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Elf Erzählungen von unseren gewöhnlichen Nachbarn: von treuen Beratern, fiebernden Urlaubern, beschützerischen Vätern, Partyfrauen, Tüchtigen, Liebenden.
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Seitenzahl: 369
Patricia Highsmith
Nixen auf dem Golfplatz
Stories
Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis und Melanie Walz
Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay
Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta
Diogenes
Freitag, der fünfzehnte Juni, war ein großer Tag für Kenneth W. Minderquist und für seine Familie: seine Frau Julia, die Enkeltochter Penny, sechs Jahre alt und sein Augenstern, und Becky Jackson, seine Schwiegermutter, die später mit Penny eintreffen sollte.
Das große Haus war blitzsauber und tipptopp aufgeräumt; Julia hatte Alkoholika und Speisen nochmals überprüft: Kanapees, Aufschnitt, Stangensellerie, Schnittchen und Oliven – ein richtiges Büfett für die Leute von der Presse, Journalisten und Fotografen, die heute um elf erwartet wurden. Am Abend zuvor war ein Telegramm vom Präsidenten gekommen:
GRATULIERE KEN STOP SCHAUE WENN MÖGLICH FREITAGVORMITTAG KURZ VORBEI STOP SONST TROTZDEM ALLES GUTE STOP HERZLICHE GRÜSSE AN SIE UND IHRE FAMILIE STOP TOM
Das hatte Minderquist gefreut und Julia, die sowieso ziemlich nervös wurde, wenn sie Gastgeberin spielen mußte, noch einmal alles überprüfen lassen. Natürlich konnten sie auf Fritz zurückgreifen, ihren Butler und Chauffeur, eine große Hilfe. Fritz hatten sie mit dem Haus übernommen, genau wie das Tafelsilber und die schweren weißen Servietten, die Möbel und sogar die Bilder an den Wänden.
Minderquist sah seiner Frau gelassen, glücklich und voller Zuversicht zu. Und er konnte ehrlich sagen, daß es ihm inzwischen so gut ging wie vor drei Monaten, vor dem Unfall. Manchmal fand er sogar, daß es ihm bessergehe als je zuvor, daß er sich fröhlicher und lebendiger fühle. Schließlich hatte er wochenlange Klinikruhe hinter sich, trotz aller möglichen Tests auf alle nur denkbaren Zipperlein. Minderquist hielt sich für einen der am gründlichsten untersuchten Menschen der Welt, sowohl geistig wie körperlich.
Der Unfall hatte sich in New York ereignet, am St. Patrick’s Day. Minderquist hatte am 17. März mit dem Präsidenten und ein paar hundert Leuten auf der Tribüne gestanden, und als die Parade vorbei war und alle die Tribüne verließen und sich gerade auf Limousinen und Taxis verteilten, waren die Schüsse gefallen: Vier – drei in kurzer Folge, dann noch einer. Und ganz zufällig hatte Minderquist nahe beim Präsidenten gestanden, als er sah, wie dieser das Gesicht verzog und sich vorbeugte – ein Schuß in die Wade. Ohne nachzudenken, hatte sich Minderquist wie ein darauf trainierter Leibwächter über den Präsidenten geworfen, und beide waren zu Boden gegangen. Der letzte Schuß hatte Minderquist in die linke Schläfe getroffen: zehn Tage Koma und fast drei Monate Behandlung in zwei verschiedenen Krankenhäusern. Allgemein nahm man an, daß ohne Minderquists Eingreifen diese letzte Kugel den Präsidenten in den Rücken getroffen hätte – Diagramme in den Zeitungen veranschaulichten, was dieser letzte Schuß hätte anrichten können – und vielleicht das Rückenmark durchschlagen oder die Leber oder weiß Gott was getroffen hätte, deshalb wurde es Minderquist zugeschrieben, daß der Präsident noch am Leben war. Minderquist hatte sich außerdem ein paar Rippen gebrochen, weil sich die Leibwächter auf ihn gestürzt hatten, nachdem er sich schützend über den Präsidenten geworfen hatte.
Zum Zeichen seiner Dankbarkeit hatte der Präsident den Minderquists Sundocks geschenkt, das hübsche Anwesen, das sie nun bewohnten. Julia und Fritz waren schon seit einem Monat da. Minderquist war vor zehn Tagen nach seinem zweiten Klinikaufenthalt aus dem Militärhospital von Arlington entlassen worden. Das zweistöckige Haus im Kolonialstil war von weiten, ebenen Rasenflächen umgeben (auf einer hatte Fritz eine Krocketbahn angelegt), es gab auch einen Swimmingpool von zehn mal achtzehn Metern. Irgendwer hatte ihren grünen Pontiac durch einen dunkelblauen Cadillac ersetzt, der Minderquist nagelneu vorkam. Ein paarmal hatte Fritz ihn schon in dem Cadillac zu einem nahe gelegenen Golfplatz gefahren, wo Minderquist mit seinen alten, seit Jahren nicht mehr angerührten Schlägern spielte. Seine Ärzte hatten ihm sanfte Sportarten empfohlen. Minderquist hielt sich für ganz gut in Form, hatte aber um die Hüfte während der letzten Klinikwochen etliche Pfund zugelegt.
Heute nun sollte Minderquist erstmals seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in Arlington, als nur ein paar Fotografen Bilder geschossen hatten, vor die Presse treten. In den Monaten vor dem unglücklichen Ereignis am 17. März hatte Minderquist schon im Blickpunkt der Öffentlichkeit gestanden, weil er in seiner Eigenschaft als Berater des Präsidenten in Wirtschaftsfragen zu dessen innerstem Zirkel gehörte. Ein offizielles Amt bekleidete er allerdings nicht. Minderquist war promovierter Wirtschaftswissenschaftler und hatte einen großen Elektrokonzern in Kentucky geleitet, bis ihm der Präsident für ein vergleichbares Gehalt ein Arbeitszimmer im Weißen Haus angeboten hatte. Einer der Präsidentenberater hatte Minderquist bei einem Gastvortrag an der Johns-Hopkins-Universität gehört und ihn Tom vorgestellt; damit hatte es angefangen. Einer, der die Dinge beim Namen nennt hatte eine Zeitung ein paar Monate zuvor über Minderquist getitelt, was ihn mit einigem Stolz erfüllt hatte. Nicht immer war er mit dem Präsidenten einer Meinung; Minderquist trug seine Ansichten gelassen, fast gleichgültig vor, weil das, was er sagte, die Wahrheit war, gegründet auf die Gesetze der Ökonomie, von denen der Präsident nicht viel verstand. In Washington, D.C. hatte Minderquist kein einziges Mal die Beherrschung verloren. Es lohnte sich nicht.
Er hoffte, Florence Lee vom Washington Angle werde heute kommen. Florrie war eine kesse, blitzgescheite kleine Blondine und schrieb eine Kolumne namens »Persönlichkeiten in der Politik«. Sie war nicht nur gewitzt, sondern erfaßte auch immer schnell und präzise, worum es bei dem Amt ihres Gesprächspartners im wesentlichen ging.
