Nostromo - Joseph Conrad - E-Book

Nostromo E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

vollständige Fassung, kommentiert und in Neuer Deutscher Rechtschreibung Der fiktive Südamerika-Staat Costaguana, seit Jahrzehnten geprägt von Diktaturen, Bürgerkriegen und blutigen Regimewechseln. Eine Silbermine wird zum Gegenstand machtvoller Interessen im In- und Ausland. Durch eine neuerliche Revolution wird sie von den anderen Landesteilen Costaguanas getrennt. Für die eingewanderten Italiener wird Costaguana nach dem Scheitern der europäischen Revolutionen von 1848 zum wichtigen Exil. Die Titelfigur, der Seemann Nostromo, ist ein gestrandeter Italiener. Nostromo arbeitet für Mitchell, der die örtliche Niederlassung einer englischen Schiffsgesellschaft, der O. S. N. Company, leitet. Der Eigentümer der Miene beauftragt Nostromo, die letzte Ladung Silberbarren in Sicherheit zu bringen, dabei kommt es zum Zusammenstoß mit den Putschisten. »Nostromo« gilt als einer der wichtigsten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts. Null Papier Verlag

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Joseph Conrad

Nostromo

Joseph Conrad

Nostromo

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Ernst Wolfgang Freisler EV: S. Fischer Verlag, Berlin, 1927 2. Auflage, ISBN 978-3-954185-43-6

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Inhaltsverzeichnis

Über den Au­tor

Über die­ses Buch

Vor­be­mer­kung des Ver­fas­sers

Ers­ter Teil – Das Sil­ber der Mine

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

Zwei­ter Teil – Die Isa­bel­len

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

Drit­ter Teil – Der Leucht­turm

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

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Ihr Jür­gen Schul­ze

99 Welt-Klas­si­ker

Der Tee der drei al­ten Da­men

Arme Leu­te und Der Dop­pel­gän­ger

Der Vam­pir

Der selt­sa­me Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der Idi­ot

Jane Eyre

Effi Briest

Ma­da­me Bo­va­ry

Ili­as & Odys­see

Ge­schich­te des Gil Blas von San­til­la­na

und wei­te­re …

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Über den Autor

Jo­seph Con­rad (1857 - 1924) war ein Schrift­stel­ler pol­ni­scher Her­kunft, der in eng­li­scher Spra­che schrieb.

Sein Va­ter, Apol­lo Kor­ze­niow­ski ist Schrift­stel­ler und pol­ni­scher Pa­tri­ot, der Sha­ke­s­pea­re und Hugo über­setzt und sei­nem Sohn die Li­te­ra­tur na­he­legt. Nach der Be­set­zung Po­lens durch Russ­land in der »zwei­ten Tei­lung« wird der Va­ter 1861 ver­haf­tet und spä­ter mit­samt Frau und dem erst 5-jäh­ri­gen Jo­seph in die Ver­ban­nung ins nor­drus­si­sche Wo­log­da ge­schickt. Dort stirbt die Mut­ter, Va­ter und Sohn keh­ren nach Straf­ver­bü­ßung 1865 ins pol­ni­sche Kra­kau zu­rück. Als auch der Va­ter 1869 stirbt, er­hält der On­kel Ta­deusz das Sor­ge­recht über ihn.

1886 er­langt Con­rad die bri­ti­sche Staats­bür­ger­schaft. 1888 wird er Ka­pi­tän. Sei­ne Er­leb­nis­se zur See bil­den meist den Hin­ter­grund der von ihm ge­schaf­fe­nen Er­zäh­lun­gen.

Etwa 1890 be­ginnt Jo­seph Con­rad zu schrei­ben. Zeit sei­nes Le­bens schafft er ein um­fang­rei­ches li­te­ra­ri­sches Werk. Lan­ge ist er auf Gön­ner an­ge­wie­sen, doch 1914 hat er end­lich den schrift­stel­le­ri­schen Durch­bruch mit »Spiel des Zu­falls«. Con­rads be­kann­tes­te Schöp­fun­gen sind die Ro­ma­ne »Lord Jim«, »Nostro­mo« und »Herz der Fins­ter­nis« (eben­falls er­schie­nen bei Null Pa­pier). Letz­te­res ist bis heu­te das meist­zi­tier­te und be­deu­tends­te Buch von ihm.

Über dieses Buch

Der fik­ti­ve Süd­ame­ri­ka-Staat Cos­ta­gua­na, seit Jahr­zehn­ten ge­prägt von Dik­ta­tu­ren, Bür­ger­krie­gen und blu­ti­gen Re­gi­me­wech­seln. Eine Sil­ber­mi­ne wird zum Ge­gen­stand macht­vol­ler In­ter­es­sen im In- und Aus­land. Durch eine neu­er­li­che Re­vo­lu­ti­on wird sie von den an­de­ren Lan­des­tei­len Cos­ta­gua­nas ge­trennt. Für die ein­ge­wan­der­ten Ita­lie­ner wird Cos­ta­gua­na nach dem Schei­tern der eu­ro­päi­schen Re­vo­lu­tio­nen von 1848 zum wich­ti­gen Exil.

Die Ti­tel­fi­gur, der See­mann Nostro­mo, ist ein ge­stran­de­ter Ita­lie­ner. Nostro­mo ar­bei­tet für Mit­chell, der die ört­li­che Nie­der­las­sung ei­ner eng­li­schen Schiffs­ge­sell­schaft, der O. S. N. Com­pa­ny, lei­tet. Der Ei­gen­tü­mer der Mie­ne be­auf­tragt Nostro­mo, die letz­te La­dung Sil­ber­bar­ren in Si­cher­heit zu brin­gen, da­bei kommt es zum Zu­sam­men­stoß mit den Put­schis­ten.

»Nostro­mo« gilt als ei­ner der wich­tigs­ten eng­lisch­spra­chi­gen Ro­ma­ne des 20. Jahr­hun­derts.

Vorbemerkung des Verfassers

Nostro­mo ist die am sorg­fäl­tigs­ten durch­dach­te der län­ge­ren Er­zäh­lun­gen aus der Zeit nach der Ver­öf­fent­li­chung des No­vel­len­ban­des Tai­fun.

Ich will nicht sa­gen, dass mir da­mals etwa ein Wech­sel in mei­ner Ein­stel­lung auf mei­ne künst­le­ri­sche Auf­ga­be zum Be­wusst­sein ge­kom­men wäre. Und viel­leicht hat es einen sol­chen Wech­sel auch gar nicht ge­ge­ben, au­ßer in je­nem ge­heim­nis­vol­len, un­ter­be­wuss­ten Punkt, der mit den Kunst­theo­ri­en nichts zu tun hat; einen kaum merk­li­chen Wech­sel in der Art der Ein­ge­bung; ein Phä­no­men, für das ich in kei­ner Wei­se ver­ant­wort­lich zu ma­chen bin. Was mich al­ler­dings et­was be­un­ru­hig­te, war der Um­stand, dass ich nach Been­di­gung der letz­ten No­vel­le von »Tai­fun« ir­gend­wie das Ge­fühl hat­te, es wäre über nichts in der Welt mehr zu schrei­ben.

Die­se ei­gen­ar­tig ver­nei­nen­de und be­un­ru­hi­gen­de Stim­mung hielt ge­rau­me Zeit an; und dann ent­stand in mir, wie bei vie­len mei­ner län­ge­ren Er­zäh­lun­gen, der ers­te Ge­dan­ke für »Nostro­mo« in Ge­stalt ei­ner flüch­ti­gen An­ek­do­te, ohne ver­wend­ba­re Ein­zel­hei­ten.

Tat­säch­lich hat­te ich im Jah­re 1875 oder 1876, als ganz jun­ger Mensch, in West­in­di­en oder viel­mehr im Golf von Me­xi­ko, denn mei­ne Berüh­run­gen mit dem Lan­de wa­ren kurz, sel­ten und flüch­tig, die Ge­schich­te ei­nes Man­nes ge­hört, von dem es hieß, er habe ganz al­lein eine Leich­ter­la­dung Sil­ber ge­stoh­len, ir­gend­wo an der Küs­te der Tier­ra Fir­me, wäh­rend der Wir­ren ei­ner Re­vo­lu­ti­on.

Auf den ers­ten Blick er­schi­en dies als et­was wie eine Tat. Aber ich hör­te kei­ne Ein­zel­hei­ten, und da mir das In­ter­es­se für das Ver­bre­chen als sol­ches fehlt, so war kaum an­zu­neh­men, dass mir dies eine im Ge­dächt­nis blei­ben soll­te. Und ich ver­gaß es auch, bis ich sechs- oder sie­ben­und­zwan­zig Jah­re spä­ter dar­auf stieß, in ei­nem schun­di­gen Büch­lein, das ich in der Aus­la­ge ei­nes Alt­händ­lers auf­ge­stö­bert hat­te. Es war die Le­bens­ge­schich­te ei­nes ame­ri­ka­ni­schen See­manns, von ihm selbst un­ter Bei­hil­fe ei­nes Jour­na­lis­ten ge­schrie­ben. Im Lau­fe sei­ner Wan­der­jah­re hat­te die­ser ame­ri­ka­ni­sche Ma­tro­se ei­ni­ge Mo­na­te lang an Bord des Scho­ners ge­dient, des­sen Eig­ner und Schif­fer der Dieb war, von dem ich in mei­nen jun­gen Ta­gen ge­hört hat­te. Dar­über habe ich nicht den ge­rings­ten Zwei­fel, denn es könn­te ja schwer­lich zwei Un­ter­neh­mun­gen der glei­chen be­son­de­ren Art, im glei­chen Teil der Welt ge­ben, bei­de in Ver­bin­dung mit ei­ner süd­ame­ri­ka­ni­schen Re­vo­lu­ti­on.

Der Bur­sche hat­te es tat­säch­lich fer­tig­ge­bracht, einen Leich­ter voll Sil­ber zu steh­len, und zwar, wie es scheint, ein­fach des­we­gen, weil ihm sei­ne Dienst­ge­ber blind ver­trau­ten, die auf­fal­lend schlech­te Men­schen­ken­ner ge­we­sen sein müs­sen. In der Le­bens­ge­schich­te des Ma­tro­sen er­scheint die­ser Mann als ein ruch­lo­ser Schur­ke, ein nied­ri­ger Be­trü­ger, sinn­los roh und übel­lau­nig, von ge­mei­nem Aus­se­hen und gänz­lich un­wür­dig der Grö­ße, zu der ihm der Zu­fall ver­hel­fen hat­te. Merk­wür­dig war es, dass er sich sei­ner Tat of­fen rühm­te.

Er pfleg­te zu sa­gen: »Die Leu­te glau­ben, dass ich mit mei­nem Scho­ner da eine Men­ge Geld ver­die­ne, aber das ist gar nichts. Ich sche­re mich nicht drum. Ab und zu gehe ich ru­hig hin und hole mir einen Sil­ber­bar­ren. Ich muss lang­sam reich wer­den – du ver­stehst.«

Der Mann wies noch einen an­de­ren merk­wür­di­gen We­sens­zug auf. Ein­mal, bei Ge­le­gen­heit ir­gend­ei­nes Strei­tes, droh­te ihm der Ma­tro­se: »Was soll­te mich ab­hal­ten, an Land wie­der­zu­er­zäh­len, was Sie mir von dem Sil­ber ge­sagt ha­ben?«

Der zy­ni­sche Gau­ner war nicht im Ge­rings­ten be­stürzt. Er lach­te so­gar: »Du Narr, wenn du es wagst, an Land so über mich zu spre­chen, so wirst du ein Mes­ser in den Rücken be­kom­men. Je­der, Mann, Weib und Kind, in dem Ha­fen ist mir freund. Und wer will be­wei­sen, dass der Leich­ter nicht ge­sun­ken ist? Ich habe dir nicht ge­zeigt, wo das Sil­ber ver­bor­gen ist, oder? So weißt du gar nichts. Und wenn ich ge­lo­gen hät­te? He?«

Schließ­lich brann­te der Ma­tro­se von dem Scho­ner durch, an­ge­wi­dert von der schmut­zi­gen Ge­mein­heit die­ses so gar nicht reu­mü­ti­gen Die­bes. Der gan­ze Vor­fall nimmt etwa drei Sei­ten sei­ner Le­bens­ge­schich­te ein. Kaum der Rede wert; als ich sie aber über­flog, da weck­te die merk­wür­di­ge Be­stä­ti­gung der we­ni­gen, zu­fäl­li­gen Wor­te, die ich in frü­he­s­ter Ju­gend ge­hört hat­te, die Erin­ne­rung an jene fer­ne Zeit, da al­les so frisch ge­we­sen war, so über­ra­schend, so aben­teu­er­lich und reiz­voll. Frem­de Küs­ten­stri­che un­ter den Ster­nen, Hü­gel­schat­ten im Son­nen­schein, mensch­li­che Lei­den­schaf­ten im Dun­keln, halb­ver­ges­se­ne Wor­te, ent­schwun­de­ne Ge­sich­ter … Vi­el­leicht, viel­leicht gab es doch noch et­was in der Welt, wor­über sich schrei­ben ließ. Den­noch sah ich zu­nächst nichts da­von in der blo­ßen Er­zäh­lung. Ein Gau­ner stiehlt eine große Men­ge ei­ner wert­vol­len Ware – so sa­gen die Leu­te. Es ist ent­we­der wahr oder un­wahr; und kei­nes­falls an sich wich­tig. Eine um­ständ­li­che Ge­schich­te die­ses Dieb­stahls zu er­fin­den, reiz­te mich nicht, denn da mei­ne Be­ga­bung nicht in die­ser Rich­tung liegt, so schi­en mir der Lohn nicht der Mühe wert. Erst als es mir auf­däm­mer­te, dass der Schatz­dieb nicht not­wen­dig ein über­zeug­ter Schuft ge­we­sen sein muss­te, dass er viel­leicht so­gar ein Mann von Cha­rak­ter sein konn­te, der wäh­rend der Wech­sel­fäl­le der Re­vo­lu­ti­on eine Rol­le ge­spielt hat­te, etwa auch ihr Op­fer ge­we­sen war: – da erst er­schi­en mir in däm­me­ri­gen Um­ris­sen das Land, das be­stimmt war, die Pro­vinz von Su­la­co zu wer­den, mit sei­ner ho­hen, schat­ti­gen Sier­ra und sei­nem neb­li­gen Cam­po, als stum­men Zeu­gen der Ge­scheh­nis­se, die sich aus den Lei­den­schaf­ten der im Gu­ten und im Bö­sen kurz­sich­ti­gen Men­schen er­ge­ben.

