Not Another Love Song - Julie Soto - E-Book

Not Another Love Song E-Book

Julie Soto

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Beschreibung

»Julie Soto ist meine absolute Lieblingsautorin. Ich verschlinge alles, was sie schreibt!« Ali Hazelwood

Schon als Mädchen träumte Gwen Jackson von der großen Bühne und brachte sich selbst das Violinspiel bei. Heute, mit Anfang zwanzig, ist sie eine der Geigerinnen des Manhattan Pops Orchestra und geht in ihrer Musik auf. Doch als Gwen für die prestigeträchtige Stelle der Konzertmeisterin ausgewählt wird und das Orchester führen muss, wird sie mit einem Problem konfrontiert: Xander Thorne. Der 1,90 Meter große Cellist und Star der gefeierten Rockband Thorne and Roses ist bekannt für seine Allüren. Gwen fand ihn wegen seines leidenschaftlichen Spiels insgeheim schon immer heiß, aber mit ihrer Beförderung müssen die beiden plötzlich eng zusammenarbeiten. Xander lässt keine Gelegenheit aus, Gwen zu kritisieren und sie mit seinen dunklen Augen zu durchbohren. Doch sooft sie auch aneinandergeraten, niemand kann die elektrisierende Verbindung zwischen ihnen leugnen, wenn sie gemeinsam spielen. Am wenigsten Gwen selbst ...

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Seitenzahl: 514

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Buch

Schon als Mädchen träumte Gwen Jackson von der großen Bühne und brachte sich selbst das Violinspiel bei. Heute, mit Anfang zwanzig, ist sie eine der Geigerinnen des Manhattan Pops Orchestra und geht in ihrer Musik auf. Doch als Gwen für die prestigeträchtige Stelle der Konzertmeisterin ausgewählt wird und das Orchester führen muss, wird sie mit einem Problem konfrontiert: Xander Thorne. Der 1,90 Meter große Cellist und Star der gefeierten Rockband Thorne and Roses ist bekannt für seine Allüren. Gwen fand ihn wegen seines leidenschaftlichen Spiels insgeheim schon immer heiß, aber mit ihrer Beförderung müssen die beiden plötzlich eng zusammenarbeiten. Xander lässt keine Gelegenheit aus, Gwen zu kritisieren und sie mit seinen dunklen Augen zu durchbohren. Doch sooft sie auch aneinandergeraten, niemand kann die elektrisierende Verbindung zwischen ihnen leugnen, wenn sie gemeinsam spielen. Am wenigsten Gwen selbst …

Autorin

Julie Soto pendelte viele Jahre zwischen New York und Kalifornien, ehe sie sich an der Pazifikküste in Fort Bragg niederließ. Sie ist ein großer Buffy-Fan, verbringt ihre Tage mit ihrem Bichon-Pudel, dem Schreiben von Romances, Rom-Coms und YA-Romanen. Im Hintergrund läuft dabei meistens eine Jane-Austen-Verfilmung.

Julie Soto im Goldmann Verlag:

Wedding Date. Roman

Not Another Love Song. Roman

( Alle auch als E-Book erhältlich)

Julie Soto

Not Another Love Song

Roman

Aus dem Englischen

von Bettina Hengesbach

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Not Another Love Song« bei Forever, an imprint of Grand Central Publishing, New York.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Mining nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstveröffentlichung August 2024

Copyright © 2024 by Julie Soto

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: © FinePic®, München, © Nikita Jobson unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com (NFNArts)

Redaktion: Melike Karamustafa

MR · Herstellung: ik

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-30490-4V001

www.goldmann-verlag.de

Für Mom, die mir nicht erlaubt hat, Geige zu spielen.

Gute Entscheidung.

1

In der Highschool war Gwen ein Zitat von Shakespeare begegnet: »Musik ist der Liebe Nahrung.« Als sie es mit sechzehn zum ersten Mal las, glaubte sie, dass sich ihr Liebesleben vielleicht in die richtige Richtung entwickelte. Zu dem Zeitpunkt spielte sie bereits seit fünf Jahren Geige, beherrschte das Violinkonzert von Tschaikowski zur Hälfte und wusste, dass sie an der Juilliard studieren, sich in einen Musiker verlieben und für den Rest ihres Lebens mit ihm zusammen wunderschöne Musik machen würde.

Jetzt, nach elf Jahren, in denen sie nur Geige gespielt und keine einzige grandiose Liebesbeziehung gehabt hatte, erkannte sie, dass Shakespeare vielleicht Blödsinn erzählt hatte.

Der Uber-Fahrer drosselte die Geschwindigkeit und drehte sich zu ihr um. »Ist es hier?«

Gwen zog sich einen der billigen Earbuds aus dem Ohr, pausierte das Imagine-Dragons-Cover in der E-Cello-Version und betrachtete durch die getönte Scheibe das Haus.

Oder besser gesagt das Anwesen.

Vielleicht sogar den Palast.

Sie beobachtete die Leute von der Catering-Firma und die Floristen, die die Einfahrt hinaufliefen. Schließlich ruhte ihr Blick auf dem Parkwächter, der sich nun dem Wagen näherte. Es gab einen verdammten Parkservice? Mitten in New Jersey?

»Sieht so aus«, erwiderte sie. »Vielen Dank. Definitiv fünf Sterne.«

Gwen griff nach ihrem Geigenkoffer, zupfte ihr schwarzes Kleid zurecht und rutschte vom Sitz. Dabei ließ sie den Parkwächter wissen, dass sie zum Personal gehörte und er ihr nicht die Tür aufhalten musste.

Sie blickte an dem zweistöckigen Gebäude aus weißem Backstein auf der offenen Rasenfläche hinauf. In Manhattan hätte es wahrscheinlich nicht mehr als einen halben Block eingenommen, aber in einem Vorort von New Jersey wirkte es geradezu majestätisch. Sie presste den Geigenkoffer eng an sich, strich sich den dunklen rötlich braunen Pony aus den Augen und folgte den anderen Angestellten über die Einfahrt bis in den Garten hinter dem Haus.

Oder Park.

Vielleicht auch Naturschutzgebiet.

Mit offenem Mund stand sie da und betrachtete die durchdacht angeordneten Bäume, den Teich und … die Schwäne? Lebendige Schwäne? Sie hatte schon öfter auf Hochzeiten gespielt, aber noch nie in einem Garten wie diesem. Zu ihrer Linken, in der Nähe der Garage für drei Autos, war der Bereich für die Feier mit einer Tanzfläche und etwa zwanzig runden Tischen vorbereitet worden. Geradeaus war ein wunderschöner Blumenbogen vor den Stuhlreihen aufgebaut. Zu ihrer Rechten stand ein schwarzer Steinway-Flügel auf dem Rasen. Ein junger Mann winkte ihr vom Klavier aus zu – Jacob Diaz, ihr Mitbewohner, bester Freund und Duettpartner.

Während sie ihn ansteuerte, warf Gwen einen Blick auf ihr Handy.

15:07 Uhr.

Sonst kam sie nie zu spät. Sie schämte sich fürchterlich.

Der New Jersey Transit hatte es nicht gut mit ihr gemeint, weswegen sie sich mitten im Nirgendwo ein Uber hatte bestellen müssen, um wenigstens halbwegs pünktlich anzukommen. Die Fahrt hatte sie die Hälfte des Honorars gekostet, das sie für diesen Auftritt erhalten würde, aber wenn sie ihren Ruf für andere High-Society-Hochzeiten ruinierte, würde sie sich das nie verzeihen.

