunter vorstellen?« Erst kommt mal keine Antwort, dann lacht sie und sagt, »ach, du, ich weiß nicht, ob du das wissen willst.« »Doch, schon – neugierig bin ich total.« »Also, wir haben so Clubs, du weißt