Dies sind tat­säch­lich die ers­ten An­sät­ze zu »Nostro­mo« – dem Buch. Von je­nem Au­gen­blick an, glau­be ich, muss­te es ent­ste­hen. Doch zö­ger­te ich selbst dann noch, als hät­te mich der Selbs­t­er­hal­tungs­trieb ge­warnt, mich auf eine wei­te und müh­sa­me Rei­se zu wa­gen, in ein Land voll Un­ru­hen und Ge­fah­ren. Doch es muss­te sein.

Der größ­te Teil der Jah­re 1903 und 1904 ging dar­über hin, un­ter­bro­chen durch viel­fach wie­der­hol­tes Zö­gern, um mich nicht ganz in die un­ge­mes­se­nen Wei­ten zu ver­lie­ren, die sich mit der fort­schrei­ten­den Kennt­nis des Lan­des vor mir auf­ta­ten. Oft auch, wenn ich mich in den ver­wi­ckel­ten Ver­hält­nis­sen der Re­pu­blik fest­ge­rannt hat­te, pack­te ich, bild­lich ge­spro­chen, mei­nen Kof­fer, floh von Su­la­co, um Luft­wech­sel zu ha­ben, und schrieb ein paar Sei­ten an »Im Spie­gel der See«. Im Gan­zen ge­nom­men aber währ­te, wie schon ge­sagt, mein Auf­ent­halt in La­tei­nisch-Ame­ri­ka, das für sei­ne Gast­lich­keit be­rühmt ist, un­ge­fähr zwei Jah­re. Bei mei­ner Rück­kehr fand ich (um etwa mit Ka­pi­tän Gul­li­ver zu spre­chen) mei­ne Fa­mi­lie wohl­auf, mei­ne Frau herz­lich er­freut dar­über, dass der Tru­bel ein Ende hat­te, und mei­nen klei­nen Jun­gen wäh­rend mei­ner Ab­we­sen­heit be­trächt­lich ge­wach­sen.

Mei­ne Haupt­quel­le für die Ge­schich­te von Cos­ta­gua­na ist na­tür­lich mein ver­ehr­ter Freund, der ver­stor­be­ne Don José Avel­la­nos, Ge­sand­ter an den Hö­fen von Eng­land, Spa­ni­en usw. usw., mit sei­ner un­par­tei­ischen und be­red­ten »Ge­schich­te von fünf­zig Jah­ren Miss­wirt­schaft«. Die­ses Werk wur­de nie ver­öf­fent­licht – der Le­ser wird ent­de­cken, warum –, und ich bin tat­säch­lich der ein­zi­ge Mensch in der Welt, der um sei­nen In­halt weiß. Ich habe mich in nicht we­nig Stun­den erns­ten Nach­den­kens da­mit ver­traut ge­macht und hof­fe, dass man mei­ner Gründ­lich­keit Glau­ben schen­ken wird. Um mir selbst Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren zu las­sen und die Be­fürch­tun­gen weit­sich­ti­ger Le­ser zu be­schwich­ti­gen, möch­te ich be­to­nen, dass die we­ni­gen his­to­ri­schen An­spie­lun­gen nie­mals nur zu dem Zwe­cke ge­macht sind, um mit mei­nem ein­zig­ar­ti­gen Wis­sen zu prun­ken, son­dern dass jede Ein­zel­ne da­von eng mit der Hand­lung ver­knüpft ist: in­dem sie ent­we­der ein Streif­licht auf lau­fen­de Vor­komm­nis­se wirft oder sich un­mit­tel­bar auf die Schick­sa­le der han­deln­den Per­so­nen be­zieht.

Was nun die Ein­zel­schick­sa­le an­geht, so habe ich mich be­müht, sie alle – Ari­sto­kra­ten und Volk, Män­ner und Frau­en, Ro­ma­nen und An­gel­sach­sen, Ban­di­ten und Po­li­ti­ker – mit so küh­ler Hand zu zeich­nen, wie es in der Hit­ze und im Drang mei­ner ei­ge­nen wi­der­strei­ten­den Ge­füh­le nur mög­lich war. Und schließ­lich ist ja dies auch die Ge­schich­te ih­res ei­ge­nen Wi­der­streits. An dem Le­ser wird es lie­gen, zu ent­schei­den, in­wie­weit sie An­teil­nah­me ver­die­nen, für ihre Ta­ten und ihre ge­hei­men Zie­le, wie sie sich un­ter dem bit­te­ren Zwang der Zeit ent­hül­len. Ich ge­ste­he, dass für mich jene Zeit die Zeit treu­er Freund­schaft und un­ver­ges­se­ner Gast­lich­keit ist. Und hier muss ich dank­bar der Frau Gould ge­den­ken, der »ers­ten Dame von Su­la­co«, die wir mit gu­tem Ge­wis­sen der stil­len Ver­eh­rung des Dr. Mony­g­ham über­las­sen dür­fen, und ih­res Man­nes Charles Gould, des idea­lis­ti­schen Schöp­fers ma­te­ri­el­ler In­ter­es­sen, den wir sei­ner Mine über­las­sen müs­sen – von der es in die­ser Welt kein Ent­rin­nen gibt.

Über Nostro­mo, den zwei­ten der bei­den nach Ras­se und Ge­sell­schafts­schicht so ver­schie­de­nen Män­ner, die bei­de im Bann des Sil­bers aus der San-Tomé-Mine ste­hen, muss ich noch ein paar Wor­te mehr sa­gen.

Ich hat­te kei­ne Be­den­ken, die­se Haupt­fi­gur zum Ita­lie­ner zu ma­chen. Es ist vor al­lem durch­aus glaub­haft: Die west­li­che Pro­vinz wim­mel­te da­mals von Ita­li­e­nern, wie je­der beim Wei­ter­le­sen se­hen wird; und zwei­tens pass­te kein an­de­rer so gut an die Sei­te Gior­gio Vio­las, des Ga­ri­bal­di­ners, des Idea­lis­ten aus der Zeit der al­ten men­schen­freund­li­chen Re­vo­lu­tio­nen. Ich brauch­te da­für einen Mann aus dem Vol­ke, so frei wie mög­lich von ge­sell­schaft­li­chem Her­kom­men und je­der fest­ge­leg­ten Denk­wei­se. Das soll kein Sei­ten­hieb auf das Her­kom­men sein. Mei­ne Grün­de wa­ren nicht mo­ra­li­scher, son­dern künst­le­ri­scher Art. Wäre der Held ein An­gel­sach­se ge­we­sen, so hät­te er ver­sucht, in die Lo­kal­po­li­tik hin­ein­zu­kom­men. Nostro­mo aber zeigt kei­nen Ehr­geiz nach ei­ner Füh­rer­rol­le. Er wünscht sich nicht über die Mas­se zu er­he­ben, ist zu­frie­den, sich als eine Macht zu füh­len – in­mit­ten des Volks.

Haupt­säch­lich aber ist Nostro­mo, was er ist, weil mir die ers­te Idee zu sei­ner Ge­stalt in frü­he­ren Ta­gen von ei­nem mit­tel­län­di­schen Ma­tro­sen kam. Alle, die be­stimm­te mei­ner Wer­ke ge­le­sen ha­ben, wer­den so­fort ver­ste­hen, was ich mei­ne, wenn ich sage, dass Do­mi­nic, der Schif­fer der Tre­mo­li­no, un­ter ge­wis­sen Um­stän­den hät­te Nostro­mo sein kön­nen. Auf je­den Fall hät­te Do­mi­nic den jün­ge­ren Mann vollauf, wenn auch mit Ge­ring­schät­zung, ver­stan­den. Er und ich wa­ren zu­sam­men in ein ziem­lich tö­rich­tes Aben­teu­er ver­wi­ckelt; aber die Tor­heit tut ja nichts zur Sa­che. Es ist mir eine ehr­li­che Ge­nug­tu­ung, zu den­ken, dass in mei­nen ganz jun­gen Ta­gen doch et­was in mir ge­we­sen sein muss, wert­voll ge­nug, um mir je­nes Man­nes halb­bit­te­re Treue zu si­chern, sei­ne halb spöt­ti­sche Er­ge­ben­heit. Vie­le Auss­prü­che Nostro­mos habe ich zu­erst von Do­mi­nics Lip­pen ge­hört. Die Hand auf der Ru­der­pin­ne und mit furcht­lo­sen Au­gen den Ho­ri­zont ab­su­chend, un­ter der mön­chi­schen Ka­pu­ze her­vor, die sein Ge­sicht be­schat­te­te, pfleg­te er sei­ner bit­te­ren Weis­heit letz­ten Schluss zu mur­meln: »Vous au­tres gen­til­hom­mes!« in ei­nem bei­ßen­den Ton, der mir noch im Ohre klingt. Wie Nostro­mo! »Ihr bom­bres fi­nos!« Ganz wie Nostro­mo. Doch Do­mi­nic, der Kor­se, hat­te einen ge­wis­sen Ah­nen­stolz, von dem mein Nostro­mo frei ist – denn Nostro­mos Ab­stam­mung muss­te noch äl­ter sein. Er ist ein Mann mit dem Ge­wicht zahl­lo­ser Ge­schlech­ter hin­ter sich und ohne Ver­wandt­schaft, de­ren er sich rüh­men könn­te … wie das Volk.

In sei­nem fes­ten Griff nach der Erde, die sein Erb­teil ist, in sei­ner schran­ken­lo­sen Groß­mut, sei­ner ver­schwen­de­ri­schen Frei­ge­big­keit, sei­ner männ­li­chen Ei­tel­keit; im dunklen Ge­fühl sei­ner Grö­ße, wie in sei­ner treu­en Hin­ga­be und dem Et­was in sei­nen Trie­ben, das Verzweif­lung weckt und aus Verzweif­lung stammt, – in all dem ist er ein Mann des Volks, ein Sinn­bild neid­lo­ser Kraft, die es ab­lehnt, zu füh­ren, doch von in­nen her­aus herrscht. Auch in spä­te­ren Jah­ren, als der be­rühm­te Ka­pi­tän Fi­dan­za, dem Wohl des Lan­des ver­bun­den und auf al­len sei­nen vie­len We­gen in den neu­zeit­lich um­ge­stal­te­ten Stra­ßen von Su­la­co von ehr­fürch­ti­gen Bli­cken ver­folgt; wenn er die Wit­we des Ha­fen­ar­bei­ters be­sucht, der Loge bei­wohnt, in un­be­weg­tem Schwei­gen bei ei­ner Volks­ver­samm­lung an­ar­chis­ti­schen Re­den zu­hört; als das ge­hei­me Haupt der neu­re­vo­lu­tio­nären Be­we­gung, als der wohl­ha­ben­de Ge­nos­se Fi­dan­za, dem alle ver­trau­en und der das Ge­heim­nis sei­nes sitt­li­chen Nie­der­bruchs in sei­ner Brust ver­schlos­sen trägt: – im­mer bleibt er im We­sen ein Mann des Volks. In sei­nem Ge­misch aus Le­bens­lust und Ver­ach­tung des Le­bens, in der bren­nen­den Über­zeu­gung, ver­ra­ten wor­den zu sein, ver­ra­ten zu ster­ben, ohne zu wis­sen von wem oder von was: in all dem ist er im­mer wie­der ein Mann des Volks, der über je­den Zwei­fel große Mann – mit sei­ner ei­ge­nen Pri­vat­ge­schich­te.