»Willkommen zu Hause, Darling«, scherzte Jacob mit aufgesetztem britischem Akzent. Er sah umwerfend aus in seinem schwarzen Hemd, dessen Ärmel er umgekrempelt hatte, und der grauen Stoffhose.

»Darling, ich muss dieses Haus haben«, erwiderte sie, ebenfalls mit britischem Akzent, den sie immer benutzte, wenn sie durch schicke Wohnsiedlungen schlenderten. »Sag Harold, er soll sofort ein Angebot abgeben. Ganz egal, was es kostet.«

»Ich habe es mir auf dem Weg hierher auf Zillow angesehen.« Seine braunen Augen leuchteten. »Acht Schlafzimmer, Gwen. Acht.«

»Wie teuer?«

»Das kann ich dir nicht sagen, sonst wirst du ohnmächtig.«

Gwen schnaubte und holte ihre Mappe heraus. Ihr Notenständer war bereits aufgestellt, ebenso wie ein Stuhl, womit auch die Frage beantwortet war, ob ihre Auftraggeber es lieber hatten, wenn sie saß oder stand.

Jacob hatte den Auftritt erst letzte Woche an Land gezogen. Das Duo, das eigentlich hätte spielen sollen, hatte abgesagt, weil sich einer von ihnen das Handgelenk gebrochen hatte, sodass sich der Assistent der Hochzeitsplanerin an sie gewandt hatte. Zum Glück war Gwen nicht die Art Mensch, der samstagnachmittags Pläne hatte, denn die Bezahlung war unverschämt gut.

»Die Hochzeitsplanerin hat sich gerade nach dem Stand der Dinge erkundigt. Ich hab ihr gesagt, dein Uber sei jede Sekunde hier. Bin echt froh, dass das keine Lüge war.«

»Ist sie sauer?« Gwen öffnete ihren Geigenkoffer.

»Nein, aber es gibt da diese Brautjungfer, die ein bisschen übereifrig ist.« Jacob winkte ab. »Sie fragt andauernd, warum ich noch nicht spiele, und ich nur so: ›Warum kümmern wir uns nicht alle um unseren eigenen Kram, Chelsea?‹«

Gwen lachte laut auf. »Hast du das echt gesagt?«

»Darauf kannst du wetten. Sie muss ohnehin erst mal das Ding auf ihrem Kopf richten – was immer es darstellen soll –, bevor sie das Recht hat, Fragen zu stellen.«

Gwen schaute sich lächelnd um und nahm dann einen großen Schluck aus ihrer mit Wasser gefüllten Thermosflasche. Es war zwar kühl, aber die Sonne stand direkt über ihnen, sodass sie froh war, heute Creme mit Lichtschutzfaktor aufgetragen zu haben, damit sie nicht rot wie eine Tomate wurde.

Auf Hochzeiten aufzutreten, war wie Urlaub für Gwen. Sie boten ihr nicht nur die Gelegenheit, Geige an den schönsten Orten zu spielen, sondern sie wurde auch noch sehr gut dafür bezahlt. Außerdem unterstützten Jacob und sie einander, wechselten sich mit ihren Solos ab, sodass nicht immer nur einer im Rampenlicht stand oder in einem riesigen Ensemble unterging. Auch das liebte sie. Zwar hätte sie ihren Hauptjob beim Manhattan Pops Orchestra, dem größten Pop-Orchester der USA, gegen nichts in der Welt eingetauscht, aber allein vor einem Publikum zu spielen, war unvergleichlich. Sie liebte diesen Rausch. Und auf Hochzeiten gab es keinen Druck. Sie war nicht dort, um irgendjemanden zu beeindrucken, sondern konnte einfach spielen.

»Hey«, sprach Jacob sie an und deutete mit dem Kinn zu drei Frauen, von denen zwei ein Brautjungfernkleid trugen. »Die brünette Brautjungfer – das ist Chelsea, die Neugierige. Die kleinere Braunhaarige mit dem coolen Boho-Hexen-Style ist die Hochzeitsplanerin. Und die blonde Brautjungfer … Du erkennst sie nicht, oder?«

Gwen zuckte mit den Schultern.

»Das ist Hazel Renee. Sie ist Model. Hat ihre eigene Make-up-Serie und so. Und sie hat vor Kurzem in einem Film mitgespielt.«

Gwen schaute wieder zu der blonden Frau hinüber. »Wie cool …«

»Wie cool?« Jacob seufzte. »Gwen, du verstehst das nicht. Auf dieser Hochzeit könnten wer weiß was für Stars sein. Das ist echt ein Riesending!«

Gwens Herz schlug mit einem Mal schneller, aber sie wollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Bevor sie ernsthaft Gefahr lief, sich von Jacobs Aufgeregtheit anstecken zu lassen, sah sie, dass die Hochzeitsplanerin auf sie zukam.

»Hi, du musst Gwen sein«, sagte die kleine Frau. »Ich bin Ama Torres.« Sie sah jünger aus als Gwen, aber das konnte nicht sein. Sie hatte die Haltung und das Selbstvertrauen einer Person, die sich tagtäglich mit der Handhabung von Atomwaffen auseinandersetze.

Gwen schüttelte ihr die Hand. »Tut mir leid, dass ich ein paar Minuten zu spät gekommen bin.«

»Mach dir keinen Kopf.« Ama schenkte ihr ein festes Lächeln, das Gwen verriet, dass sie heute am besten keine weiteren Fehler mehr begehen sollte. Sie sah auf die Uhr. »Uns bleiben ungefähr zwanzig Minuten, bis die ersten Gäste eintreffen, also nutzt die Zeit gern so, wie ihr möchtet. Meine Assistenten laufen hier irgendwo rum, sprecht sie an, wenn ihr irgendwas braucht.« Ama sah aus, als wollte sie sich auf dem Absatz umdrehen, um irgendwo ein Feuer zu löschen, hielt dann jedoch abrupt inne und schaute sich zu Gwens Füßen um. »Brauchst du Hilfe, den Instrumentenkoffer aus dem Wagen zu holen?«

Gwen war verwirrt. »Meinen Instrumentenkoffer?«

Ama schaute Jacob und dann wieder sie an. »Wo ist dein Cello?«

Gwen klappte den Mund auf und wieder zu. Jacob klimperte hinter ihr auf dem Flügel. »Mein was?«, fragte sie nach und drehte den Kopf zur Seite in der Hoffnung, dass sie diesmal etwas anderes verstehen würde.

»Ich hatte um ein Klavier und ein Cello gebeten«, verkündete Ama.

Jacob erhob sich von seinem Klavierhocker. »Dein Assistent hat uns als Duo angefragt, und wir spielen Klavier und Geige.«

Ama dachte darüber nach. »Ah.« Sie nickte ein paarmal, wobei sie auf die Erde starrte. »Alles klar. Okay. Nun denn.« Sie griff sich an ihre lange Kette und wickelte sie geistesabwesend um ihre Finger, doch Gwen konnte erkennen, dass es in ihrem Kopf arbeitete. »Wir mussten uns so beeilen, ein neues Duo zu finden, dass ich wahrscheinlich vergessen habe, noch einmal genauer nachzufragen, als mein Assistent euch aufgetan hat …«

Jacob räusperte sich. »Ich kann dir versichern, dass wir echt gut sind.«

»Das bezweifele ich auch gar nicht.« Ama rieb sich die Schläfen. »Sonya hat nur explizit ein Cello verlangt.«

Gwen wechselte einen Blick mit Jacob. Das hatten sie schon oft erlebt. Die Leute dachten immer, sie wollten ein Cello, obwohl sie in Wahrheit ein Streichquartett wollten.

