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Blaufunkelnde Fjorde, verschneite Wälder und das atemberaubende Nordlicht. In dem norwegischen Dorf Elvasund hofft Annabell, zur Ruhe zu kommen. Denn plötzlich ist ihre scheinbar perfekte Welt zusammengebrochen: Freund weg, Wohnung weg - und sie ist schwanger. Obwohl ihr erster Arbeitstag in der historischen Spinnerei der Familie Solberg so ganz anders als erwartet läuft, schließt sie die Familie schnell ins Herz. Während die Winterabende länger werden, verbringen sie am prasselnden Kaminfeuer gemütliche Stunden und verarbeiten gemeinsam die Wolle. Noch nie hat sich Annabell irgendwo zu Hause gefühlt. Dazu trägt auch der charismatische Bjarne bei, dem sie bei der Arbeit mit den Schafen näherkommt. Erlebt Annabell in der bevorstehenden Weihnachtszeit ihr ganz eigenes Wunder? »Die Landschaftsbeschreibungen und das typische norwegische Flair wecken die Reiselust!« Radio Euroherz
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Zum Buch:
Bjarne ist tief verbunden mit seiner norwegischen Heimat. Beim Anblick der majestätischen Berge und des glitzernden Meeres verspürt er eine innere Zufriedenheit. Doch dann taucht Annabell in dem idyllischen Elvasund auf und bringt Bjarnes ruhiges Leben gehörig durcheinander. Sie ist seit Langem die erste Frau, die in ihm eine Sehnsucht nach mehr weckt. Aber es fällt ihm schwer, sich jemandem zu öffnen, zu oft wurde er in der Vergangenheit verletzt. Als er allen Mut zusammennimmt, Annabell bei einem romantischen Date unter den Nordlichtern zu gestehen, was er für sie empfindet, geschieht etwas Schreckliches, durch das er sie für immer verlieren könnte …
Zur Autorin:
Julie Larsen, Jahrgang 1979, liebt ihre Familie, Hunde, Katzen, Vögel, Kinder und das Meer. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von München, träumt sich mit ihren romantischen Geschichten aber in den hohen Norden nach Skandinavien, wo sich Himmel und Meer begegnen, die Sommertage lang und die Winternächte unendlich erscheinen.
© 2021 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von zero Werbeagentur, München Coverabbildung von iacomino FRiMAGES, sunnyfrog, Zukerman, Alexander Chaikin / Shutterstock Innenabbildung von Larry-Rains / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749951239
www.harpercollins.de
Für alle Familien – die großen und kleinen, die lauten und die leisen, die herrlich unperfekten. Die, in die wir geboren werden, und ganz besonders die, die erst das Leben schafft.
Der Mini rumpelte auf dem Schotterweg über Steine und Wurzeln. Annabell war seit etwas über siebzehn Stunden unterwegs, die Digitaluhr in der Mittelkonsole zeigte kurz nach sechs Uhr am Abend an. Trotzdem warf die Sonne, gedämpft durch das Blatt- und Nadelwerk der Bäume, noch immer unregelmäßige goldene Flecken auf den Schotter. Das Spiel aus Licht und Schatten blendete sie. Sie kniff die Augen zusammen, und dann, im nächsten Moment, öffnete sich der Blick, und der Weg führte aus dem Schutz der Bäume hinaus auf eine freie Fläche. Ihr Atem stockte. Es war, als wäre eine Kinderbuchillustration zum Leben erwacht. Das hier könnte Bullerbü sein oder Saltkrokan, auch wenn sie sich dafür im falschen Land befand. Wie Bauklötzchen formierten sich mehrere Gebäude am Ende einer Landzunge zu einem bunten Haufen. Das Grün der umliegenden Wiesen ließ die Farben grell erscheinen. Aus der Internetanzeige wusste sie, dass der Hof eine historische Spinnerei war. Jedes Haus war andersfarbig gestrichen, ein längliches Gebäude zeigte sich in dem typisch skandinavischen Rot mit weißen Giebeln und Fensterrahmen. Zwei weitere hatten einen warmen Ockeranstrich, und eines – Annabell schätzte, dass es das Wohnhaus sein musste – strahlte in einem so hellen Taubenblau, dass es fast grau wirkte. Runde, in weiße Folie geschweißte Rollen Heu lagen verstreut auf den Wiesen der Landzunge. Wie Schaumwölkchen auf einem Meer aus Grün grasten ein paar Schafe auf der Weide, und dahinter, bleigrau und geheimnisvoll, lag der Fjord. In winzigen Wellen schwappte das Wasser gegen die blank gewaschenen Steine, die den Strand der Landzunge bildeten. Drei Inseln konnte sie in der Ferne erkennen, dunkle Felsformationen, gekrönt von tiefschwarzen Tannen mitten im Wasser. Das gegenüberliegende Ufer erhob sich als anthrazitfarbene Spitzenborte vom Horizont.
Ein Gefühl machte sich in ihrer Brust breit – eine Art atemlose Wärme. Es war so … schön hier. So ruhig und friedlich. Beinah gegen ihren Willen fand ihre rechte Hand den Weg vom Schaltknüppel zu ihrem Bauch. Es war die richtige Entscheidung gewesen, hierherzukommen. Sollten alle anderen doch denken, was sie wollten. Nichts an diesem Abenteuer war verrückt. Manchmal ermöglichte erst Abstand einen klaren Blick auf die Dinge, und in Hamburg hätte sie niemals Abstand gefunden. Nicht, wenn jede Straßenecke, jedes Café und die ewige Hektik der Großstadt sie in einem fort daran erinnerten, wie verquer die Situation war, in die sie sich manövriert hatte.
Mit neuem Elan gab sie Gas für die letzten Meter ihrer Reise. Im Näherkommen erkannte sie drei Autos, die auf der Fläche, um die sich die Gebäude gruppierten, parkten. Am Rand eines kleinen Pfuhls in einer Senke zwischen den Häusern planschten Gänse. Ein paar Hühner pickten im Schotter nach Körnern, wurden jedoch von einem eifrigen Hahn in einen Verschlag getrieben, als Annabells Auto die Idylle zerstörte.
Weil neben den anderen Wagen kein Platz mehr war, parkte sie ihren Mini quer hinter den Fahrzeugen. Sicher würde man ihr gleich sagen, wo sie den Wagen abstellen konnte, damit er nicht im Weg war. Sie griff nach ihrer Handtasche und stieg aus. Sofort weckte die frische Luft ihre Lebensgeister, Salzgeruch kitzelte ihr in der Nase, vermischt mit einer leicht metallischen Note. Sie streckte sich ausgiebig und machte sich auf den Weg zum Wohnhaus. An der Haustür fand sie weder ein Namensschild noch eine Klingel, also probierte sie es mit Klopfen.
Nichts passierte.
Sie klopfte erneut, fester diesmal. Die Holztür rüttelte in den Angeln, doch eine Antwort bekam sie nicht.
»Hallo? Ist da wer?«, fragte sie, und ihre Stimme klang kratzig. Seit über einem Tag hatte Annabell mit kaum einer Menschenseele gesprochen. Ein paar Wortfetzen hier und da, als sie das Ticket für die Fährüberfahrt gekauft hatte, mehr nicht.
Immer noch keine Antwort. Seltsam, sie hatte ihre Ankunft doch angekündigt. Berit Solberg, ihre künftige Arbeitgeberin, hatte ihr per E-Mail eine Bestätigung geschickt.