Noch eine Ge­stalt aus die­sen be­weg­ten Zei­ten möch­te ich er­wäh­nen, und das ist An­to­nia Avel­la­nos, »die wun­der­schö­ne An­to­nia«. Ob sie eine denk­ba­re Ver­tre­te­rin des süd­ame­ri­ka­ni­schen Mäd­chens ist, möch­te ich nicht zu ent­schei­den wa­gen. Für mich aber ist sie es. Wenn sie auch ne­ben ih­rem Va­ter (mei­nem ver­ehr­ten Freund) im­mer ein we­nig im Hin­ter­grund bleibt, so ist sie doch, hof­fe ich, ge­nü­gend her­aus­ge­ar­bei­tet, um das, was ich sa­gen will, ver­ständ­lich zu ma­chen. Von all den Leu­ten, die mit mir die Ge­burt der West­li­chen Re­pu­blik mit an­ge­se­hen ha­ben, ist sie die Ein­zi­ge, die sich in mei­nem Ge­dächt­nis ein Wei­ter­le­ben ge­si­chert hat. An­to­nia, die Ari­sto­kra­tin, und Nostro­mo, der Mann aus dem Vol­ke, sind die Wer­kleu­te der neu­en Zeit, die wah­ren Schöp­fer des neu­en Staa­tes; er durch sei­ne sa­gen­haf­te, küh­ne Tat, sie als Frau, ein­fach durch die Macht ih­res Da­seins: das ein­zi­ge We­sen, das fä­hig war, eine wah­re Lei­den­schaft im Her­zen ei­nes Schwät­zers zu we­cken.

Wenn et­was mich ver­lei­ten könn­te, Su­la­co noch­mals zu be­su­chen (es wäre mir ver­hasst, all die Ver­än­de­run­gen se­hen zu müs­sen), dann wäre es An­to­nia. Und der wah­re Grund da­für – warum es nicht of­fen zu­ge­ben? –, der wah­re Grund ist, dass ich sie nach dem Bild mei­ner ers­ten Lie­be ge­formt habe. Wie blick­ten doch wir alle, auf­ge­schos­se­ne Schul­jun­gen, die Ka­me­ra­den ih­rer Brü­der, wir alle, zu dem Mäd­chen auf, das selbst die Schu­le kaum ver­las­sen hat­te. Sie er­schi­en uns als die Ver­kör­pe­rung ei­nes Glau­bens, zu dem wir alle ge­bo­ren wa­ren, den aber sie al­lein mit un­beug­sa­mer Hoff­nung hoch­zu­hal­ten wuss­te. Sie hat­te viel­leicht mehr Glut und we­ni­ger See­len­ru­he in sich als An­to­nia, doch war sie eine un­er­bitt­li­che Pu­ri­ta­ne­rin der Va­ter­lands­lie­be, ohne den lei­ses­ten Ma­kel von Welt­lich­keit in ih­ren Ge­dan­ken. Ich war da­mals nicht der Ein­zi­ge, der sie lieb­te, doch war ich es, der am Öf­tes­ten (ganz wie der arme De­coud) ihre schar­fe Kri­tik an mei­ner Leicht­fer­tig­keit an­zu­hö­ren oder dem An­sturm ih­rer er­ha­be­nen, un­wi­der­leg­ba­ren An­grif­fe stand­zu­hal­ten hat­te. Sie ver­stand mich nicht ganz – doch was tat das! An ei­nem Nach­mit­tag, als ich zu ihr kam, ein furcht­sa­mer und doch trot­zi­ger Sün­der, um ihr ein letz­tes Le­be­wohl zu sa­gen, da emp­fing ich einen Hän­de­druck, der mein Herz auf­po­chen ließ, und sah eine Trä­ne, die mir den Atem nahm. Schließ­lich wur­de sie mil­der, als hät­te sie plötz­lich be­grif­fen (wir wa­ren noch sol­che Kin­der!), dass ich wirk­lich und wahr­haf­tig weg­ging, weit weg – nach Su­la­co so­gar, das un­be­kannt, un­se­ren Au­gen ver­bor­gen, im Dun­kel des stil­len Golfs lag.

Da­rum seh­ne ich mich mit­un­ter, noch­mals die »wun­der­schö­ne An­to­nia« (oder soll­te es die an­de­re sein?) zu se­hen, wie sie sich im Düs­ter der großen Ka­the­dra­le be­wegt, ein kur­z­es Ge­bet am Grab des ers­ten und letz­ten Kar­di­na­lerz­bi­schofs von Su­la­co spricht, in töch­ter­li­che Hin­ga­be ver­lo­ren vor dem Denk­mal des Don José Avel­la­nos ver­weilt und mit ei­nem lan­gen, in­ni­gen, treu­en Blick auf die Ge­denk­ta­fel für Mar­tin De­coud ab­ge­klärt in den Son­nen­schein der Pla­za hin­austritt, mit ih­rer auf­rech­ten Hal­tung und dem wei­ßen Haupt; ein Über­bleib­sel aus der Ver­gan­gen­heit, un­be­ach­tet von den Men­schen, die un­ge­dul­dig das Mor­gen­rot ei­ner an­de­ren Neu­en Ära er­war­ten, das Kom­men im­mer neu­er Re­vo­lu­tio­nen.

Doch dies ist der tö­richts­te al­ler Träu­me; denn ich habe voll­kom­men be­grif­fen, dass von dem Au­gen­blick an, wo der Atem dem Kör­per des Gro­ßen Ca­pa­taz, des Man­nes aus dem Vol­ke, ent­flo­hen war, end­lich er­löst von der Last der Lie­be und des Reich­tums – dass von die­sem Au­gen­blick an für mich in Su­la­co nichts mehr zu tun blieb.

J.C.

Erster Teil – Das Silber der Mine

I.

Zur­zeit der spa­ni­schen Herr­schaft, und noch vie­le Jah­re nach­her, hat­te die Stadt Su­la­co – von ih­rem Al­ter zeugt die üp­pi­ge Pracht der Oran­gen­gär­ten – in ge­schäft­li­cher Hin­sicht höchs­tens als ein Küs­ten­ha­fen mit be­trächt­li­chem Lo­kal­ver­kehr in Och­sen­häu­ten und In­di­go ei­ni­ge Be­deu­tung ge­habt. Für die klo­bi­gen Hoch­see­ga­lio­nen der Ero­be­rer hat­te sich der Ha­fen von Su­la­co we­gen der in dem wei­ten Golf vor­herr­schen­den Wind­stil­len ver­bo­ten; denn die brauch­ten eine schar­fe Bri­se, um über­haupt vom Fleck zu kom­men, wo ei­ner der mo­der­nen Schnell­seg­ler beim blo­ßen Flat­tern der Lein­wand noch Fahrt macht. Ei­ni­ge Hä­fen in der Welt sind schwer zu er­rei­chen in­fol­ge heim­tücki­scher Un­ter­was­ser­klip­pen und der Stür­me an ih­ren Küs­ten. Su­la­co lag wie in ei­nem un­ver­letz­li­chen Hei­lig­tum ge­bor­gen vor den Ver­su­chen der Han­dels­welt, in der fei­er­li­chen Stil­le des tie­fen Gol­fo Pla­ci­do, wie in ei­nem un­ge­heu­ren, halb­kreis­för­mi­gen Tem­pel ohne Dach, zur See zu of­fen, die Wän­de aus ho­hen Ber­gen mit den Trau­er­tü­chern der Wol­ken ver­han­gen.

Auf der einen Sei­te die­ser brei­ten Ein­buch­tung in der ge­ra­den Küs­ten­li­nie der Re­pu­blik Cos­ta­gua­na läuft das Land in eine un­be­deu­ten­de Spit­ze aus, die Pun­ta Mala heißt. Von der Mit­te des Golfs aus ist die­se Land­spit­ze über­haupt nicht sicht­bar; nur der Kamm ei­nes stei­len Hü­gels, der sich dar­auf er­hebt, ist un­deut­lich aus­zu­neh­men, wie ein Schat­ten am Him­mel.

Auf der an­de­ren Sei­te zeich­net sich ge­gen die duns­ti­ge Glut des Ho­ri­zonts et­was wie ein schwe­ben­der bläu­li­cher Ne­bel­fleck ab. Das ist die Halb­in­sel Azu­e­ra, ein wil­des Ge­wirr schar­fer Fel­sen und stei­ni­ger Gleich­stre­cken, von senk­rech­ten Schluch­ten zer­ris­sen. Sie ragt weit in die See hin­aus, als streck­te die grü­ne Küs­te an dün­nem Hals aus Sand, von Dorn­ge­büsch um­wu­chert, ein rau­es Haupt aus Stein vor. Gänz­lich was­ser­los – denn die Re­gen lau­fen so­fort nach al­len Sei­ten ins Meer ab –, hat die Halb­in­sel, so heißt es, nicht Hu­mus ge­nug, um auch nur einen Gras­halm sprie­ßen zu las­sen, als las­te­te ein Fluch auf ihr. Die Ar­men, die aus ei­nem dunklen Be­dürf­nis nach Trost die Be­grif­fe von Böse und Reich ver­qui­cken, er­zäh­len, die In­sel wäre so tot we­gen ih­rer ver­wun­sche­nen Schät­ze. Das ge­mei­ne Volk aus der Nach­bar­schaft, Pe­ons von den Estan­zi­as, Vaque­r­os von den Ebe­nen längs der Küs­te, un­ter­wor­fe­ne In­dia­ner, die mei­len­weit zu Markt kom­men, mit ei­nem Bün­del Zucker­rohr oder ei­nem Korb Mais im Wer­te von ein paar Pfen­ni­gen – sie alle glau­ben fest, dass Hau­fen glän­zen­den Gol­des im Düs­ter der tie­fen Schluch­ten lie­gen, die die stei­ni­ge Hoch­flä­che von Azu­e­ra durch­schnei­den. Die Über­lie­fe­rung will wis­sen, dass vie­le Aben­teu­rer frü­he­rer Zei­ten bei der Su­che um­ge­kom­men sind. Es geht auch die Rede, dass noch zu Ge­denk­zei­ten der Le­ben­den zwei wan­dern­de See­leu­te – Ame­ri­ca­nos viel­leicht, je­den­falls aber Grin­gos ir­gend­wel­cher Art – einen ver­spiel­ten, nichts­nut­zi­gen Mozo über­re­det und zu dritt einen Esel ge­stoh­len hat­ten, der ih­nen ein we­nig Dürr­holz, einen Was­ser­schlauch und Pro­vi­ant für ein paar Tage tra­gen soll­te. So be­glei­tet, mit Re­vol­vern im Gür­tel, hat­ten sie sich auf­ge­macht, um sich mit Busch­mes­sern einen Weg durch das Dorn­dickicht am Hal­se der Halb­in­sel zu bah­nen.

Am zwei­ten Abend war seit Men­schen­ge­den­ken zum ers­ten Mal eine ge­ra­de Rauch­säu­le zu se­hen (sie konn­te nur von dem La­ger­feu­er der Drei her­rüh­ren), die sich von ei­nem mes­ser­schar­fen Grat auf dem fel­si­gen Haupt schwach ge­gen den Abend­him­mel ab­hob. Die Mann­schaft ei­nes Küs­ten­scho­ners, der in to­ter Flau­te drei Mei­len von der Küs­te weg still­lag, starr­te ver­blüfft bis zum Dun­kel­wer­den dar­auf hin. Ein schwar­zer Fi­scher, der ein­sam in ei­ner klei­nen Bucht na­he­bei leb­te, hat­te den Auf­bruch mit an­ge­se­hen und auf ein Zei­chen ge­lau­ert. Er rief sei­ne Frau hin­zu, als die Son­ne eben im Un­ter­ge­hen war. Sie hat­ten das selt­sa­me Wahr­zei­chen mit Neid, Ungläu­big­keit und Schau­dern be­ob­ach­tet.

Die gott­lo­sen Aben­teu­rer ga­ben kein andres Zei­chen mehr. Die Ma­tro­sen, der In­dia­ner und der ge­stoh­le­ne Esel wur­den nie wie­der ge­se­hen. Dem Mozo, ei­nem Mann von Su­la­co – sein Weib hat­te ein paar Mes­sen be­zahlt – und dem ar­men Vier­füß­ler, ih­nen war es wohl ver­gönnt, zu ster­ben; die zwei Grin­gos aber sol­len ge­spens­ter­haft le­bend noch bis zu die­sem Tage zwi­schen den Fel­sen hau­sen, im Bann ih­res Er­fol­ges. Ihre See­len kön­nen sich nicht von den Lei­bern los­rei­ßen, die über dem ent­deck­ten Schatz Wa­che hal­ten. Sie sind nun reich und hung­rig und durs­tig – eine selt­sa­me Vor­stel­lung von hart­nä­cki­gen Gringo­ge­spens­tern, die in ih­rem ver­dorr­ten, ver­seng­ten Fleisch lei­den, wo ein Chris­ten­mensch ver­zich­tet hät­te und er­löst wor­den wäre.

Dies also sind die sa­gen­haf­ten Be­woh­ner von Azu­e­ra, die die ver­wun­sche­nen Schät­ze hü­ten; und der Schat­ten am Him­mel auf der einen Sei­te, der schwim­men­de bläu­li­che Ne­bel­fleck auf der an­de­ren kenn­zeich­nen die äu­ßers­ten Punk­te der tie­fen Ein­buch­tung, die den Na­men Gol­fo Pla­ci­do trägt, weil nie seit Men­schen­ge­den­ken ein star­ker Wind ihre Was­ser auf­ge­rührt hat.

