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Caroline und Flora sind Geschwister – die ältere Flora beschützt Caroline, wenn es darauf ankommt. Eine normale Geschwisterliebe? Vielleicht, wenn da nicht ihre alleinerziehende depressive Mutter wäre, die während ihrer Krankheitsschübe unfähig ist, für ihre Kinder zu sorgen. Die drei sind eine Hochrisikofamilie mit schlechten Chancen für die Schwestern, sich normal zu entwickeln. Doch das Leben hat nicht mit Flora gerechnet … Eine Liebeserklärung an alle resilienten Menschen dieser Welt.
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Seitenzahl: 199
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Niemals vergebens
von Gudrun Heller
Buchbeschreibung:
Caroline und Flora sind Geschwister – die ältere Flora beschützt Caroline, wenn es darauf ankommt. Eine normale Geschwisterliebe? Vielleicht, wenn da nicht ihre alleinerziehende depressive Mutter wäre, die während ihrer Krankheitsschübe unfähig ist, für ihre Kinder zu sorgen. Die drei sind eine Hochrisikofamilie mit schlechten Chancen für die Schwestern, sich normal zu entwickeln. Doch das Leben hat nicht mit Flora gerechnet …
Eine Liebeserklärung an alle resilienten Menschen dieser Welt.
Über die Autorin:
Gudrun Heller ist 1966 geboren, lebt und arbeitet zur Zeit in Dortmund. Seit 2014 veröffentlicht sie Gedichte, Kurzgeschichten und Romane im Verlag BoD, Norderstedt und in diversen Anthologien.
www.gudrunheller.wix.com/autorin
Impressum
© 2022 Baltrum Verlag GbR
BV 2212 – Niemals vergebens – Gudrun Heller
Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR
Coverfoto: Pexels
Rückseite: Pixabay
Lektorat, Korrektorat: Baltrum Verlag GbR
Herausgeber: Baltrum Verlag GbR
Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch
Internet: www.baltrum-verlag.de
E-Mail an [email protected]
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Niemals vergebens
Von Gudrun Heller
Baltrum Verlag
Weststraße 5
67454 Haßloch
1
Manchmal interessiert man sich für ein Thema, ohne genau zu wissen, warum. Und erst im Laufe der Auseinandersetzung damit stellt man fest, dass es zu Antworten auf Fragen führt, die man sich schon lange nicht mehr zu stellen gewagt hat.
So ähnlich muss es mir wohl ergangen sein, als ich mich im vierten Semester meines Pädagogik-Studiums dafür entschied, für meine Hausarbeit zum Thema Fallstudien Emmy Werners Langzeitstudie über die Entwicklung von 700 Kindern auf der Hawaii-Insel Kauai auszuwählen, die unter schlechten Bedingungen aufwuchsen.
Und plötzlich war sie wieder da, die Erinnerung an meine eigene, nicht gerade einfache Kindheit und den Menschen, der mich sicher durch sie hindurch geleitet hat: meine Schwester Flora.
Und das, was ich als Kind für so selbstverständlich gehalten hatte, dass sie immer für mich da war und für jedes Problem schon eine Lösung finden würde, erschien mir im Rückblick unfassbar und unverständlich.
Sie war schließlich nur zwei Jahre älter als ich.
2
Meine erste Erinnerung an meine Kindheit geht auf die Zeit zurück, als ich drei Jahre alt war. Unser Vater hatte uns erst vor kurzem verlassen und nun waren wir ganz auf uns gestellt.
Wir, das waren meine Mutter, meine zwei Jahre ältere Schwester Flora und ich, Caroline.
Ich hatte gerade mit Lego ein Haus gebaut und suchte Mutter, weil sie sich das unbedingt ansehen sollte. Da ich sie nicht in der Küche oder dem Wohnzimmer fand, wo sie sonst meistens anzutreffen war, riss ich die Schlafzimmertür auf.
Es war mittags, die Rollladen waren noch unten und kein Licht brannte. Einen Moment lang brauchten meine Augen, um sich an das plötzliche Dunkel zu gewöhnen. Dann erkannte ich, dass Mutter im Bett lag. Sie war heute noch gar nicht aufgestanden.
