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Oh du Fröhliche? Ganz sicher nicht! Ausgerechnet in der Weihnachtszeit muss Alexandra Schäfer vor der Presse und aus Hamburg fliehen. Und wo kann man sich besser verstecken als im entlegenen Island? Kaum auf der Insel angekommen, kriegt sie sich mit dem wortkargen Tauchlehrer Andrés in die Wolle. Als Alex auch noch der Geldhahn zugedreht wird, gehen die Probleme erst richtig los. Sie steht plötzlich vollkommen mittellos da – bis Andrés sie seiner Schwester zuliebe bei sich aufnimmt. Während die beiden Streithähne notgedrungen versuchen, sich miteinander zu arrangieren, muss Alex feststellen, dass die Quellen nicht das einzig Heiße sind, das Island zu bieten hat …
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Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Rezept
Danksagung und Nachwort
Lektorat: Dorothea Kenneweg
Korrektorat: SKS Heinen
Covergestaltung: Casandra Krammer - www.casandrakrammer.de
Covermotiv: © Shutterstock.com
Copyright © Karin Lindberg 2019
www.karinlindberg.info
Karin Baldvinsson
Am Petersberg 6a
21407 Deutsch Evern
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Erstellt mit Vellum
Liebe Leserin, lieber Leser,
weder im Isländischen noch im Englischen gibt es das förmliche ›Sie‹, ich habe daher in meinem Roman komplett darauf verzichtet, da die Dialoge sonst nicht authentisch wären. Man spricht sich auf Island grundsätzlich mit dem Vornamen an, da die Nachnamen sich darauf beziehen, wessen Kind man ist, und nicht in der gleichen Form wie bei uns existieren. Auf Island sind die Telefonbücher nach Vornamen sortiert. Die Vornamen der Väter (meistens, nicht immer) bekommen den Zusatz ›-son‹ (für Sohn) oder ›-dóttir‹ (für Tochter) und bilden damit den ›Nachnamen‹.
Und nun wünsche ich Euch viel Freude mit der Geschichte. Ich hoffe, Ihr habt genauso viel Spaß beim Lesen wie ich beim Schreiben.
Alles Liebe
Karin Lindberg
Objektiv gesehen war ihre Lage vielleicht gar nicht so ausweglos, wie sie sich anfühlte. Also alles nur Ansichtssache. Höchstwahrscheinlich musste sie die Ereignisse der letzten Tage nur aus einer anderen Perspektive betrachten. Immerhin, es hatte keinen Amokläufer gegeben, keinen Atomunfall und auch keine Naturkatastrophe. Niemand war gestorben.
Außer sie selbst zu einem kleinen Teil vielleicht, aber das interessierte keinen. Nicht die Presse – die schon gar nicht –, nicht ihre Eltern und auch nicht ihre Schwester.
Alexandra schloss die Lider, riss sie aber sofort wieder auf, als die Bilder der Hochzeitsfeier vor ihrem inneren Auge auftauchten. Wenn sie eins nicht wollte, dann an diesen grauenhaften Tag erinnert zu werden. Dabei war er anfangs ganz schön gewesen, ihre Schwester hatte in dem mit Spitzen besetzten Kleid großartig ausgesehen, die Haare zu einer kunstvollen Frisur gesteckt, der Teint strahlend, der Bräutigam – ein Arschgesicht.
Sie atmete tief durch und schaute aus dem Fenster, unter ihr nur Wolken, in ihren Ohren knackte es. In wenigen Minuten würden sie in Keflavík landen. Viel hatte sie von der Insel aus der Luft noch nicht gesehen, aber das würde sie vom Boden aus nachholen. Das Reiseziel hatte sie nicht nach den üblichen Kriterien ausgesucht, sondern danach, wo die Paparazzi sie nicht vermuten würden. Die hatten sicher ihre Lager auf Mallorca und sonst wo aufgeschlagen, und Alex war zuvor noch nie auf Island gewesen, deswegen war Island perfekt. Das hoffte sie zumindest.
Hauptsache raus, hatte Alex gedacht und den nächstbesten Flug gebucht, der sie aus Hamburg wegbrachte. Normalerweise war Flucht nicht ihre erste Wahl, aber in diesem speziellen Fall war ihr nichts anderes übrig geblieben. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, und ihre Familie brauchte Zeit, um sich abzuregen. Dabei war es nicht einmal ihre Schuld gewesen, dass die Hochzeitsfeier in einem Desaster geendet hatte. Die Enttäuschung saß tief, dass ihr niemand glaubte, vielleicht war das auch der eigentliche Grund, warum sie abgehauen war. Als ob sie am Tag der Hochzeit mit dem Mann ihrer Schwester herummachen würde. Es war erschreckend, dass ihr überhaupt irgendjemand einen derartigen Fehltritt zutraute. Die Paparazzi, die Presse – das hätte sie alles ausgehalten, wenn ihr die wichtigsten Menschen nicht auch noch in den Rücken gefallen wären. Sie brauchte Abstand von allem und allen.
»Du musst dich wieder anschnallen«, riss eine weibliche Stimme sie auf Englisch aus ihren trüben Gedanken. Die Stewardess der Icelandair lächelte.
Alex kam der Aufforderung nach und schob ihre Tasche unter den Sitz ihres Vordermanns, der Platz neben ihr war frei geblieben, die Saga Class war nicht voll besetzt.
Die hübsche Blondine in Uniform setzte ihren Weg durch die Reihen fort. Überall wurden Zeitungen zusammengefaltet, Computer weggepackt und Tische nach oben geklappt. Eine andere Flugbegleiterin lief mit einer Plastiktüte und einem Wägelchen durch den Gang und sammelte Müll und Geschirr ein. Alex war zum ersten Mal wirklich froh gewesen, dass man sich an Bord der Maschine einen W-LAN-Zugang hatte kaufen können. So hatte sie auf dem dreistündigen Flug einen Mietwagen und die Unterkunft für drei Wochen gebucht, was sie von zu Hause aus nicht mehr geschafft hatte. Sie hatte andere Sorgen gehabt. Auf der Flucht dachte man zunächst nicht daran, wo man schlafen sollte und wie man dorthin kam. Jetzt konnte sie ein bisschen klarer denken, trotzdem fühlte sich alles noch irreal an. Sie wünschte sich so sehr aufzuwachen, damit dieser Alptraum aufhörte. Aber kein Blinzeln, kein Zwicken half. Es war die bittere Realität, der sie zu entkommen versuchte.