Unschlüssig, wie sie weiter vorgehen sollte, drehte sie sich einmal im Kreis. Da war niemand. Der ganze Hof wirkte wie ausgestorben. Idylle schön und gut, aber Menschen hatte sie dann doch erwartet – zumindest irgendjemanden, der sie in Empfang nehmen würde.
Weil ihr sonst nichts einfiel, legte sie probehalber eine Hand auf den Türknauf und versuchte, ihn zu drehen. Wunder über Wunder, das Schloss gab nach, und die Tür öffnete sich.
Vorsichtig warf sie einen Blick ins Hausinnere und fühlte sich dabei wie ein Eindringling. Drinnen sah sie ein niedriges Schuhregal, das seitlich an der Wand eines rechteckigen Flurs lehnte. Rechts, direkt neben der Haustür, führte eine Treppe ins Obergeschoss. Vage meinte sie, Musik aus einem der Zimmer im ersten Stock zu hören. Es war also sehr wohl jemand da. Sie wagte einen Schritt weiter ins Haus.
»Nei!« Eine resolute weibliche Stimme ließ Annabell erstarren. Ihr Norwegisch war zwar nicht perfekt, was »Nein« bedeutete, wusste sie allerdings.
»Unnskyld«, entschuldigte sie sich, zu leise, um gehört zu werden. Das Geschimpfe aus dem Raum, der sich an den Flur anschloss, ging weiter. Das Nein hatte offenbar nicht ihr gegolten. Wie Hagelkörner bei einem Donnerwetter prasselten die Worte nieder. Annabell verstand nicht alles, aber sie wollte auf gar keinen Fall den Eindruck erwecken, zu lauschen, also machte sie ein paar vorsichtige Schritte in die Richtung, aus der sie die Stimme hörte, und wollte sich bemerkbar machen. Alles in ihr schrie danach, die Flucht anzutreten. Zu oft in ihrem Leben hatte sie sich in der Mitte eines Sturms wiedergefunden, der im Grunde nichts mit ihr zu tun hatte, dem sie sich aber nicht entziehen konnte.
Ein paar Schritte vor der Tür blieb sie stehen. Das Blatt stand weit genug offen, um zu erkennen, was in dem angrenzenden Raum passierte. Licht flutete durch Sprossenfenster in eine gemütliche Küche. Die Einrichtung war allerdings das einzig Gemütliche an der Szenerie. Wie in einem Kampfring standen sich ein Mann und eine Frau gegenüber. Die Frau schätzte sie auf Anfang sechzig. Die Frisur, zu der ihre kupferfarbenen Haare toupiert waren, hatte Annabell zum letzten Mal bei Peggy Bundy in einer uralten Folge von Eine schrecklich nette Familie gesehen. Ihre Beine steckten in engen Jeans, dazu trug sie einen Pullover aus cremefarbenem Strick. Sie hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und funkelte ihr Gegenüber aus grellblau geschminkten Augen an. Der Mann wirkte ein paar Jahre älter. In einem Wettbewerb um das groteskere Outfit wäre schwer zu sagen, wer von den beiden als Gewinner hervorgehen würde. Ihr Streitpartner überragte die Frau um gut einen Kopf. Er war dünn wie ein Weidenzweig mit einem eckigen, hervorstrebenden Kinn, einer großen Falkennase und Augen, die von runden Brillengläsern betont wurden. Das alles wäre noch nicht so bemerkenswert gewesen, wäre da nicht die Tatsache, dass er seiner Gegnerin in Anzughose, weißem Hemd, Brokatweste und passender Fliege entgegentrat. Gekrönt wurde das schillernde Ensemble von einem dunkelblauen Pork-Pie-Hut mit rundherum gleichmäßig verlaufender Falte, schmalem, aufgeschlagenem Rand und einem hellblauen Seidenband, das rings um die Krempe lief. Etwas abseits der beiden Streithähne versuchte ein zweiter Mann vergeblich, mit der Umgebung zu verschmelzen. Er war deutlich jünger als die beiden anderen, und seine ganze Haltung wies darauf hin, dass der Arme sich mindestens genauso unwohl fühlte wie Annabell.
Okay. Innerlich zählte sie bis drei. Zeit, den Rückzug anzutreten. Was auch immer dort in der Küche gespielt wurde, Annabell wollte nichts damit zu tun haben. Wenn Peggy Bundy tatsächlich ihre neue Arbeitgeberin war, musste das Kennenlernen warten, bis der Zeitpunkt besser passte. Selbst wenn sie die ganze Nacht im Auto verbringen musste, ganz sicher würde sie sich nicht in dieses Theater einmischen. Dann hätte sie genauso gut zu Hause bleiben können.
Ebenso leise, wie sie den Flur betreten hatte, zog sie sich zurück. Erst nachdem sie wieder im Freien war, beschleunigte sie ihre Schritte und wollte zu ihrem Wagen flüchten.
Weit kam sie nicht. Ein weißer Blitz schoss wütend schnatternd und fauchend aus ihrem Augenwinkel auf sie zu. Bevor ihr Verstand verarbeiten konnte, was für ein Angreifer sie attackierte, pickte das Vieh sie in den Hintern. Sie machte einen Satz nach vorne. Der weiße Blitz, den sie jetzt als eine aufgebrachte Gans erkannte, folgte ihr. Wütend schlug das Tier mit den Flügeln und reckte den Hals in die Höhe. Verdammt, war das Vieh groß! Voll aufgerichtet reichte ihr der Gänsehals locker bis auf Brusthöhe.
Annabell begann zu rennen. Die aufgebrachte Gans blieb ihr auf den Fersen. Immer wieder hieb sie mit dem Schnabel nach ihr, zwickte sie in die Seiten, den Po oder die Oberschenkel. Das Geschnatter klingelte ihr in den Ohren. Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus, doch das wild gewordene Federvieh hatte andere Pläne mit Annabell. Energisch hackte es nach ihrer Hand. Keine Chance! Wenn sie ihre Finger behalten wollte, hatte Annabell keine Möglichkeit, in den Wagen zu kommen.
So dicht es ging, drückte sie sich mit dem Rücken gegen den Mini. Die Gans – oder war es ein Gänserich? Wahrscheinlich war es ein Gänserich, denen sagte man doch nach, sie seien besonders aggressiv – verfolgte jede ihrer Bewegungen aus teuflischen kleinen Augen. Nur wenn sie ganz still stand, ließ er sie einigermaßen in Ruhe.
Okay, sagte sie sich. Alles gut. Alles in Ordnung. Das wird schon werden. Bisher hatte Annabell immer für alles eine Lösung gefunden. Und sie hatte sich schon in absurderen Situationen befunden, als das Opfer eines wütenden Gänserichs zu werden. Vielleicht konnte sie sich gerade nicht mehr daran erinnern, was genau das für Situationen gewesen waren, aber es hatte sie gegeben. Bestimmt.
Langsam, so langsam, dass selbst der gefiederte Dämon vor ihr es nicht bemerkte, ließ sie die Hände sinken, um sie schützend vor dem Körper zu verschränken. Wie lange war es her, dass sie diesen Ort als friedvoll und idyllisch wahrgenommen hatte? Zehn Minuten? Fünf? Nun, diese Illusion war einen schnellen Tod gestorben. Das hier war keine Idylle. Es war ein Irrenhaus! Und sie hatte sich dazu verpflichtet, für die kommenden vier Monate hier zu leben. In einer ganzen Reihe idiotischer Entscheidungen erschien ihr diese momentan wie die verheerendste von allen.