»Liebling?« rief Julia. »Schon nach halb elf. Alles in Ordnung?«
»Bestens. Komme schon!« rief Minderquist zurück. Er stand im Schlafzimmer und musterte sich im Spiegel, fuhr sich mit dem Kamm durch das braune, graumelierte Haar und zog den Krawattenknoten zurecht. Auf Julias Rat hin trug er schwarze Baumwollhosen, ein blaues Sommerjackett und ein hellblaues Hemd: gute Farben fürs Fernsehen, aber wahrscheinlich würde von denen heute keiner dabeisein, nur Zeitungsfritzen und ein paar klickende Kameras. Julia war in Sundocks nicht so glücklich wie er, das wußte Minderquist. Vielleicht würden sie in ein paar Wochen wieder nach Kentucky ziehen, zurück in ihr Haus dort, sobald er die Sache mit Julia gründlich durchgesprochen hatte. Heute aber – für den Präsidenten und wegen seiner eigenen Zukunft in Washington, die vielversprechend und einträglich zu werden versprach, und um es den Medien recht zu machen – mußten die Minderquists so tun, als gefalle ihnen ihr neues großes Haus. Minderquist verließ das Schlafzimmer.
»Sind Penny und Becky denn immer noch nicht da?« fragte er seine Frau im Wohnzimmer. »Ah, womöglich sind sie das!« Minderquist hatte Autoreifen auf dem Kies der Einfahrt knirschen gehört.
Julia warf einen kurzen Blick durch das Seitenfenster. »Mamas Wagen. Sieht das nicht schön aus, Ken?« Sie wies auf den langen Büffettisch an einer Wand des großen Wohnzimmers.
»Herrlich! Wunderschön! Wie für eine Hochzeit oder so. Ha, ha!« Gläser standen in funkelnden Reihen, dazu Flaschen, silberne Eiskübel, Platten voller Leckerbissen. Minderquist war mehr an seiner Enkelin interessiert. Er ging zur Haustür.
»Ken«, sagte seine Frau, »übertreib’s heute nicht! Ruhig bleiben, du weißt schon. Und paß auf, was du sagst. Keine Kraftausdrücke.«
»Klar, Liebling.« Minderquist erreichte die Tür vor Fritz und riß sie auf: »Hal-lo, Penny!« Er wollte das kleine blondhaarige Mädchen auf den Arm nehmen und an sich drücken, aber Penny wich zurück, drückte sich an Becky und vergrub das Gesicht schüchtern im Rock ihrer Urgroßmutter. Minderquist lachte. »Immer noch Angst vor mir? Was ist los, Penny?«
»Du machst ihr angst, wenn du dich so auf sie stürzt, Ken.« Becky lächelte. »Wie geht es dir? Gut siehst du heute aus!«
Die Frauen tratschten ein bißchen im Wohnzimmer. Minderquist folgte langsam dem Kind, seinem einzigen Enkel, in den Flur, der zur Küche führte; Penny aber flitzte den Flur entlang, als renne sie um ihr Leben, und Minderquist schüttelte den Kopf. Der Blick ihrer blauen Kinderaugen verfolgte ihn. Früher hatte sie sich ihm in die Arme geworfen, im Vertrauen darauf, daß er sie auffangen werde. Hatte er sie je enttäuscht, sie jemals fallen gelassen? Nein. Erst nach seiner Entlassung aus den Krankenhäusern hatte Penny beschlossen, vor ihm »Angst zu haben«.
»Kenny? Ken?« fragte Julia.
Doch Minderquist wandte sich an seine Schwiegermutter: »Irgendwas Neues von Harriet und George, Becky?«
Harriet war die Tochter der Minderquists, Pennys Mutter. Harriet und ihr Mann George hatten Penny in Sundocks abgegeben, sehr zu Minderquists Freude, während sie drei Wochen Urlaub in Florida machten. Doch das Mädchen hatte sich Minderquist gegenüber zunehmend seltsam benommen, war grundlos in Tränen ausgebrochen, konnte nachts weder ein- noch richtig durchschlafen, weshalb Becky, die nur dreißig Kilometer weiter in Virginia wohnte, das Kind vor ein paar Tagen zu sich geholt hatte.
Sollte Becky etwas geantwortet haben, dann hörte Minderquist sie nicht mehr, denn die Presse war da: Drei Wagen rollten in die Auffahrt. Julia rief Fritz aus der Küche herbei und öffnete dann doch selber die Haustür: Mindestens fünfzehn, vielleicht auch zwanzig Leute, hauptsächlich Männer, aber auch ein halbes Dutzend Frauen. Minderquists Blick suchte Florrie Lee – und fand sie! Sprungartig stieg seine Stimmung. Sie brachte ihm Glück, gab ihm Gelassenheit. Ganz zu schweigen von der Freude, ein hübsches Gesicht zu betrachten! Minderquist sah zu ihr hin, bis sie seinen Blick auffing; sie lächelte.
»Hallo, Ken«, sagte sie. »Gut sehen Sie aus. Wie schön, daß Sie wieder auf den Beinen sind.«
Minderquist ergriff ihre eng am Körper gehaltene Hand und drückte sie. »Wie schön, Sie zu sehen, Florrie.«
Höflich begrüßte er ein paar andere Leute. Einige Gesichter erkannte er wieder. Wer sich stärken wollte, den lenkte er in Richtung Büffettisch, wo Fritz in seiner weißen Weste schon eifrig Bestellungen aufnahm. Ein paar Kameras blitzten auf.
»Mr. Minderquist«, sagte ein schlaksiger, ernsthafter junger Mann mit Kuli und Notizblock in der Hand. »Könnte ich Sie später ein paar Minuten unter vier Augen sprechen? In Ihrem Arbeitszimmer vielleicht? Ich komme vom Baltimore Herald.«
»Kann ich nicht versprechen, mein Junge, aber ich werde tun, was ich kann«, erwiderte Minderquist in seinem jovialen Südstaatenakzent mit den gedehnten Vokalen. »Bis dann – greifen Sie zu, seien Sie mein Gast.«
Julia rückte Stühle für die Gäste heran, die sich setzen wollten, und sorgte dafür, daß jeder seinen gewünschten Drink oder Fruchtsaft bekam. Ihre Mutter Becky, die heute, fand Minderquist, besonders gepflegt wirkte und sich hübsch zurechtgemacht hatte, half ihr dabei. Becky führte in Virginia einen Hort, aber nicht für Kinder, wie Minderquist in Interviews etliche Male auf Fragen nach seiner Familie hin gesagt hatte, sondern für Pflanzen.
»Ach, schreibt, das können sie sich sonstwo hinstecken!« versetzte Minderquist grinsend auf die Frage eines Journalisten, ob an den Gerüchten etwas dran sei, daß er in Pension gehen werde. Und er freute sich über das mühsam unterdrückte Gelächter, das darauf folgte, auch wenn er Julia sagen hörte: »Ich muß doch sehr bitten, Ken!«
Minderquist stand immer noch. »Wo ist Penny?« fragte er seine Frau.
»Ach …« Vage wies sie in Richtung Küche.
»Dann kehren Sie wohl bald nach Washington zurück, Sir?« fragte einer von den Presseleuten, die vor ihm saßen. »Oder vielleicht nach Kentucky? Schönes Haus haben Sie da.«
»Nach Washington, darauf können Sie Ihren Arsch verwetten«, antwortete Minderquist entschieden. »Julia, Liebling, kannst du nicht irgendwo ein Bier für mich auftreiben? Wo ist Fritz?« Er sah sich um: Der Mann ging mit einem Eiskübel Richtung Küche.