Und in drei Wochen war auch noch Weihnachten! Alex war zwar nicht unbedingt eine der Frauen, die sich in die besinnliche Zeit stürzten, das ganze Haus dekorierten und Tonnen von Keksen backten, aber an Heilig Abend hatte sie bisher immer mit ihrer Familie gefeiert. Jetzt fragte sie sich, ob sie noch willkommen war – ob sie überhaupt bei den Menschen sein wollte, die sie eine Lügnerin nannten. Die Scham brannte tief in ihrem Bauch, und ein Loch klaffte in ihrem Herzen. Sie war vor der ganzen Hochzeitsgesellschaft bloßgestellt worden, obwohl es nicht ihr Fehler gewesen war. Nie hätte sie geglaubt, dass sie einmal in so einer Situation landen würde. Natürlich nicht, es war einfach zu absurd, immerhin war Leopold ihr Schwager!
Es ruckelte – das Flugzeug war offenbar durch ein Luftloch geflogen –, dann durchbrachen sie die Wolkendecke, und Alexandras Aufmerksamkeit wurde auf die Landschaft unter ihnen gelenkt. Sie sah das dunkle Meer, die schwarzen Felsen und die moosüberzogenen Lavafelder. Den Flughafen konnte sie schon entdecken, sehr viel mehr war da nicht an Zivilisation zu erkennen. Es war erst kurz nach zwei und dämmerte bereits, viel Tageslicht würde sie hier also nicht abbekommen, aber das war ihr egal. Eigentlich fühlte es sich sogar ganz gut an, sie mochte die Dunkelheit, die Sterne, die Ruhe der Nacht. Sich jetzt an einen Strand zu legen und sich die Sonne auf den Pelz brennen zu lassen, würde ihr falsch vorkommen. Hier war sie richtig. Außerdem hatte sie ihre Kamera im Gepäck, sie hoffte darauf, zum ersten Mal in ihrem Leben die berühmten Nordlichter in natura entdecken zu können. Heute aber vermutlich nicht, denn es hatte gerade angefangen zu schneien, man sah plötzlich gar nichts mehr.
Wahnsinn, dachte sie und hielt sich an den Armlehnen fest, als das Flugzeug leicht ins Wanken geriet – vermutlich eine Windbö. Nun ja, was sollte man erwarten, sie befand sich quasi auf dem Polarkreis, natürlich wehte hier keine luftige Sommerbrise. Alex schluckte und atmete erleichtert auf, als die Maschine kurz darauf sicher auf dem Boden aufsetzte und der Pilot sofort in die Eisen stieg. Sie wurde nach vorne geschleudert und hätte sich um ein Haar die Stirn am Vordersitz angeschlagen.
»Mein Gott«, japste sie und wischte sich ihre feuchten Hände an der Jeans ab.
Etwas später war sie auf dem Weg zum Schalter der Mietwagenfirma, ihre Absätze hallten auf dem glatten Boden der Ankunftshalle wider. Es herrschte reges Treiben am Flughafen, die Isländer stürmten in den Duty Free Shop, schleppten Unmengen Süßigkeiten, Spirituosen, Wein und Bier aus dem Laden und schoben ihre Beute auf Einkaufswagen zusammen mit ihrem Gepäck nach draußen.
Als ob es bald nichts mehr geben würde, dachte sie amüsiert. Alex hielt nichts von Hamsterkäufen, und auf Schleppen hatte sie auch keine Lust. Die ersten Nächte würde sie in Reykjavík verbringen, ein bisschen Sightseeing machen, ehe sie in den Norden weiterfuhr, von wo aus man – laut Internet zumindest – derzeit die größte Chance hatte, die beeindruckendsten Nordlichter zu erleben. Außerdem wohnte ihre Freundin Erla auch in Akureyri. Selbst wenn sie also keine Polarlichter zu Gesicht bekommen sollte, so würde sie zumindest ihre Studienkollegin wiedersehen. Zum ersten Mal seit achtundvierzig Stunden keimte so etwas wie Zuversicht in Alex auf, und ihre angespannten Schultern sanken ein wenig herab.
Der Schock saß allerdings noch immer tief, dass ihre Familie sie für schuldig hielt, obwohl sie das Gegenteil beteuert hatte. Sie war zum Sündenbock geworden, das musste sie erst mal verdauen, und doch, sie fühlte sich etwas leichter, während sie ihren Koffer hinter sich herzog.
Dieser Tag konnte nicht noch beschissener werden. Zum wiederholten Mal schaute Andrés auf die Uhr, davon blieb die Zeit leider auch nicht stehen. Erneut wählte er die Nummer der Flugfélag Íslands. Nachdem er den üblichen Gruß abgewartet hatte, erkundigte er sich, ob es noch einen Flug nach Akureyri gab.
»Tut mir leid, der Betrieb ist vorläufig eingestellt, das Wetter …«
»Verdammt«, stieß er hervor.
»Ich kann dir leider nicht sagen, ob wir morgen wieder fliegen.«
»Gibt es noch was von Keflavík aus?«
Es dauerte einige Sekunden, bis er eine Antwort erhielt. »Die letzte Maschine ist vor zehn Minuten gestartet.«
»Scheiße.«
»Kann ich sonst noch was für dich tun?«
»Nein, vielen Dank.« Er legte auf und unterdrückte einen derben Fluch.