»Einen Moment«, sagte Ama gepresst, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte über den Rasen auf einen großen Typen mit Man-Bun zu, der gerade dabei war, die Blüten an dem Blumenbogen zurechtzuzupfen. Gwen sah, wie Ama mit panischem Blick in ihre Richtung gestikulierte, bevor ihr der Mann seine Hände auf die Schultern legte und begann, sie zu massieren.

Gwen stieß angespannt die Luft aus. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« Sie drehte sich zu Jacob um. »Ich kenne niemanden, der es bis vier Uhr herschaffen würde.«

»Gwen.« Jacob schüttelte den Kopf. »Du bist für diese Hochzeit engagiert worden. Selbst wenn wir eine Cellistin kennen würden, die um die Ecke wohnt, würde ich nicht ohne dich spielen.«

Sie wollte gerade widersprechen, da sie Amas Stress förmlich über den Rasen zu ihr herüberwabern spürte, doch in dem Moment hörte sie eine kalte Stimme hinter sich.

»Wo ist dein Cello?«

Als Gwen sich umdrehte, fand sie sich der brünetten Brautjungfer, Chelsea, mit in die Hüften gestemmten Händen und forschendem Blick gegenüber. Sie glaubte, sie schon mal irgendwo gesehen zu haben, aber Jacob hatte nicht erwähnt, dass sie eine Celebrity war. Gwen selbst hätte niemals eine berühmte Person erkannt, die Jacob nicht kannte.

Ehe Gwen antworten konnte, war Ama zurück.

»Okay, okay, okay«, stieß sie hektisch aus. »Kannst du denn Cello spielen?«

Gwen blinzelte. »Ich kann auf einem nicht vorhandenen Cello genauso gut spielen wie auf einer nicht vorhandenen Geige.«

»Mein Gehirn kann gerade nicht auf Sarkasmus reagieren«, erwiderte Ama fröhlich, »also beantworte mir einfach die folgende Frage: Wenn wir ein Cello auftreiben, könntest du es dann spielen?«

»So funktioniert das nicht«, mischte sich Jacob ein, als Gwen nicht sofort reagierte.

Sie konnte tatsächlich ein bisschen Cello spielen, ihre Geigenlehrerin hatte ihr zu Beginn ein paar Unterrichtsstunden gegeben, um zu testen, welches Streichinstrument am besten zu ihr passte. Und Gwen brauchte diesen Job, besonders nach der Uber-Fahrt. Ebenso wie Jacob. Und sie beide brauchten das Trinkgeld, das sich auf null Dollar belaufen würde, wenn sie jetzt kniff.

Chelsea schnaubte in die Stille hinein. »Offensichtlich kann sie es nicht. Ich hoffe, ihr zahlt den beiden nicht zu viel.«

»Ich schaffe das schon«, erwiderte Gwen in dem gleichen bissigen Tonfall, den sie sich normalerweise für Männer aufsparte, die Dinge wie »Vorsicht, das ist schwer« sagten.

Ama musterte sie forschend, als wollte sie einschätzen, wie ernst sie es meinte.

Gwen hörte, wie sich Jacob räusperte, um zu protestieren.

Chelsea verdrehte die Augen. »Ich sehe nach, ob Alex schon unterwegs ist.« Sie holte ihr Handy hervor und entfernte sich.

Ama drückte Gwens Arm und flüsterte: »Danke. Vielen, vielen Dank.« Dann wandte sie sich von ihnen ab und murmelte leise vor sich hin: »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal dankbar dafür sein würde, dass Alex sich verspätet, aber …«

»Gwen.« Jacob stand mit offenem Mund am Klavier und starrte sie an. »Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Instrumente, korrekt? Man muss ganz andere Bewegungen ausführen.«

»Ich weiß.« Gwen ließ sich auf den Stuhl plumpsen und öffnete mit zitternden Fingern ihre Mappe. Sie starrte auf die Noten, blätterte um, versuchte sich die Griffe vorzustellen, die nötig waren.

Es war eine von Gwens besten und schlechtesten Eigenschaften: Sie wollte es immer allen recht machen. Ihr Pflichtbewusstsein war zu ausgeprägt. In den meisten Fällen war sie erfolgreich und lieferte tatsächlich ab, aber manchmal hatte es auch desaströse Folgen. Sie erklärte sich bereit, für jemanden in einem Broadway-Orchester einzuspringen, obwohl sie bereits für eine Hochzeit gebucht war; sie ließ Arzttermine ausfallen, um kurzfristig zu proben; sie ging mit sieben Hunden und nur zwei Händen Gassi.

»Wann hast du zuletzt Cello gespielt?«

»Vor acht … vielleicht neun Jahren.« Sie fokussierte sich weiter auf die Seiten vor ihr.

Leider waren ihre Noten im Violinschlüssel geschrieben, was bedeutete, dass sie diesen Teil in ihrem Gehirn ausschalten, nur die tatsächliche Note auf dem Blatt lesen und ihren Fingern befehlen musste, sie ungeachtet der Oktave auch zu spielen.

Jacob griff nach seinem iPad und suchte im Internet nach Cellonoten für die Stücke, die sie spielen wollten, aber dazu brauchte er WLAN. Gerade als er aufsprang, um jemanden nach dem Passwort zu fragen, trafen die ersten Gäste ein, also musste er anfangen zu spielen.

Gwen wusste, dass sie wahrscheinlich albern aussah. Ohne Cello war sie gezwungen, still dazusitzen und die Noten zu studieren, statt ihn zu begleiten. Sie wusste nicht, wie lange sie dort saß und auf ihre Mappe starrte. Ihr Herz raste mit jedem gut gekleideten Gast, der den Garten betrat, schneller. Noch immer arbeitete sie fieberhaft daran, die Noten zu transponieren.

Vielleicht würde sich ja so schnell doch kein Cello auftreiben lassen. Vielleicht mussten sie sich am Ende mit der Geige zufriedengeben, ob es ihnen passte oder nicht.

In dem Moment hörte sie, wie ein Pick-up-Truck die Einfahrt hinauffuhr, und als sie aufblickte, sah sie, dass ein Parkwächter einem dunkelhaarigen Mann die Schlüssel abnahm. Der Typ öffnete die Tür zur Rückbank und holte einen Cellokoffer heraus.

Na toll. Wie es aussah, würde sie aus der Nummer nicht mehr rauskommen.

Sie stand auf, um diesen »Alex« zu begrüßen, und erstarrte, als sich Xander Thorne zu ihr umdrehte, den Cellokoffer in den muskulösen Armen.

Alex. Sie hatte niemals geglaubt, dass Xander Thorne sein richtiger Name war, aber …

Er war mehr als nur ein Cellist. Er war ein Star mit Plattenvertrag. Sie war ihm letzten August zum ersten Mal begegnet – ein ehrfürchtiges Winken in der oberen Etage der Carnegie Hall und ein gestammelter Gruß, für den sie sich anschließend stundenlang innerlich vor Scham gewunden hatte. Xander Thorne war gerade für die neue Saison dem Manhattan Pops Orchestra beigetreten. Ihn zu engagieren, war in erster Linie eine Marketingstrategie gewesen. Wenn er nicht im Orchester spielte, war er der Frontmann von Thorne and Roses, einer Band aus elektrischen Streichinstrumenten, und es war immer klar gewesen, dass dies seine Priorität war. Er kam zu jeder Probe zu spät und hatte sogar ein oder zwei Auftritte verpasst, sodass sie kurzfristig Ersatz für ihn hatten finden müssen. Er verdrehte die Augen angesichts der Songauswahl, wies die anderen Cellistinnen und Cellisten zurecht und sprach nie mit irgendjemandem außer mit dem Dirigenten und der Konzertmeisterin, und das auch nur dann, wenn er die Bogenführung oder das Tempo hinterfragte – laut, stolz und selbstgerecht.