»Mama, komm, ich muss dir etwas ganz tolles zeigen!«, rief ich ihr zu. Aber sie reagierte nicht. Ich lief um das Bett herum und zupfte an ihrem Ärmel. »Mama, Mama!«
Ganz langsam wandte sie mir ihren Kopf zu und ihr leerer, wasserblauer Blick ging durch mich hindurch und brannte sich für immer tief in meine Seele ein. Ich sollte diesen Blick als Kind noch oft sehen. Vor Schreck blieb ich wie erstarrt stehen. Dann spürte ich die Wärme einer kleinen Hand.
»Mama ist krank«, sagte Flora im Brustton der Überzeugung. »Wir müssen sie in Ruhe lassen, damit sie ganz schnell wieder gesund wird.«
Sie zog mich aus dem Schlafzimmer zurück ins Kinderzimmer, wo sie mein Lego-Haus bewunderte.
Natürlich freute ich mich über ihr Lob.
Aber es wäre schöner gewesen, Mutter hätte es gesagt.
Es sollte noch ein paar Stunden dauern, ehe Mutter aus dem Schlafzimmer auftauchte. Sie hatte sich immer noch nicht richtig angezogen, sondern schlurfte in Pantoffeln und Schlafanzug in die Küche. Im Vorbeigehen strich sie fahrig über mein Haar und machte sich wortlos daran, Pfannkuchenteig zuzubereiten.
»Lecker!«, rief Flora begeistert und holte als Aufstrich Nutella und Kirschmarmelade aus dem Kühlschrank. Sie zog den kleinen Tritt unter dem Esstisch hervor, kletterte herauf und reichte mir drei Teller sowie Trinkgläser aus dem Küchenschrank herunter.
»Hol du schon mal das Besteck«, wies Flora mich an, während sie Limonade aus der Abstellkammer besorgte und in die Gläser goss. Als der Tisch gedeckt war, setzten wir uns auf unsere Plätze und schauten Mutter zu, wie sie die Pfannkuchen fertig briet. Wir strahlten vor Begeisterung, als endlich die ersten Exemplare auf unseren Tellern lagen. Und huschte da nicht ein leichtes Lächeln über das Gesicht von Mutter? Es ging ihr sicher schon besser und bald würde sie wieder ganz gesund.
Tatsächlich ging es von Tag zu Tag aufwärts mit Mutter. Sie arbeitete nun 30 Stunden in einer Bäckerei in der Nähe. Den Weg dorthin meisterte Mutter mit dem Fahrrad, denn ein Auto konnten wir uns nicht leisten.
Jeden Morgen brach sie um Punkt 4:45 Uhr auf. Arbeitsbeginn war um 5 Uhr. Mit dem Chef hatte sie ausgemacht, dass sie in der Pause mich und Flora in den Kindergarten bringen durfte. Nach Dienstschluss holte Mutter uns wieder ab.
Ich fand den Kindergarten toll. Es gab da so viele Spielsachen und Bücher und ein Außengelände mit Klettergerüsten. Es wurde gesungen und gebastelt und alle meine Freundinnen waren da, denn der Kindergarten lag mitten in unserer Siedlung.
Flora war nicht ganz so begeistert wie ich.
»Werd' du erst mal so alt wie ich«, meinte die Fünfjährige altklug, »dann wird's dir hier bestimmt auch langweilig.«
Das konnte ich mir kaum vorstellen.
Es war eine wunderbare Zeit.
Wenn uns Mutter abgeholt und wir zu Mittag gegessen hatten, durften wir nach draußen zum Spielen. Unsere kleine Mietwohnung gehörte zu einem Mehrparteienhaus, sechs Stockwerke hoch. Die ganze Siedlung bestand aus solchen Häusern, die Mitte der 60er Jahre in der Nähe der damaligen Zeche erbaut worden waren. Die Zeche gab es schon lange nicht mehr, aber dafür eine dieser wunderbaren Abraumhalden, die bepflanzt worden und nun für uns der reinste Abenteuerspielplatz war.
Die Anliegerstraßen um die Häuser herum waren im Laufe der Jahre in Spielstraßen umgewandelt worden, auf denen nachmittags jede Menge Kinder anzutreffen waren. Unter den Kindergartenkindern der Siedlung bildeten sich bald eine Mädchen- und eine Jungengruppe, die ihre eigenen Anführer hatte.