»Ja, Ken.« Julia wandte sich dem Büffettisch zu.
Eigentlich durfte er keinen Alkohol trinken, wegen der Tabletten, die er weiterhin nehmen mußte, aber hin und wieder gönnte er sich ein Bier, bei seltenen Gelegenheiten, so etwa bei seinem neunundfünfzigsten Geburtstag kurz nach seiner Entlassung aus dem zweiten Krankenhaus. Und heute war eine solche seltene Gelegenheit – ein Pressetermin mit seiner Lieblingsjournalistin Florrie Lee, die nur zwei Meter weit weg von ihm saß. Minderquist ignorierte eine weitere, langweilige Frage, denn nun sah er Becky, die seine Enkeltochter Penny an der Hand aus dem Küchenflur hereinführte. Penny wollte nicht so recht, sie wand sich beim Anblick der vielen Leute, und Minderquist lächelte noch breiter.
»Da kommt die süßeste kleine Enkeltochter der Welt!« verkündete er, doch womöglich hörte ihn keiner, weil gerade einige Fotografen lautstark verlangten, er solle sich gemeinsam mit seiner Enkelin ablichten lassen.
»Draußen am Pool!« schlug einer vor.
Alle gingen hinaus, auch Julia. Minderquist stellte sein Bierglas, das ihm irgendwer (nicht Julia) gerade eben in die Hand gedrückt hatte, neben einem großen Blumentopf am blaugefliesten Beckenrand ab, blickte stirnrunzelnd in das helle Sonnenlicht und lächelte tapfer weiter. Aber Penny wollte seine Hand nicht nehmen und entwand sich wie ein Aal seinen Versuchen, sie zu fassen zu bekommen. Becky gelang es dann, sie an den Schultern zu packen, und sie nahmen Aufstellung: Minderquist, Julia, Becky und Penny – mehrere Fotos, bis Penny sich duckte und weglief, die lange Poolseite entlang. Allgemeines Gelächter.
Zurück im Wohnzimmer, ging die Fragerei weiter.
»Haben Sie noch Schmerzen, Mr. Minderquist?«
Minderquist starrte gerade Florrie an, die heute, wie er fand, ein ganz besonderes Lächeln für ihn hatte. »Nööh«, erwiderte er gedehnt. »Und wenn doch …« In Wahrheit bekam er manchmal Kopfschmerzen, doch die wollte er nicht erwähnen. »Sind nicht der Rede wert, nein. Mir geht es gut, ich spiele ab und zu Golf …«
»Was sagen die Ärzte – wann können Sie wieder arbeiten?«
»Man könnte sagen, ich arbeite schon wieder.« Minderquist schickte ein Lächeln in Richtung des Fragestellers. »Ja, klar. Ich kriege Memos vom Präsidenten, treffe Entscheidungen. Sie wissen schon.« Wo war Tom? Minderquist sah sich über die Schulter um, so als könnte der Wagen des Präsidenten gerade die Auffahrt hinaufgleiten oder, was wahrscheinlicher war, ein Hubschrauber auf dem weiten Rasengrün dort draußen landen. Doch er hörte nichts. »Tom sagte mir, er schaut vielleicht vorbei. Ist aber nicht sicher, ob er’s heute schafft. Weiß das jemand?«
Keine Antwort.
»Willst du dich nicht setzen, Ken?« fragte Julia.
»Nein, danke, Schatz, ich stehe lieber.«
»Schwimmen Sie alleine im Pool?« Eine Frauenstimme, von irgendwoher.
»Na klar, alleine«, sagte Minderquist, obwohl Fritz immer mit im Becken war, wenn er schwimmen ging. »Glauben Sie, ich hätte da draußen einen Leibwächter? Oder eine Nixe, eine Meerjungfrau, die mich über Wasser hält? Obwohl – dagegen wäre nichts einzuwenden!« Minderquist feixte, ein paar Journalisten auch. Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu und fing ihre Geste auf, die soviel bedeutete wie »Paß bloß auf!«, aber Minderquist fand, er mache seine Sache ganz gut. Ein paar Lacher waren nie verkehrt. Er wußte, daß er energiegeladen wirkte, und Energie mochte die Presse immer. »Würde wirklich gern mal auf einer Nixe reiten«, fuhr er fort. »Also, auf dem Golfplatz –« Minderquist hatte eigentlich seiner Phantasie die Zügel schießen lassen und von Nixen auf dem Golfplatz fabulieren wollen, aber er vernahm ein Gemurmel unter der versammelten Journaille, so als berieten sie sich untereinander. Meerjungfrauen, die Greens und Roughs zierten und den Ball für den Golfer mit ihrem Schwanz in eine günstigere Lage flippten, das hatte Minderquist sagen wollen, doch auf einmal stellten drei Leute gleichzeitig eine Frage an ihn.
Die Fragen zielten zurück auf den Unfall, das gescheiterte Attentat auf den Präsidenten.
»Wie denken Sie heute darüber?« Eine Männerstimme.
»Na, wie ich schon immer gesagt habe – ein wolkenloser Tag war es, friedlich, sonnig. Hat Spaß gemacht, auf dieser Tribüne nahe der Straße. Bis wir hinunterkletterten.« Minderquist warf Florrie Lee einen kurzen Blick zu, die ihn unverwandt ansah, und mußte blinzeln. »Als ich die Schüsse hörte …« Plötzlich war sein Geist wie vernebelt. Vielleicht hatte er die Geschichte schon zu oft erzählt. War es das? Aber die Vorstellung mußte weitergehen. »Ich wußte nämlich gar nicht, was das war. Hätten Knallfrösche sein können oder die Fehlzündungen eines Motors. Erst als ich sah, wie Tom sich vorbeugte und ans Bein faßte, wußte ich es irgendwie. Ich stand so nahe beim Präsidenten – da war nur eines zu tun, also tat ich es«, schloß Minderquist mit einem leisen Lachen, als habe er gerade eine witzige Geschichte zum besten gegeben. Geistesabwesend fuhr er sich über die Delle in seiner Schläfe, während er den Journalisten zusah, die emsig drauflosschrieben; einige hatten allerdings Kassettenrekorder dabei. Er sah hinüber zu Julia am anderen Ende des Raumes: ein Kopfnicken und ein kleines Lächeln, also fand sie wohl, daß er das alles nicht schlecht gemacht habe.
»Sie erwähnten Ihre Freizeit, Mr. Minderquist.« Eine andere Männerstimme. »Spielen Sie jetzt Golf?«
»Na klar, Fritz fährt mich hin. Jede Menge Nixen auf dem Golfplatz, das muß ich schon sagen!« Minderquist dachte an die hübschen Mädchen in ihren Shorts und nabelfreien Tops – Teenager, die umherflatterten wie die Schmetterlinge. Kinder noch, doch nett anzuschauen. Nicht so anziehend allerdings wie Florrie Lee, die nicht nur williger sein dürfte als die Teenager – ein Mädchen hatte in der letzten Woche abgelehnt, als er sie zu einer Cola ins Clubhaus einladen wollte –, sondern ihm an diesem Morgen offenbar geradezu Avancen machte. Noch nie hatte er diesen Blick an ihr gesehen: unverwandt, unergründlich lächelnd, von ihrem Sitz in der ersten Reihe der Presseleute aus.