Bjarne Ødegård bereute, ausgerechnet heute beschlossen zu haben, Berit die Wolle zu bringen. So dringend brauchte Berit sie weiß Gott nicht. Die Zeiten, in denen die alte Spinnerei noch in Betrieb gewesen war, waren lange vorbei. Heute spann Berit nur noch zum Vergnügen für den Eigengebrauch. Auf einen Tag mehr oder weniger Wartezeit kam es also nun wirklich nicht an, und jeder am Hemnefjord wusste, dass man der Besitzerin des Solgårds besser aus dem Weg ging, wenn sie erst mal Fahrt aufgenommen hatte. Dabei konnte niemand sie so schnell so nachhaltig auf die Palme bringen wie Thorbjørn Haltvik. Wenn Bjarne nur richtig aufgepasst hätte, wäre ihm der Wagen des ehemaligen Tierarztes sicher aufgefallen. Aber wie so oft war Bjarne mit den Gedanken schon zehn Schritte weiter gewesen und hatte die Gelegenheit verpasst, rechtzeitig Fersengeld zu geben. Jetzt hatte er den Salat.
»Bjarne! Steh hier nicht nur rum, sondern sag was!« Diesmal richtete sich Berits Wut direkt auf ihn. Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Das, genau das war der Grund, warum er in einer Gegend lebte, in der es zigmal mehr Schafe als Menschen gab. Er hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, und nichts konnte seine Zunge sicherer dazu bringen, jeden Dienst zu versagen, als in Bedrängnis gebracht zu werden.
»Jetzt lass den Jungen in Frieden.« Thorbjørn bewahrte Bjarne davor, die Worte mit Zwang aus seiner Kehle zu quetschen. »Er hat nichts mit unserem Streit zu tun. Und er ist viel zu anständig, um dir direkt ins Gesicht zu sagen, dass du dich wegen nichts und wieder nichts aufregst. Dich ärgert nur, dass ich recht habe.«
Berit schnaubte. »Du willst recht haben? Dass ich nicht lache. Ich will in den Ruhestand gehen. Lass es mich noch mal ganz langsam sagen. Ru-he-stand. Das kommt von Ruhe! Seine Ruhe haben, verstehst du? Nichts anderes wollte ich, seit mein lieber Erik von uns gegangen ist. Wenn ich mich von dir vor deinen Karren spannen lassen würde, damit du und deine Leute diese irrwitzige Idee durchsetzen könnt, wäre das das genaue Gegenteil von Ruhe. Nenn mir einen vernünftigen Grund, warum ich das wollen würde.«
»Weil du weißt, dass es das Beste für unsere Region ist.«
»Pah!«
»Außerdem ist es das, was Erik gewollt hätte.«
Berit holte Luft, um zum erneuten Angriff überzugehen, aber Thorbjørn ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Und weil du mich magst.« Zwar war Thorbjørn schon beinah siebzig, aber seine Augen funkelten wie bei einem verliebten Teenager. »Du willst mich nicht mögen, aber du tust es doch. Und auch wenn du Erik jeden Tag vermisst, weißt du, dass er niemals gewollt hätte, dass du dich vergräbst. Er hat das Leben in vollen Zügen genossen, und er hätte gewollt, dass du lebst.«
»Bilde dir nur nichts ein, Thorbjørn Haltvik! Ich mag dich kein bisschen. Du bringst mich auf die Palme. Wenn ich dich nur sehe, werde ich ganz wuschig.« Berit konnte protestieren, soviel sie wollte, ihr Körper verriet sie. Ihren Worten zum Trotz öffneten sich ihre Fäuste. Die Angriffslust in ihrer Körperhaltung verebbte, selbst ihre Stimme wurde weicher und verzerrte den Vorwurf zu etwas, das sich deutlich mehr nach einer Liebeserklärung anhörte.
Auch Thorbjørn entging das nicht. Er machte einen Schritt auf Berit zu. Wer Thorbjørn und Berit kannte, wusste, dass dieser Vorstoß auf genau zwei Arten enden konnte: Entweder der Streit der beiden ging in die nächste Runde, oder der alternde Casanova kam mit seinem Werben durch und schaffte es, Berit einen Kuss zu rauben. In beiden Fällen wollte Bjarne so weit wie möglich entfernt sein.
Er nahm seinen Mut zusammen und hob beide Hände. »Ich gehe«, sagte er. »Die W-W-Wolle ist im Sch---uppen.« Sieh ihnen in die Augen. Mach dich nicht klein. Das verdammte W kann machen, was es will. Es macht dich nicht zu einem Trottel, auch wenn es sich was von dem verdammten Zischlaut abgeguckt hat und einfach nicht über deine Zunge will.
Es wäre perfekt gewesen, wenn sein Körper dieses Memo auch erhalten hätte. Hatte er aber leider nicht. Trotz seiner mentalen Selbstanfeuerung brachte er es nicht fertig, Berits Blick weiter standzuhalten.
Das Mitleid, das sich bei seinem Gestammel auf ihrem Gesicht zeigte, erkannte er sogar aus dem Augenwinkel. Ganz toll.
»In Ordnung, Bjarne«, meinte sie, »danke.« Als sie sich wieder zu Thorbjørn drehte, war das Bedauern aus ihrer Miene verschwunden, stattdessen funkelten ihre Augen angriffslustig.
Bjarne wandte sich ab. Er musste raus hier. Was für ein Idiot wünschte sich, zur Zielscheibe weiblicher Wut zu werden? Die Antwort fiel simpel aus: ein Idiot wie er. Ein Idiot, der auf dem Gesicht seines Gegenübers alles lieber las als Mitleid. Er zog sich die Kapuze seines Mantels über den Kopf und stopfte die Hände so tief in die Jeanstaschen, wie es nur ging.
Niemand hier würde sehen, wenn er die Schultern bis zu den Ohren zog, als würde er sich in sich selbst verstecken. Er musste keine Show abziehen. Er hasste es, wenn der Druck, etwas sagen zu müssen, so groß wurde, dass er gar nichts mehr sagen konnte. An den meisten Tagen lief es besser, zum Beispiel, wenn er Zeit hatte, sich die Worte vorher zu überlegen und sich daran zu erinnern, woran sein Logopäde und er immer wieder arbeiteten. Das Schlimmste war, dass gute und schlechte Tage keinen Regeln folgten. Nichts und niemand konnte ihn im Vorfeld warnen, wann sein verdammter Sprechapparat zum nächsten Mal streiken würde.
Aufgeregtes Schnattern und Fauchen brachte sein Gedankenkarussell zu einem abrupten Stopp.
Was in drei Teufels Namen war nun schon wieder los? Er kniff die Augen zusammen und blinzelte gegen das Licht im Freien. Martin, Berits Ganter, machte seinem Ruf als jähzorniger Hofwächter alle Ehre. Zu seiner vollen Größe aufgerichtet, hatte er eine Frau in die Zange genommen. Eine Touristin, nahm Bjarne an. Es kam immer wieder vor, dass Urlauber in veralteten Reiseführern, im Internet oder auf Social-Media-Seiten von der Spinnerei lasen und dann hier auftauchten, unwissend, dass Berit heutzutage die Tore der Spinnerei nur noch unregelmäßig für die Allgemeinheit öffnete.