In der Mädchengruppe war das meine fünfjährige Schwester, obwohl auch noch einige Sechsjährige zu uns gehörten. Aber Flora hatte einfach immer die besten Spielideen. Sie konnte aus ein paar lose nebeneinanderliegenden Steinen eine Geheimbotschaft einer entführten Prinzessin erkennen, die es zu finden und zu befreien galt. Bellte der Nachbarshund wieder so lange, waren garantiert Einbrecher in der Nähe, die wir vertreiben mussten.
Zwischen den beiden Gruppen gab es oft Streit. Wir fanden die Jungen doof und ihnen ging es anders herum wohl genauso. Ihr Anführer war ein sechsjähriger Rothaariger mit Bürstenhaarschnitt, der es darauf anlegte, uns beim Spielen zu stören, wo es nur ging. Er hieß Thomas und sein Vater war bei der Polizei. Oft drohte er damit, dass sein Vater uns alle ins Gefängnis stecken würde, wenn wir zu frech würden.
Es war kurz nach der Einschulung von Flora, als Thomas und seine Bande es wagten, unsere Britta zu entführen und in einem Baumhaus auf der Abraumhalde zu verstecken.
Das ließen wir uns natürlich nicht bieten und heckten einen Plan aus, um sie zu befreien.
Zunächst schoben zwei von uns Wache vor Thomas Haus. Es dauerte gar nicht lange, bis unsere Wache ihn mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken losziehen sah und dem Jungen folgte. Schon bald hatte er die Halde erreicht und schlug einen Weg querfeldein durch das kleine Wäldchen ein. In gebührendem Abstand konnten seine Verfolgerinnen beobachten, wie er die anderen Jungen aus seiner Bande traf. Er schien an seinem Ziel angekommen zu sein, denn er packte seinen Rucksack aus. Hervor kam eine Strickleiter, die er nach oben in den Baum warf. Jetzt sahen die Mädchen auch das Baumhaus, das sich hinter den dicht belaubten Zweigen verbarg – und den braunen Schopf von Britta. Die Jungs kletterten nach oben, wahrscheinlich, um bei ihrem Opfer nach dem Rechten zu schauen. Die beiden Verfolgerinnen rannten so schnell sie konnten zu Flora.
Die schnaubte vor Wut. »So eine Gemeinheit! Aber lange werden sie keinen Spaß mehr an ihrer Gefangenen haben!«
Doch wie sollten wir Britta befreien? Der Stamm unterhalb des Baumhauses war glatt und astlos. So ohne weiteres würden wir nicht hinauf gelangen.
Wir trafen uns in unserer Wohnung und grübelten.
»Vielleicht machen wir es einfach so, wie bei einem Gefängnisausbruch«, schlug ich vor. »Wir knoten Bettlaken aneinander, werfen die hoch zu Britta und sie kann sich daran herunterlassen.«
Flora schüttelte den Kopf. »Britta ist doch erst drei. Das traut sie sich nicht. Und wir schaffen es nicht, das Laken zu ihr hoch zu werfen. Es sei denn ...«
Ich sah, wie ihr Blick nachdenklich hinaus in das kleine Stück Garten wanderte, das zum Mietshaus gehörte und in dem gerade die 11-jährige Nichte der Nachbarin aus dem Erdgeschoss spielte.
»Es sei denn, was?«, hakte ich nach.
»Es sei denn, jemand hilft uns. Und ich weiß auch schon, wer!« Ohne weitere Erklärung stand sie auf und wir folgten ihr alle bis zur Wohnung der Nachbarin.
Während Flora fest entschlossen die Klingel drückte, versteckten wir uns auf dem Treppenabsatz. Vielleicht drückte sie auch ein bisschen zu fest entschlossen, denn es bimmelte direkt drei Mal hintereinander. Die Tür flog auf und das runde, freundliche Gesicht von Oma Bömsken¹ erschien. So nannten wir Kinder sie, denn sie steckte uns oft im Vorübergehen ein Bonbon zu. In Wirklichkeit hieß sie Gertrude Schulz.
»Was gibt's denn Dringendes?«, fragte sie mit gespielter Empörung.
»Das kann ich nicht an der Tür mit dir besprechen«, meinte Flora geheimnisvoll.
»Aha«, sagte Gertrude nur und schaute uns an. Mir blieb das Herz stehen. »Und deshalb hast du die anderen Mädels auch gleich mitgebracht?«
Flora wurde rot.