Natürlich konnte er nichts dafür, dennoch war er sich sicher, dass weder Svala noch Hildur das so sehen würden, wenn er ihnen mitteilte, dass er die Geburtstagsfeier nicht erreichen würde.
Eine Hoffnung hatte er noch, obwohl er trotzdem zu spät zur Party kommen würde, aber so würde er es immerhin überhaupt noch schaffen. Besser spät als gar nicht … Er beschleunigte seine Schritte und steuerte geradewegs auf den Schalter der Mietwagenfirma Bílaleiga Akureyrar zu. Es stand eine Frau vor ihm, die hektisch in ihrer überdimensionierten Handtasche wühlte. Mein Gott, das Ding war riesig! Darin konnte sie eine Leiche verstecken. Er würde nie verstehen, was Frauen alles mit sich herumschleppten. Andrés ließ seinen Blick über ihren Körper gleiten. Ihre schlanken Beine steckten in einer Designerjeans, an den Füßen trug sie hohe Wildlederstiefel mit schmalen Absätzen. Statt einer Jacke hatte sie nur ein dünnes Seidenblüschen mit buntem Blütendruck an. Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, ob ihr wohl klar war, dass sie auf Island und nicht auf den Kanaren gelandet war? Ihm konnte es ja egal sein, wenn sie sich den wohlgeformten Hintern abfror. Er räusperte sich dezent und trat hinter sie. Sie zückte gerade eine Kreditkarte aus einem – wie sollte es anders sein – überdimensionierten Portemonnaie und schob diese über den Tresen.
»Entschuldigung«, sagte Andrés auf Englisch, da die Frau vor ihm garantiert eine Touristin war. »Ich habe es wirklich furchtbar eilig, könnte ich vielleicht vor?«
Sie wandte sich ihm zu, und er war überrascht, als er in ihre riesigen, rehbraunen Augen schaute, die ihn verwirrt anblinzelten. »Bitte?«
»Ich habe einen ganz dringenden Termin, und ich bin sehr in Eile«, erklärte er.
»Ja, tut mir leid, bei mir ist es auch dringend«, erwiderte sie knapp und wandte sich ab.
»Hey Sturlaugur, kannst du mir schnell helfen«, sagte Andrés auf Isländisch zum Mitarbeiter hinter der Scheibe, den er zufällig kannte, weil er keine Zeit vergeuden wollte. »Ich hab’ echt ein Problem.«
»Ach, Andrés, hallo, wie geht’s?«
»Ja, ja, sehr gut. Hast du noch einen Geländewagen für mich? Muss in den Norden, Flüge gehen ja keine mehr.«
»Tut mir leid, die junge Frau hier hat sich eben den letzten gesichert.« Er zuckte mit den Schultern.
Andrés unterdrückte einen Fluch. »Holtavörðuheiði werden sie bei dem Wetter ganz sicher bald dichtmachen, ich muss zusehen, dass ich noch über den Pass komme, Flüge gehen schon keine mehr, es ist echt dringend.«
»Na hör mal«, mischte sich Miss Seidenblüschen auf Englisch ein. »Kannst du nicht warten, bis du dran bist?«
»Es ist wirklich wichtig«, betonte Andrés noch einmal in Richtung Sturlaugur. »Und wenn ich jetzt gleich losfahre, schaffe ich es vielleicht noch.«
»Das musst du dann mit der Dame ausmachen, ich kann ihr das Auto schließlich nicht einfach wieder wegnehmen.« Er verzog entschuldigend das Gesicht.
Andrés hatte so eine dumpfe Vorahnung, dass das mit der Frau vor ihm nicht einfach werden würde. Obwohl sie so zart und verletzlich wirkte, zeigten schon alleine ihr Kleidungsstil und die Aufmachung, dass sie keine Person war, die vornehme Zurückhaltung übte und anderen den Vortritt ließ. »Du würdest mir echt einen riesigen Gefallen tun, wenn ich den Geländewagen haben könnte«, wandte er sich mit einem hoffentlich freundlichen Lächeln an sie.
Sie schnappte nach Luft. »Ich habe den bestellt und bezahlt, womit soll ich dann fahren?«
»Wo möchtest du denn hin? Ich könnte dich ja hinbringen«, schlug er vor. Wenn er Glück hatte, musste sie nur nach Reykjavík. Dort kam er ohnehin vorbei auf dem Weg nach Nordisland.
»Nein, wirklich nicht. Stell dich bitte wieder hinten an, ich bin dran. Das ist ja unerhört, kannst du nicht einfach warten, bis ich hier fertig bin?«
Andrés hob eine Augenbraue. »Das ist der letzte Geländewagen, verstehst du nicht? Für mich ist das wirklich wichtig. Ich brauche ein Auto!«
Sie wirbelte noch einmal herum, ihre Augen funkelten. »Warum glaubt ihr Männer eigentlich immer, dass ihr das Zentrum des Lebens darstellt? Ich habe Nein gesagt, ist das so schwer zu verstehen? Und wenn es der letzte ist, hast du eben Pech gehabt, ich habe den Wagen nicht umsonst reserviert.«
»Können wir uns nicht irgendwie einigen?«
»Himmel Herrgott noch mal, nein! Ich möchte jetzt einfach diese Schlüssel nehmen, meinen Mietwagen abholen und losfahren.« Sie atmete genervt aus, und er konnte sie ein bisschen verstehen. Gleichzeitig schwand seine Hoffnung, doch noch rechtzeitig nach Akureyri zu kommen.
»Aber das geht nicht … Ich muss –«, stammelte er.
Sie fiel ihm ins Wort. »Ich muss … Was sind das denn für Manieren? Ich muss jetzt los.«
Sie nahm den Schlüssel entgegen, dann griff sie ihr Gepäck und stöckelte davon.
»Hey, warte«, rief er und folgte ihr.
»Was soll das werden?« Sie bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick.
»Bitte, ich würde nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.« Er versuchte ruhig und höflich zu bleiben, auch wenn es in ihm ganz anders aussah.