Was auch immer die Fremde auf den Solgård geführt hatte, sie verdiente es nicht, von einem wütenden Gänserich attackiert zu werden, und hatte offenbar nicht die geringste Ahnung, wie sie das aufgeregte Tier loswerden sollte.
Wenige schnelle Schritte brachten Bjarne zu den beiden. Martin war so auf sein Opfer fixiert, dass er Bjarne gar nicht beachtete. Der musste also nur die Hand ausstrecken, den Ganter packen, und das ganze Drama nahm ein Ende. Einmal im Griff, hörte Martin schnell auf, sich zu wehren. Problemlos konnte sich Bjarne auch den Rest des Gänsekörpers unter den Arm klemmen und den Ausreißer über den Zaun quer über den Hof hinweg zurück in den Pfuhl zu seinen Artgenossen tragen.
Das erledigt, wandte er sich zu der Fremden um und ging auf sie zu.
»Tusen takk!«, bedankte sie sich schon, als er noch gut zwanzig Meter von ihr entfernt war. Ihr Norwegisch klang etwas ungelenk, aber es freute ihn, dass sie sich bemühte. Kaum ein Tourist lernte ihre Landessprache, oder auch nur Bröckchen davon. Die meisten gingen davon aus, dass jeder Norweger Deutsch oder wenigstens Englisch sprach. Dass die Fremde es probierte, trotz ihrer hörbaren Mühe, die ungewohnten Klänge richtig aneinanderzureihen, imponierte ihm.
»Gerne.« Er überbrückte die verbliebene Distanz zwischen ihnen. »An Martin ist ein waschechter Wachhund verloren gegangen. Der verteidigt den Hof besser als jeder Rottweiler.«
Seine Beschwichtigung schien sie nicht zu erreichen. Mit der rechten Hand rieb sie den linken Unterarm und umgekehrt. Jetzt, aus der Nähe, erkannte er auch, wie müde sie aussah. Nicht nur verschreckt, sondern bis zum Umfallen erschöpft. Der Eindruck wurde von dem Gegensatz zwischen ihrer blassen Haut und den dunkelbraunen Haaren noch weiter verstärkt. Es ließ sie zerbrechlich wirken und ein wenig geheimnisvoll.
»Bist du sicher, dass dieser Vogel keine Tollwut hat? Ich glaube, der hat Tollwut!« Je länger sie sprach, desto aufgeregter wurde sie. Ihr Akzent ging davon nicht verloren, ihre Unsicherheit sehr wohl. »So was muss doch untersucht werden! Der war so aggressiv, das kann unmöglich normal sein. Ich hab ihm gar nichts getan, und er hat mich einfach so angegriffen.«
Ihm gefiel ihre offensive Art, sich der eigenen Unsicherheit zu stellen. Gerade eben, zwischen den Fronten von Berit und Thorbjørn, hatte er sich noch gewünscht, selbst ein bisschen mehr so sein zu können. Er lachte leise auf.
»Ich bin ziemlich sicher, dass Martin keine Tollwut hat. Bei Vögeln gibt es diese Krankheit nur äußerst selten.«
»Und wie willst du dir sicher sein, dass er nicht zu den wenigen Ausnahmen gehört?«, fragte sie und zog eine der perfekt gezupften Augenbrauen hoch. Die Brauen waren noch dunkler als ihr Haar. Und darunter, die Augen, so grün, wie er es selten zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Vielleicht sogar noch nie. »Bist du Tierarzt?«
Grinsend schüttelte er den Kopf. »Kein Tierarzt. Schäfer. Aber wenn du mir nicht vertraust und die Meinung eines Fachmanns auf diesem Gebiet brauchst, kannst du gerne da reingehen.« Mit dem Kopf deutete er in Richtung des Wohnhauses. Da Berit und Thorbjørn immer noch dort drinnen waren, standen die Chancen gut, dass sie mittlerweile die nächste Runde ihres Nahkampfes eingeläutet hatten. »Nur sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Was wirkt wie eine Tollwuterkrankung, kannst du da drinnen nämlich hervorragend erleben. Nicht bei einem Gänserich, aber bei Berit. Die ist gerade noch wütender als ihr Ganter.«
Dies entlockte auch der Fremden ein kleines Lachen. Mit Daumen und Zeigefinger rieb sie sich die Augenbrauen. »Ja, ich hab’s gesehen. Deshalb habe ich den Rückzug angetreten, ehe mich einer von den beiden entdecken konnte.«
»Du hast gelauscht? Tststs. Das macht man aber nicht.«
»Ich hab nicht gelauscht!« Jetzt überschlug sich ihre Stimme fast. »Ich werde erwartet. Also, ich meine, ich dachte, ich würde erwartet werden. Aber dann …« Sie verstummte.
»Ich heiße Bjarne.« Mit zum Gruß ausgestreckter Hand stellte er sich vor. Er konnte ihr nicht dabei helfen, ihre Gedanken zu sortieren. So, wie sie aussah, hatte sie einen echt beschissenen Tag gehabt. Was er allerdings tun konnte, war, ihr zu zeigen, dass er es nicht schlimm fand, dass die Ereignisse an ihr nagten und sie aus dem Tritt gebracht hatten. Er wusste, wovon er redete. Ihm passierte genau das schließlich am laufenden Band.
»Bjarne Ødegård. Mein Hof ist am anderen Ende von Elvasund, dort den Berg hinauf. Ich habe Wolle gebracht.« Am liebsten hätte er sich selbst gegen die Stirn geschlagen. Ich habe Wolle gebracht? Was kam als Nächstes? Ich habe Wassermelonen getragen?
»Annabell Herzig.« Sie schüttelte seine Hand. »Ich komme aus Deutschland.« Sie nickte zu dem kanariengelben Mini Cooper, an den sie sich zum Schutz vor Martin gequetscht hatte. Es war das etwas sportlichere Modell des Kleinwagens, mit vier Türen und einer Heckklappe. »Aus Hamburg, um genau zu sein. Ich soll für ein paar Monate auf dem Solgård aushelfen.«
»Und du suchst dir ausgerechnet das Ende der Welt für deine Auszeit aus?«
»Ja.« Sie errötete leicht. »Skandinavien hat mich schon immer fasziniert. Ich habe Fremdsprachenkorrespondentin gelernt, weil ich so gerne reise. Wenn ich durch die Arbeit hier eine weitere Sprache lerne, umso besser. Ich habe schon angefangen, besonders weit bin ich in den zwei Wochen seit der Jobzusage natürlich noch nicht gekommen. Aber im Land lernen sich Sprachen ja immer am schnellsten.«
»Das …« Er wusste nicht, was er sagen sollte, und ausnahmsweise lag das nicht an seiner Schüchternheit oder dem Stottern. Gab es tatsächlich Menschen, die innerhalb von ein paar Tagen eine neue Sprache lernten? Nun, wie es aussah, schon. Was eine Frau wie Annabell, offenbar weltgewandt, intelligent und freundlich, wenn auch nicht besonders geschickt im Umgang mit wütenden Gänserichen, ausgerechnet in diesem versteckten Winkel der Erde machte, blieb ihm ein Rätsel. Die Sprache hätte sie auch in Oslo, Trondheim oder einer anderen größeren Stadt lernen können. »Und du willst wirklich hier arbeiten? Hat Berit dich eingestellt?« Das konnte er kaum glauben. »Als Saisonaushilfe?« Warum? Solange die alte Spinnerei nicht in Betrieb war, und sei es als Touristenattraktion, gab es kaum Bedarf für ein weiteres Paar helfende Hände. Und hatte Berit Thorbjørn nicht gerade erst sehr nachdrücklich versichert, dass sie ihre Ruhe haben wollte? Das alles passte nicht zusammen.