Beim Pas­sie­ren der ge­dach­ten Li­nie zwi­schen Pun­ta Mala und Azu­e­ra ver­lie­ren die Schif­fe, die von Eu­ro­pa nach Su­la­co ge­hen, mit ein­mal die schar­fen Bri­sen des Ozeans und wer­den zur Beu­te lau­ni­scher Luft­strö­mun­gen, die oft vol­le drei­ßig Stun­den lang mit ih­nen ihr Spiel trei­ben. Vor den Schif­fen liegt das In­ne­re des stil­len Golfs an den meis­ten Ta­gen des Jah­res un­ter ei­ner reg­lo­sen Schicht opal­far­be­ner Wol­ken. An den sel­te­nen kla­ren Mor­gen liegt ein an­de­rer Schat­ten über der Was­ser­flä­che. Die Mor­gen­däm­me­rung bricht hoch hin­ter dem auf­ge­türm­ten, ra­gen­den Wall der Kor­dil­le­re an. Dunkle Gip­fel schnei­den scharf in den Him­mel; ihre Steil­hän­ge wach­sen aus ei­nem luf­ti­gen Un­ter­bau von Ur­wald, der un­mit­tel­bar von der Küs­te aus an­steigt. Weit über den an­de­ren ragt das wei­ße Haupt des Hi­gue­r­o­ta ma­je­stä­tisch ins Blau. Un­ge­heu­re Grup­pen nack­ter Fel­sen spren­keln die eben­mä­ßi­ge Schnee­flä­che mit schwar­zen Tup­fen.

Dann, wäh­rend die Mit­tags­son­ne den Schat­ten der Ber­ge aus dem Golf zu­rück­zieht, be­gin­nen die Wol­ken aus den nied­ri­gen Tä­lern her­vor­zu­quel­len. Sie ver­wi­schen in dunklem Wal­len die kan­ti­gen Rän­der der Schluch­ten über den be­wal­de­ten Hän­gen, ver­hül­len die Gip­fel, trei­ben in wind­ge­jag­ten Fet­zen quer über die Schnee­fel­der des Hi­gue­r­o­ta. Die Kor­dil­le­re ist dem Blick des Be­trach­ters ent­rückt, als hät­te sie sich in mäch­ti­ge Schwa­den grau­en und schwar­zen Duns­tes auf­ge­löst, die nun lang­sam der See zu­trei­ben und in der Ta­ges­glut in nichts zer­ge­hen. Die Kan­te der Ne­bel­wand giert im­mer nach der Mit­te des Golfs, er­reicht sie aber nur sel­ten. Die Son­ne isst sie auf, wie die See­leu­te sa­gen. Au­ßer etwa, es löst sich eine dunkle Ge­wit­ter­wol­ke von der Haupt­mas­se, jagt quer über den Golf und er­reicht die of­fe­ne See jen­seits Azu­e­ra, wo sie dann plötz­lich kra­chend Feu­er speit wie ein un­ge­heu­res luf­ti­ges Pi­ra­ten­schiff, das, hoch über dem Ho­ri­zont bei­ge­dreht, die See an­grif­fe.

Bei Nacht schiebt sich die Wol­ken­mas­se wei­ter am Him­mel vor und hüllt den ru­hi­gen Golf dar­un­ter in un­durch­dring­li­che Fins­ter­nis, in der man bald da, bald dort plötz­lich Re­gen­schau­er pras­seln hört. Tat­säch­lich sind die­se um­wölk­ten Näch­te sprich­wört­lich un­ter den See­leu­ten längs der gan­zen West­küs­te ei­nes großen Erd­teils. Him­mel, Land und See schwin­den zu­gleich aus der Welt, wenn der Pla­ci­do, wie die Leu­te es aus­drücken, sich un­ter sei­nem schwar­zen Pon­cho zur Ruhe legt. Die we­ni­gen Ster­ne, die ge­gen die See zu, un­ter­halb der Kan­te der Wol­ken­bank, üb­rig­blei­ben, leuch­ten schwach wie vor dem Sch­lund ei­ner schwar­zen Höh­le. Un­ter der las­ten­den De­cke treibt dein Schiff un­sicht­bar un­ter dei­nen Fü­ßen, die Se­gel flat­tern un­sicht­bar über dei­nem Kopf, so­gar das Auge Got­tes, fü­gen sie läs­ter­lich hin­zu, könn­te nicht ent­de­cken, wel­che Ar­beit ei­nes Man­nes Hand da un­ten tut; und es stün­de dir straf­los frei, den Teu­fel zur Hil­fe zu ru­fen, wür­de nicht auch sei­ne List an die­ser blin­den Fins­ter­nis zu­schan­den.

Die Ufer rings um den Golf sind durch­aus steil; drei un­be­wohn­te In­sel­chen wär­men sich im Son­nen­schein, ge­ra­de au­ßer­halb des Wol­ken­vor­hangs, ge­gen­über der Ein­fahrt zum Ha­fen von Su­la­co; es sind die »Isa­bel­len«.

Da ist die Gro­ße Isa­bel­le; die Klei­ne Isa­bel­le, ganz rund, und Her­mo­sa, die kleins­te.

Die­se letz­te­re ist kaum einen Fuß hoch und etwa sie­ben Schritt breit, nur eine graue Fels­flä­che, die nach ei­nem Re­gen wie ein Aschen­hau­fen raucht und die nie­mand vor Son­nen­un­ter­gang bloß­fü­ßig be­tre­ten wür­de. Aus der Klei­nen Isa­bel­le lässt eine alte, zer­zaus­te Pal­me mit star­kem, sta­che­li­gem Stamm, eine wah­re Hexe un­ter Pal­men, trüb­se­lig ihre dür­ren Blät­ter über den spär­li­chen Sand ra­scheln. Auf der Gro­ßen Isa­bel­le ent­springt eine Süß­was­ser­quel­le in dem be­wach­se­nen Hang ei­ner Schlucht. Das Ei­land äh­nelt ei­nem sma­ragd­grü­nen, etwa mei­len­lan­gen Keil und trägt zwei Wald­bäu­me, die eng zu­sam­men­ste­hen und eine wei­te Schat­ten­flä­che zu Fü­ßen ih­rer schlan­ken Stäm­me brei­ten. Eine Schlucht, die sich durch die gan­ze Län­ge der In­sel zieht, ist dicht mit Bü­schen be­stan­den; der Kamm fällt auf der einen Sei­te als stei­le Klip­pe zum Mee­re ab und ver­läuft auf der än­dern all­mäh­lich in einen schma­len Strei­fen san­di­gen Ufers.

Von die­sem nie­de­ren Ende der Gro­ßen Isa­bel­le dringt das Auge durch eine Lücke, etwa zwei Mei­len weit weg, die wie mit der Axt aus dem re­gel­mä­ßi­gen Schwung der Küs­te aus­ge­hau­en ist und ge­ra­de in den Ha­fen von Su­la­co führt. Auf der einen Sei­te kom­men die kur­z­en, wal­di­gen Aus­läu­fer und Tä­ler der Kor­dil­le­re bis hart an das Ufer her­un­ter, auf der an­de­ren Sei­te ver­liert sich die große Su­la­co-Ebe­ne in das opal­far­be­ne Ge­heim­nis end­lo­ser Wei­te, von tro­ckenem Dunst ver­hängt. Die Stadt Su­la­co selbst – Mau­er­käm­me, große Kup­peln, der Schim­mer wei­ßer Bal­ko­ne in­mit­ten wei­ter Oran­gen­hai­ne –, die Stadt liegt zwi­schen den Ber­gen und der Ebe­ne, et­was ent­fernt von ih­rem Ha­fen und nicht in der Seh­li­nie vom Mee­re aus.

II.

Als ein­zi­ges An­zei­chen ge­schäft­li­cher Be­trieb­sam­keit in­ner­halb des Ha­fens ist von der Gro­ßen Isa­bel­le aus der wuch­ti­ge Kopf der höl­zer­nen Lan­dungs­brücke zu er­ken­nen, den die Ocea­nic Steam Na­vi­ga­ti­on Com­pa­ny (die O. S. N., wie sie ge­nannt wird) über den seich­ten Teil der Bucht hat schla­gen las­sen, bald nach­dem sie sich ent­schlos­sen hat­te, aus Su­la­co einen ih­rer An­le­ge­hä­fen in der Re­pu­blik Cos­ta­gua­na zu ma­chen. Der Staat weist an sei­ner lan­gen Küs­te meh­re­re Hä­fen auf, die aber alle – Cay­ta, einen be­deu­ten­den Platz, aus­ge­nom­men – ent­we­der nur klei­ne, un­zu­gäng­li­che Ein­las­se in ei­nem Ei­sen­wall dar­stel­len – wie Es­me­ral­da zum Bei­spiel, sech­zig Mei­len süd­lich – oder nur of­fe­ne Ree­den, den Win­den aus­ge­setzt und von der Bran­dung ge­peitscht.

Vi­el­leicht hat­ten die at­mo­sphä­ri­schen Be­din­gun­gen, die die Kauf­fah­rer ver­gan­ge­ner Zei­ten fern­hiel­ten, die O. S. N. Kom­pa­gnie be­wo­gen, in den hei­li­gen Frie­den ein­zu­bre­chen, in dem Su­la­co sein ge­bor­ge­nes Da­sein führ­te. Die um­sprin­gen­den Bri­sen, die auf dem wei­ten Halb­kreis der Ge­wäs­ser in­ner­halb der Spit­ze von Azu­e­ra ihr Spiel trie­ben, konn­ten der Dampf­kraft der aus­ge­zeich­ne­ten Flot­te der Ge­sell­schaft nichts an­ha­ben. Jahr um Jahr wa­ren die schwar­zen Lei­ber ih­rer Schif­fe die Küs­te hin­auf und hin­un­ter ge­zo­gen, hin­ein und her­aus, über Azu­e­ra hin­aus, über die Isa­bel­len, über die Pun­ta Mala, ohne Rück­sicht auf ir­gen­det­was, au­ßer auf die Ty­ran­nei der Zeit. Ihre Na­men, alle aus der My­tho­lo­gie ent­lehnt, wur­den ver­trau­te Wor­te längs ei­ner Küs­te, die nie von den Göt­tern des Olym­ps be­herrscht wor­den war. Die Ju­no war le­dig­lich we­gen ih­rer be­que­men Mit­schiff­ka­jü­ten be­kannt, der Sa­turn we­gen der gu­ten Lau­ne sei­nes Ka­pi­täns und der präch­ti­gen Ver­gol­dung und Ma­le­rei des Sa­lons, wäh­rend der Ga­ny­me­d haupt­säch­lich für Viehtrans­port ein­ge­rich­tet war und von Küs­ten­pas­sa­gie­ren bes­ser ge­mie­den wur­de. Noch dem letz­ten In­dia­ner im ver­las­sens­ten Küs­ten­dorf war der Zer­be­rus ver­traut, ein klei­ner schwar­zer Rat­ter­kas­ten ohne nen­nens­wer­te Ein­rich­tung für Pas­sa­gie­re, des­sen Auf­ga­be dar­in be­stand, längs der wal­di­gen Küs­te un­ter den schau­er­li­chen Fel­sen hin­zu­krie­chen und ver­bind­lich vor je­der kleins­ten Grup­pe von Hüt­ten an­zu­hal­ten, um Lan­des­pro­duk­te ein­zu­neh­men, bis hin­un­ter zu Dreip­fund­pa­ke­ten von Roh­gum­mi, in dür­re Blät­ter ver­packt.

Und da sie sel­ten auch nur das kleins­te Pa­ket in Ver­lust ge­hen ließ, äu­ßerst sel­ten etwa einen Och­sen ein­büß­te und nie einen ein­zi­gen Pas­sa­gier er­tränkt hat­te, so stand der Name der O. S. N. in mäch­ti­gem An­se­hen. Die Leu­te er­kann­ten an, dass un­ter der Ob­hut der Ge­sell­schaft ihr Le­ben und ihr Ei­gen­tum auf dem Was­ser si­che­rer wä­ren als in ih­ren ei­ge­nen Häu­sern an Land.

Der In­spek­tor der O. S. N. in Su­la­co für den ge­sam­ten Dienstzweig Cos­ta­gua­na war über­aus stolz auf die Stel­lung sei­ner Ge­sell­schaft. Er fass­te das in einen Auss­pruch zu­sam­men, den er oft im Mun­de führ­te: »Wir ma­chen nie­mals Feh­ler.« Den Of­fi­zie­ren der Ge­sell­schaft ge­gen­über wur­de es zur ein­dring­li­chen Mah­nung: »Wir dür­fen kei­ne Feh­ler ma­chen. Ich will hier kei­ne Feh­ler ha­ben, ganz gleich, was Smith dort drü­ben auf sei­ner Sei­te tut!«

Smith, den er zeit sei­nes Le­bens nie mit Au­gen ge­se­hen hat­te, war der an­de­re In­spek­tor der Ge­sell­schaft, mit dem Dienst­sitz etwa fünf­zehn­hun­dert Mei­len weg von Su­la­co. »Re­den Sie mir nicht von Ihrem Smith.«

Dann pfleg­te er sich plötz­lich zu be­ru­hi­gen und den Ge­gen­stand mit ge­spiel­ter Nach­läs­sig­keit fal­len zu las­sen.