»Ich bin nicht die Wohlfahrt, es wäre nett, wenn du mich jetzt in Ruhe lassen würdest. Du weißt auch nicht, was ich gerade alles hinter mir habe. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist ein Mann, der mich bedrängt, ich solle ihm mein Auto überlassen. Das ich reserviert habe, wohlgemerkt.«
Nicht die Wohlfahrt? Was glaubte sie denn? Dass er ein Penner war, der sie anschnorren wollte? Unmut machte sich in ihm breit, den er herunterschluckte. Ja, vermutlich sah er ein bisschen mitgenommen aus, was aber kein Grund war, sich so aufzuführen. Er hatte die letzten zwei Tage am Flughafen in Oslo verbracht. Die Gewerkschaft hatte zu Streiks aufgerufen, es war drunter und drüber gegangen, geschlafen hatte er wenig bis gar nicht. Nichts davon war seine Schuld. Er hasste Menschen, die andere von oben herab behandelten. »Du glaubst wohl, du bist was Besseres, hm?«
Sie zögerte. »Was soll das denn jetzt?«
»Guckst mich so überheblich an.«
»Wenn du mich nicht augenblicklich in Ruhe lässt, fange ich an zu schreien. Wo sind wir denn hier, dass du mich so schräg von der Seite anmachst?«
Er wusste, dass sie recht hatte, gleichzeitig war sein Geduldsfaden mittlerweile so dünn, dass er Mühe hatte, gelassen zu bleiben. »Ich zahle dir das Doppelte«, bot er an, weil ihm nichts Besseres einfiel.
Sie lachte nur spitz. »Glaub mir, wenn ich eins nicht brauche, dann ist es Geld.«
Er schnaubte kaum hörbar. Ja, das sah man ihr an. Dumm von ihm. »Was kann ich denn tun, damit ich das Auto kriege?«
»Du? Gar nichts. Und jetzt wäre es nett, wenn du mich wirklich in Ruhe lassen würdest, ich möchte weiter. Ist das so schwer zu verstehen? Mein Gott!«
»Klar, Frauen wie du …«
Sie erstarrte. »Frauen wie ich?« Ihre Stimme klang unnatürlich hoch, ihre Lider flatterten.
Und dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Ihre rehbraunen Augen füllten sich mit Tränen, sie schimmerten wie tiefe Seen, und ihre Unterlippe zitterte.
Ach du Schande, dachte er. Jetzt kamen die Krokodilstränen, vor solchen Herzchen nahm er sich lieber in Acht. Er hatte sie doch nur ganz höflich gefragt …
»Du hast keine Ahnung, wer ich bin«, stieß sie hervor. »Was gibt dir, verdammt noch mal, das Recht, mich erst zu belästigen und dann zu beleidigen?«
Andrés trat schuldbewusst von einem Fuß auf den anderen. Es stimmte im Grunde, was sie sagte, aber war ihre Reaktion darauf nicht doch ein wenig übertrieben? »So schlimm war es ja wohl nicht.«
Sie schluckte, dann ging sie wortlos davon. Andrés folgte ihr nicht, er hatte endlich begriffen, dass es ein aussichtsloses Unterfangen war, sie überreden zu wollen. Seine Chancen, die Feier noch rechtzeitig – oder überhaupt – zu erreichen, verloren sich im regen Schneetreiben, in dem immer wieder heftige Böen an die Scheiben des Flughafengebäudes klatschten.
Alex stand im Reykjavík Grand Hotel und starrte auf die auf dem Bett ausgebreiteten Klamotten. Zum wiederholten Mal fragte sie sich, was sie sich beim Kofferpacken eigentlich gedacht hatte. Es war wirklich alles dabei – was sie hier nicht gebrauchen konnte. Seidenblusen, Leggins, Kleider, dünne Strumpfhosen, High Heels, Schmuck …
Was fehlte: Winterjacke, Mütze, Schal, Handschuhe, festes Schuhwerk, Wollpullover, dicke Socken …
»Gott, ich bin so blöd.« Sie rieb sich die Stirn, dann entschied sie, dass die Reise nicht an ihrem mangelnden Vermögen, zu packen, scheitern sollte. Sie hatte zu Hause in Hamburg andere Sorgen gehabt –, die hatte sie immer noch. Aber Alex war noch nie ein Mensch gewesen, der lange mit sich haderte. Deswegen entschied sie sich, etwas gegen diesen Zustand zu tun. Sie schnappte sich ihre Handtasche, zog sich die viel zu dünne Jacke über und verließ ihr Hotelzimmer. Auf dem Weg zum Parkplatz nahm sie sich einen Augenblick, um die wunderschönen Glasarbeiten in den hohen Fenstern der Hotellobby zu bewundern, die einige der wichtigsten isländischen Sagas zeigten.
Eine Viertelstunde später stieg sie aus einem Taxi, das sie zum Laugavegur, der größten Einkaufsstraße im Zentrum der Hauptstadt, gebracht hatte. Wenn man den Online-Reiseführern glauben mochte, so fand hier das gesellschaftliche Leben statt – tags wie nachts. Sie schaute sich um und war überrascht, dass auf den Gehwegen kein Schnee lag, wie sonst überall. Und dann erinnerte sie sich, ja klar, sie hatte gelesen, dass die Isländer die Gehwege beheizten.