Jemand lachte leise. Minderquist entdeckte ihn – ein junger Mann mit dunkler Brille, der sich seinem Nebenmann zugewandt hatte und ihm etwas zuflüsterte.
»Nixen – auf dem Golfplatz?« fragte eine Frau lächelnd.
»Ja. Ich meine all die hübschen Mädchen.« Minderquist lachte. »Wünschte, sie wären wirklich Meerjungfrauen, allesamt blond, langhaarig und barbusig. Ha, ha! Übrigens, ich kenne einen Nixenwitz.« Minderquist zog sein Jackett zu, doch zuknöpfen ließ es sich nicht, also versuchte er es gar nicht erst. »Sie kennen doch alle den von der schwedischen Meerjungfrau, die nur Schwedisch spricht und von ein paar englischen Fischern aus dem Meer geholt wird? Die denken, sie hätte gesagt –
»Ken, nicht!« Julias Stimme, unüberhörbar, zu seiner Linken. »Den nicht!«
Wieder das Gelächter der versammelten Presse.
»Na, kommen Sie schon, Ken!« rief jemand.
Und der grinsende Minderquist hätte mit Freuden weitergemacht, wäre nicht Julia neben ihm aufgetaucht, die ihn am linken Arm packte und eindringlich bat, doch aufzuhören, dabei aber lächelte, um dem Ganzen einen heiteren Anschein zu geben. Minderquist, ganz der schicksalsergebene Ehemann, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: »In Ordnung, den nicht, obwohl er einer meiner besten ist. Doch was tut man nicht alles für die Damen!«
»Ihre Frau und Sie spielen Scrabble, Sir? Mir ist der Set aufgefallen, auf dem Tisch dort drüben«, sagte ein Mann.
Das Wort »Scrabble« detonierte wie eine kleine Bombe in Minderquists Kopf. Julia und er spielten nicht mehr. Weil Minderquist sich nämlich nicht mehr konzentrieren konnte. Oder wollte. »Ach ja, manchmal«, erwiderte er achselzuckend.
Wieder hörte Minderquist einige miteinander flüstern. Er sah sich nach Julia um: Sie schenkte gerade jemandem nach. Ja, mindestens sechs Leute steckten tuschelnd die Köpfe zusammen, darunter sogar Florrie Lee, und es sah ganz so aus, als zögen sie über ihn her oder mutmaßten, er sei nicht mehr der alte, tue nur noch so als ob, sei womöglich gar impotent (wie lange noch?). Wußten sie das etwa von den Ärzten, die er konsultiert hatte? Aber Ärzte durften doch keine Patientenbefunde weitergeben, oder? Befindet sich auf dem steten Weg der Besserung hatte während der Tage im Koma und in den Tagen danach in den Zeitungen gestanden, damals, als der Präsident vorbeigekommen war, um sich mit ihm fotografieren zu lassen, während er noch ans Bett gefesselt war, und es ging ihm auch wirklich weiterhin immer besser, wenn auch die Zeitungen sich kaum noch die Mühe machten, ein paar Zeilen über ihn zu drucken, höchstens alle paar Wochen einmal. … sitzt aufrecht im Bett und reißt Witze … Sicher, manchmal war ihm danach, Witze zu reißen, doch dann gab es Zeiten, da wußte er, daß er nicht mehr derselbe war, fast ein anderer Mensch, so anders wie sein Bauch, der sich nun deutlich wölbte, oder sein Gesicht, das aufgedunsen war und ihm manchmal leicht verschwommen vorkam. Minderquist hatte von Lobotomien gehört und vermutete, daß der Schuß durch die Schläfe genau das bei ihm angerichtet hatte, doch als er Chefarzt und Oberarzt danach befragt hatte, hatten es beide nachdrücklich bestritten. »Schwindler«, murmelte Minderquist, und sein Gesicht verdüsterte sich für einen Moment.
»Wie bitte? Was sagten Sie, Mr. Minderquist?«
»Nichts.« Er schüttelte den Kopf, als ihm Fritz eine Platte Kanapees hinhielt.
»Setz dich mal einen Augenblick hin, Ken.« Julia stand wieder an seiner Seite.
»Läuft alles soweit?« fragte er flüsternd.
»Bestens«, flüsterte sie zurück. »Mach dir keine Sorgen. Ist fast vorbei.« Sie ging wieder.
»Köstlich, die mit Leberwurst, Kenneth. Probieren Sie mal.« Florrie Lee war neben ihm aufgetaucht, mit einem runden Teller kleiner runder Leberwurstkanapees.
»Danke, Ma’am.« Minderquist führte eines zum Mund.
»Gut gemacht, Ken«, sagte Florrie. »Und so, wie Sie aussehen, geht’s Ihnen auch gut.«
Er spürte ihre Nähe, ihr Parfüm, das ihn sanft zu streicheln schien, und er wollte sie packen und irgendwohin verschleppen. Spontan nahm er ihre freie Hand. »Kommen Sie, gehen wir hinaus in die Sonne«, sagte er mit einem Kopfnicken hinüber zu der weit offenen Flügeltür, die hinaus auf den Rasen und zum Swimmingpool führte.
»Dürften wir Ihr Arbeitszimmer sehen, Mr. Minderquist? Und dort vielleicht ein Foto machen?«
Zur Hölle mit dem ganzen Pack, dachte Minderquist, laut aber sagte er: »Klar. Ein schönes Arbeitszimmer. Hier entlang.« Er ging voran, ein kleines Lächeln auf den Lippen, klein, aber echt, weil Florrie ihn verschmitzt angesehen hatte, so als wisse sie, daß er ihre Hand höchst ungern losgelassen hatte. Er sah sich kurz um: Florrie folgte ihm, dazu Gott weiß wieviele andere.
Sein Büro oder Arbeitszimmer war voller Bücher, alle aus dem Haus in Kentucky, und der quadratische Raum wirkte, vorsichtig ausgedrückt, ordentlich aufgeräumt. Auf dem neuen Schreibtisch eine grüne Unterlage, ein Brieföffner, ein Schreibset, Bleistift und Kugelschreiber, dann eine braun-lederne Aktenmappe (wofür?), ein schwerer Glasaschenbecher und nicht ein einziges Arbeitspapier. Der Papierkorb war leer. Zuvorkommend lehnte sich Minderquist an den Schreibtisch, seine Hände umklammerten die Tischkante.
Blitze, Klick! Klick! Fertig.
»Danke, Ken!«
»Was sagen die Ärzte – wann können Sie zurück nach Washington?«
Minderquist lächelte angestrengt weiter. »Tja, da müßt ihr die Ärzte fragen. Kann sein, nächste Woche. Wüßte nicht, was dagegen spräche.«
Minderquist verließ das Zimmer zusammen mit den anderen. Er war erleichtert, denn es war schon nach zwölf – die Presseleute würden ans Mittagessen denken und aufbrechen wollen. Auch Minderquist dachte ans Essen; er wollte Florrie Lee irgendwohin einladen. Fritz würde sie überallhin fahren. In der Gegend gab es lauschige Pensionen, alte Gasthöfe mit Nischen und Sitzecken. Und nach dem Lunch? Bei Florrie würde er keine Probleme haben. Sicher nicht.