Außerdem war er der beste Cellist aus Gwens Generation. Sie hatte Thorne and Roses in der Highschool für sich entdeckt und seitdem jeden Song runtergeladen. Seine Musik hatte sie sogar gerade noch im Uber gehört, verdammt noch mal. Und es war nicht nur seine Band, die sie liebte, oder die Oben-ohne-Bilder auf Instagram. Auch im Orchester konnte sie den Blick nie von ihm abwenden. Er bewegte sich mit der Musik, als würde sie einfach so aus ihm herausfließen. Ihre Geigenlehrerin, Mabel Rodriguez, hatte Gwen immer gesagt, sie sei zu steif und müsse sich mehr treiben lassen. Deshalb hatte sie ihr Videos von Hilary Hahn und Sarah Chang gezeigt, deren Geigensolos förmlich zu fliegen schienen. Doch Gwen konnte die Musik nie spüren wie sie. Wie Xander Thorne. Das Spiel der anderen wirkte auf sie dramatisch, sie selbst bevorzugte stille Leidenschaft.

Manchmal konnte sie es spüren, wenn Xander Thorne spielte und sein gewelltes schwarzes Haar wippte. Sie konnte erkennen, wie wichtig es war, dass die Musik durch einen hindurchfloss wie Wasser.

Und jetzt lieferte er ihr ein Cello zu einer Luxus-Gartenhochzeit in New Jersey. Klasse.

Gwen fühlte sich wie ein Hase vor dem Lauf eines Gewehrs, als er die Einfahrt entlangschlenderte, direkt in ihre Richtung – den Cellokoffer in der einen und einen Kleidersack in der anderen Hand.

Schließlich blieb er vor ihr stehen und ließ den Blick aus seinen dunkelbraunen Augen kurz über sie wandern. »Du brauchst ein Cello?«

Es war offensichtlich, dass er sie nicht erkannte. Was sie nicht weiter überraschte, denn bei den Proben mischte er sich nie unter die Leute, und sie selbst war gut darin, in der Menge unterzutauchen.

»Ja, danke.« Sie wandte den Blick von seinen zusammengezogenen Augenbrauen ab und betrachtete den Koffer.

Gott sei Dank war es nicht das Stradivarius-Cello, auf dem er im Manhattan Pops Orchestra spielte. Das war fast eine Million Dollar wert.

Er ging in die Knie, öffnete die Verschlüsse am Koffer und schaute dann durch sein dunkles Haar, das ihm wie ein Vorhang vors Gesicht fiel, zu ihr hoch. »Hast du deins vergessen?«

Sie brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass er mit ihr sprach, weil sie von dem glänzenden Holz des Cellos abgelenkt war – ein besonders schöner Lack für ein besonders schönes Instrument.

Er hob das Cello an, hielt es ihr hin und griff nach dem Bogen.

»Ähm, ja.« Als sie das Instrument entgegennahm, streiften sich ihre Finger. »Nein, ich meine …« Sie drehte sich zu ihrem Stuhl, um den Blickkontakt mit ihm zu vermeiden. »Ich hab meine Geige mitgebracht. Ich … Ich bin Geigerin.«

Gwen setzte sich wieder und wollte gerade den Stachel ins Gras drücken, als er ihr einen Ständer hinwarf. Sie schaute zu ihm auf, ließ den Blick an seinem langen Oberkörper hinaufwandern, über die Brust, die breiten Schultern, bis zu seinem misstrauischen Gesicht. Die Sonne, die direkt hinter ihm stand, ließ sein Haar glänzen und verlieh seinen Umrissen eine engelsgleiche Aura. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie ärgerte sich, dass an diesem Tag nichts so lief wie geplant.

»Spielst du überhaupt Cello?«, fragte er.

»Ja.« Dabei beließ sie es und begann erneut, die Noten durchzublättern, wobei sie ihre Finger auf dem Griffbrett platzierte, um im Stillen die Griffe durchzugehen. Auf keinen Fall würde sie die richtige Tonart austesten, solange Xander Thorne lediglich einen halben Meter von ihr entfernt stand und sie beobachtete.

»Das sind Geigennoten.«

»Ja, das ist mir bewusst«, zischte sie. »Ich bin Geigerin, hab ich doch gerade gesagt.«

»Warum spielst du dann nicht Geige?«, fragte er, als wäre das alles ganz einfach.

»Weil Sonya – wer immer das sein mag – ein Cello will.« Sie mied weiterhin den Blickkontakt mit ihm und wünschte sich, dass er einfach gehen würde.

»Sonya ist die Braut.«

Gegen ihren Willen schaute Gwen auf. »Oh.« Sie hätte die E-Mails lesen sollen, die Jacob ihr weitergeleitet hatte.

Sein Blick ruhte auf ihren Fingern, und sie bemühte sich sofort um eine bessere Positionierung. Es war das erste Mal, dass sie seiner kritischen Musterung standhalten musste. Im Orchester hatte sie das ganze Jahr über dabei zugesehen, wie er den Cellos und Kontrabässen, die unter ihm spielten, finstere Blicke zugeworfen und ihnen mit gelangweilter Stimme Anweisungen erteilt hatte.

»Wirst du die Hochzeit ruinieren?«, fragte er.

Sie sah ihn aus schmalen Augen an. Das war der Xander Thorne, an den sie sich gewöhnt hatte.

»Gwen ist richtig gut«, meldete sich Jacob zu Wort.

Xander drehte sich zu ihm um, als würde er ihn erst jetzt bemerken.

»Sie kann alles spielen. Sozusagen ein Wunderkind.«

»Jacob, du musst nicht …« Sie schloss die Augen.

»Sie spielt schon Geige, seit sie elf war«, fuhr Jacob unbeirrt fort.

»Elf?«, hakte Xander Thorne mit einem Blick zu Gwen ein. »Wie beeindruckend.«

Sie presste die Lippen zusammen. Richtige Wunderkinder fingen mit drei an zu spielen.

»Wenn du dir solche Sorgen machst, warum spielst du dann nicht?«, presste sie hervor.

»Das geht nicht. Ich bin einer der Trauzeugen«, erwiderte er schlicht und griff nach seinem Kleidersack.

Sie schaute blinzelnd zu ihm auf. Dann kannte er Sonya also gut. Natürlich tat er das, er kannte wahrscheinlich alle Menschen, die ein Anwesen in New Jersey ihr Eigen nannten.

»Alex!«

Einer der anderen Trauzeugen stand winkend auf der Veranda und bedeutete ihm, schnell reinzukommen.

Xander Thorne oder Alex – oder wie auch immer er heißen mochte – bedachte sie mit einem letzten hochmütigen Blick und ging dann auf seinen langen Beinen davon. Auf der Treppe zum Hauptgebäude hinauf nahm er drei Stufen auf einmal. Sie hasste es schon, wenn Leute zwei Stufen auf einmal nahmen. Was für ein widerlicher, langbeiniger …

»Gwen? Was brauchst du zum Üben?«, holte Jacob sie ins Hier und Jetzt zurück.