»So in der Art. Ich habe den Vertrag im Auto, da steht alles genau drin. Ich bin vor eineinhalb Wochen durch Zufall über die Anzeige im Internet gestolpert und habe drauf geantwortet. Danach ging alles sehr schnell.«
»Oh.«
»Meinst du, ich sollte da noch mal reingehen?« Sie war hier. Natürlich wollte sie ihren Job beginnen, und sicher hatte sie eine lange Anreise hinter sich. Das Problem war nur, er wollte nicht, dass ihre Unterhaltung so schnell vorbei war. Es kam nicht oft vor, dass er jemanden in Elvasund traf, den er nicht schon seit der Geburt kannte. Und am wenigsten eine hübsche Frau.
»Bloß nicht.« Er schüttelte den Kopf so heftig, dass ihm ein paar Haarsträhnen in die Stirn fielen. »Berit erwischt man besser auf einem guten Fuß. Aber es kann nicht mehr lange dauern, bis sie und Thorbjørn sich entweder umgebracht oder versöhnt haben. Danach kommen die sicher von selbst raus.«
»Danke für den Tipp.« Wieder lächelte sie. Ein Lächeln, das die Macht hatte, sein Herz zum Stottern zu bringen, so wie es sonst nur besonders harten Vokalen mit seiner Aussprache gelang. Er wünschte, er könnte etwas Cooles sagen. Irgendwas Charmantes. Nur was? Er dachte zu lange nach, denn sie ergriff bereits wieder das Wort.
»Ist einer von den beiden Wagen deiner?« Mit dem Zeigefinger deutete sie auf die beiden Autos, die sie mit dem Mini zugeparkt hatte.
»Der Volvo.« Er nickte.
»Dann lass ich dich wohl mal besser raus. Nur weil ich mir hier die Beine in den Bauch stehen muss, musst du das ja nicht auch tun. Danke noch mal für die Hilfe.«
»Bitte.« Und bevor er sonst noch was sagen konnte, dass er sich freuen würde, sie bald wiederzusehen, zum Beispiel, dass er ihr gerne die Gegend zeigen würde oder seinen Hof, duckte sie sich und verschwand in ihrem quietschgelben Matchbox-SUV, um Bjarne den Weg freizugeben. Mal wieder zu spät. Im Rückspiegel erkannte er gerade noch, wie sie den Parkplatz nahm, den er soeben frei gemacht hatte.
Bis Bjarnes Wagen in dem Mischwäldchen verschwunden war, sah Annabell dem Auto nach. Sie vergaß sogar zu blinzeln.
Hm, das also war ihr neuer Nachbar. Interessant. Normalerweise stand sie nicht so auf bärtige Naturburschen, doch diesem Bjarne stand der Bart ganz hervorragend. Was daran liegen konnte, dass es bei ihm kein Look war, sondern authentisch. Sie war sich ziemlich sicher, dass der rote Vollbart noch nicht allzu viele Grooming-Produkte gesehen hatte. Und die wilden roten Strähnen, die unter der Kapuze von Bjarnes Dufflecoat hervorgeblitzt hatten, waren mit Sicherheit nicht stundenlang mit Gel auf die genau richtige Weise verwuschelt worden, sondern von fahrigen Fingern und Wind. Außerdem hatte Bjarne sie vor einem wütenden Gänserich gerettet. Brauchte es noch mehr Gründe, ihn toll zu finden? Annabell grinste in sich hinein. Ein Schaf im Wolfspelz, ja, genau so hatte Bjarne auf sie gewirkt. Als es darauf angekommen war, hatte er zupacken können, aber danach war er vorsichtig ihr gegenüber gewesen, beinah schüchtern. Wie er nicht offensiv geflirtet, sondern den Augenkontakt immer wieder unterbrochen hatte. Wie seine Scherze zwar bewiesen hatten, dass er klug und schlagfertig war, er diese Eigenschaften jedoch in keinem Moment gegen sie gewendet hatte. Die meisten Männer sahen einen Flirt als Wettkampf, bei dem sie sich als klüger, stärker, besser als ihre Flirtpartnerin darstellen mussten. Natürlich mochten sie kluge Frauen, aber wehe, eine Frau war klüger als sie. Das wurde nicht so einfach verziehen.
Das Klappen einer Tür riss sie aus den Gedanken. Ihr Blick flog zu dem Wohnhaus. Wie Bjarne prophezeit hatte, hatten die beiden Streithammel mittlerweile scheinbar Frieden geschlossen. Seite an Seite kamen sie auf den Parkplatz zu.
Jetzt oder nie. Annabell fasste sich ein Herz und stieg aus dem Mini. Eine Hand legte sie über die Augen, um in der Abendsonne besser sehen zu können.
»Berit Solberg?«, fragte sie, laut genug, um sicher sein zu können, gehört zu werden.
»Ja?« Die Angesprochene hob den Kopf und erwiderte den Blick. Im Haus hatten ihre Haare mehr braun als rot gewirkt, doch hier draußen glühte die toupierte Lockenpracht wie reines Feuer. Ob Berit mit Bjarne verwandt war? Aber nein, das hier war Farbe aus der Tube, während Annabell wetten wollte, dass Bjarnes Lockenpracht zu hundert Prozent echt und Natur war.
»Ich bin Annabell Herzig. Wir hatten per Mail Kontakt. Ich freue mich, endlich hier zu sein.« Annabell nahm die Hand von den Augen und streckte sie stattdessen Berit zum Gruß hin. Entschlossen machte sie ein paar Schritte auf das ältere Paar zu.
Statt ihr entgegenzukommen, wich Berit zurück. Annabells unerwiderter Gruß lag zwischen ihnen wie ein Päckchen, das niemals von der Post abgeholt worden war.
»Ich habe mit niemandem gemailt.« In Berits Stimme steckte mindestens ebenso viel Feuer wie in ihrer Haarfarbe. Und Annabell dachte hier nicht an ein gemütliches Kaminfeuer, sondern eher an die Art von Feuersbrunst, die ganze Häuser oder Landstriche vernichtete. Es kostete sie einiges an Selbstbeherrschung, nicht zurückzuweichen, aber gelernt war gelernt. Insgeheim dankte sie jedem ätzenden, cholerischen Kunden, mit dem sie es je zu tun gehabt hatte. So schnell brachte sie nach knapp eineinhalb Jahrzehnten in der Werbebranche nichts mehr aus dem Konzept.
»Doch, natürlich. Ich kann dir die Korrespondenz zeigen. Du hast mich als Saisonkraft eingestellt. Wir hatten den fünfzehnten September als Starttermin festgelegt, und – voilà – hier bin ich.« Sie streckte die Hände rechts und links vom Körper aus und grinste. Ein bisschen Albernheit konnte nie schaden, wenn man das Eis brechen wollte. Bei Berit Solberg schien es das Gegenteil zu bewirken.