»Wiedersehen, Mr. Minderquist. Und vielen Dank!«
»Bleiben Sie gesund!«
Die Wagen fuhren davon.
Noch einmal kreuzten sich Minderquists und Florries Blicke, als er sich am Büffettisch einen Scotch auf Eis einschenkte. Diesen einen Drink hatte er sich verdient. Er nippte daran, setzte das Glas dann aber ab: Florrie hatte wieder diesen Komm-her-zu-mir-Blick. Sie mochte ihn. Minderquist ging zu ihr, er wollte sich vor ihr verbeugen und vorschlagen, irgendwo zu Mittag zu essen.
Doch sie drehte sich abrupt weg.
Minderquist ergriff ihre Hand. Sie entwand sich seinem Griff und ging auf die große, offenstehende Flügeltür zu. Minderquist folgte ihr. »Florrie?«
»Nehmen Sie …« Der Rest war nicht zu verstehen.
Aber Florrie war noch da. Im Sonnenlicht schienen ihr helles Kleid und Haar golden zu glänzen, genau wie die Sonne. Minderquist folgte ihr den Pool entlang. Vor ein paar Minuten war hier noch Penny gelaufen.
»Ken, Schluß damit!« Florrie lachte auf und trat hinter einen runden Tisch: Sicher würde sie darum herumlaufen, sollte er nur einen Schritt näher kommen.
Minderquist sprang vor. Er hatte sich für die linke Seite des Tisches entschieden. »Florrie, Lunch, mehr nicht! Ich –«
»Ken!«
War das die Stimme seiner Frau gewesen? Grinsend trabte Minderquist los und jagte Florrie mit langen Schritten die andere, lange Seite des Pools entlang. Florrie bog um die Ecke, ihre kleinen hochhackigen Schuhe wirbelten über den Boden. Minderquist sprang über die Ecke, aber zu kurz, landete mit einem Fuß auf dem blau gekachelten Beckenrand und fiel seitwärts ins Wasser.
Ganz kurz hörte er schrilles Gelächter, das sofort vom Rauschen des Wassers in seinen Ohren verschluckt wurde. Minderquist schnappte mit offenem Mund nach Luft und schluckte Wasser, dann bekam er den Kopf wieder knapp über die Oberfläche. Vom Beckenrand des Pools griffen Hände nach ihm.
»Alles in Ordnung, Ken?«
»Guter Tauchversuch! Ha, ha.«
Minderquist hievte sich mühevoll am Beckenrand aus dem Wasser. Andere zogen ihn an den Armen, sogar am Gürtel. Irgendwer reichte ihm ein Handtuch. Wo war Florrie? Er wischte sich über die Augen, konnte sie nirgendwo sehen. Und nur sie zählte.
»Sie sind nicht verletzt, Mr. Minderquist, oder?« fragte ein junger Mann.
»Nein, nein. Herrgott noch mal. – Was ist mit Florrie?«
»Ha, ha!«
Noch mehr Gelächter. Ein Mann krümmte sich sogar vor Lachen, ganz kurz nur.
»Bye, Mr. Minderquist. Wir gehen jetzt.«
Minderquist marschierte hocherhobenen Hauptes zum Haus zurück und wischte sich dabei den Nacken mit dem Handtuch trocken. Immer noch war er hier der Hausherr. Er wollte nach Florrie sehen. Minderquist sah sich im großen Wohnzimmer um – eine unheimliche Leere. Ein Wagen rollte die Auffahrt hinunter. Minderquist meinte, die Stimme seiner Frau zu hören, aus dem Flur am anderen Ende des Zimmers.
»Das werden Sie nicht tun!« sagte Julia.
»Aber das ist doch … Könnte lustig werden.« Eine Männerstimme. »Ist ganz harmlos!«
Minderquist erreichte die Schwelle ihres gemeinsamen Schlafzimmers und sah durch die offene Tür Julia mit einem Revolver in der Hand dastehen – mit der Waffe, die sonst immer in der obersten Schublade der Kommode zu ihrer Linken lag. Sie zielte auf einen Mann, der ihm den Rücken zukehrte.
»Lassen Sie das Ding fallen. Sonst schieß ich es in Stücke.« Julias Stimme bebte.
Gehorsam zog der Mann den Riemen über den Kopf und ließ die Kamera auf den Teppichboden fallen.
»Und jetzt raus hier!« sagte Julia.
»Hätte ganz gern meine Kamera wieder. Ich komme vom Baltimore –«
»Was zum Teufel ist denn hier los?« Minderquist betrat das Schlafzimmer.
»Ich will diese Fotos. Ganz einfach«, sagte Julia.
»Sind doch nur welche von Ihnen und Florrie am Pool, Sir!« sagte der junge Mann. »Nicht weiter schlimm. Nur ein bißchen Action.«
»Fotos von Florrie? Die will ich haben!« sagte Minderquist.
Der junge Mann lächelte. »Verstehe, Sir. Tja, Sie – Sie haben die Negative ja schon, und die Kamera auch. Es sei denn, Sie wollen, daß ich sie für Sie entwickle.«
»Nein!« sagte Julia.
»Wieso nicht? Geht vielleicht schneller«, entgegnete Minderquist.
»Den Film aus der Kamera. Sofort.« Julia zielte auf den jungen Mann.
Zwei Männer standen im Flur und gafften.
Der Fotograf wickelte den Rest des Films auf die Spule, öffnete den Apparat und legte die Rolle oben auf die Kommode.
»Danke.« Minderquist steckte den Film in seine Jackentasche, merkte, daß das Jackett klitschnaß war, nahm die Spule heraus und schloß die Hand darum.
»Bye, Mr. Minderquist«, sagte einer der Männer im Flur. »Und vielen Dank Ihnen beiden.«
»Bye, und danke für Ihren Besuch«, sagte Julia verbindlich. Sie hielt beide Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Der Fotograf legte den Kameragurt wieder um. »Bye, Mr. Minderquist, und viel Glück!« Er stolperte zur Tür hinaus.
»Gib mir diese Filmrolle, Ken«, sagte Julia leise.
»Nein, nein, ich will sie haben«, sagte Minderquist. Seine Frau würde sie ganz bestimmt vernichten, wenn sie konnte, allein schon, weil Florrie auf dem Film war.
»Wenn nicht, erschieße ich dich.« Jetzt zielte sie auf ihn.
Minderquist hielt den Daumen auf das flache Ende der Rolle in seiner Hand gepreßt. Er würde seine eigenen Bilder von Florrie haben, darunter womöglich ein paar gute, die er vergrößern lassen könnte. »Dann tu’s doch«, erwiderte er.
Julia beugte sich über die Kommode, den Revolver in beiden Händen, als wiege er auf einmal schwer. Sie legte ihn zurück in die oberste Schublade.