Sie zuckte zusammen und blätterte weiter bis Wohl mir, dass ich Jesum habe, wozu die Braut zum Altar schreiten wollte. Nun, da die Gäste hier waren, konnte sie leider schlecht schon jetzt das Hochzeitslied spielen, aber sie übte die geplanten Stücke im Stillen, während Jacob A Thousand Years klimperte.

Fünf Minuten vor dem geplanten Beginn der Trauungszeremonie kam Ama zu ihr. »Hey.« Sie legte Gwen freundlich eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, du bereitest dich vermutlich gerade vor, aber ich muss dich spielen hören, bevor wir loslegen können. Kannst du Jacob bei den nächsten Liedern begleiten?«

Gwen nickte. Sie wusste genau, was Ama damit sagen wollte: Ich muss sichergehen, dass du tatsächlich Cello spielen kannst, bevor die Braut zu den Klängen von kreischenden Katzen zum Altar schreitet. Sie blätterte die Noten für die Lieder durch, die vor der Trauung gespielt werden sollten.

Jacob sah sie an und beendete Can’t Help Falling In Love.

So selbstsicher sie sich vor einer halben Stunde noch gegeben hatte, fürchtete Gwen sich nun vor dem Klang, den sie mit den Saiten des Cellos erzeugen würde. Sie versuchte, sich auszumalen, was Mabel in diesem Moment zu ihr sagen würde, dachte daran zurück, wie es vor mehr als zehn Jahren gewesen war, als sie zum ersten Mal den Bogen an ihrer Geige ausprobiert hatte. Sie hatte sich nicht darum geschert, wie es klingen würde, sondern einfach gespielt. Erst Seite eins, dann Seite zwei. Und dann die nächste, immer weiter. Nachdem sie das gesamte Anfängerbuch durchgespielt hatte, hatte Mabel mit offenem Mund und vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen gestanden und sie angestarrt, als wäre sie ein Geist.

»War das nicht gut? Ich kann es besser machen, wenn Sie mich wiederkommen lassen«, hatte die elfjährige Gwen gestammelt.

Mabels Körper hatte gezuckt, als würde er aus einer Starre erwachen, und sie hatte Gwen gebeten, die letzten beiden Stücke noch einmal für sie zu spielen. Dann hatte sie die Bücher für fortgeschrittene Anfänger geholt.

Nun starrte Gwen die Noten zu Creep von Radiohead an – eine merkwürdige Wahl für eine Hochzeit, aber ein toller Song für Streichinstrumente. Sie konnte das, sich wieder in den Moment von damals hineinversetzen. Sie würde einfach auf die Noten schauen und spielen.

Mit der zusätzlichen Herausforderung, die Geigennoten auf ein Cello zu übertragen. Klar.

Jacob fragte, ob sie irgendetwas abwandeln wollte, aber Gwen schüttelte den Kopf. Stattdessen setzte sie entschlossen den Bogen an den Saiten an und wartete darauf, dass Jacob die ersten vier Takte spielte.

Es klang nicht grandios. Aber passabel. Sie folgte der von ihr eingetragenen Bogenführung, und die Saiten gaben die Melodie wieder, während Jacob die arpeggierte Begleitung spielte. Nachdem sie Creep beendet hatten, spürte Gwen eine Last von sich abfallen. Es war machbar. Sie konnte das.

Als sie wieder zur Veranda schaute, gab ihr Ama ein Daumen-hoch-Zeichen und zu verstehen, dass es in drei Minuten losgehen würde. Erleichterung durchströmte sie.

Gwen blätterte um. Als Nächstes stand Numb von Linkin Park auf dem Programm. Noch ein perfektes Lied für Streichinstrumente, und, was noch besser war, eins, das Gwen auswendig konnte.

Wieder spielte Jacob die Eröffnungstakte, und Gwen ließ ihren Blick wandern, fühlte die Melodie, zu der sie mitgeschrien hatte, als sie noch klein war. In ihrer Erinnerung war das Lied während ihrer gesamten Kindheit in Dauerschleife gelaufen. Ihre Mutter hatte zusammen mit ihr in Kochlöffel und Haarbürsten gesungen, die Töpfe und Pfannen zu Trommeln umgewandelt und sie wie beim Stagediving durch das kleine Wohnzimmer ihrer Wohnung in Queens getragen. Mit zehn hatte sie versucht, ihren Großvater zu überreden, Linkin Park mit in die Playlist für die Beerdigung ihrer Mutter aufzunehmen, aber er hatte sich geweigert.

Angesichts der Erinnerung brannten ihre Augen, und sie lächelte traurig. Diese Songs waren alles andere als typisch für eine Hochzeit, aber ihr waren Numb und Creep lieber als klassische Liebeslieder.

Irgendetwas an Songs, die von Liebe handelten, fühlte sich immer gezwungen an. Sie spielte bevorzugt die Anti-Liebeslieder. Das Arrangement war immer besser.

Als Jacob die letzten Töne von Numb klimperte, nahmen die letzten Gäste Platz, und Gwen schaute auf ihr Handy.

16:01 Uhr.

Amas Assistent kam vorbei, um ihnen das Zeichen für ihren Einsatz zu geben, und sie begannen, Wohl mir, dass ich Jesum habe zu spielen. Es war eine sehr schnelle Melodie, die Gwen schon vor Jahren auf der Geige perfektioniert hatte. Auf dem Cello dagegen …

»Gwen, alles in Ordnung?«, fragte Jacob. »Willst du nur die Basslinie spielen?«

»Nein, nein.« Ihr Blick flog über die Noten. »Ich kann das. Lass uns das Tempo nur um fünf Schläge verlangsamen.«

Der Assistent machte erneut auf sich aufmerksam, und Gwen hob den Bogen; ihre Muskeln schmerzten bereits, da sie die Bewegungen beim Cellospielen nicht gewohnt war. Sie begegnete Jacobs Blick. Dann synchronisierten sie ihre Atmung und fingen an.

Gwen hielt ihren Blick acht Takte lang auf die Noten gerichtet. Sie arbeitete sich von Zeile zu Zeile, ohne zu atmen, ehe sie sich endlich einen Moment nahm, um sich zu Jacob umzuschauen, als der die nächsten acht Takte ein Solo spielte. Dann hob sie den Blick zum Gang zwischen den Sitzreihen und sah, dass sich Chelsea, die brünette Brautjungfer, bei Xander Thorne einhakte und sich von ihm nach vorn führen ließ. Gwen hatte kaum Zeit zu registrieren, wie gut ihm der dunkelgraue Smoking stand, denn schon musste sie wieder den Bogen heben und in Jacobs Spiel einstimmen.

Sie war nicht zufrieden damit, wie sie spielte, mit ein bisschen Übung hätte sie so viel besser sein können. Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sie auf Xander Thornes Cello spielte. Oder an die Tatsache, dass sie keinen knielangen Rock angezogen hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sie ein Cello zwischen den Beinen haben würde.

Xander Thornes Cello.

Nein, nein. Sie durfte nicht »Xander Thorne« und »zwischen ihren Beinen« im gleichen Atemzug denken.