»Na, denn kommt mal alle mit rein in die Bude«, meinte sie und wir folgten ihr erleichtert.
»Es ist nämlich so«, begann Flora wieder, »wir brauchen ganz dringend die Hilfe deiner Nichte Katrin.«
Die Oma runzelte die Stirn.
»Für was denn das?«
»Das kann ich dir nicht sagen, aber es ist ganz, ganz wichtig!«
Dabei sah sie Gertrude mit vielsagendem Blick an.
»Ah, ich verstehe«, meinte die Oma und lächelte, »eine Bandenangelegenheit.«
Wir nickten alle eifrig.
»Na, dann werde ich sie gleich einmal hereinrufen.«
Kurz nachdem Oma Bömsken aus dem Zimmer gegangen war, tauchte Katrin auf. Flora bat sie, für uns an einem verknoteten Laken zum Baumhaus herauf zu klettern und Britta huckepack nach unten zu transportieren. Katrin fand das spannend und sicherte uns ihre Hilfe zu. Unserer Befreiungsaktion stand also nichts mehr im Wege!
Wir verabschiedeten uns artig von Gertrude und gingen – natürlich nicht, ohne dass jede von uns ein Bömsken im Mund hatte …
Die Laken zu organisieren, war einfach. Jede von uns stibitzte eins aus dem Wäscheschrank und so machten wir uns am nächsten Tag auf zur Gefangenbefreiung.
Nachdem wir ausspioniert hatten, dass keiner der Jungs in der Nähe des Baumhauses war, riefen wir Britta. Ängstlich schaute sie zwischen den Holzbrettern hervor.
»Wir holen dich da jetzt raus!«, schrie Flora hinauf. »Aber du musst uns ein wenig helfen. Wir werfen dir gleich das eine Ende eines Lakens hoch und du musst es über den dicken Ast auf der anderen Seite wieder herunterlassen. Okay?«
Britta nickte.
»Prima!«, lobte Flora, als sie das Lakenende zu fassen bekam. Katrin machte einen dicken Knoten in die Lakenenden und testete die Stabilität dieses besonderen Seils. Sie schien zufrieden zu sein, denn sie nickte uns zu.
»Pass auf, jetzt klettert Katrin zu dir hoch und holt dich runter!«, ertönte wieder Floras Stimme.
Zwar nickte Britta erneut, aber ihr Gesicht hatte einen furchtsamen Ausdruck. Als Katrin bei ihr oben angekommen war, zögerte sie.
»Nun mach schon«, feuerte Flora sie an. »Es ist ganz einfach. Denk nur, dein Papa nimmt dich Huckepack.«
Einen Moment lang schien Britta noch unentschlossen, dann gab sie sich einen Ruck und Katrin konnte sie auf ihrem Rücken herunter tragen. Unten angekommen weinte sie herzzerreißend. Die ganze Anspannung der letzten Stunden brach aus ihr hervor. Flora nahm sie in den Arm und steckte ihr ein Bonbon in den Mund, das sie noch von Oma Bömsken in der Tasche hatte. Sofort hellte sich ihre Miene auf.
»Eins ist ja wohl klar«, meinte Flora wütend, »dieser Angriff wird gerächt!«
Ja, das fanden wir anderen auch – nur wie?
Wir überlegten hin und her, bis ein Mädchen meinte, wir könnten den Jungs das Baumhaus doch mit ein paar Ameisen vermiesen.
»Klasse Idee!«, meinte Flora. »Am besten gießen wir vorher noch Zuckerwasser rein. Dann haben die Idioten richtig Spaß bei ihrem nächsten Treffen!« Sie grinste breit und wir klatschten vor Begeisterung in die Hände.
Gesagt, getan.
Noch einmal nahmen wir Katrins Hilfe in Anspruch.
Sie kletterte zum zweiten Mal an den Laken nach oben, wo sie nun das Zuckerwasser auskippte, das wir für sie vorbereitet hatten, und eine Plastikkiste leerte, in die wir einen guten Teil eines Ameisenhaufens geschaufelt hatten. Nachdem sie die Krabbelviecher oben ausgeschüttet hatte, beeilte Katrin sich, so schnell wie möglich nach unten zu kommen. Schließlich wollte sie nicht das erste Opfer der Ameisen werden.