»Smith weiß von die­sem Land nicht mehr als ein Säug­ling.«

»Un­ser aus­ge­zeich­ne­ter Señor Mit­chell« für die Han­dels- und Be­am­ten­welt von Su­la­co; »der ge­schwät­zi­ge Joe« für die Ka­pi­tä­ne der Ge­sell­schaft, brüs­te­te sich Ka­pi­tän Jo­seph Mit­chell mit sei­ner tie­fen Kennt­nis von Men­schen und Din­gen im Lan­de – den »co­sas de Cos­ta­gua­na«. Un­ter die­sen Letz­te­ren hob er als äu­ßerst un­güns­tig für den ge­ord­ne­ten Dienst sei­ner Ge­sell­schaft die häu­fi­gen Re­gie­rungs­wech­sel her­vor, die durch Mi­li­tär­re­vol­ten im­mer wie­der her­bei­ge­führt wur­den.

Die po­li­ti­sche At­mo­sphä­re der Re­pu­blik war in je­nen Ta­gen durch­aus stür­misch. Die flüch­ti­gen Pa­trio­ten der un­ter­le­ge­nen Par­tei hat­ten die üble Ge­wohn­heit, im­mer wie­der längs der Küs­te auf­zu­rau­chen, mit ei­ner hal­b­en Schiffs­la­dung von Hand­feu­er­waf­fen und Mu­ni­ti­on. Die­se Be­trieb­sam­keit er­schi­en Ka­pi­tän Mit­chell ge­ra­de­zu wun­der­bar, im Hin­blick auf den Zu­stand völ­li­ger Ent­blö­ßung, in dem die Leu­te ge­flo­hen wa­ren. Er hat­te be­ob­ach­tet, dass sie »nie­mals ge­nug Klein­geld bei sich zu ha­ben schie­nen, um die Fahr­kar­te aus dem Lan­de hin­aus zah­len zu kön­nen«, und er konn­te aus Er­fah­rung spre­chen; denn bei ei­ner denk­wür­di­gen Ge­le­gen­heit war er be­ru­fen ge­we­sen, dem Dik­ta­tor zu­gleich mit ein paar ho­hen Be­am­ten von Su­la­co (dem Re­gie­rungs­prä­si­den­ten, dem Di­rek­tor des Zoll­amts und dem Po­li­zei­chef) das Le­ben zu ret­ten; die Her­ren hat­ten sämt­lich ei­ner ge­stürz­ten Re­gie­rung an­ge­hört. Der arme Senñor Ri­bie­ra (dies der Name des Dik­ta­tors) war arm­se­lig acht­zig Mei­len weit über Berg­pfa­de ge­kom­men, nach der ver­lo­re­nen Schlacht von So­cor­ro, in der Hoff­nung, der üb­len Kun­de den Weg ab­zu­lau­fen – was er na­tür­lich auf ei­nem lah­men Maul­tier nicht fer­tig­ge­bracht hat­te, über­dies ver­en­de­te das Tier un­ter ihm, ge­ra­de am Aus­gang der Ala­me­da, wo an den Aben­den zwi­schen den Re­vo­lu­tio­nen mit­un­ter die Mi­li­tär­mu­sik spiel­te. »Herr«, pfleg­te Ka­pi­tän Mit­chell mit wür­di­gem Ernst fort­zu­fah­ren, »das un­zei­ti­ge Ende des Mu­los1 lenk­te die Auf­merk­sam­keit auf den un­glück­li­chen Rei­ter. Sei­ne Züge wur­den von ei­ni­gen De­ser­teu­ren er­kannt, die von der Ar­mee des Dik­ta­tors ent­flö­hen und mit der Pö­bel­men­ge eben da­bei wa­ren, die Fens­ter­schei­ben der In­ten­dan­cia ein­zu­schla­gen.«

Am frü­hen Mor­gen je­nes Ta­ges hat­ten die Lo­kal­be­hör­den von Su­la­co in den Amts­räu­men der O. S. N. Zuf­lucht ge­sucht, ei­nem wuch­ti­gen Bau nächst dem Be­ginn der Lan­dungs­brücke, und hat­ten die Stadt auf Gna­de oder Un­gna­de den Auf­rüh­rern über­las­sen; und da der Dik­ta­tor beim Vol­ke ver­hasst war, we­gen der stren­gen Aus­he­bun­gen, zu der sei­ne Not­la­ge ihn ge­zwun­gen hat­te, so hat­te er die bes­te Aus­sicht, in Stücke ge­ris­sen zu wer­den. Durch eine Fü­gung war Nostro­mo – un­schätz­ba­rer Bur­sche – mit ein paar ita­lie­ni­schen Ar­bei­tern von der Na­tio­na­len Zen­tral­bahn zur Hand und brach­te es fer­tig, ihn her­aus­zu­hau­en, für den Au­gen­blick we­nigs­tens. Schließ­lich ge­lang es Ka­pi­tän Mit­chell, die gan­ze Ge­sell­schaft in sei­nem ei­ge­nen Gig auf einen der Damp­fer der Ge­sell­schaft zu brin­gen – es war die ›Mi­ner­va‹–, der zu gu­tem Glück eben in den Ha­fen ein­lief.

Er hat­te die Her­ren an ei­nem Tau durch ein Loch in der Rück­wand hin­un­ter­las­sen müs­sen, wäh­rend der Pö­bel, der aus der Stadt her­un­ter­ge­flu­tet war, sich längs des gan­zen Ufers sam­mel­te und vor der Haupt­front des Ge­bäu­des heul­te und tob­te. Da­nach muss­te Ka­pi­tän Mit­chell mit den Her­ren im Sturm­schritt die Lan­dungs­brücke hin­un­ter­ren­nen – ein ver­zwei­fel­tes Ren­nen ums lie­be Le­ben; und wie­der war es Nostro­mo, ein Bur­sche un­ter tau­send, der, dies­mal an der Spit­ze der La­de­ar­bei­ter der Ge­sell­schaft, die Lan­dungs­brücke ge­gen den An­sturm des Pö­bels hielt, und so den Flücht­lin­gen Zeit gab, das Gig zu er­rei­chen, das am an­de­ren Ende be­reit­lag, die Flag­ge der Ge­sell­schaft im Stern. Stö­cke, Stei­ne, Schüs­se schwirr­ten, auch Mes­ser wur­den ge­wor­fen. Ka­pi­tän Mit­chell zeig­te gern die lan­ge Schnitt­nar­be von sei­nem lin­ken Ohr zur Schlä­fe, die von ei­ner an einen Stock ge­bun­de­nen Ra­sier­klin­ge her­rühr­te – ei­ner Waf­fe, »bei dem übels­ten schwar­zen Ge­sin­del hier drau­ßen sehr be­liebt«, wie er er­klär­te.

Ka­pi­tän Mit­chell war ein star­ker, ält­li­cher Mann, der hohe, spit­ze Kra­gen und kur­z­en Ba­cken­bart trug, eine Vor­lie­be für wei­ße Wes­ten hat­te und trotz des An­scheins wür­di­ger Zu­rück­hal­tung äu­ßerst mit­teil­sam war.

»Die­se Her­ren«, pfleg­te er zu sa­gen und sah da­bei un­ge­mein fei­er­lich drein, »die­se Her­ren muss­ten ren­nen wie die Ka­nin­chen. Auch ich selbst bin wie ein Ka­nin­chen ge­rannt. Ge­wis­se To­des­ar­ten sind – äh – wi­der­wär­tig für einen – äh – acht­ba­ren Mann. Sie hät­ten mich auch zu Bo­den ge­tram­pelt; ein wil­der Pö­bel­hau­fe, Herr, kennt kei­nen Un­ter­schied. Nebst der Vor­se­hung dank­ten wir un­ser Le­ben mei­nem Ca­pa­taz de Car­ga­do­res, wie sie ihn in der Stadt nann­ten. Ei­nem Mann, der, als ich sei­nen Wert er­kann­te, ein­fa­cher Boots­mann auf ei­nem Ge­nue­ser Schiff war, ei­nem der we­ni­gen Schif­fe, das mit Stück­gut nach Su­la­co kam, be­vor der Aus­bau der Zen­tral­bahn be­gon­nen war. Der Mann ver­ließ sein Schiff, ei­ni­gen durch­aus acht­ba­ren Freun­den zu­lie­be, die er sich hier ge­macht hat­te, sei­nen ei­ge­nen Lands­leu­ten, doch wohl auch, um sich zu ver­bes­sern, neh­me ich an. Herr, ich bin ein ziem­lich gu­ter Men­schen­ken­ner. Ich stell­te ihn als Vor­mann der La­de­ar­bei­ter und Auf­se­her über die Lan­dungs­brücke an, das war al­les. Doch ohne ihn wäre Señor Ri­bie­ra ein to­ter Mann ge­we­sen. Die­ser Nostro­mo, Herr, ein Mann, der über je­den Vor­wurf er­ha­ben ist, wur­de zum Schre­cken al­ler Die­be in der Stadt. Wir wa­ren da­mals über­lau­fen, Herr, ja­wohl, ver­pes­tet ge­ra­de­zu von La­dro­nes und Ma­t­re­r­os, Die­ben und Mör­dern aus der gan­zen Pro­vinz. Bei je­ner Ge­le­gen­heit wa­ren sie vor­her eine Wo­che durch nach Su­la­co her­ein­ge­schneit. Sie hat­ten das Ende ge­wit­tert, Herr; fünf­zig Pro­zent des wil­den Pö­bel­hau­fens wa­ren Be­rufs­ban­di­ten aus dem Cam­po, aber nicht ei­ner war dar­un­ter, der nicht von Nostro­mo ge­hört ge­habt hät­te. Was nun die Le­pe­ros aus der Stadt an­geht, Herr, so war der blo­ße An­blick sei­nes schwar­zen Ba­cken­bar­tes und der wei­ßen Zäh­ne ge­nug für sie. Sie ver­kro­chen sich vor ihm, Herr. So viel ver­mag die Cha­rak­ter­stär­ke.«

Man konn­te sehr wohl sa­gen, dass Nostro­mo al­lein es war, der den Her­ren das Le­ben ret­te­te. Ka­pi­tän Mit­chell sei­ner­seits ver­ließ sie nicht eher, als bis er sie keu­chend, ent­setzt und ver­zwei­felt, doch in Si­cher­heit, auf den üp­pi­gen Samt­so­fas im Sa­lon ers­ter Klas­se der Mi­ner­va zu­sam­men­klap­pen ge­se­hen hat­te. Bis zu­letzt hat­te er es sich an­ge­le­gen sein las­sen, den Ex-Dik­ta­tor mit »Ew. Ex­zel­lenz« an­zu­re­den.

»Herr, ich konn­te nicht an­ders. Der Mann war ganz her­un­ter – grau­sig, to­ten­bleich, über und über zer­schun­den.«

Die Mi­ner­va warf da­mals gar nicht An­ker. Der In­spek­tor be­or­der­te sie un­ver­züg­lich aus dem Ha­fen hin­aus. Es konn­te kei­ne La­dung ge­löscht wer­den, und die Fahr­gäs­te für Su­la­co lehn­ten es na­tür­lich ab, an Land zu ge­hen. Sie konn­ten das Schie­ßen hö­ren und deut­lich ge­nug das Ge­fecht se­hen, das am Ufer im Gan­ge war. Der zu­rück­ge­schla­ge­ne Pö­bel­hau­fe wand­te sei­ne Ener­gie an einen An­griff auf das Zoll­amt, ein düs­te­res, un­fer­tig aus­se­hen­des Ge­bäu­de mit vie­len Fens­tern, zwei­hun­dert Me­ter weit von den Amts­räu­men der O. S. N. und das ein­zi­ge sons­ti­ge Ge­bäu­de am Ha­fen. Nach­dem Ka­pi­tän Mit­chell dem Kom­man­dan­ten der Mi­ner­va Auf­trag ge­ge­ben hat­te, »die­se Her­ren« im ers­ten An­le­ge­ha­fen au­ßer­halb Cos­ta­gua­nas an Land zu set­zen, fuhr er in sei­nem Gig zu­rück, um zu se­hen, was zum Schut­ze des Ei­gen­tums der Ge­sell­schaft zu tun wäre. Die­ses, wie auch das Ei­gen­tum der Bahn, wur­de von den an­säs­si­gen Eu­ro­pä­ern ver­tei­digt; das heißt, von Ka­pi­tän Mit­chell selbst und dem Stab von In­ge­nieu­ren, die die Bahn bau­ten, un­ter Bei­hil­fe der ita­lie­ni­schen und bas­ki­schen Ar­bei­ter, die sich treu um ihre eng­li­schen Füh­rer schar­ten. Auch die La­de­ar­bei­ter der Ge­sell­schaft, durch­weg Ein­hei­mi­sche, hiel­ten sich un­ter ih­rem Ca­pa­taz sehr gut. Ein zu­sam­men­ge­wür­fel­ter Hau­fen von sehr ge­misch­tem Blut, haupt­säch­lich Ne­ger, in ewi­ger Feh­de mit an­de­ren Stamm­gäs­ten der nie­de­ren Schnapss­chen­ken in der Stadt, nütz­ten sie mit Freu­den die Ge­le­gen­heit, un­ter so vor­teil­haf­ten Be­din­gun­gen ihre per­sön­li­chen Rech­nun­gen aus­zu­glei­chen. Nicht ei­ner war un­ter ih­nen, der nicht dann und wann ent­setzt in die Mün­dung von Nostro­mos Re­vol­ver ge­stiert hät­te, die ihm un­ter die Nase ge­hal­ten wur­de, oder sonst wie durch Nostro­mos Ent­schlos­sen­heit ge­bän­digt wor­den wäre. Er hat­te »viel von ei­nem Mann«, ihr Ca­pa­taz, ja­wohl, so sag­ten sie; war zu sehr von Ver­ach­tung durch­drun­gen, als dass er nur hät­te schimp­fen mö­gen. Ein un­er­bitt­li­cher Auf­se­her, dop­pelt zu fürch­ten we­gen sei­ner Ent­schlos­sen­heit. Und be­denkt! Da war er an die­sem Tage un­ter ih­nen, an ih­rer Spit­ze, und ließ sich zu Scherz­wor­ten an den oder je­nen Mann her­bei.