Als sie Jacob anschaute, nickte er ihr ermutigend zu. Sie las ein paar Zeilen voraus und erinnerte sich, dass sie sich alles genau eingeprägt hatte, damit sie eben nicht aufs Blatt schauen musste. Sosehr sie sich auch wünschte, sie würde auf ihrer Geige spielen, ihrem Gedächtnis konnte sie dennoch vertrauen. Sie stellte sich die Noten vor und spielte einfach, dachte an Mabel im Türrahmen des Übungsraumes, an ihre Mutter, die zu Radiohead mitsang und sich nicht darum scherte, ob sie den Text richtig konnte. Gwen schloss die Augen und vertraute auf sich. Erst beim letzten Akkord öffnete sie sie wieder.

Die Gäste standen dem Blumenbogen zugewandt, den die Braut in diesem Augenblick erreichte. Als der Pfarrer den Gästen bedeutete, Platz zu nehmen, schaute Gwen zu Jacob, der sie kopfschüttelnd anstrahlte und leise lachte. Vermutlich bedeutete das, dass sie abgeliefert hatte. Adrenalin strömte durch ihre Adern. Es fühlte sich so anders an, ohne Sicherheitsnetz zu spielen. Im Orchester war es nicht so, Stücke wurden Hunderte Male geprobt, man ging viel zielgerichteter vor, was nicht bedeutete, dass es ihr keinen Spaß machte.

Mit zitternden Fingern blätterte Gwen in der Mappe zum letzten Stück weiter und überflog noch einmal ihr Solo, das viel einfacher war als das letzte Lied.

Während die Zeremonie in vollem Gange war, betrachtete Gwen die beiden größten Menschen, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte, wie sie Hand in Hand vor dem Pfarrer standen. Gwen selbst war keine kleine Frau, aber die Braut musste über eins achtzig sein.

Gwen blinzelte. Sie war davon ausgegangen, dass Xander zum Bräutigam gehörte. Aber hinter der Braut standen in einer Reihe Xander, Chelsea und das blonde Model, also musste er zu Sonya gehören. Gwen lächelte. Wenn sie eines Tages heiraten sollte, würde wahrscheinlich Jacob ihr Trauzeuge sein.

Sie musterte Chelsea noch einmal genauer, doch gerade als sie den Versuch, sie einzuordnen, aufgab, wurde Gwen bewusst, dass sie auch den Bräutigam kannte. Er war ein Mitglied von Xander Thornes Band – Thorne and Roses. Mit einem Mal schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie hatte schon gedacht, sie würde einen Herzinfarkt bekommen, als sie Xander Thorne zum ersten Mal in der Carnegie Hall über den Weg gelaufen war, aber das hier war next level.

Daher kannte sie Chelsea. Sie tauchte immer wieder auf den Social-Media-Accounts von Thorne and Roses auf. Auf den Fotos streckte sie die Zunge raus und reiste mit der Band zu Auftritten. Die Leute waren fast durchgedreht, als ein Bild von ihr neben Xander Thorne in einem Whirlpool gepostet worden war, und hatten darüber spekuliert, ob sie zusammen seien. Keiner von beiden war auf die Kommentare eingegangen.

Gwen schaute zu Xander rüber und stellte fest, dass er sie ansah. Sein Blick war durchdringend. Dunkel.

Sie zuckte zusammen und musterte hastig sein Instrument, um sicherzugehen, dass nichts daran klebte. Gras, krabbelnde Marienkäfer, Fingerabdrücke? Nein, da war nichts. Dennoch behielt er sein zweitliebstes Cello unablässig im Auge.

Vielleicht auch nur sein viertliebstes. Woher sollte sie das wissen?

Gwen verfolgte, wie Sonya Mac zu ihrem rechtmäßig angetrauten Ehemann nahm. Und sie verfolgte, wie Xander Thornes Blick immer wieder zu ihr und Jacob glitt.

Sie würde sich schon nicht mit dem Cello aus dem Staub machen. Chill mal, Xander Thorne. Oder Alex?

Während der gesamten Trauung schaute er immer wieder in ihre Richtung, mit dunklem Blick und unruhig zuckenden Fingern, und Gwen fragte sich, ob er auf den Hochzeitsfotos ebenfalls abgelenkt weggucken würde.

Schließlich erklärte der Pfarrer das Paar zu Frau und Mann – in dieser Reihenfolge –, und Gwen machte sich bereit, indem sie sich auf die Noten zu Bad Romance von Lady Gaga konzentrierte.

Der Bogen tanzte über die Saiten, um die kleinen Laute zu erzeugen, die normalerweise von Lady Gaga gesungen wurden. »Ra ra ah ah ah-ah. Roma ah ah ah-ah.« Dann nickte sie Jacob zu, der gerade ein Glissando vollführte und in den Downbeat einstimmte.

Die Gäste lachten, als sie den Song erkannten, und Mac und Sonya tanzten den improvisierten Mittelgang entlang. Xander tanzte bewusst nicht, sondern machte gezielte, gemessene Schritte. Sie und Jacob spielten, bis alle den Mittelgang verlassen hatten, und hängten noch eine Strophe und einen Refrain dran, bevor sie den Song beendeten.

»Du bist ziemlich gut«, sagte Jacob und deutete mit dem Kinn zum Cello.

Gwen lächelte, strich über den Hals des Instruments und spürte den glatten Lack unter ihren Fingern. Es war nett von Jacob, das zu sagen, aber er hatte keine Ahnung von Streichinstrumenten. Weswegen er auch nicht wusste, dass sie den Bogen falsch gehalten und nicht die richtigen Schwielen an den Fingern hatte, um das Einzugslied schnell genug zu spielen.

Jacob holte den Cellokoffer und öffnete ihn für sie.

Gwen warf einen letzten Blick auf das wunderschöne Instrument, ehe sie es verstaute und die Menge nach einem der Assistenten absuchte, um es zurückgeben zu können. Ein paar Platzanweiserinnen führten die Gäste in den Teil des Gartens, wo die Feier stattfinden sollte, aber von Xander Thorne oder Amas Angestellten fehlte jede Spur.

»Ich suche nach Ama und unserem Geld, und du findest raus, was du damit anstellen sollst.« Jacob zeigte auf das Cello.

Gwen lief, ihren Geigenkoffer in der einen, den Cellokoffer in der anderen Hand, den Garten ab und betrat schließlich das Haus, wo sie sich mit großen Augen umsah. Während sie sich zwischen Catering-Personal und Fotografinnen hindurchschlängelte, bemühte sie sich, niemanden mit den sperrigen Koffern anzurempeln. In einem Flur hingen gerahmte Bilder von einer hochgewachsenen Teenagerin beim Basketballspielen – offenbar gehörte das Haus Sonyas Eltern.

In dem Moment kam Chelsea aus einem kleinen Badezimmer.

»Was hast du im Haus zu suchen?«, fuhr sie Gwen an.

Gwen starrte sie an, schockiert über diese Unhöflichkeit. »Sorry, ich wollte nur …«, stammelte sie. »Ich suche Xander … äh, Alex. Ich hab noch sein Cello.«

Chelsea musterte sie stirnrunzelnd. »Du kannst es nach oben ins Zimmer für die Trauzeugen bringen. Erste Tür links.«

Mit einem gemurmelten »Danke schön« zwängte sich Gwen an ihr vorbei und steuerte die breite Wendeltreppe an. Oben angekommen, bog sie nach links ab und steckte ihren Kopf zur Tür des verlassenen Raumes hinein. Überall lagen Kleidung, Schuhe und abgelegte Gürtel verstreut. Auf jeder Oberfläche standen leere Scotch-Gläser und Aftershave-Flakons.