Roland Markow beugte den Kopf über den Schreibtisch im ehelichen Schlafzimmer und versuchte, sich erneut zu konzentrieren. Schultz hatte es versäumt, die Rendite seiner Festgelder anzugeben. Roland war gerade mit Schultz’ Dezemberbilanz beschäftigt und hatte alle Unterlagen seines Klienten zur Hand, alle Einnahme- und Ausgabebelege für die zwölf Monate des Jahres, aber sollte er jetzt etwa alles wieder durchkämmen, um diese vermaledeiten Zinsen und wer weiß was noch – Aktien, vermutlich – herauszufischen? Schultz war freiberuflicher Werbegrafiker und hielt sich für tüchtig und ordentlich, obwohl diese Selbsteinschätzung der Wahrheit nicht im entferntesten entsprach.
»Gu-wrr-ka!« ertönte wieder laut die stumpfsinnige Stimme, obwohl zwei geschlossene Türen Roland von ihr trennten.
»Gu-wu-wuu«, sagte die Stimme seiner Frau leiser und sanftmütig.
Widerwärtig, dachte Roland. Man sollte meinen, Jane würde den Schwachsinnigen ermuntern. Das Kind, wie Roland sich sofort verbesserte, während er sich wieder über Schultz’ Steuerunterlagen beugte.
Ende April war eine anstrengende Zeit, und wie seine zwei Kollegen nahm Roland Arbeit mit nach Hause. Die Finanzbehörden hatten feste Termine. Denk dir einfach etwas aus, dachte Roland. Er hätte die Zinsen um hundert Dollar hin oder her vermutlich schätzen können, doch so etwas war nicht seine Art. Roland Markow war von Natur aus pingelig und ehrlich. Er war der festen Überzeugung, auf lange Sicht seien seine Klienten besser bedient, wenn er ihre Steuererklärungen pingelig und ehrlich bearbeitete und einreichte. Schultz konnte er nicht anrufen und um Auskunft bitten, denn Schultz’ Unterlagen befanden sich samt und sonders in den zwölf Umschlägen auf seinem Schreibtisch, jeder mit einem Monatsnamen beschriftet. Er würde allein danach suchen müssen. Und es war fast Mitternacht.
»Guu-wrr-ka-wrr-r-ka!« krähte Bertie.
Roland hielt es nicht länger aus und stand auf, ging zur Zimmertür, durchquerte den kleinen Flur, klopfte und öffnete, ohne abzuwarten, die Tür von Berties Zimmer.
Jane kniete auf dem Boden; sie hockte auf den Fersen und lächelte, als amüsiere sie sich königlich. Ihre Augen hinter den runden, schwarzgefaßten Brillengläsern funkelten fröhlich, und ihre Hände lagen entspannt auf ihren Schenkeln.
Bertie saß wie ein rundlicher Haufen vor ihr, mit wäßrigen Augen und der dicken Zunge, die ihm aus dem Mund hing. Das Kind hatte nicht einmal zu Roland hergeblickt, als er die Tür öffnete.
»Wie kommst du mit der Arbeit zurecht, Liebster?« fragte Jane. »Weißt du, daß es Mitternacht ist?«
»Ich weiß, ich kann es nicht ändern. Muß er dauernd diese gräßlichen Laute machen? Was soll das überhaupt heißen?«
Jane lachte leise. »Gar nichts, Liebster. Ist nur ein Spiel. – Du bist müde, ich weiß. Entschuldige, wenn wir laut waren.«
Wir. Wahnwitziger Zorn flammte in Roland auf. Ihr Kind war mongoloid, schwachsinnig, hoffnungslos unterbelichtet. Mußte sie unbedingt »wir« sagen? Roland versuchte zu lächeln, strich sich die glatten schwarzen Haare aus der Stirn und spürte überrascht Schweiß auf seiner Haut. »Ist schon gut. Klang nur so komisch. Wie Gurka, weißt du, diese indischen Soldaten. Konnte mir einfach keinen Reim darauf machen.«
»Guooh«, sagte Bertie und ließ sich seitlich auf den Teppich plumpsen. Er lächelte nicht. Obwohl seine schrägstehenden Augen für einen Moment Rolands Blick zu begegnen schienen, wußte Roland, daß das nicht sein konnte. Der Fachbegriff für diese Schädigung lautete Epikanthus.
Roland war mit der gesamten Terminologie für Kinder – Lebewesen – mit Down-Syndrom vertraut. Er hatte sich vor Jahren damit vertraut gemacht, nach Berties Geburt. Die komplizierten Informationen hatten sich in seinem Gedächtnis festgesetzt wie in der Kindheit auswendig gelernte religiöse Formeln; Roland verabscheute all diese Informationen, weil sie Bertie nicht ändern konnten – wozu sollte es dann gut sein, diese Einzelheiten zu wissen?
»Du bist müde, Roland«, sagte Jane. »Wäre es nicht besser, jetzt ins Bett zu gehen und vielleicht eine Stunde früher aufzustehen?«
Roland schüttelte kraftlos den Kopf. »Weiß nicht. Ich überlege es mir.« Am liebsten hätte er gesagt: »Sorg dafür, daß er die Klappe hält!«, doch er wußte, daß es Jane Freude machte, abends mit Bertie zu spielen, und wann Bertie ins Bett kam, das war weiß Gott egal, denn je länger er aufblieb, desto größer war die Chance, daß er am nächsten Morgen länger schlief und keinen Krach machte. Bertie hatte sein eigenes Zimmer, nämlich dieses, mit einem niedrigen Bett, zwei schweren Stühlen, die er nicht umwerfen konnte (er war verblüffend stark), einem niedrigen, schweren Holztisch, dessen Kanten Roland eigenhändig abgerundet und geschmirgelt hatte, mit weichem Gummispielzeug auf dem Boden, damit keine Scheibe zu Bruch ging, wenn Bertie das Spielzeug gegen das Fenster warf. Bertie hatte dünnes rötliches Haar, einen kleinen Kopf, oben und hinten flach, eine kurze plattgedrückte Nase und einen Mund, der nichts weiter war als ein rosiges Loch, das immer offenstand und aus dem meistens die unförmige Zunge herausragte. Die Zunge hatte häßliche Furchen. Und natürlich sabberte Bertie ununterbrochen. Das Schreckliche daran war, daß er ihnen die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre erhalten bleiben würde, vielleicht länger. Mongolismuskranke starben oft als Halbwüchsige oder früher an einem Herzfehler, hatte Roland gelesen, doch ihr Hausarzt Dr. Reuben Blatt hatte an Berties Herz keine Schwäche ausmachen können. O nein, dachte Roland voller Bitterkeit, dieses Glück blieb ihnen verwehrt.