»Schade, dass wir nicht dabei sind, wenn sie sich hier oben gemütlich zusammensetzen«, meinte Flora, als wir nach Hause gingen.
Unsere Aktion musste wohl ein voller Erfolg gewesen sein, denn in der nächsten Zeit hingen die Jungen immer in der Siedlung herum. Anscheinend war ihnen die Lust vergangen, sich im Baumhaus zu treffen.
Wir rieben uns vor Schadenfreude die Hände und ließen keine Gelegenheit aus, sie zu foppen.
»Na, wie lebt sich's denn so mit Ameisen zusammen?«, stichelte Flora, als Thomas an unserem Haus vorbeikam.
Wütend fuhr er herum. »Das wirst du noch bereuen!« Seine Augen funkelten böse.
»Ui, da hab ich aber jetzt schon Angst!«, frotzelte sie. Hätte Flora es doch nicht so auf die Spitze getrieben. Aber nachdem eine Woche vergangen war, hatten wir die ganze Sache zu den Akten gelegt.
Nur Thomas anscheinend nicht.
Mir schwante nichts Gutes, als ich an einem Mittwochmorgen aufwachte und feststellte, dass Mutter noch nicht zur Arbeit gegangen war.
Ich fragte nach dem Grund und Mutter meinte, sie sei krank und müsse ein paar Tage zu Hause bleiben.
Als ich ihren glasigen Blick sah, mit dem sie wieder durch mich hindurchschaute, geriet ich in Panik.
Ich lief zu meiner Schwester, die am Küchentisch saß und einen Brief in der Hand hielt. Ich sah, wie Flora leise die Lippen bewegte und angestrengt die Stirn runzelte.
»Was ist das?«, fragte ich sie.
»Ein Brief vom Jugendamt«, meinte Flora. »Hier steht, Mama darf uns nicht zwischen 4:45 Uhr und 8 Uhr alleine lassen, weil wir noch zu klein sind.«
Betreten schaute ich sie an. »Aber dann kann Mama ja gar kein Geld mehr verdienen.« Ich war zwar noch keine fünf Jahre alt, aber dass unser Wohlergehen vor allem an Mutters Job hing, hatte ich schon mitbekommen.
»Und weil sie nicht arbeiten gehen darf, ist sie krank«, schob Flora nach.
»Warum machen die denn so was?«, fragte ich schockiert.
»Wahrscheinlich, weil sich dieser fiese Typ von Thomas an uns gerächt hat«, antwortete sie wütend.
»Thomas hat beim Jugendamt angerufen?«, fragte ich ungläubig.
»Nee, das traut der sich nicht. Aber bestimmt sein Vater, der Polizist.«
»Der arbeitet beim Jugendamt?« Ich verstand noch nicht recht, wie alles zusammenhing.
»Nein, aber ich wette, Thomas hat ihm erzählt, dass Mama uns für ein paar Stunden allein lässt, weil er wahrscheinlich geahnt hat, dass eine Mama das nicht darf. Und dann hat sein Papa als Polizist das Jugendamt informiert.«
»So was Gemeines!« Ich fing an zu heulen.
Flora nahm mich für eine Weile in den Arm, obwohl ihr selbst die Tränen in den Augen standen. »Wenn ich nur wüsste, wie wir Mama helfen könnten – die Welt der Erwachsenen ist manchmal einfach zu schwierig«, klagte sie.
»Aber Mama darf doch nicht ihren Job verlieren!«, schluchzte ich verzweifelt.
Eine Weile lang lagen wir uns noch in den Armen, dann zog sich Flora von mir zurück. Ein paar Minuten später hörte ich, wie die Tür ins Schloss fiel. Sie war gegangen, ohne mir ein Wort zu sagen. Das hatte sie noch nie getan.
Ich fühlte mich einsam und verlassen und wusste mir nicht anders zu helfen, als ins Kinderzimmer zu gehen und mich in meinem Bett zusammenzurollen. Und auf sie zu warten.
Diesmal klingelte sie nur einmal und das auch nur ganz zaghaft. Ich wage gar nicht mir vorzustellen, was passiert wäre, wenn Oma Bömsken in diesem Moment nicht zu Hause gewesen wäre oder das leise Klingeln einfach überhört hätte.
Aber sie war zu Hause und Flora wurde geöffnet.