Sie sah zu ihrem Begleiter. »Thorbjørn, die Frau ist verrückt! Es ist eine Irre auf meinem Hof. Sag ihr, dass sie spinnt. Sie soll von meinem Hof fahren!«
»Sussebass, jetzt beruhig dich, ja? Sicher ist sie nicht verrückt. Das ist bestimmt ein Missverständnis.« Hinter den Brillengläsern hoben sich seine Augenbrauen. Wortlos formte er das Wort sorry in Annabells Richtung. Halb hinter seinem Rücken fuchtelte er in Richtung von Annabells Mini.
Sie verstand und bückte sich nach der Dokumentenmappe mit den Papieren, die sie noch in Deutschland ausgedruckt hatte.
Unterdessen wandte er sich noch mal an Berit. »Die nette Frau …«
»Annabell«, korrigierte Annabell aus den Tiefen des Minis.
»Annabell«, berichtigte er sich, »hat gesagt, sie hat Papiere dabei. Wollen wir uns die nicht erst einmal anschauen, bevor du sie vom Hof jagst?«
»Pah, Fälschungen. Komm schon, Thorbjørn, kannst du dir vorstellen, dass ich eine Saisonaushilfe anheuere? Oder eine E-Mail schreibe? Hatten wir nicht gerade eben eine lebhafte Diskussion zu dem Thema?« Selbst die Hühner, die sich zwischenzeitlich wieder aus ihrem Verschlag getraut hatten, bekamen es mit der Angst zu tun. Laut gackernd stob eine Henne mit einer auffälligen weißen Schwanzfeder auf und rannte eiligst in die andere Richtung.
»Schon, aber …«, versuchte es Berits Begleiter noch einmal.
Es war Zeit, zum Angriff überzugehen. Dass diese durchgeknallte Peggy Bundy sie eine Verrückte nannte, war das eine. Das andere war, dass Annabell knapp achtzehn Stunden Autofahrt und die Attacke eines tollwütigen Gänserichs hinter sich hatte. Normalerweise rühmte sie sich für ihren kühlen Kopf, doch irgendwann war genug wirklich genug, und diesen Moment hatte sie erreicht.
Die Dokumentenmappe vom Beifahrersitz fest in der Hand, konfrontierte sie ihre Kontrahentin damit. Wie einen Fehdehandschuh hielt sie die Unterlagen vor Berits Brust.
»Da ist alles drin. Vertrag, E-Mail-Wechsel, Korrespondenz. Alles. Bitte, schau. Unten links auf dem Vertrag, das ist deine Unterschrift. Vom fünfzehnten September bis zum fünfzehnten Januar helfe ich euch auf dem Hof, im Gegenzug dazu habe ich Anspruch auf Kost und Logis, und weißt du was? Nach einer höllenhaften Anreise habe ich wirklich Hunger und bin echt müde. Sowohl Kost als auch Logis wären gerade sehr willkommen. Also …?«
»Was fällt dir …«
»Darf ich?« Thorbjørn erstickte Berits Tirade, indem er mit der einen Hand Annabell die Prospekthülle abnahm und mit der anderen Berit hinter seinen Rücken schob. Seine langen Finger griffen nach den Papieren in dem Umschlag. Die Augen hinter den Brillengläsern huschten von links nach rechts und wieder nach links, während er das oberste Schreiben überflog. Den Vertrag. »Annabell hat recht«, meinte er schließlich. »Das hier ist eine rechtskräftige Vereinbarung zwischen dir und ihr. Es ist genau, wie sie gesagt hat.«
»Aber …«
»Wollen wir nicht erst mal reingehen?«, schlug er als Kompromiss vor. »Bei einer schönen, heißen Tasse Tee lässt sich das doch sicher alles besser klären.«
Wenn diese Furie weiter an der Lüge festhalten würde, Annabell hätte das alles irgendwie eingefädelt, würde sie … Hm. Sie wusste nicht, was sie dann tun würde. Sie wusste nur, dass sie mittlerweile echt verdammt wütend war und dass diese Berit Solberg nicht die Einzige war, die es draufhatte, ihr Gegenüber zusammenzufalten. Wenn sie also noch einmal …
»In Ordnung.« Zum Glück musste sich Annabell nicht mehr überlegen, was sie dann machen würde, denn offenbar war Berit doch vernünftig genug, um zu wissen, wann sie verloren hatte. Ihr Seufzen klang, als trüge sie die ganze Last der Welt auf ihren Schultern. »Gehen wir rein. Und dann versuchen wir, dieses ganze Kuddelmuddel auseinanderzuklamüsern. Sieht aus, als gäbe es ein ziemliches Missverständnis.«
Sie belauerten sich wie Wölfe, die man in gegenüberliegende Ecken verbannt hatte, damit sie sich nicht an die Gurgel gingen. Jedes Mal, wenn Berit eine Seite umblätterte, raschelte das Papier leise.
Thorbjørn machte sich in der Küche zu schaffen. Schubladen klappten, Wasser lief. Wenig später erfüllte das gemütliche Blubbern des Wasserkochers den Raum.
Annabell gönnte sich einen Moment Entspannung und sah sich um. Ohne die Streithammel in der Mitte wirkte die Küche richtig einladend. Viel Holz, das meiste in Weiß lasiert, dazu Akzente in Puderblau, Hellgrau und Creme. Ein dreiarmiger, silbrig schimmernder Kerzenleuchter stand auf dem Fensterbrett vor einem der drei Fenster. Unter den beiden anderen war der Rahmen eines alten Holzbettes an die Wand gerückt. Ganz offensichtlich diente es nicht als Sitzmöbel, sondern als eine Art Kommode. Ein paar Zierkissen lagen in dem matratzenlosen Rahmen, hübsch bezogen, mit diesen altmodischen Hüllen mit Volants und Häkelspitze. Außerdem nutzte jemand den sonst leeren Rahmen als Ablagefläche für einen Stapel Magazine. An dem runden Esstisch neben dem Bett saßen Annabell und Berit gerade. Dazu gab es eine Vitrine, in der, hübsch gestapelt, Steingutgeschirr präsentiert wurde. Shabby Chic war ganz offenbar der bevorzugte Einrichtungsstil von Berit Solberg. Selbst die Becher, Tassen, Teller und Schalen in der Vitrine passten sich dem Farbthema in der Küche an. Grau, Creme und Pastellblau wechselten sich dort ab. Die Küchenzeile hatte weiße Fronten, durch deren Lack noch die natürliche Holzmaserung zu sehen war, dazu rautenförmige Kupferapplikationen, in denen die runden Knäufe zum Aufziehen der Schubladen platziert waren. Alles war sehr sauber. Der ganze Raum könnte eins zu eins in einem Prospekt für skandinavisches Wohnen abgebildet sein, inklusive der leicht unregelmäßigen Holzwände und dem etwas schiefen Fußboden. Diese Küche war die perfekte Symbiose von Alt und Neu, stilsicher arrangiert. Etwas, das Annabell einer Frau, die sich heutzutage die Haare immer noch toupierte, nicht zugetraut hätte.
Thorbjørn schüttete losen Tee in eine bauchige Kanne. »Ich hoffe, du magst Früchtetee? Diese Mischung besteht aus kandierten Früchten. Deshalb muss man sie nicht abseihen.« Kaum traf das sprudelnde Wasser auf die Teemischung, flutete vanilliges Mandelaroma die Küche. Beinah gleichzeitig schob Berit die Papiere zusammen, die sie gelesen hatte, und Thorbjørn stellte drei Becher und die Teekanne auf den Tisch.