»Witzig«, murmelte sie und schlang die Arme um ihren Oberkörper, denn die Wärme kam leider nicht bei ihr an. Eine Bar reihte sich an die andere, interessante Modegeschäfte und Touristenläden gaben durch das Schaufenster einen kleinen Vorgeschmack auf das Angebot. Sie ging ein paar Meter, bis sie an einen Laden kam, der aussah, als ob man dort eine vernünftige Jacke – ihr dringendstes Problem – finden konnte. »66 North«, las sie von einem Schild, im Schaufenster standen zwei Modepuppen, eine trug gelbes Ölzeug, die andere einen robust wirkenden Parka mit Kunstpelzkragen. Auch wenn sie den Slogan, der aufs Fenster gepappt war, nicht verstand, konnte sie sich doch zusammenreimen, dass die beiden Plastikfreunde zeigen sollten, wo das Unternehmen herkam, aus dem Bereich der Funktionskleidung für Fischer. Irgendwie cool, dann drückte sie die Tür auf und ging hinein. Hinter der Kasse standen zwei junge Mädchen, die sich auf Isländisch unterhielten. Als sie Alex entdeckten, grüßten sie sie mit einem »Góðan daginn, can we help you?«
Ja, anscheinend war es offensichtlich, dass sie nicht von hier war. Alex antwortete auf Englisch. »Danke, ich schaue mich erst mal um.«
»Du lässt uns einfach wissen, wenn du etwas brauchst«, gab eine der beiden zurück. Alex nickte lächelnd und ging durch den Laden hinüber zu den Frauensachen. Sie stöberte durch die Fleece- und Wollpullover, bis sie zu den Anoraks kam. Isländer setzten offenbar auf klares Design ohne viel Schnörkel. Sie nahm einen Bügel und suchte nach ihrer Größe, die Jacke war schwarz und ziemlich schwer. Sie schlüpfte hinein und fühlte sich sofort geborgen und eingekuschelt. Das Ding war gekauft! Sie brachte sie zur Kasse, suchte dann noch ein paar Kleinigkeiten – Mütze, Handschuhe, eine lange Wolljacke, die bis über den Hintern reichte, und dicke Socken. Nachdem sie bezahlt hatte – den Anorak zog sie direkt an –, ging sie nach draußen und atmete tief durch. Sie schloss für eine Sekunde die Augen und genoss das heimelige Gefühl, das sich in ihr ausbreitete. Wenn man nicht fror, sah die Welt gleich ganz anders aus. Sie stöberte hier und da in den Läden, trank einen Kaffee und gönnte sich ein Stück süßen Kuchen. Isländer mochten es offenbar gern zuckrig und klebrig. Nachdem sie sich noch ein paar Kleinigkeiten – ein Kleid, ein Paar robuste Stiefel, Wanderschuhe und ein paar Bücher – gekauft hatte, fuhr sie zurück zum Hotel und ließ sich erst mal im hauseigenen Spa verwöhnen.
Am nächsten Tag schaute sie sich die Stadt an, spazierte am Ufer entlang, ging hinauf zur berühmten Hallgrímskirkja, kletterte in den Turm und fotografierte die großartige Aussicht aufs Meer, ehe sie zu Mittag aß und sich dann auf den Weg zu ihrem Auto machte. Ihr Handy brummte, sie vermutete, dass es nur wieder irgendwelche Journalisten waren, die sie ausfragen und demütigen wollten. Daher nahm sie nicht gleich ab, sondern schaute erst aufs Display. Sie war überrascht, dass es ihre Mutter war, die anrief.
»Hallo?«, beantwortete sie.
Vielleicht hatten ihre Eltern ja endlich eingesehen, dass sie zu hart mit ihr ins Gericht gegangen waren.
»Alexandra?«
Sie hob eine Augenbraue, wer sollte denn sonst an ihr Handy gehen? »Ja, Mama. Was gibt’s?«
»Wo steckst du?«
»Ich bin ein paar Tage verreist, ich dachte, dass sich die Gemüter dann etwas abkühlen würden.«
Gundula Schäfer stieß die Luft aus, ehe sie fortfuhr. »Ich bin doch ein bisschen erstaunt«, sagte sie, und Alex’ Hoffnungen lösten sich in Rauch auf. »Du hast allen Ernstes die Kaltschnäuzigkeit, in den Urlaub zu fahren und es dir gutgehen zu lassen?«
»Na, ganz so ist es ja nicht. Du hast ja selbst gesehen, was die Presse über mich schreibt. Vor meiner Wohnung haben die Paparazzi ihr Lager aufgeschlagen – ich wollte einfach weg aus der Schusslinie.«
»Ja, das trifft sich wohl gut, hm?«
»Mama, was soll das?«
»Besonders leid scheint es dir ja nicht zu tun.«
»Das ist nicht fair. Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle.«
»Weißt du, was ich nicht fair finde?« Ihre Mutter ließ ihr keine Zeit, zu antworten. »Ich finde nicht fair, dass du dich erst aufführst wie ein Flittchen und dich dann auf und davon machst. Du scheinst jedenfalls nicht vergessen zu haben, wie man die Firmenkreditkarte benutzt.«
Ach, daher wehte der Wind. In Alex’ Bauch hatte sich ein dicker Klumpen gebildet. »Ich bin überstürzt abgereist, du weißt selbst, wie unmöglich die Lage war. Ich regele das, wenn ich zurück bin, keine Sorge.«
Ihre Mutter lachte humorlos. »Du nimmst es mal wieder zu leicht. Wie immer.«
Mal wieder? Wie immer? Ja, das war klar. Nur, weil sie nicht wie ihre ›fehlerfreie‹ Schwester war, wurde sie immer wie das schwarze Schaf behandelt, das alles, aber auch wirklich alles falsch machte. Da war die Sache mit Leopold nur noch ein weiterer Punkt auf der langen Liste ihrer Verfehlungen. Plötzlich fühlte sie sich sehr müde und allein.
»Nein, Mama, ich glaube nicht, dass du das über mich sagen kannst. Ich habe euch mehrfach erklärt, wie die Situation zustande kam. Wenn man jemandem etwas vorwerfen sollte, dann Leopold.«
»Jetzt hör aber auf mit diesen Lügen, Alex! Steh doch einmal dazu, dass du Mist gebaut hast. Wenn du dich entschuldigen würdest, könnte man die Sache vielleicht aus der Welt schaffen.«
»Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, ich habe nichts Falsches getan. Hast du dich schon mal gefragt, wie er in diesen Raum kam? Nein? Eben.« Der einzige Fehler, den sie vielleicht begangen hatte, war, zu viel zu trinken. Aber seit wann war es verboten, bei einer Feier betrunken zu sein? Nein, hier ging es um etwas ganz anderes, und damit waren sie direkt beim Thema. Ihre eigene Mutter bezeichnete sie als Flittchen und Lügnerin. Sie hatte genug davon, sich das anzuhören.