Roland drückte die Fingerspitzen der rechten Hand gegen die Mine des Kugelschreibers und drückte den Kugelschreiber dann gegen seine Handfläche. Am schlimmsten war, daß Jane sich von Grund auf verändert hatte. Er beobachtete sie, wie sie sich vorbeugte und Bertie lächelnd abermals angurrte, als wäre er, Roland, gar nicht mehr im Zimmer. Jane hatte zugenommen; sie lief zu Hause in schlampigen Espadrilles herum, ging darin sogar einkaufen, wenn das Wetter es zuließ. In den letzten vier oder fünf Jahren hatten sie fast alle Freunde verloren, alle bis auf die Drummonds, Evy und Peter, die, davon war Roland überzeugt, nur aus morbider Neugier auf Bertie weiterhin mit ihnen verkehrten. Wenn sie auf einen Drink oder zum Abendessen kamen, äußerten sie unweigerlich den Wunsch, »Bertie für ein paar Minuten« zu sehen, und meistens brachten sie ein kleines Spielzeug oder Süßigkeiten für Bertie mit, gewiß, doch die gierigen Blicke, mit denen sie Bertie betrachteten, konnte Roland nicht vergessen. Bertie faszinierte die Drummonds, wie ein Horrorfilm jemanden faszinieren konnte, etwas aus einer anderen Welt. Und Roland mußte immer denken: Wieso aus einer anderen Welt? Aus seinen eigenen Lenden, wie es in der Bibel hieß, aus Janes Schoß. Irgend etwas war schiefgegangen, ein Risiko von eins zu siebenhundert, wenn man den Statistiken glauben wollte, vorausgesetzt, die Mutter war unter vierzig; Jane war damals siebenundzwanzig gewesen. Tja, sie hatten das eine Los unter siebenhundert gezogen. Roland entsann sich des Gesichtsausdrucks des Geburtshelfers beim Verlassen des Kreißsaals so deutlich, als wäre es gestern oder letzte Woche gewesen. Der Geburtshelfer (dessen Namen Roland nicht mehr wußte) hatte die Stirn gerunzelt, mit halbgeöffneten Lippen, als suche er nach den richtigen Worten, was er in der Tat getan hatte. Er wußte, daß die Krankenschwester dem besorgt wartenden Roland bereits eine verworrene und ziemlich beunruhigende Ankündigung gemacht hatte.
»Ach ja – Mr. Markow? – Ihr Kind – es ist ein Junge. Er ist nicht normal, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. Aber ich will Ihnen nichts vormachen.«
Down-Syndrom. Roland hatte das nicht sofort mit dem ihm vertrauten Begriff Mongolismus in Verbindung gebracht, doch Sekunden später hatte er begriffen. Roland erinnerte sich an sein Erstaunen über die Nachricht, eine Empfindung, die stärker gewesen war als die der Enttäuschung. War mit seiner Frau alles in Ordnung? Ja; sie habe das Kind noch nicht gesehen.
Roland hatte das Kind etwa eine Stunde darauf gesehen; es lag in einer winzigen Metallkiste, in einer der an die dreißig Metallkisten, die man durch eine Glaswand des sterilen und besonders stark beheizten Raums sehen konnte, in dem die Neugeborenen lagen. Niemand hatte ihm seinen Sohn zeigen müssen: das Köpfchen mit dem flachen Schädel, die Augen, deren Schrägstellung Roland zu sehen vermeinte, obwohl sie geschlossen waren. Andere Babys bewegten sich, ballten kleine Fäuste, rissen den Mund auf, um zu atmen, zu gähnen. Bertie regte sich nicht. Aber er war lebendig. O ja, und wie lebendig.
Roland hatte sich über Mongoloide kundig gemacht und erfahren, daß sie sich im Mutterleib auffällig still verhielten. »Nein, er strampelt noch nicht!« hatte Jane ein halbdutzendmal wohlmeinenden Freunden beschieden, die sich während ihrer Schwangerschaft erkundigten, wie Roland sich erinnerte. »Vielleicht liest er schon Bücher«, hatte Jane manchmal hinzugefügt. (Jane war eine leidenschaftliche Leserin und hatte in Vassar ein Studienstipendium gehabt und ihren Abschluß in Politologie gemacht.) Wie anders hatte Jane damals ausgesehen! Roland wurde klar, daß er die Jane von vor fünf Jahren in der Jane von heute kaum wiedererkannt hätte. Sie war zierlich und anmutig gewesen, mit schönen Fesseln, kurzgeschnittenem glatten braunen Haar, einem intelligenten und hübschen Gesicht mit strahlenden, freundlichen Augen. Die schönen Fesseln hatte sie noch immer, doch sogar ihr Gesicht wirkte ungeschlachter, und sie bewegte sich nicht mehr mit jugendlicher Leichtigkeit. Roland wollte es scheinen, als habe sie sich ganz auf Bertie zurückgezogen. Sie war eine Art Monument geworden, etwas weitgehend Statisches und Schweres, besessen von Bertie, auf ihn konzentriert, mit ihm beschäftigt. Nein, sie wollte keine weiteren Kinder, wollte kein weiteres Risiko eingehen, sagte sie manchmal heiter, obwohl die Aussichten darauf gleich null waren. Sowohl Roland als auch Jane hatten ihr Blut untersuchen lassen. Für gewöhnlich waren die Frauen »Träger«, doch Janes Chromosomen waren ebenso unversehrt wie die seinen. Sie erfüllte auch keinerlei Voraussetzung für eine »Translokationstrisomie«, was in einem von drei Fällen zu mongoloider Nachkommenschaft führte. Wenn er und Jane noch ein Kind bekämen, so wäre das Risiko wieder eins zu siebenhundert.
Mehr als einmal hatte Roland mit dem Gedanken gespielt, Bertie »einzuschläfern«, wie man das bei unheilbar kranken Hunden und Katzen nannte. Natürlich hatte er dies nie zu Jane oder sonst jemandem gesagt, und inzwischen war es ohnehin zu spät. Unmittelbar nach Berties Geburt hätte er vielleicht den Arzt darum bitten können, selbstverständlich nur mit Janes Zustimmung. Doch inzwischen war Bertie ein Mensch, wie Jane Roland zu erklären nicht müde wurde. Wirklich? Bertie hatte wahrscheinlich einen Intelligenzquotienten um die fünfzig. Das war mongoloider Durchschnitt, auch wenn Berties IQ nie getestet worden war.
»Rollie!« Jetzt lag Jane auf dem Rücken und stützte sich auf die Ellbogen. »Du siehst so erledigt aus, Liebling! Wie wäre es mit einer heißen Schokolade? Oder Kaffee, wenn du wirklich aufbleiben mußt? – Schokolade wäre besser für dich.«
Roland murmelte etwas. Er mußte mindestens noch eine Stunde lang arbeiten, denn nach Schultz’ Steuererklärung warteten noch zwei weitere Vorgänge. Roland starrte den krötengleichen Körper seines Sohns – jawohl, seines Sohns – an, der jetzt auf dem Rücken lag: die unförmigen Beine, die kurzen Arme mit den ungeschlachten und ungefügen Händen, die nichts verrichten konnten, mit Daumen wie Klumpen, Mißbildungen, die nichts halten konnten. Womit hatte er, Roland, das verdient? Bertie trug natürlich Windeln in Übergröße. Mit seinen fünf Jahren sah er tatsächlich wie ein überdimensionierter Säugling aus. Hals hatte er keinen. Roland spürte, daß sein Arm berührt wurde, als seine Frau an ihm vorbei in die Küche huschte.