Diesmal sagten weder Flora noch die alte Frau ein Wort.
Stumm ließ Gertrude das bleiche Kind in ihre Wohnung, wo sie ihm erst einmal eine Tasse heißen Kakao vor die Nase stellte.
»Kakao ist immer gut, wenn man etwas auf dem Herzen hat«, meinte sie.
Flora nippte an der braunen Flüssigkeit, während Gertrude sich ihr gegenüber an den Küchentisch setzte.
»Nu schieß schon los«, meinte sie, »was ist passiert?«
Statt einer Antwort brach Flora in Tränen aus.
Oma Bömsken ging um den Tisch herum, nahm das weinende Kind und setzte es sich auf den Schoß.
»Na, so schlimm kann's doch gar nicht sein«, versuchte sie, Flora zu trösten.
Nach einer Weile fand meine Schwester ihre Worte wieder.
»Es ist noch viel schlimmer«, schluchzte sie.
Gertrude sah sie fragend an. Da platzte alles aus Flora heraus. Wie Thomas die Britta entführt hatte, wie wir sie befreit und uns an den Jungen gerächt hatten und wie Thomas drohte, dass wir das noch bereuen würden. Und dass es nun so aussah, als ob er alles seinem Vater, dem Polizisten, gepetzt hatte.
»Aber Kinder werden doch nicht bestraft, wenn sie einem anderen Kind Ameisen unterjubeln«, meinte Oma Bömsken beruhigend. »Euch kann da gar nichts passieren.«
»Darum geht es ja gar nicht«, fuhr Flora fort. »Aber anscheinend hat Thomas seinem Vater erzählt, dass Mama schon um viertel vor fünf Uhr zur Arbeit geht und wir ein paar Stunden allein bleiben müssen, bis sie uns in den Kindergarten und die Schule bringt. Und das ist wohl verboten.«
Sie wedelte mit dem Brief vom Jugendamt vor Gertrudes Nase herum. Gertrude nahm den Brief und las ihn. Nun wurde auch ihr Gesichtsausdruck ernst.
»Und jetzt läuft eure Mama Gefahr, ihre Stelle zu verlieren?«
Flora nickte heftig.
»Sie ist schon krank deshalb«, schob sie noch nach.
Wie alle anderen Nachbarn hatte auch Gertrude mitbekommen, wie Vater sich vor fast zwei Jahren von Mutter getrennt und wie sehr diese darunter gelitten hatte. Mehr als einmal hatte sie den von Tränen verwischten Lidstrich um ihre Augen herum gesehen. Umso beruhigter war Gertrude gewesen, als unsere Mutter eine Stelle beim Bäcker bekommen hatte. Nach ein paar Wochen war der jungen Frau anzusehen gewesen, dass ihr Leben wieder ins Lot kam. Und nun das.
Es tat ihr leid um die Mutter, aber vor allem um ihre beiden prächtigen Mädchen. Gertrude war nicht entgangen, wie nah die beiden einander standen und wie fürsorglich sich die Ältere um die Jüngere kümmerte. Mehr als einmal war ihr Floras blühende Fantasie, ihr schon jetzt stark ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein und ihr Tatendrang aufgefallen. Konnte sie wirklich zulassen, dass diese beiden Mädchen in die Perspektivlosigkeit einer Hartz IV-Familie gezwungen wurden? Denn welche Stelle würde sich schon einer alleinerziehenden, arbeitslosen Mutter bieten, die ohne Auto und mit zwei kleinen Kindern nur in der Nähe ihres Wohnortes Teilzeit arbeiten konnte?
»Ja, wenn das so ist«, meinte Oma Bömsken kurz entschlossen, »dann müsst ihr eben für die paar Stunden zu mir kommen.«
Flora schaute sie verblüfft an. »Das würdest du wirklich tun?«
»Na klar, wenn deine Mutter damit einverstanden ist.«
Flora sprang auf und gab Gertrude einen dicken Kuss.
»Na, na, na, ist schon gut«, meinte die alte Frau, gerührt von dem Zärtlichkeitsausbruch.