»Ich erwarte von dir –«, fuhr diese derweil fort.
Alex unterbrach sie. »Lass das doch. Ich lege jetzt auf, Mama.«
»Wenn du das machst, sperre ich dir die Kreditkarte, wirst du schon sehen, wie weit du damit kommst.«
»Das ist nicht dein Ernst. Willst du mich etwa behandeln wie ein Kleinkind?«
»Wenn du dich wie eins aufführst?«
Alex schnappte nach Luft. Sie konnte nicht fassen, was hier gerade passierte. »Es ist eine Firmenkreditkarte, Mama. Ich bin dort angestellt, und bisher war es auch kein Problem.«
»Du bist im Urlaub, und du benutzt die Karte für private Zwecke.«
Unglaublich, das war einfach unglaublich. Sie arbeitete jetzt seit vier Jahren in der Marketingabteilung des familieneigenen Kosmetikkonzerns, gab ihr Bestes, und doch war das – im Vergleich zu den Leistungen ihrer Schwester, die die Firma Niderma irgendwann leiten würde – doch nie genug. Alex hatte sich damit abgefunden, dass eben nur eine Tochter den Ansprüchen der Eltern genügen konnte. Aber dass sie diese verdammte Kreditkarte als Druckmittel gegen sie verwenden wollten, war zu viel. Bislang hatte sie das Ding immer benutzt, wenn sie unterwegs gewesen war, und nachher mit der Buchhaltung abgerechnet. Es war nie zu Unstimmigkeiten gekommen. Dass ihre Mutter jetzt diesen Trumpf zog, war nur eine weitere Schikane, die Alex sich nach allem nicht mehr bieten lassen wollte. »Tu, was du nicht lassen kannst«, gab sie knapp zurück, während sie Mühe hatte, ruhig zu bleiben. Dann legte sie auf, ehe sie noch etwas sagte, das sie später bereuen würde.
Ihr Herz hämmerte hart gegen ihren Brustkorb, und ihr war übel. Speiübel. An einem Geldautomaten hob sie das Tageslimit an Bargeld ab – man konnte nie wissen, ob ihre Mutter ihre absurden Drohungen wahrmachte. Es war einfach unfassbar!
Hastig tippte sie eine SMS an ihre Schwester Vanessa, in der sie sie erneut darum bat, sie bitte zurückzurufen, weil sie ihr alles noch einmal erklären wollte. Sie hatte in den vergangenen Tagen mehrfach versucht sie zu erreichen, aber Vanessa ignorierte sie.
Wirre Gedanken kreisten in Alex’ Kopf, während sie etwas später zum Mietwagen stapfte und losfuhr. Sie war so wütend und fand doch kein Ventil, also drehte sie die Musik voll auf. Autobahnen gab es auf Island keine, der Weg nach Akureyri, der Hauptstadt des Nordens, schien auch nicht weiter kompliziert zu sein. Man sollte sich immer auf der Straße 1 halten, und in etwa fünf Stunden wäre man da, hatte die Frau an der Hotelrezeption gesagt. Gut, das würde sie tun, und irgendwo auf dem Weg würde sie ihre ehemalige Kommilitonin Erla anrufen, die nach dem Studium zurück nach Island gegangen war und eine Familie gegründet hatte. Erla hatte sie immer wieder eingeladen, sie zu besuchen, aber bislang hatte es nie geklappt. Nun war sie da, und Alex freute sich, ihre alte Freundin bald wiederzusehen. Alex hatte sich eine Ferienwohnung übers Internet gebucht, aber nur, weil Erla mittlerweile Mann und zwei Kinder hatte – sie wollte der Familie weder auf den Geist gehen, noch umgekehrt.
Es ging über Berge und durch tiefe Täler, sie fuhr über Flüsse und kam an dunklen, teilweise zugefrorenen Seen vorbei. Die Landschaft wirkte gespenstisch still, es war für Alex kaum vorstellbar, dass hier ein paar Tiere überwintern konnten. Dort, wo nur wenig Schnee lag, ragten schwarze Felsen und Lavagesteine in die Höhe. Selbst einfache Pflanzen mussten es in dieser rauen Natur schwer haben. Nach zwei Stunden fing es an zu schneien, es war mittlerweile dunkel geworden. Daran, dass man nur ein kurzes Zeitfenster mit Tageslicht hatte, musste sie sich wirklich erst gewöhnen. Andererseits, so richtig hell wurde es in Hamburg zu der Jahreszeit auch nicht. Alles war besser, als zu Hause zu sein, wo alle gegen sie waren, erinnerte sie sich und konzentrierte sich wieder aufs Fahren.
Der Winter hatte noch nicht mal richtig angefangen, und schon jagte ein Sturm den nächsten. So viel zum Thema globale Erwärmung. Wo denn, fragte sich Andrés, als er in seinen Chrysler stieg und einen Gang einlegte. Obwohl er das ganze Auto eben vom Schnee befreit hatte, war die Windschutzscheibe beinahe wieder von unzähligen Flocken überzogen. Dann kam eine Windbö und fegte alles beiseite.
Auch gut, dachte er. So war es nun mal, wenn man auf dem sechsundsechzigsten Breitengrad lebte. Deswegen gab es hier auch so gut wie keine Leitplanken, sondern nur gelbe Stangen, die einem den Weg wiesen, der einzige Farbtupfer inmitten des wirbelnden Weiß. Seufzend fuhr er los, er musste die paar Erledigungen hinter sich bringen, seine Liste war ohnehin schon ellenlang – weil er einige Reparaturen immer wieder aufgeschoben hatte. Nachdem heute auch noch der Boiler seinen Geist aufgegeben hatte, konnte er nicht mehr warten.