Eine sol­che Füh­rer­schaft war be­geis­ternd, und tat­säch­lich be­schränk­te sich der gan­ze Scha­de, den der Pö­bel an­zu­rich­ten ver­moch­te, dar­auf, dass an einen Stoß Ei­sen­bahn­schwel­len Feu­er ge­legt wur­de; die Schwel­len wa­ren mit Kreo­sot ge­tränkt und brann­ten gut. Der Haupt­an­griff auf den La­ger­hof der Ei­sen­bahn, auf das Ge­bäu­de der O. S. N. und be­son­ders auf das Zoll­amt, in des­sen Kas­sen­räu­men, wie man wohl wuss­te, ein rei­cher Schatz an Sil­ber lag, miss­lang völ­lig. So­gar das klei­ne Gast­haus des al­ten Gior­gio, das ein­sam auf hal­b­em Wege zwi­schen dem Ha­fen und der Stadt stand, ent­ging der Plün­de­rung und Zer­stö­rung, nicht durch ein Wun­der, son­dern weil es der Pö­bel we­gen der nä­her­lie­gen­den Kas­sen­schrän­ke zu­erst nicht be­ach­tet hat­te und nach­her kei­ne Muße mehr fand, sich da­mit auf­zu­hal­ten. Nostro­mo mit sei­nen Car­ga­do­res war da­mals schon zu scharf hin­ter der Men­ge her.

Maul­tier  <<<

III.

Man hät­te sa­gen kön­nen, dass er da­bei nur sein Ei­gen­tum ver­tei­dig­te. Von al­lem An­fang an hat­te er Zu­tritt zum engs­ten Fa­mi­li­en­kreis des Gast­wir­tes ge­fun­den, der sein Lands­mann war. Der alte Gior­gio Vio­la, ein Ge­nue­se mit zot­ti­gem, weißem Lö­wen­haupt – oft nur der »Ga­ri­bal­di­ner« ge­nannt (so wie Mo­ham­me­da­ner nach ih­rem Pro­phe­ten hei­ßen) –, der alte Vio­la also war, um Ka­pi­tän Mit­chells ei­ge­ne Wor­te zu ge­brau­chen, der »acht­ba­re, ver­hei­ra­te­te Freund«, auf des­sen Rat Nostro­mo sein Schiff ver­las­sen hat­te, um ab­wechs­lungs­hal­ber ein­mal sein Glück an Land, in Cos­ta­gua­na, zu ver­su­chen.

Der alte Mann, voll Ver­ach­tung für den Pö­bel, wie es der sit­ten­stren­ge Re­pu­bli­ka­ner so oft ist, hat­te die ers­ten Sturm­zei­chen miss­ach­tet. Er schlurf­te an je­nem Tage ganz wie sonst in sei­nen Pan­tof­feln durch die »Casa«, mur­mel­te da­bei är­ger­lich und ver­ach­tungs­voll et­was über die un­po­li­ti­sche Na­tur des Aufruhrs und zuck­te die Schul­tern dazu. Schließ­lich wur­de er un­vor­be­rei­tet von der hin­aus­stür­men­den Men­ge über­rascht. Da war es aber schon zu spät, sei­ne Fa­mi­lie in Si­cher­heit zu brin­gen – und wo hät­te er üb­ri­gens auf die­ser großen Ebe­ne mit der statt­li­chen Frau Te­resa und den zwei klei­nen Mäd­chen hin­lau­fen sol­len? So ver­ram­mel­te er also alle Aus­gän­ge und setz­te sich gleich­gül­tig mit­ten in das ver­dun­kel­te Café, ein al­tes Jagd­ge­wehr über den Kni­en. Sei­ne Frau saß auf dem an­de­ren Stuhl ne­ben ihm und rief mur­melnd alle Hei­li­gen des Ka­len­ders an.

Der alte Re­pu­bli­ka­ner glaub­te nicht an Hei­li­ge oder an Ge­be­te oder an das, was er »Pries­ter­re­li­gi­on« nann­te. Frei­heit und Ga­ri­bal­di wa­ren sei­ne Gott­hei­ten; doch dul­de­te er den »Aber­glau­ben« bei Frau­en und hat­te da­für nur ein ver­schlos­se­nes Schwei­gen.

Sei­ne bei­den Mäd­chen, die äl­tes­te vier­zehn, die an­de­re zwei Jah­re jün­ger, kau­er­ten auf dem sand­be­streu­ten Bo­den, jede an ei­ner Sei­te der Si­gno­ra Te­resa, die Köp­fe in der Mut­ter Schoß, bei­de er­schreckt, doch jede auf ihre Wei­se: Die dun­kel­haa­ri­ge Lin­da ent­rüs­tet und är­ger­lich, die blon­de Gi­sel­le, die jün­ge­re, be­stürzt und er­ge­ben. Die Pa­dro­na zog die Arme, die sie um ihre Töch­ter ge­schlun­gen hat­te, einen Au­gen­blick zu­rück, um sich zu be­kreu­zen und has­tig die Hän­de zu rin­gen. Sie wim­mer­te ein we­nig lau­ter.

»Oh! Gian’ Bat­tis­ta, warum bist du nicht hier? Oh! Wa­rum bist du nicht hier?«

Da­bei rief sie nicht den Hei­li­gen an, son­dern rief nach Nostro­mo, des­sen Na­men­spa­tron der Hei­li­ge war. Und Gior­gio, der reg­los auf sei­nem Stuhl ne­ben ihr saß, zeig­te sich ge­reizt über die­se vor­wurfs­vol­len, ab­ge­ris­se­nen Hil­fe­ru­fe.

»Ruhe, Weib! Was soll das? Er tut sei­ne Pf­licht«, mur­mel­te er ins Dun­kel; und sie gab keu­chend zu­rück:

»Ah! Ich habe kei­ne Ge­duld. Pf­licht! Und die Frau, die wie eine Mut­ter zu ihm war? Ich habe heu­te Mor­gen vor ihm ge­kniet: Geh nicht aus, Gian’ Bat­tis­ta – bleib im Haus, Bat­tis­ti­no – sieh auf die­se zwei un­schul­di­gen Kin­der!«

Auch Frau Vio­la war Ita­li­e­ne­rin, aus Spe­zia ge­bür­tig und, wenn auch we­sent­lich jün­ger als ihr Gat­te, doch schon in vor­ge­rück­ten Jah­ren. Sie hat­te ein hüb­sches Ge­sicht, des­sen Far­be aber gelb ge­wor­den war, da ihr das Kli­ma von Sut­a­co durch­aus nicht zu­sag­te. Ihre Stim­me war ein tö­nen­der Kon­tra-Alt. Wenn sie, bei­de Arme un­ter ih­rem mäch­ti­gen Bu­sen ge­kreuzt, die plum­pen, dick­bei­ni­gen Chi­ne­sen­mäd­chen aus­schalt, die mit der Wä­sche han­tier­ten, Hüh­ner rupf­ten oder in Holz­mör­sern Korn stampf­ten, in den aus Lehm ge­mau­er­ten Rück­ge­bäu­den des Hau­ses, dann konn­te sie einen so lei­den­schaft­lich klin­gen­den Gra­be­ston zu­we­ge brin­gen, dass der Ket­ten­hund mit großem Geras­sel in sei­ne Hüt­te flüch­te­te. Luis, ein zimt­far­be­ner Mu­lat­te mit kei­men­dem Schnurr­bart über den star­ken dunklen Lip­pen, hielt dann wohl da­mit inne, mit ei­nem Palm­be­sen das Café zu keh­ren, und ließ sich einen lei­sen Schau­der das Rück­grat hin­un­ter­lau­fen; sei­ne schmach­ten­den Man­delau­gen blie­ben für län­ge­re Zeit ge­schlos­sen.

Das war der Haus­stand der Casa Vio­la, doch alle die­se Leu­te wa­ren früh­mor­gens beim ers­ten Lärm des Aufruhrs ent­flo­hen, da sie es vor­zo­gen, sich auf der Ebe­ne zu ver­ber­gen, an­statt sich dem Haus an­zu­ver­trau­en; und sie wa­ren da­für kaum zu ta­deln, da es in der Stadt, ob mit Recht oder Un­recht, all­ge­mein hieß, dass der Ga­ri­bal­di­ner et­was Geld un­ter dem Lehm­bo­den der Kü­che ver­gra­ben habe. Der Hund, ein reiz­ba­res, zot­ti­ges Vieh, wech­sel­te zwi­schen wü­ten­dem Ge­bell und kläg­li­chem Heu­len, sprang aus sei­ner Hüt­te an der Rück­sei­te des Hau­ses oder kroch wie­der hin­ein, wie Wut oder Angst es ihm ein­ga­ben.

Plötz­li­ches Brül­len er­hob sich und erstarb wie­der, wie das Heu­len ei­nes Sturm­win­des auf der Ebe­ne rings um das ver­ram­mel­te Haus; das Knal­len von Schüs­sen tön­te lau­ter; da­zwi­schen gab es Pau­sen voll un­ver­ständ­li­chen Schwei­gens, und nichts konn­te hei­li­ger und fried­vol­ler sein als die schma­len Son­nen­strei­fen, die durch die Ris­se in den Lä­den quer durch das Café über das Durchein­an­der der Ti­sche und Stüh­le bis zur jen­sei­ti­gen Wand lie­fen. Der alte Gior­gio hat­te die­sen kah­len, weiß­ge­tünch­ten Raum als Zuf­luchts­ort ge­wählt. Er hat­te nur ein Fens­ter, und sei­ne ein­zi­ge Tür ging auf den stark ver­staub­ten Fahr­weg, der zwi­schen Aloe­he­cken vom Ha­fen nach der Stadt führ­te und auf dem klo­bi­ge Kar­ren hin­ter trä­gen Och­sen­ge­span­nen da­hin­zuäch­zen pfleg­ten, von be­rit­te­nen Jun­gen ge­lenkt.

Wäh­rend ei­ner stil­len Pau­se spann­te Gior­gio sein Ge­wehr. Der un­heil­kün­den­de Laut er­press­te der star­ren Ge­stalt der Frau ein lei­ses Stöh­nen. Ein jä­her Aus­bruch trot­zi­gen Ge­schreis ganz nahe beim Hau­se sank plötz­lich zu un­ter­drück­tem Mur­meln zu­sam­men; je­mand rann­te vor­bei; man hör­te einen Au­gen­blick lang sein keu­chen­des Atem­ho­len, knapp hin­ter der Türe, dazu hei­se­res Flüs­tern und Schrit­te an der Mau­er; eine Schul­ter strich ge­gen den Fens­ter­la­den und lösch­te die brei­ten Son­nen­strei­fen, die den gan­zen In­nen­raum durch­lie­fen. Si­gno­ra Te­resas Arme leg­ten sich en­ger um die kni­en­den Ge­stal­ten der Töch­ter.

Der Pö­bel, vom Zoll­amt zu­rück­ge­schla­gen, hat­te sich in meh­re­re Hau­fen zer­streut, die sich nun über die Ebe­ne auf die Stadt zu ver­lie­fen. Dem ge­dämpf­ten Kra­chen un­re­gel­mä­ßi­ger Sal­ven, die in der Fer­ne ab­ge­feu­ert wur­den, ant­wor­te­ten schwa­che Schreie, weit weg. In den Zwi­schen­pau­sen knall­ten ver­ein­zel­te Schüs­se, und das lang­ge­streck­te, nied­ri­ge wei­ße Ge­bäu­de mit den ge­schlos­se­nen Fens­ter­lä­den schi­en der Mit­tel­punkt ei­nes Aufruhrs, der im wei­ten Um­kreis die schwei­gen­de Ab­ge­schlos­sen­heit um­tob­te. Doch die vor­sich­ti­gen Be­we­gun­gen und das Ge­flüs­ter ei­ner ver­spreng­ten Grup­pe, die hin­ter der Rück­mau­er vor­über­ge­hend Schutz such­te, füll­ten den dunklen, von ru­hi­gen Son­nen­strei­fen durch­spiel­ten Raum mit bö­sen, heim­li­chen Lau­ten. Die dran­gen der Fa­mi­lie Vio­la ins Ohr, als hät­ten un­sicht­ba­re Ge­s­pens­ter ne­ben ih­ren Stüh­len flüs­ternd be­ra­ten, ob es emp­feh­lens­wert sei, an die Casa die­ses Frem­den Feu­er an­zu­le­gen. Es war auf­rei­bend. Der alte Vio­la hat­te sich lang­sam er­ho­ben, das Ge­wehr in der Hand, un­ent­schlos­sen, denn er sah nicht, wie er den Leu­ten hät­te weh­ren sol­len. Schon hör­te man Stim­men an der Rück­sei­te des Hau­ses. Si­gno­ra Te­resa war au­ßer sich vor Ent­set­zen.