»Himmlisches Vergnügen nennt sich die Mischung. Ich dachte, wir können ein wenig göttliche Intervention gebrauchen. Verbrennt euch nur nicht die Zunge. Am besten, der Tee zieht noch eine Weile.«
Annabell lächelte schief. »Wer nicht heiß anfassen kann, kann auch nicht heiß lieben, behauptet meine Mutter. Ich schätze das gilt auch für heiß trinken.« Sie goss sich eine Tasse ein und pustete auf die dampfende Flüssigkeit. Das herrliche Aroma zu atmen beruhigte ihre Anspannung ein wenig.
»Oh, eine ganz Toughe. Dann bist du also hart im Nehmen?« Zum ersten Mal richtete sich Berit direkt an sie. Eine perfekt gezupfte Augenbraue hob sich in die Stirn der Älteren.
»Ich scheue mich nicht, anzupacken, wenn etwas getan werden muss. Ich bin es gewöhnt, hart zu arbeiten. Und ich habe mich auf diese vier Monate hier gefreut, Berit. Mein Leben in Hamburg ist in Kisten verpackt. Ich habe keinen Job, keine Wohnung und absolut keine Ahnung, was ich machen würde, wenn du jetzt plötzlich sagst, du möchtest auf meine Hilfe verzichten.« Normalerweise war es nicht Annabells Ding, zu flehen, aber in diesem Fall war sie bereit, über ihren Schatten zu springen.
Einige lange Sekunden breiteten sich ihre Worte in dem Schweigen zwischen ihnen aus. Annabell trank einen großen Schluck Tee und konnte sich ein Stöhnen nicht verkneifen. »Mmmmh«, machte sie genüsslich und schickte Thorbjørn ein dankbares Lächeln.
»Du bist Marketingfachfrau, steht in den Unterlagen.«
Berit sagte es nicht als Frage, dennoch nickte Annabell. »Ja. Ursprünglich habe ich ein Studium als Fremdsprachenkorrespondentin gemacht. Für Englisch, Schwedisch und Russisch. Dann habe ich gemerkt, dass mir Sprachenlernen zwar liegt, aber der Job nicht so wirklich. Zu viel Reiserei und so. Durch Zufall bin ich im Marketing gelandet. Eine internationale Werbeagentur in Hamburg hatte gerade Mitarbeiter mit guten Fremdsprachenkenntnissen gesucht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt.«
»Du kennst dich mit Marketing und Werbung aus?« Hinter den Brillengläsern wurden Thorbjørns Augen groß. »Das ist ja wunderbar. Kind, dich schickt der Himmel. Ich hatte gerade versucht, Berit zu überzeu…«
Ein strenger Blick von Berit ließ ihn mitten im Satz verstummen. »Nun gut. Ich habe zwar immer noch keine Ahnung, wie meine Unterschrift – die übrigens ganz und gar nicht aussieht wie meine Unterschrift – auf diese Papiere gekommen ist, und ganz sicher habe ich mir nicht seit Wochen E-Mails mit dir hin- und hergeschrieben, aber vor die Tür setzen kann ich dich wohl auch schlecht. Was da schiefgelaufen ist, werden wir noch klären, doch bis auf Weiteres kannst du bei uns bleiben. Nur dass dir eines klar ist: Du bist als landwirtschaftliche Saisonaushilfe hier angestellt, verstanden?«
»Gehört da auch Arbeit in der Spinnerei dazu? Ich habe keine Ahnung, was in einer Spinnerei passiert, aber …«
»Von der Spinnerei reden wir nicht.« Berit unterbrach sie. »Und das Marketingzeugs in deinem Kopf bleibt schön dort, wo du hergekommen bist. Das hat bei uns nichts zu suchen, kapiert?« Die letzte Frage richtete Berit eindeutig nicht an Annabell, sondern an Thorbjørn. Der wurde ganz klein auf seinem Stuhl, presste die Lippen zusammen und machte mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger eine Geste, als wollte er sich den Mund verschließen. Hinter der Hand zwinkerte er Annabell zu. Trotz ihrer Müdigkeit konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie war sich absolut sicher, dass das letzte Wort in dieser Sache noch lange nicht gesprochen war.
»Ich bin schon ruhig«, sagte Thorbjørn an Berit gerichtet. »Von mir wird die liebe Annabell kein Wort davon erfahren, wie sie dir wirklich helfen könn…«
»Thorbjørn!« Berit schlug mit der Faust auf den Tisch, dass das Geschirr wackelte. »Siehst du? Es fängt schon wieder an. Ich habe schon wieder dieses Kribbeln in den Fingern, und wenn du jetzt nicht sofort aufhörst …«
»Danke für den himmlischen Tee!« Annabell warf das Erstbeste in den Raum, was ihr einfiel. Gute Güte, sie hatte wirklich keine Nerven für den nächsten Streit zwischen den beiden. »Der war wirklich lecker. Kannst du mir jetzt zeigen, wo mein Zimmer ist? Ich bin schrecklich müde von der Fahrt. Ich bin mittlerweile seit fast zwanzig Stunden wach.«
»Selbstverständlich.« Mit einem letzten großen Schluck leerte Berit ihre Tasse. »Ein Zimmer und wo das Bad ist, das kann ich dir zeigen. Das war’s dann aber auch schon. Dass das Bett bezogen wird und du dein Gepäck bis hoch unters Dach kriegst, liegt an dir. Wo Thorbjørn schon mal da ist, könnte er sich zur Abwechslung allerdings auch mal nützlich machen und dir damit helfen.« Das Lächeln, das sie Thorbjørn zuwarf, war so zuckersüß wie das von Hannibal Lecter. »Der alte Kauz meckert immer, er würde sich zu wenig bewegen. Tu ihm einen Gefallen und erlöse ihn aus seiner Lethargie.«
»Das wäre wirklich supernett.« Annabells Worte richteten sich an Thorbjørn. Der erhob sich und setzte zu einem altmodischen Diener an, während er gleichzeitig seinen Hut ein wenig lüpfte.
»Stets gern zu Diensten, junge Dame.«
Berit schnaubte. »Lass dir das nur nicht zu Kopf steigen. Wir sind kein Hotel. Bedient wird hier niemand.«
»Verstanden.« Annabell nickte, so ernst, wie sie konnte. Bei aller Mühe konnte sie das Zucken ihrer Mundwinkel jedoch nicht unterdrücken. Mochte Berit sich noch so viel Mühe geben, die unnahbare Kratzbürste zu spielen, in Wahrheit war ihr Herz so weich wie Sahnetoffee. Wer sonst würde eine gestrandete Saisonkraft aufnehmen und zudem dafür sorgen, dass sich Annabell nach ihrer langen Reise nicht mit ihrem Gepäck abmühen musste? Ihre Hand zuckte, und sie wollte sie auf ihren Bauch legen, unterdrückte aber den Drang. Eins nach dem anderen. Immer eins nach dem anderen. Erst mal musste sie ankommen. Für weitere Fragen war sie einfach noch nicht bereit.