»Ich sag sofort Mama Bescheid und dann spricht sie mit dir!«, strahlte Flora über beide Wangen. Sie stürmte aus der Wohnung, um Mutter und mir die gute Neuigkeit zu überbringen. Mutter war einverstanden und Gertrude schrieb ans Jugendamt, dass sie sich als Nachbarin in der fraglichen Zeit um die Kinder kümmern würde. Die Behörde war damit einverstanden und so ging Mutter wieder arbeiten und wir zu Gertrude, die schon bald ein unverzichtbarer Teil unserer Familie wurde.
Eigentlich hätte ich nun rundherum glücklich sein müssen, wenn – ja wenn ich nicht unseren Vater vermisst hätte. Seitdem er uns verlassen hatte, hatte ich ihn kein einziges Mal gesehen.
»Das ist auch besser so«, meinte Mutter zu diesem Thema. Er hatte ihr das alleinige Sorgerecht übertragen und wahrscheinlich lebte er jetzt in einer neuen Familie. Vater wollte nichts mehr mit uns zu tun haben. Das sagte jedenfalls Mutter, wenn eine von uns mal nach ihm fragte.
»Wenigstens zahlt er regelmäßig Unterhalt«, sagte sie, »und ehrlich gesagt ist das alles, was ich noch von ihm will.«
Wenn ich Flora sagte, dass ich Vater so gerne ab und zu mal sehen würde, meinte sie nur: »Ach, weißt du, Caroline, vielleicht ist es besser, dass wir ihn nie wieder sehen. Wir wollen doch ohnehin bei Mama bleiben. Und wenn wir ihn regelmäßig treffen würden, müssten wir uns immer wieder von ihm trennen. Ich finde, es reicht, dass wir das einmal tun mussten.«
Mit der Zeit begann ich zu begreifen, dass sie Recht hatte.
3
Er hieß Karl und arbeitete in der Autowerkstatt schräg gegenüber der Bäckerei. Ich nehme an, dass Mutter ihn bei ihrer Arbeit kennengelernt hatte.
Er machte einen ganz sympathischen Eindruck. Schlank, mittleren Alters, mit fast schwarzen Haaren, die schon leichte Geheimratsecken erkennen ließen. Vor allem aber habe ich seine dunkelbraunen, freundlichen Augen in Erinnerung, die von jeder Menge Lachfalten eingerahmt wurden.
Flora konnte ihn von Anfang an nicht leiden. »Wozu braucht Mama einen neuen Mann? Sie hat doch uns. Wir sind ihre Familie.«
Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. Ab und zu besuchte er uns und brachte Geschenke mit. Das fand ich toll. Und es war schön, dass Mutter jetzt oft lachte. Ich konnte mich nicht erinnern, sie jemals so glücklich gesehen zu haben, obwohl Flora meinte, mit Papa wäre sie noch viel glücklicher gewesen. Ich war mittlerweile sechs Jahre alt und an meinen Vater konnte ich mich nicht mehr richtig erinnern.
Vielleicht würden wir nun nochmal einen Vater bekommen? So einer, der das kaputte Spielzeug repariert und einem das Schwimmen beibringt – und auf der Kirmes jede Menge Eis spendiert.
»Vielleicht werden wir bald wieder eine ganz, ganz richtige Familie!«, strahlte ich Flora an, denn in meiner Klasse hatten die meisten Kinder Mutter und Vater.
Doch jedes Mal, wenn ich Flora darauf ansprach, presste sie die Lippen aufeinander, verzog sich ins Kinderzimmer und schloss von innen ab. Das fand ich gemein von ihr, weil es ja auch mein Zimmer war.
Wenn ich Mutter um Hilfe bat, meinte sie: »Lass sie ein bisschen in Ruhe, Caroline. Es fällt ihr eben schwerer als dir, sich an die neue Situation zu gewöhnen.«
Die neue Situation.
Das hieß leider auch, dass wir am Freitag- oder Samstagabend häufig auf Mutter verzichten mussten, weil sie mit dem neuen Mann ausging.
»Warum kann er nicht zu uns kommen? Dann müssen wir nicht immer alleine bleiben«, fragte ich sie.
Aber sie lächelte nur. »Das verstehst du noch nicht, Caroline. Wir müssen uns erst einmal besser kennenlernen und das geht am besten, wenn wir zu zweit sind. Und Flora ist schon so ein großes Mädchen. Sie passt sicher toll auf dich auf.«
Das tat sie auch, aber genau wie mir war es ihr oftmals unheimlich, abends ohne Mutter in der Wohnung zu sein.