Jepp. Sie hatte eindeutig das Zimmer der Jungs gefunden.

Gwen stellte das Cello weit entfernt von jeglichen Flüssigkeiten in einer Ecke ab, dann schob sie eine Gardine zur Seite, um in den Garten zu schauen, wo die Feier stattfand.

Weingläser und Hors d’œuvres wurden auf Tabletts durch die Menge getragen. Gwens Mundwinkel hoben sich. Es war vermutlich die schönste Hochzeit, auf der sie jemals gewesen war. Tolle Location, perfektes Wetter, geschmackvolle Blumenarrangements. Ama war eine hervorragende Hochzeitsplanerin. In diesem Moment glaubte Gwen zu sehen, wie Ama dem hochgewachsenen Floristen in den Hintern kniff. Er funkelte sie an und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Gwen lachte leise.

Als sie den Blick weiter über die Menge schweifen ließ, entdeckte sie den Keyboardspieler und den Drummer von Thorne and Roses, die sich mit ihren Dates unterhielten. Sie hielt Ausschau nach Dominic, dem sandblonden Geiger, und sah ihn schließlich bei einer Fotografin stehen – eine große, wunderschöne Frau in traditioneller indischer Kleidung –, mit der er allem Anschein nach versuchte zu flirten. Hätte Gwen vorher gewusst, dass sie vor all diesen Leuten spielen würde, wäre ihr wahrscheinlich den ganzen Tag vor Aufregung schlecht gewesen. Obwohl sie sich selbst dafür verabscheute, suchte sie als Nächstes nach einem schwarzen Haarschopf und fragte sich, was wohl Xander Thorne von ihrem Auftritt hielt.

»Deine Intonation ist grauenvoll.«

Gwen wirbelte herum und sah ihn im Türrahmen stehen. Blinzelnd ließ sie seine Worte sacken und fragte sich, was sie mit diesem Feedback anfangen sollte.

Seine Körperhaltung wirkte angespannt. Er hatte weder die Hände in die Taschen gesteckt, noch lehnte er sich lässig irgendwo an. Stattdessen hielt er sich an beiden Seiten des Türrahmens fest und beugte sich ins Zimmer hinein, als sei er nur kurz vorbeigekommen, um ihr etwas mitzuteilen.

Als er keine weiteren Beleidigungen oder Bemerkungen von sich gab, sagte Gwen: »Danke, dass du dein Cello mitgebracht hast.« Sie deutete in die Ecke, in der sie es abgestellt hatte.

Sie meinte den Blick, mit dem er sie von oben bis unten musterte, beinahe auf ihrer Haut zu spüren. »Wie lange spielst du schon?«

»Ich hab mit Geige angefangen, als ich elf war.«

»Ich meinte Cello«, stellte er klar.

Gwen strich sich das Haar hinters Ohr. »Eigentlich gar nicht. Ich hatte ein paar Unterrichtsstunden, als ich noch jünger war, aber seitdem spiele ich hauptsächlich Geige.« Sie schluckte und wandte den Blick ab.

»Du hast nicht auf die Noten geschaut.«

»Nein«, erwidere sie leise. »Ich kenne sie auswendig.«

»Du kennst die Geigennoten auswendig …« Seine Lippen zuckten, als würde er jeden Moment lächeln.

Hatte sie ihn schon mal lächeln sehen? Sie rechnete damit, dass er sie noch etwas fragen würde, aber als er nichts sagte, verlagerte sie ihr Gewicht auf das andere Bein. »Danke, Xander …« Oh Gott. »Alex. Danke.«

Er ließ den Blick über sie wandern und da war es wieder, das Beinahe-Lächeln.

Na toll. Jetzt wusste er, dass sie wusste, wer er war.

Gwen schielte zu einer halb leeren Flasche Scotch hinüber, denn mittlerweile hätte sie selbst gut einen Drink vertragen können. Sie musste schleunigst Jacob finden und New Jersey verlassen.

Entschlossen hob sie ihren Geigenkoffer an und ging in Richtung Tür, die er immer noch versperrte.

Lieber Himmel, er war riesig. Sie hatte ihn schon oben ohne spielen sehen – natürlich eine Strategie für mehr Publicity – und wusste, dass er unter dem Smoking unfassbar breit und muskulös war. Aus der Nähe konnte sie eine Mischung aus Aftershave und Frühlingsluft riechen. Als er nicht zur Seite trat, um ihr Platz zu machen, schaute sie auf und stellte fest, dass er sie nach wie vor anstarrte, als würden ihm noch mehr Fragen auf der Seele brennen.

»Sorry, wolltest du hier rein?«, fragte sie und deutete mit dem Kinn ins Zimmer.

»Nein.«

Seine Antwort ließ sie stocken. Dann war er ihr also nach oben gefolgt. Um … sie zu beleidigen? Sie auszufragen?

Als sie unbeholfen mit der Hand wedelte, trat er endlich zur Seite, und sie schob sich an ihm vorbei – wobei sie seine Schulter streifte.

Die Luft im Flur wirkte viel weniger stickig, hier fiel es ihr um einiges leichter, zu atmen. Sie wollte gerade die erste Stufe nehmen, da hörte sie seine Stimme in ihrem Rücken.

»Du solltest nicht auf Hochzeiten spielen.«

Sie blieb abrupt stehen, einen Fuß in der Luft. Mit einem Mal kochte Wut in ihr hoch. Sie war Geigerin, keine Cellistin. Er wusste, dass sie die Noten im Kopf für ein ihr unvertrautes Instrument übersetzt hatte, und trotzdem besaß er die Dreistigkeit, ihr vorzuhalten, sie sei nicht gut genug, um sich mit Auftritten dieser Art ein wenig Geld dazuzuverdienen?

Sie funkelte ihn wütend an. »Das tue ich normalerweise auch nicht.« Mit nun kühlem Blick hob sie eine Augenbraue. »Normalerweise spiele ich mit dir zusammen im Manhattan Pops Orchestra.«

Mit Genugtuung beobachtete sie, wie er langsam die Stirn runzelte und versuchte, sie einzuordnen, doch sie wandte sich ab und rannte die Treppe hinunter und zur Tür hinaus, ehe er etwas erwidern konnte.

2

Jacob wartete an der Straße auf sie, als sie aus dem Haus trat. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, um ihre Wut zu vertreiben, lief sie ihm entgegen.

»Und, was ist rausgesprungen?«, fragte sie. »Gab’s Trinkgeld?«

»Fünfundsiebzig für uns beide! Ama meinte, dass sie dir total dankbar ist.«

»Cool!« Gwen hängte sich ihre große Tasche über die Schulter und ging neben ihm her zur Bushaltestelle. »Du weißt, was das bedeutet …«

»Chinesisches Take-away zur Feier des Tages.« Er hob seine Hand, und Gwen schlug ein. »Hast du dem Arschloch sein Cello zurückgegeben?«

»Also … dieses Arschloch war übrigens Xander Thorne.«

Jacob bog links um die Ecke, und Gwen folgte ihm.

»Thorne … von der Band, auf die du stehst? Mit den nackten Typen?«

»Sie sind nicht nackt.« Gwen spürte, dass ihre Wangen heiß wurden. »Sie spielen nur manchmal oben ohne. Und übrigens hattest du nichts dagegen, als ich das Poster im Flur aufgehängt habe, wenn ich mich recht erinnere.«

Als sie nach ihrer ersten Probe mit Xander Thorne im letzten Herbst nach Hause gekommen war, hatte sie es sofort abgenommen. Sehr zu Jacobs Bestürzung.