Wenige Minuten später stellte Jane einen dampfenden Becher heiße Schokolade neben seinem Ellbogen ab. Roland saß wieder an der Arbeit. Er hatte die Rendite aus Schultz’ Festgeldern ausfindig gemacht, die Schultz im April und im Oktober brav aufgelistet hatte. Roland beendete die Steuererklärung und langte nach dem nächsten Packen Unterlagen von James P. Overland, dem Geschäftsführer eines Restaurants auf Long Island. Roland trank die heiße Schokolade in kleinen Schlucken und dachte sich, daß sie tröstlich war, angenehm, doch nicht das, was er brauchte, auch wenn Jane das behauptet hatte. Was er brauchte, war eine süße Frau in seinem Bett, warm und liebevoll, sogar sexy, wie Jane es früher gewesen war. Was sie beide brauchten, war ein gesunder Sohn in dem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs, der inzwischen Bücher las, vielleicht sogar in Robert Louis Stevenson schmökerte, wie es sowohl Roland als auch Jane in Berties Alter getan hatten, ein Sohn, der nach dem Lichterlöschen im Schein der Taschenlampe unter der Bettdecke noch ein paar Seiten einer Abenteuergeschichte las. Bertie würde es nicht einmal zum Entziffern des Aufdrucks einer Schachtel Cornflakes bringen.
Jane hatte gesagt, sie wolle heute nacht auf dem Sofa schlafen, damit er an seinem Schreibtisch im Schlafzimmer ungestört arbeiten konnte. Sie konnte nicht bei Licht schlafen. Sie hatte schon oft auf dem Sofa geschlafen – sie hatten ein Daunenbett, das man auf das Sofa mitnehmen konnte –, und manchmal schlief auch Roland dort, um Jane in Nächten, in denen Bertie keine Ruhe gab, ablösen zu können. Es kam vor, daß Bertie mitten in der Nacht aufwachte und in seinem Zimmer herumwanderte und mit dem Kopf gegen Tür und Wände hämmerte, und einer von ihnen mußte dann zu ihm gehen und eine Weile auf ihn einreden und ihm meistens die Windeln wechseln. Der Teppich war eine einzige Sauerei, dachte Roland, wobei das tiefe Dunkelblau zum Glück die zweifellos vorhandenen Flecken kaschierte. Der Hausarzt hatte ihnen Beruhigungsmittel für Bertie gegeben, aber weder Roland noch Jane wollten ihn tablettenabhängig machen.
»Zum Teufel mit dem Burschen!« brummte Roland und meinte James P. Overland, an dessen Gesicht er sich von den zwei Gesprächen, die er vor Monaten mit Overland geführt hatte, nur nebulös erinnerte. Overland hatte seine Ausgaben und Einnahmen bei weitem nicht so ordentlich aufgelistet wie der Werbefritze Schultz, und Rolands Kollege Greg MacGregor hatte ihm den ganzen Schlamassel auf den Tisch geknallt! Greg hatte auch alle Hände voll zu tun, das wußte Roland, und vermutlich saß er in seinem Apartment in der 23rd Street ebenfalls bis tief in die Nacht über der Arbeit, aber dennoch – Greg war noch nicht so lange in der Firma wie Roland, und er hätte von Rechts wegen die Schmutzarbeit tun müssen; Rolands Aufgabe war es, den letzten Schliff vorzunehmen, jede legitime Finte und Steuerumgehung zu erwägen, die das Finanzamt zuließ, und Roland kannte sie alle auswendig. »Greg werde ich mir morgen zur Brust nehmen«, fluchte Roland leise, doch er wußte, daß er es nicht tun würde. So wichtig war die Sache nicht. Er war nur so elend müde, wütend und verbittert.
»Gaa-wrrr-rr-ka!«
Hatte er das gehört, oder bildete er es sich ein? Wieviel Uhr war es?
Zwanzig nach eins! Roland stand auf, sah, daß die Schlafzimmertür geschlossen war, und öffnete sie nervös einen Spalt weit. Jane lag auf dem Sofa und schlief; undeutlich konnte er das blaue Daunenbett und die dunklere Stelle, die Janes Kopf war, ausmachen, und Berties Geschrei hatte Jane nicht geweckt. Sie gewöhnte sich allmählich daran, dachte Roland. Warum auch nicht, dachte er. Vor »Gu-wrr-ka« war es »Aaaargh!« gewesen, so wie in Horrorfilmen oder Comicstrips. Und davor?
Roland saß wieder an seinem Schreibtisch. Davor? Er starrte auf die Steuerunterlagen des nächsten Klienten nach Overland (für Overland hatte er eine Notiz geschrieben, die ihm morgen am Telefon vorgelesen werden sollte, falls eine Sekretärin ihn erreichen konnte) und zerbrach sich allen Ernstes den Kopf darüber, was Bertie vor »Aaargh!« geäußert haben mochte. Verlor er jetzt den Verstand? Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, richtete sich auf und beugte sich wieder über die weitgehend erledigten Formulare, den Kugelschreiber schreibbereit in der Hand, während er eine Liste abhakte. Es hatte keinen Sinn. Er konnte die Wörter lesen, die Zahlen, aber sie sagten ihm nichts. Er stand schnell auf.
Mach einen kurzen Spaziergang, ermahnte er sich. Oder laß es für diese Nacht gut sein, wie Jane vorgeschlagen hat, versuche es morgen früh, aber der Spaziergang war jetzt nötig, sonst würde er nicht schlafen können, das wußte er. Er war hellwach und nervös vor Übererregung.
Als er auf Zehenspitzen durch das dunkle Wohnzimmer zur Tür schlich, hörte er aus Berties Zimmer ein tiefes, schläfriges Jammern. Es war das maunzende Weinen, das für gewöhnlich verkündete, daß Berties Windeln gewechselt werden mußten. Roland konnte sich nicht dazu überwinden. Er wußte, daß das Maunzen Jane irgendwann wecken würde, und sie war der Sache gewachsen. Sie mußte morgen nicht zur Arbeit gehen. Jane hatte ihre Arbeit bei einer UN-Forschungsabteilung nach Berties Geburt aufgegeben, obwohl sie das sicher nicht getan hätte, wie Roland zum hundertstenmal denken mußte, wenn Bertie nicht mongoloid gewesen wäre. Sie hätte ihre Arbeit wieder aufgenommen, wie sie es vorgehabt hatte. Aber Jane hatte sich auf der Stelle entschieden: Bertie, ihr kleiner Liebling, würde fortan ihr Full-time-Job sein.
Es war eine Erleichterung, in die kühle Luft und die Dunkelheit draußen zu treten. Roland wohnte in der East 52nd Street, und er ging nach Osten. Ein junges Liebespaar schlenderte ihm engumschlungen entgegen; das Mädchen legte den Kopf zurück und lachte leise. Der Junge beugte sich schnell über sie und küßte ihre Lippen. Als wären sie in einer anderen Welt, dachte Roland. Verglichen mit ihm waren sie das. Wenigstens waren die beiden glücklich und gesund. Tja, das waren er und Jane auch gewesen – genau wie diese beiden, wie Roland bewußt wurde, vor etwa sechs Jahren! Wie unglaublich ihm das jetzt vorkam! Womit hatten sie das verdient? Dieses Schicksal! Womit? Roland hätte es nicht sagen können. Er war nicht religiös, und er glaubte an Gebete oder ein Jenseits so wenig, wie er an glückliche Zufälle glaubte. Der Mensch war für sein Schicksal selbst verantwortlich. Roland Markow war der Enkel armer Einwanderer. Auch seine Eltern hatten keine Universitätsausbildung gehabt. Roland hatte sich durch das Studium an der City University of New York gemüht und zu Hause gewohnt.