Bjarnes Pfiff echote durchs Tal und wurde vom Hang zurückgeworfen. Sofort reagierten die Schafe. Was auch immer die vier Tiere oben hinter dem Stapel aufgeschichteter Holzscheite getrieben hatten, jetzt galoppierten sie mit wedelnden Ohren auf ihn zu. Wie hüpfende Schaumwolken sah das aus. Ihr Mähen begrüßte ihn. Frida war wie immer die Forscheste und drängte sich an ihn. Mit seinem ganzen Gewicht musste er sich gegen sie stemmen, damit sie ihn nicht umwarf.
In sich hineinlachend, grub er eine Hand in das weiche Fell an ihrem Kopf. Mit der anderen angelte er in der Jackentasche nach einem Stückchen Karotte. Ohne ein Leckerli für seine Schützlinge ging er so gut wie nie aus dem Haus. Natürlich wussten das die Damen und ließen ihn nie davonkommen, ehe er sie verwöhnt hatte.
Seit dem Tag seiner Geburt lebte Bjarne mit Tieren zusammen. Trotzdem war das Gefühl samtweicher Mäuler an seiner Haut noch immer etwas Besonderes für ihn. So frech die Tiere manchmal waren, genauso sanft konnten sie sein. Frida schmatzte zufrieden auf dem Karottenstück herum. Ida kam als Nächste, um sich ihr Leckerli zu erbetteln. Saga hatte offenbar keinen Hunger. Sie sah ihren Kameradinnen zu, käute zufrieden wieder und rülpste herzhaft. Malziger Grasgeruch stieg in Bjarnes Nase. Noch einmal verteilte er Streicheleinheiten, fuhr durch fedrig weiche Wolle, kratzte hinter schlackernden Ohren und kraulte die Tiere auf dem langen Nasenrücken, wo sie es besonders gernhatten. Schließlich verabschiedete er sich von seinen Zöglingen. Die drei Damen hatten im Frühjahr ihre Artgenossen nicht auf die Sommerweiden begleiten können, weil ein Virus ihnen zugesetzt hatte. Wochenlang hatte er sie von Hand mit Spezialfutter aufpäppeln müssen. Das war nichts Besonderes. Auch wenn der Großteil seiner Herde den Sommer über die Freiheit in den Bergen genoss, gab es immer auch genug Tiere, die das ganze Jahr über seine Aufmerksamkeit benötigten, und was er ihnen an Zuwendung zuteilwerden ließ, vergolten sie mit unerschütterlicher Treue. Eine Loyalität, die er auch in ihren Blicken spürte, während er sich auf den Weg zum Haus machte.
Das war eines der Dinge, die er an seiner Arbeit liebte. Die Tiere kannten ihn. Sie mochten und vertrauten ihm, ganz ohne Worte. Ihretwegen musste er nicht auf seine Aussprache achten, musste sich nie verstellen. Sie nahmen ihn, wie er war, stellten keine Fragen, sondern folgten ihren Instinkten.
Stille begrüßte ihn, als er reinging. So mochte er es. Er streifte sich die Schuhe von den Füßen, zog sich die Jacke aus, hängte sie an den Garderobenhaken über dem Schuhregal und stapfte barfuß ins Gästebad, um sich Hände und Gesicht zu waschen. Selbst der besten Seife gelang es nie, auch die letzten Spuren von Erde, Lanolin und Schweiß von seiner Haut zu tilgen. Seine Fingernägel waren stets ein wenig rissig, die Haut an den Handballen schwielig und grob. Arbeiterhände, die ihn als das ausweisen würden, was er war, selbst wenn er jemals wieder auf die Idee kommen würde, ein anderes Leben zu versuchen.
So sauber wie eben möglich lief er weiter in die Küche, wo er sich zuallererst eine Kanne Kaffee aufsetzte.
Der Anrufbeantworter blinkte. Das Teil war ein Relikt aus der Zeit, als seine Eltern noch auf dem Hof gelebt hatten. Immer wieder nahm Bjarne sich vor, das Ding wegzuwerfen, und behielt es dann doch. Im Grunde machte es nur Ärger. Heutzutage hatte jeder Mensch ein Handy, sogar er. Wenn er nicht erreichbar war, dann hatte das in aller Regel einen Grund, nämlich dass er nicht erreicht werden wollte. Das hektische Blinken eines antiquarischen Technikkastens auf der Küchenanrichte änderte sicher nichts an seiner Einstellung.
Während der Kaffee kochte, zündete er ein Feuer im Ofen im Wohnzimmer an. Sobald die Sonne versank, wurde es schnell kalt im Haus. Die Scheite knackten, der Kamin wummerte und sog zischend den Rauch ein. Aus dem Kühlschrank nahm Bjarne eine Packung Kjøttkaker in brauner Sauce, kippte die zähflüssige Pampe in einen tiefen Teller und packte das Ganze für sechs Minuten in die Mikrowelle. Seine Mutter würde ihm die Leviten lesen, wenn sie wüsste, dass Bjarne sich von Fertigfleischklößchen ernährte, doch sie würde es ja nicht erfahren.
Er leerte eine zweite Tasse Kaffee, wartete darauf, dass sein Essen fertig war, und konnte schließlich keinen weiteren Grund finden, den Anrufbeantworter zu ignorieren. Er drückte auf den Knopf.
Kurz knackte es in der Leitung, dann erklang die Stimme, die ihn bis heute, jedes Mal, wenn er sie hörte, mit einem Schwall schlechten Gewissens überschüttete.
»Hey, altes Haus, ich bin’s. Ich weiß ja, dass du immer schwer beschäftigt bist, gerade jetzt im Herbst, aber es ist schon wieder viel zu lange her, seit wir zum letzten Mal miteinander gesprochen haben. Lass doch mal von dir hören. Ich überlege, ob ich dich zum Schafabtrieb nicht mit einem Besuch beehre. Ich hätte mal wieder Lust auf eine richtige Feier mit dir, und wie sagt man so schön: Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Propheten und so weiter. Also, melde dich, ja? Du weißt, dass du mir nicht vom Haken kommst, also zier dich nicht. Bis dann.« Ein leises Klicken bedeutete, dass die Aufnahme zu Ende war. Eine Roboterstimme sagte: »Zum Wiederholen der Nachricht drücken Sie 1. Zum Speichern 3. Wenn Sie die Nachricht löschen wollen, drücken Sie …«
Bjarne drückte auf die 5, ehe die Roboterlady zu Ende sprechen konnte.
Sekundenlang starrte er auf die Anzeige des Anrufbeantworters, auf der jetzt wieder eine 0 zu sehen war. Wenn sich Erinnerungen nur genauso einfach löschen lassen würden …
Die Mikrowelle pingte und rettete ihn davor, sofort eine Entscheidung treffen zu müssen. Dabei hatte Ole recht. Sie beide wussten, dass Bjarne früher oder später nachgeben und sich dem Gespräch stellen würde. Es war nur eine Frage der Zeit.
Wie fast immer, wenn er sich sein Abendessen in der Mikrowelle zubereitete, war der Teller glühend heiß, die Speisen darauf dagegen bestenfalls lauwarm. Trotzdem schob er sich Löffel um Löffel des Fertiggerichts in den Mund. Kauen, schlucken, nächster Bissen. Er schmeckte kaum, was er aß. Er arbeitete hart, und dafür brauchte er Energie. Alles andere war unnötiger Firlefanz. Je weniger man vom Leben erwartete, desto weniger konnte man enttäuscht werden.