Er war erst einige Minuten unterwegs, als ihm ein Geländewagen auffiel, der halb im Graben hing, der Motor lief noch, und das Bremslicht leuchtete. Entweder war der Fahrer verletzt oder lebensmüde – oder beides. Er hielt dahinter an und stellte den Warnblinker an, ehe er ausstieg und nach vorne hastete. Der eisige Nordwind peitschte ihm dicke Schneeflocken ins Gesicht, er konnte kaum die Hand vor den Augen sehen, das Atmen fiel ihm schwer. Er klopfte an die Scheibe, als er sah, dass darin eine junge Frau saß, mehr konnte er nicht erkennen. Sie ließ das Fenster einen Spalt herunter und war ganz augenscheinlich putzmunter. »Ja?«, fragte sie auf Englisch. Es wunderte ihn nicht, dass es sich um eine Touristin handelte, die einfach dämlich war. Er unterdrückte ein Seufzen. Es war nicht sein Tag heute, und jetzt musste er anscheinend auch noch den Abschleppdienst für so eine unfähige Tussi spielen.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte er und hoffte, dass sie Nein sagen würde.
»Ich warte, dass es aufhört zu schneien«, bekam er als Antwort.
Beinahe hätte er laut aufgelacht. Das meinte sie doch nicht ernst! »Dir ist schon klar, dass das Tage dauern kann? Bis dahin bist du längst tot.«
»Was?«
»Es schneit, ist dir das schon aufgefallen?«, meinte er sarkastisch. Schneeflocken wirbelten umher und verfingen sich in seinen Wimpern.
»Sehr witzig, deswegen stehe ich ja hier. Bin mit dem Wagen weggerutscht.«
»Kannst du nicht einfach weiterfahren?«
»Ich will kein Risiko eingehen.«
»Soll das ein schlechter Scherz sein?« Herrje, diese Frau hatte echt keine Ahnung, dass es das Dümmste war, bei einem Schneesturm einfach im laufenden Auto sitzen zu bleiben. »Das ist mein voller Ernst«, gab sie ein wenig pikiert zurück.
Gott, wie ahnungslos konnte frau eigentlich sein? »Also, wenn du keinen Todeswunsch hast, solltest du weiterfahren. Wenn du hier stehen bleibst, kannst du an einer CO2-Vergiftung sterben.« Anscheinend musste er es ihr genau erklären, sonst würde sie seine Warnung womöglich noch ignorieren, und mitverantwortlich am sinnlosen Tod einer Ausländerin wollte er sich nun wirklich nicht machen.
»Wie sollte das denn gehen? Ich stehe nicht in einer Garage.«
»Dein Auto wird eingeschneit, du merkst gar nicht, wenn der Auspuff zu ist, und dann hat es sich für dich erledigt. Und wenn du den Motor ausmachst, wirst du erfrieren. Das ist dir hoffentlich klar, oder?«
Himmel, wenn es nicht so ernst wäre, würde er sie einfach stehen lassen. Dass manche Leute sich nicht informierten, wenn sie ein Land bereisten, von dem sie keine Ahnung hatten. Nicht umsonst starben immer wieder Touristen, die bei Vík í Mýrdal Fotos schossen, obwohl tausende Schilder deutlich davor warnten, dass die Wellen unberechenbar waren und einen einfach so fortspülen konnten.
»Ehrlich?« Sie ließ die Scheibe ein wenig weiter nach unten, sodass er ihr Gesicht nun vollständig sehen konnte. Das Erste, was ihm auffiel, waren ihre geröteten Wangen und die rehbraunen Augen. Sein Puls schnellte in die Höhe.
»Du schon wieder.« Er stöhnte.
Sie runzelte die Stirn, sie hatte ihn also auch erkannt. Ihre Lippen wurden schmal. Ein Jammer, dachte er, dass eine so hübsche Frau so dämlich ist.
»Wo willst du denn hin?«, hörte er sich dennoch fragen. Er konnte sie nicht sich selbst überlassen, egal wie unsympathisch sie ihm war.
»Nach Akureyri, aber ich bin in der letzten Stunde echt ein paarmal fast von der Straße abgekommen, und nein, ich bin nicht lebensmüde.« Damit spielte sie auf seinen Tadel an, das war ihm klar. Er unterdrückte ein Schmunzeln, immerhin, sie hatte einen Hauch von Humor in sich.
»Tja, hier solltest du nicht bleiben. Ich muss auch nach Akureyri, du kannst hinter mir herfahren, es ist nicht mehr weit.«
»Aber nur, wenn du nicht so schnell fährst. Ich bin auf dem Weg ein paarmal von Irren überholt worden.«
Andrés konnte sich das lebhaft vorstellen. »Seit wann bist du denn unterwegs?«
»Seit acht Stunden, es ist grauenhaft, ich bin total erschöpft.«
Er grinste. Genau wie er gedacht hatte: Sie war hübsch, aber Auto fahren konnte sie nicht. Er wollte nicht zu hart mit ihr ins Gericht gehen. Vermutlich gab es da, wo sie lebte, nicht oft und nicht so viel Schnee. »Woher kommst du?«
»Deutschland.«
Ja, das hatte er sich gedacht, der leichte Akzent war nicht zu überhören. »Wo genau?«
»Hamburg.«
Was machte er hier eigentlich? Es war ihm doch sowas von egal, wo sie lebte oder was sie tat – wenn sie nicht gerade in Gefahr war, sich umzubringen. »Und wo musst du jetzt hin?«
»Ich habe eine Ferienwohnung gebucht, warte, ich kann dir die Straße gleich sagen.« Sie zückte ihr Handy und scrollte und wischte, dann las sie vor: »Hafnarsträti.«
Er grinste, natürlich hatte sie keine Ahnung, wie man die Straße Hafnarstræti – ›Hafenstraße‹ – aussprach, eigentlich sagte man ›Hapnarstraiti‹. Beinahe war er versucht sie ›Eyjafjallajökull‹ sagen zu lassen, nur um sich ein bisschen auf ihre Kosten zu amüsieren.