»Ah! Der Ver­rä­ter!« mur­mel­te sie, fast un­hör­bar. »Nun sol­len wir ver­brannt wer­den; und ich habe vor ihm ge­kniet! Nein! Er muss sei­nen Eng­län­dern nach­lau­fen.«

Sie schi­en zu glau­ben, dass Nostro­mos blo­ße An­we­sen­heit im Hau­se es völ­lig si­cher ge­macht hät­te. So weit war auch sie im Bann des Ru­fes, den der Ca­pa­taz de Car­ga­do­res sich an der Was­ser­kan­te ge­schaf­fen hat­te, längs der Ei­sen­bahn, bei den Eng­län­dern wie bei der Be­völ­ke­rung von Su­la­co. Ihm ins Ge­sicht und so­gar ih­rem Gat­ten ge­gen­über tat sie un­wei­ger­lich so, als lach­te sie spöt­tisch dar­über, manch­mal gut­mü­tig, manch­mal mit selt­sa­mer Bit­ter­keit. Aber Frau­en sind ja un­ver­nünf­tig in ih­ren An­sich­ten, wie der alte Gior­gio ru­hig bei pas­sen­den Ge­le­gen­hei­ten zu be­mer­ken pfleg­te. Bei die­ser Ge­le­gen­heit, das Ge­wehr schuss­fer­tig im Arm, beug­te er sich zu sei­ner Frau nie­der und flüs­ter­te ihr, die Au­gen scharf auf die ver­ram­mel­te Tür ge­hef­tet, ins Ohr, dass auch Nostro­mo macht­los sein müss­te, zu hel­fen. Was könn­ten zwei Män­ner, in ei­nem Haus ein­ge­schlos­sen, ge­gen zwan­zig oder noch mehr tun, die sich an­schick­ten, Feu­er an das Dach zu le­gen? Gian’ Bat­tis­ta den­ke die gan­ze Zeit über an die Casa, des­sen sei er si­cher.

»Er, an die Casa den­ken, er!« keuch­te Si­gno­ra Vio­la wie irr. Sie schlug sich mit der fla­chen Hand auf die Brust: »Ich ken­ne ihn. Er denkt an nie­mand als an sich selbst.«

Eine Ge­wehr­sal­ve in nächs­ter Nähe ließ sie den Kopf zu­rück­wer­fen und die Au­gen schlie­ßen. Der alte Gior­gio biss un­ter sei­nem wei­ßen Schnurr­bart die Zäh­ne hart auf­ein­an­der, und sei­ne Au­gen be­gan­nen wild zu rol­len. Ein paar Ku­geln schlu­gen gleich­zei­tig in die Haus­mau­er; man hör­te drau­ßen den Ver­putz in großen Stücken nie­der­fal­len; eine Stim­me kreisch­te: »Da kom­men sie!«, und nach ei­nem Au­gen­blick las­ten­der Stil­le gab es ein Tram­peln ei­li­ger Füße längs der Vor­der­front.

Dann ließ die Span­nung in des al­ten Gior­gio Hal­tung nach, und ein Lä­cheln voll Ge­ring­schät­zung und Er­lö­sung trat auf die Lip­pen sei­nes krie­ge­ri­schen al­ten Lö­wen­ge­sich­tes. Dies war kein Volk, das für Ge­rech­tig­keit kämpf­te, son­dern ein Hau­fe von Die­ben. So­gar sein Le­ben ge­gen sie zu ver­tei­di­gen war eine Ent­wür­di­gung für einen Mann, der ei­ner von Ga­ri­bal­dis Uns­terb­li­chen Tau­send bei der Erobe­rung von Si­zi­li­en ge­we­sen war. Gior­gio fühl­te un­end­li­che Ver­ach­tung für die­sen Aufruhr von Schuf­ten und Le­pe­ros, die den Sinn des Wor­tes »Frei­heit« nicht kann­ten. Er setz­te sein al­tes Ge­wehr ab, wand­te den Kopf und sah nach der far­bi­gen Li­tho­gra­fie von Ga­ri­bal­di hin­über, die in schwar­zem Rah­men an der wei­ßen Wand hing; ein grel­ler Son­nen­strei­fen schnitt sie der Län­ge nach durch. Sei­ne Au­gen, an das Zwie­licht ge­wöhnt, un­ter­schie­den die grel­le Ge­sichts­far­be, das Rot des Hem­des, die Um­ris­se der brei­ten Schul­tern, den schwar­zen Fleck des Ber­saglie­ri­hu­tes,1 den der Hah­nen­fe­der­busch um­weh­te. Ein un­s­terb­li­cher Held! Er be­deu­te­te die Frei­heit; Frei­heit, die nicht nur Le­ben, son­dern auch Uns­terb­lich­keit schenk­te!

Sei­ne Be­geis­te­rung für die­sen Mann hat­te kei­ne Ver­än­de­rung er­fah­ren. Im Au­gen­blick, da ihm die Er­lö­sung aus der viel­leicht größ­ten Ge­fahr, der sei­ne Fa­mi­lie auf all ih­ren Wan­de­run­gen aus­ge­setzt ge­we­sen, zum Be­wusst­sein ge­kom­men war, hat­te er sich dem Bild sei­nes al­ten Füh­rers zu­ge­wandt, zu­erst und al­lein, und dann erst die Hand auf sei­nes Wei­bes Schul­tern ge­legt.

Die Kin­der, die auf dem Bo­den knie­ten, hat­ten sich nicht ge­rührt. Si­gno­ra Te­resa öff­ne­te die Au­gen ein we­nig, als hät­te er sie aus ei­nem sehr tie­fen, traum­lo­sen Schlaf ge­weckt. Be­vor er noch Zeit fand, in sei­ner über­leg­ten Art ein tröst­li­ches Wort zu sa­gen, sprang sie auf, wäh­rend die Kin­der noch, ei­nes an je­der Sei­te, sich an sie klam­mer­ten, schnapp­te nach Luft und stieß einen hei­se­ren Schrei aus.

Gleich­zei­tig wur­de ein schar­fer Schlag ge­gen die Au­ßen­sei­te des Fens­ter­la­dens ge­führt. Sie konn­ten plötz­lich das Schnau­ben ei­nes Pfer­des hö­ren, das Schar­ren un­ru­hi­ger Hufe auf dem schma­len Pflas­ter­weg vor dem Hau­se; eine Stie­fel­spit­ze stieß noch­mals ge­gen den Fens­ter­la­den, ein Sporn klirr­te bei je­dem Stoß, und eine auf­ge­reg­te Stim­me schrie: »Hol­la, hol­la, ihr da drin­nen!«

Die Ber­saglie­ri (von ita­lie­nisch ber­saglio: Ziel­schei­be) sind eine In­fan­te­rie­trup­pe des ita­lie­ni­schen Hee­res.  <<<

IV.

Den gan­zen Mor­gen über hat­te Nostro­mo von wei­tem ein Auge auf die Casa Vio­la ge­habt, so­gar wäh­rend des hei­ßes­ten Ge­tüm­mels um das Zoll­amt. »Wenn ich dort drü­ben Rauch auf­stei­gen sehe«, hat­te er sich ge­sagt, »dann sind sie ver­lo­ren.« – So­bald die Men­ge sich zur Flucht ge­wandt, hat­te er sich mit ei­ner klei­nen Ab­tei­lung ita­lie­ni­scher Ar­bei­ter in Rich­tung auf das Haus auf­ge­macht, das ja wirk­lich auf dem kür­zes­ten Wege nach der Stadt lag. Der ver­spreng­te Hau­fe, dem er auf den Fer­sen war, schi­en sich hin­ter dem Haus noch­mals fest­set­zen zu wol­len; eine Sal­ve, die sei­ne Leu­te hin­ter ei­ner Aloe­he­cke her­vor ab­ga­ben, brach­te das Ge­sin­del auf den Trab: In ei­ner Lücke, die in die He­cke für die Zweig­li­nie der Bahn nach dem Ha­fen ge­schla­gen war, tauch­te Nostro­mo auf sei­ner sil­ber­grau­en Stu­te auf. Er brüll­te, sand­te den Flie­hen­den einen Schuss aus sei­nem Re­vol­ver nach und spreng­te an das Fens­ter des Cafés hin. Er hat­te es im Ge­fühl, dass der alte Gior­gio in die­sem Teil des Hau­ses Zuf­lucht ge­sucht ha­ben wür­de.

Sei­ne Stim­me hat­te der Fa­mi­lie im Hau­se atem­los has­tig ge­klun­gen. »Hal­lo! Vec­chio! Oh, Vec­chio! Ist al­les wohl bei euch da drin?«

»Du siehst …«, mur­mel­te der alte Vio­la sei­ner Frau zu.

Die Si­gno­ra Te­resa war nun still. Drau­ßen lach­te Nostro­mo.

»Ich kann hö­ren, dass die Pa­dro­na nicht tot ist.«

»Du hast dein Bes­tes ge­tan, um mich durch die Angst um­zu­brin­gen«, rief Si­gno­ra Te­resa. Sie woll­te noch mehr sa­gen, doch die Stim­me brach ihr.

Lin­da er­hob kurz die Au­gen zu ihr, der alte Gior­gio aber rief ent­schul­di­gend:

»Sie ist ein biss­chen auf­ge­regt.«

Von drau­ßen brüll­te Nostro­mo wie­der la­chend zu­rück:

»Mich kann sie nicht auf­re­gen!«

Si­gno­ra Te­resa fand ihre Stim­me wie­der:

»Es ist so, wie ich sage. Du hast kein Herz – und du hast kein Ge­wis­sen, Gian’ Bat­tis­ta …«

Sie hör­te, wie er drau­ßen sein Pferd her­um­warf; die Leu­te, die er an­führ­te, schwatz­ten auf­ge­regt, ita­lie­nisch und spa­nisch, und mach­ten ein­an­der Mut zur Ver­fol­gung. Er setz­te sich an ihre Spit­ze mit dem Ruf: »Avan­ti!«

»Er hat sich nicht lan­ge mit uns auf­ge­hal­ten. Hier ist kein Lob von Frem­den zu ver­die­nen«, mein­te Si­gno­ra Te­resa tra­gisch. »Avan­ti! Ja­wohl! Das ist al­les, worum er sich küm­mert. Ir­gend­wo der Ers­te zu sein – ir­gend­wie – der Ers­te bei die­sen Eng­län­dern. Sie wer­den ihn je­der­mann zei­gen: ›Das ist un­ser Nostro­mo!‹« Sie lach­te ver­ächt­lich. »Was für ein Name! Was ist das? Nostro­mo? Er wür­de von ih­nen einen Na­men an­neh­men, der gar kein Wort mehr ist.«

In­zwi­schen hat­te Gior­gio mit ru­hi­gen Be­we­gun­gen die Türe frei­ge­macht; das grel­le Licht fiel auf Si­gno­ra Te­resa, eine ma­le­ri­sche Frau, die in auf­ge­reg­ter Müt­ter­lich­keit ihre bei­den Töch­ter um­schlun­gen hielt. Hin­ter ihr leuch­te­te die Wand blen­dend weiß, und die grel­len Far­ben der Ga­ri­bal­di-Li­tho­gra­fie ver­blass­ten im Son­nen­schein.

Der alte Vio­la an der Türe reck­te den Arm em­por, als woll­te er all sei­ne ein­an­der ja­gen­den Ge­dan­ken dem Bild sei­nes al­ten Füh­rers an der Wand be­feh­len. So­gar wenn er für die »Si­gno­ri Ingle­si« koch­te – für die In­ge­nieu­re (er war ein aus­ge­zeich­ne­ter Koch, ob­wohl die Kü­che sehr fins­ter war), selbst dann fühl­te er sich so­zu­sa­gen un­ter dem Auge des Gro­ßen, der in ei­nem glor­rei­chen Kampf sein Füh­rer ge­we­sen war, in ei­nem Kamp­fe, der un­ter den Mau­ern von Gae­ta den To­dess­toß für die Ty­ran­nei be­deu­tet hät­te, wäre nicht die ver­fluch­te pie­mon­te­si­sche Ras­se von Kö­ni­gen und Mi­nis­tern ge­we­sen. Wenn mit­un­ter eine Brat­pfan­ne wäh­rend ei­ner hei­klen Ope­ra­ti­on mit ein paar Zwie­bel­schnit­zeln Feu­er fing und man den al­ten Mann rück­lings in ei­ner Wol­ke ät­zen­den Rauchs aus der Türe kom­men sah, flu­chend und hus­tend, dann konn­te man den Na­men Ca­vours, des an Kö­ni­ge und Ty­ran­nen ver­kauf­ten Erz­schur­ken, ge­mengt hö­ren mit Ver­wün­schun­gen ge­gen die Chi­ne­sen­mäd­chen, das Ko­chen im All­ge­mei­nen und das vie­hi­sche Land, in dem er aus rei­ner Lie­be zur Frei­heit, die je­ner Schur­ke er­dros­selt hat­te, zu le­ben ge­zwun­gen war.