Moment mal, was tat er da eigentlich? Für einen Augenblick hatte er sogar das wilde Schneetreiben um sie herum vergessen. Er wollte sich weder lustig machen, noch überhaupt was mit ihr zu tun haben. »Gut, also, ich krieche über die Straße, dann kannst du mir nachfahren«, sagte er deshalb nur noch.
»Sehr witzig, wenn es dir zu große Umstände bereitet, kannst du es auch sein lassen. Ich komme schon zurecht.« Sie schob ihre Unterlippe nach vorne und funkelte ihn an. Vermutlich glaubte sie das, was sie da von sich gab, sogar. Irgendwas an ihr faszinierte ihn, obwohl er wirklich nicht begriff, was das sein sollte. Von komplizierten Frauen hatte er die Nase voll.
Er hob die Augenbraue, der Gedanke hatte ihn ernüchtert, und er war wieder bei der Sache. Klar, die Prinzessin war es vermutlich nicht gewohnt, dass er nicht augenblicklich den roten Teppich für sie ausrollte. »Ich will am Ende nicht verantwortlich sein, dass du erfrierst oder sonst was. Also, fahr hinter mir her oder lass es sein«, brummte er nur noch, dann stapfte er zurück zu seinem Auto. Bevor er einstieg, schüttelte er sich und klopfte den losen Schnee ab, damit er sich nicht die Sitze einsaute – was bei dem Wetter kaum zu vermeiden war.
Andrés legte einen Gang ein und löste die Handbremse, dann fuhr er im Schritttempo an ihrem Wagen vorbei, ließ das Beifahrerfenster herunter und hob den Daumen mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht. Er sah, dass sie ihn anstarrte – vermutlich überlegte sie, ihm den Mittelfinger zu zeigen. Beinahe fand er es schade, dass sie es nicht tat. Auf eine perverse Art machte es ihm Spaß, sie zu provozieren.
Er fuhr weiter und achtete darauf, nicht zu schnell zu werden. Er hatte keine Lust, gleich noch das Abschleppseil rausholen zu müssen, weil sie hektisch das Steuer verriss und doch noch im Graben landete.
Eine halbe Stunde später waren sie da, unversehrt und unfallfrei. Er hielt kurz an, stieg aus und öffnete ihre Fahrertür. »Da sind wir.« Er zeigte auf das Gästehaus links von ihnen. »Brauchst du auch noch Hilfe mit deinem Gepäck?« Sein Tonfall war sarkastisch, was ihr wohl nicht entging, denn sie verzog ihre vollen Lippen zu einem Schmollmund.
»Nein, danke. Tut mir leid, wenn ich dich von irgendwas Wichtigem abgehalten habe.« Sie holte ihr Portemonnaie aus der überdimensionierten Handtasche. »Was bekommst du von mir?«
»Soll das ein Witz sein?« Andrés schnappte nach Luft. Sie wollte ihn bezahlen? Wofür hielt sie ihn eigentlich? Sofort ärgerte er sich darüber, ihr überhaupt Hilfe angeboten zu haben. Dass sie ihn mit einem Geldschein abspeisen wollte, ging gegen seine Ehre.
Sie blickte mit ausdrucksloser Miene zu ihm auf. »Nein, keineswegs. Ich möchte bloß nicht in deiner Schuld stehen.«
Gott, wie erbärmlich war das denn? Als ob er Geld für so einen kleinen Gefallen nehmen würde. Aber vielleicht machte man das in ihrer Welt ja so. »Lass mal stecken. Schönes Leben noch.« Dann ging er davon und nahm sich vor, beim nächsten Mal, wenn er ihren Mietwagen sah, einfach weiterzufahren.
Der Tag wurde leider nicht besser. Nachdem er alles besorgt und erledigt hatte, fuhr er wieder nach Hause. Als er gerade in die Auffahrt einbog, klingelte sein Handy. Er schaute aufs Display, Hildur blinkte darauf. Was wollte sie schon wieder von ihm? Hatte es nicht gereicht, dass sie ihn gestern zur Schnecke gemacht hatte, weil er zu spät zur Feier gekommen war? »Ja?«, beantwortete er dennoch. Er brachte dieses Gespräch lieber gleich hinter sich.
»Wo zur Hölle bleibst du?«, keifte sie, und ihm fiel ein, dass er ja beim Aufräumen hatte helfen wollen.
Scheiße. Er unterdrückte einen Fluch. »Ich wäre schon längst da, aber ich musste jemandem aus dem Graben helfen.« Gut, das war zwar nicht ganz die Wahrheit, aber geholfen hatte er definitiv.
»Ja, ist klar. Glaubst du nicht, ich hätte dich nicht gesehen, wie du vor drei Stunden hier weggefahren bist? Das ist mal wieder typisch, auf dich ist einfach kein Verlass.«
Andrés hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie diesen Satz schon zu ihm gesagt hatte. Ob alle Exfrauen so anstrengend waren? Er wusste es nicht, er kannte aber auch nicht viele Leute, die nach einer Scheidung noch befreundet waren. Er und Hildur gehörten jedenfalls nicht dazu. »Ich bin gleich da. Soll ich noch was mitbringen?«
»Na, jetzt sind wir auch gleich fertig mit dem Aufräumen, und du kannst auch da bleiben, wo du bist.«
Warum rief sie dann an? Er seufzte. »Bis gleich.« Dann legte er auf.
Alex hatte noch nie zuvor einen Shitstorm dieses Ausmaßes am eigenen Leib erlebt, deswegen hatte sie auch nicht gewusst, wie beschissen man sich in so einer Situation fühlte.