Dann kam wohl Si­gno­ra Te­resa, ganz in Schwarz, aus ei­ner än­dern Türe, nä­her­te sich wür­dig be­sorgt, neig­te ihr schö­nes, dun­kel­haa­ri­ges Haupt, öff­ne­te die Arme und klag­te in tie­fen Tö­nen:

»Gior­gio! Du un­be­son­ne­ner Mann! Mi­se­ri­cor­dia di­vi­na! So bloß in der Son­ne! Er wird sich den Tod ho­len!«

Un­ter ih­ren Fü­ßen sto­ben die Hen­nen mit lan­gen Schrit­ten in alle Rich­tun­gen aus­ein­an­der; wenn ge­ra­de ein paar In­ge­nieu­re von der Stre­cke in Su­la­co wa­ren, dann er­schi­en wohl das eine oder an­de­re jun­ge Eng­län­der­ge­sicht in der Türe des Bil­lard­zim­mers, das am einen Ende des Hau­ses lag. Am an­de­ren Ende aber, im Café, hü­te­te sich Luis, der Mu­lat­te, wohl­weis­lich, sich zu zei­gen; die In­dia­ner­mäd­chen, mit Haa­ren wie schwar­ze Mäh­nen und mit ei­nem Hemd und kur­z­em Rock als ein­zi­ger Be­klei­dung, gaff­ten mit großen Au­gen un­ter den Pony­fran­sen her­vor, die ih­nen in die Stir­ne fie­len; das lau­te Brut­zeln des Fet­tes erstarb all­mäh­lich, die Rauch­schwa­den ver­weh­ten im Son­nen­schein, der schar­fe Ge­ruch ver­brann­ter Zwie­beln hing in der brü­ten­den Hit­ze rings um das Haus; und das Auge ver­lor sich in der Wei­te der gra­si­gen Ebe­ne nach Wes­ten zu, als wäre die Ebe­ne zwi­schen der Su­la­co über­ra­gen­den Sier­ra und der Küs­ten­li­nie ge­gen Es­me­ral­da zu groß wie die hal­be Welt.

Nach ei­ner klei­nen Pau­se fuhr Si­gno­ra Te­resa vor­wurfs­voll fort:

»Eh, Gior­gio! Lass Ca­vour in Frie­den und Pass auf dich selbst auf, da wir nun doch ganz al­lein mit zwei Kin­dern in die­ses Land ver­schla­gen sind – weil du un­ter ei­nem Kö­nig nicht le­ben kannst!«

Und wäh­rend sie ihn an­sah, griff sie sich wohl manch­mal an die Sei­te, mit ei­nem kur­z­en Zu­cken ih­rer fei­nen Lip­pen und ei­nem Run­zeln der schwar­zen, ge­ra­den Au­gen­brau­en, das wie das Fla­ckern ei­nes är­ger­li­chen Schmer­zes oder Ge­dan­kens ihre schö­nen, re­gel­mä­ßi­gen Züge über­flog.

Es war Schmerz: Sie un­ter­drück­te die Qual. Es hat­te sie zu­erst be­fal­len, we­ni­ge Jah­re, nach­dem sie Ita­li­en ver­las­sen hat­te, um nach Ame­ri­ka aus­zu­wan­dern und sich schließ­lich in Su­la­co nie­der­zu­las­sen – nach Irr­fahr­ten von Stadt zu Stadt, wo­bei sie da und dort ver­sucht hat­ten, einen klei­nen La­den zu füh­ren; ein­mal auch ein re­gel­rech­tes Fi­sche­rei­un­ter­neh­men in Mal­do­na­do; denn Gior­gio war, wie der Gro­ße Ga­ri­bal­di, sei­ner­zeit See­mann ge­we­sen.

Manch­mal brach­te sie kei­ne Ge­duld für die Schmer­zen auf. Durch lan­ge Jah­re hat­te die­se na­gen­de Pein mit zu der Land­schaft ge­hört, die das Glit­zern des Ha­fen­be­ckens un­ter­halb der be­wal­de­ten Aus­läu­fer der Berg­ket­te um­fass­te; und so­gar der Son­nen­schein selbst war schwer und dumpf – ge­la­den mit Schmerz –, nicht wie der Son­nen­schein ih­rer Mäd­chen­zeit, da Gior­gio, in mitt­le­ren Jah­ren, ernst und lei­den­schaft­lich an den Ufern des Golfs von Spe­zia um sie ge­wor­ben hat­te.

»Komm so­fort ins Haus, Gior­gio«, be­fahl sie. »Man könn­te mei­nen, dass du gar kein Mit­leid mit mir ha­ben willst – wo wir doch vier Si­gno­ri Ingle­si im Hau­se ha­ben.«

»Va bene, va bene«, mur­mel­te Gior­gio dann.

Er ge­horch­te. Die Si­gno­ri Ingle­si wür­den wohl schleu­nigst ihr Mit­tags­mahl ha­ben wol­len. Er war ei­ner aus der un­s­terb­li­chen und un­be­sieg­li­chen Schar von Be­frei­ern ge­we­sen, die die Söld­lin­ge der Ty­ran­nei in alle Win­de zer­streut hat­te, wie ein Or­kan, »an’u­ra­ga­no ter­ri­bi­le«, die Spreu. Doch das war, be­vor er ge­hei­ra­tet und Kin­der ge­habt und be­vor die Ty­ran­nei wie­der ihr Haupt er­ho­ben hat­te, un­ter Ver­rä­tern, die Ga­ri­bal­di, sei­nen Hel­den, ein­ge­ker­kert hat­ten.

Die Stirn­sei­te des Hau­ses wies drei Tü­ren auf, und je­den Nach­mit­tag konn­te man den Ga­ri­bal­di­ner in der einen oder än­dern se­hen, mit sei­nem mäch­ti­gen wei­ßen Haar­busch, die Arme ge­kreuzt, ein Bein über­ge­schla­gen, sein Lö­wen­haupt ge­gen den Pfos­ten ge­lehnt, den Blick über die wal­di­gen Hän­ge der Hü­gel hin­weg auf den ei­si­gen Dom des Hi­gue­r­o­ta ge­rich­tet. Die Stirn­sei­te sei­nes Hau­ses warf einen lang­ge­streck­ten, recht­e­cki­gen Schat­ten, der lang­sam über den stau­bi­gen Och­sen­weg hin­kroch; durch die Lücke in den Ole­an­der­he­cken lie­fen die zeit­wei­lig über die Ebe­ne ge­leg­ten Stahl­bän­der der Ha­fen­zweig­bahn in­mit­ten ei­nes Gür­tels ver­seng­ten und ver­gilb­ten Gra­ses etwa fünf­zig Me­ter von der Hau­se­cke vor­bei. Abends um­fuh­ren die lee­ren Ma­te­ri­al­zü­ge in wei­tem Bo­gen den dun­kel­grü­nen Hain von Su­la­co und lie­fen un­ter wei­ßen Dampf­wol­ken, lei­se schwan­kend, auf ih­rem Wege zu dem La­ger­bahn­hof am Ha­fen bei der Casa Vio­la vor­bei. Die ita­lie­ni­schen Ma­schi­nis­ten grüß­ten den Al­ten von der Platt­form aus mit er­ho­be­ner Hand, wäh­rend die schwar­zen Brem­ser un­be­küm­mert in ih­ren Häu­schen sa­ßen und un­ter den brei­ten Krem­pen ih­rer Hüte her­vor, die im Win­de flat­ter­ten, starr ge­ra­de­aus blick­ten. Gior­gio pfleg­te mit ei­nem leich­ten seit­li­chen Kopf­ni­cken zu dan­ken, ohne die ver­schränk­ten Arme zu lö­sen.

An die­sem denk­wür­di­gen Tage des Aufruhrs wa­ren sei­ne Arme nicht über der Brust ver­schränkt. Sei­ne Hän­de um­klam­mer­ten den Lauf des Ge­wehrs, des­sen Kol­ben er auf die Schwel­le ge­stützt hielt. Er sah nicht ein­mal zu dem wei­ßen Dom des Hi­gue­r­o­ta auf, des­sen küh­le Rein­heit sich der hei­ßen Erde fern­zu­hal­ten schi­en. Sei­ne Au­gen durch­späh­ten eif­rig die Ebe­ne. Da und dort stan­den noch klei­ne Staub­wir­bel in der Luft, am ma­kel­lo­sen Him­mel hing klar und blen­dend die Son­ne. Klei­ne Grup­pen von Men­schen lie­fen aus Lei­bes­kräf­ten; an­de­re hiel­ten stand; und das un­re­gel­mä­ßi­ge Knat­tern von Schüs­sen drang durch die tro­ckene, hei­ße Luft. Ein­zel­ne Fuß­gän­ger rann­ten Hals über Kopf da­hin; Rei­ter ga­lop­pier­ten auf­ein­an­der zu, war­fen gleich­zei­tig die Pfer­de her­um und trenn­ten sich im Ga­lopp. Gior­gio sah einen stür­zen, wo­bei Ross und Rei­ter ver­schwan­den, als wä­ren sie in einen Ab­grund ga­lop­piert. Die Be­we­gun­gen des be­leb­ten Bil­des wirk­ten wie die Wech­sel­fäl­le ei­nes wil­den Spiels, auf der Ebe­ne von Zwer­gen zu Pferd und zu Fuß ge­spielt, die aus schwa­chen Keh­len schri­en, un­ter der Berg­ket­te, die wie eine Burg des Schwei­gens dalag. Nie zu­vor hat­te Gior­gio die­sen Teil der Ebe­ne so voll wil­den Le­bens ge­se­hen; sein Blick konn­te nicht alle Ein­zel­hei­ten zu­gleich auf­neh­men; er be­schat­te­te die Au­gen mit der Hand, bis ihn auf ein­mal das Don­nern vie­ler Hufe na­he­bei er­schreck­te.

Eine Kop­pel Pfer­de war aus der nahe ge­le­ge­nen Um­zäu­nung der Bahn­ge­sell­schaft aus­ge­bro­chen, kam nun wie ein Wir­bel­wind da­her und saus­te über die Bahn­li­nie weg, schnau­bend, stamp­fend, wie­hernd, in ei­ner ge­drängt wo­gen­den Mas­se fuch­si­ger, brau­ner, grau­er Rücken: Au­gen blitz­ten auf, Häl­se streck­ten sich, Nüs­tern leuch­te­ten rot, und Lang­schwei­fe weh­ten. So­bald sie auf die Stra­ße ge­langt wa­ren, wir­bel­te der di­cke Staub un­ter ih­ren Hu­fen em­por, und fünf Me­ter von Gior­gio weg ver­schwamm al­les zu ei­ner dunklen Wol­ke, aus der un­deut­lich die For­men von Häl­sen und Krup­pen her­vor­rag­ten und die vor­bei­trieb und den Bo­den er­zit­tern ließ. Vio­la hus­te­te, wand­te das Ge­sicht vom Staub weg und schüt­tel­te leicht den Kopf.

»Da wird es heu­te Abend noch eine Pfer­de­jagd ge­ben«, mur­mel­te er.

In dem brei­ten Son­nen­fleck, der durch die Türe drang, war Si­gno­ra Te­resa vor ih­rem Stuhl nie­der­ge­kniet und hat­te ihr Haupt mit der wir­ren Mas­se eben­holz­schwar­zen, von Sil­ber­sträh­nen durch­zo­ge­nen Haa­res in den Hän­den ge­bor­gen. Der schwar­ze Spit­zen­schal, den sie um ihr Ge­sicht zu win­den pfleg­te, war ne­ben ihr zu Bo­den ge­sun­ken. Die bei­den Mäd­chen hat­ten sich er­ho­ben und stan­den nun Hand in Hand, in kur­z­en Klei­dern, mit zer­zaust nie­der­fal­len­dem, lo­sem Haar. Die jün­ge­re hat­te den Arm vor die Au­gen ge­legt, als fürch­te­te sie das Licht. Lin­da, die Hand auf der Schwes­ter Schul­ter, blick­te furcht­los vor sich hin. Vio­la sah sei­ne Kin­der an. Die Son­ne ent­hüll­te die tie­fen Fal­ten in sei­nem Ge­sicht, das, ener­gisch im Aus­druck, un­be­weg­lich wie ein Schnitz­werk schi­en; es war un­mög­lich, zu ent­de­cken, was er dach­te. Bu­schi­ge wei­ße Au­gen­brau­en über­schat­te­ten sei­nen dunklen Blick.

»Nun? Ihr be­tet nicht, wie eure Mut­ter?«

Lin­da schob schmol­lend die Lip­pen vor, die fast zu rot schie­nen; doch sie hat­te wun­der­vol­le Au­gen, braun, mit ei­nem gol­di­gen Schim­mer in der Iris, blitz­ge­scheit, aus­drucks­fä­hig und so leuch­tend, dass sie einen Glanz über ihr schma­les, farb­lo­ses Ge­sicht zu wer­fen schie­nen. Bron­ze­lich­ter glänz­ten in den dunklen Haar­wel­len auf, und die lan­gen, kohl­schwar­zen Wim­pern ver­tief­ten noch die Bläs­se des Ge­sichts.