»Und er hat dich ernsthaft nicht erkannt? Vom Orchester?« Er hob eine perfekt gezupfte Augenbraue.

»Ich sitze ziemlich weit hinten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist keine Überraschung. Ich bin nicht sonderlich auffällig.«

Jacob stupste sie an. »Na, ab jetzt wird er dich bemerken, ganz sicher.«

»Du meinst, nachdem ich das Einzugsstück vermasselt habe? Wahrscheinlich ruft er gerade die Orchesterleitung an und fordert meinen Rauswurf.«

»Äh … nein! Gwen, er hat dich genauso angesehen, wie ich gleich den Typen mit dem Essen ansehen werde. Hungrig.«

»So ein Quatsch, Jacob.« Sie lachte und stieß ihn mit der Schulter an.

Weiter kamen sie nicht, denn als sie um die nächste Ecke bogen, näherte sich bereits ihr Bus zwei Blocks von der Haltestelle entfernt. Sofort sprinteten sie los.

Jacob rannte mit wedelnden Armen und rufend vor ihr her, um den Fahrer auf sich aufmerksam zu machen. Er erwischte gerade noch die Tür, kurz bevor sie sich schloss, und hielt sie offen, bis Gwen den verbliebenen halben Block hinter sich gebracht hatte. Hechelnd ließen sie sich auf die einzigen beiden Plätze fallen, die noch frei waren, und teilten sich einen Proteinriegel. Die Fahrt nach Manhattan würde insgesamt neunzig Minuten dauern, und Gwen lief jetzt schon das Wasser im Mund zusammen, wenn sie an das Hühnchengericht von ihrem chinesischen Lieblingsimbiss dachte.

Eine halbe Stunde später hatten sie den Bus verlassen und stiegen in den Zug ein.

Gwen durchsuchte den Instagram-Account von Thorne and Roses nach Mac, dem Bräutigam, und fand den Hashtag für die Hochzeit: #MackenzieFrenzy.

Die Gäste posteten Bilder und luden Videos in ihren Storys hoch. In einem konnte sie ihre eigene Darbietung von Wohl mir, dass ich Jesum habe hören, und klickte es schnell wieder weg. Xander Thorne hatte recht gehabt. Ihre Intonation war wirklich grauenvoll.

In einer Story entdeckte sie auch ihn – ein Schopf schwarzes Haar an der Bar, größer als alle anderen Leute, mit denen er zusammenstand. Sie scrollte durch weitere Fotos und Videos mit dem Hashtag, bis Jacob ihr kurz vor der Penn Station schließlich das Handy wegnahm.

»Hör auf damit.« Er grinste sie an. »Meinetwegen kannst du das Poster wieder aufhängen, wenn du ihn unbedingt anglotzen willst …«

»Halt die Klappe.« Sie wurde rot.

Ihre Wohnung in Washington Heights war klein – sie hatte eigentlich nur ein Schlafzimmer, doch sie hatten den Wohnbereich in ein zusätzliches Schlafzimmer umgewandelt. Außerdem gab es eine winzige Küche, ein noch winzigeres Bad und zwischen den beiden besagten Zimmern einen Flur, in dem ein Schrank stand. Gwens Zimmer hatte nicht mal eine Tür, sondern lediglich einen Vorhang. Wenn sie mit einem Fremden zusammengewohnt hätte, hätte sie die beengte Wohnsituation niemals überlebt, aber Jacob war schon seit der zehnten Klasse praktisch ihr Seelenverwandter. Sie hatte immer geglaubt, dass sie eines Tages mehr sein würden als Freunde – bis er an einem Sommerabend nach ihrem Schulabschluss, den sie zu zweit mit ein paar Gläsern Champagner verbrachten, sein Coming-out gehabt hatte. Sie hatte ihn umarmt und im betrunkenen Zustand dabei geholfen, ein Grindr-Profil für ihn anzulegen. Nur zweimal musste sie ins Bad, um die Tränen runterzuschlucken. Später hatte sie bei dem Gedanken, dass sie jemals eine Beziehung hätten führen können, gelacht. Jacob war eine Konstante in ihrem Leben – er war für sie da gewesen, als ihr Großvater einen Tag vor dem Highschool-Abschluss gestorben war und als sie das Stipendium nicht erhalten hatte. Sie war froh, dass sie ihn nicht wegen einer Schwärmerei verloren hatte, die ohnehin zu nichts geführt hätte.

Nachdem sie sich vier Etagen hochgeschleppt hatten, schloss Jacob die Wohnungstür auf und bestellte das Essen.

Gwen schaltete den Ventilator an und ließ sich auf ihr Bett fallen. Ganz egal, wie kühl es draußen war, sie musste sich immer fünf Minuten unter den Ventilator legen, nachdem sie die Treppen hinter sich gebracht hatte.

Gwen war gut in Form – groß und schlank mit den Beinen einer Volleyballerin und den Armen einer Geigerin –, aber selbst nach vier Jahren hatte sie sich nicht an die vier Stockwerke gewöhnt.

Um sich die Miete leisten zu können, gab Jacob Kindern von der Upper East Side Klavierunterricht, und bevor Gwen dem Manhattan Pops Orchestra beigetreten war, hatte sie an U-Bahn-Haltestellen gespielt, den Geigenkoffer geöffnet vor sich auf der Erde. Mit vierzehn hatte sie begonnen, zweimal pro Woche nach der Schule an der Haltestelle 14th Street zu spielen. Damit verdiente sie fünfzig Dollar am Tag, genug, um montags im Supermarkt für Grandpa und sich selbst einzukaufen und immer noch ein wenig für sich übrig zu behalten. Einmal, während das Publikum applaudierte, war eine elegante, schöne Frau mit perfekt gestylten Locken auf sie zugekommen und hatte ihr einen Hundert-Dollar-Schein gereicht. »Steck das ein, Schätzchen. Den kannst du nicht im offenen Koffer liegen lassen.«

Gwen starrte sie mit großen Augen an. »Wollen Sie … Wollen Sie Wechselgeld? Sie können sich das nehmen, was im Koffer liegt …«

Die Frau hatte nur gelächelt und ihr die Wange getätschelt. Erst ein Jahr später lernten sie sich in Mabels Laden offiziell kennen, doch Gwen würde sich immer an diese erste Begegnung mit Ava Fitzgerald, der Konzertmeisterin des Manhattan Pops Orchestra und einer der besten und talentiertesten Geigerinnen ihrer Zeit, erinnern.

»Hey«, rief Jacob über den Flur und riss Gwen aus ihren Gedanken. »Declan will vorbeikommen. Ist das okay?«

Gwen, die immer noch an die Decke starrte, rümpfte die Nase. »Ja klar!« Ihre Stimme klang fröhlich, auch wenn sie nicht gerade begeistert war.

Es war nicht so, dass sie Declan nicht mochte. Sie hatte ihn erst einmal gesehen. Er war witzig, aber Jacob datete andauernd und stellte ihr immer wieder neue Leute vor, die sie anschließend nie wiedersah. Es war ein wenig ermüdend. Nach langen Tagen wie diesem wollte sie sich ihre Vierzig-Quadratmeter-Wohnung nicht noch mit zusätzlichen Menschen teilen müssen. Sie rollte sich vom Bett und begann, ihre Tasche auszupacken.

Declan stürmte eine halbe Stunde später herein und ließ eine Tirade über den Zug vom Stapel, mit dem er hergekommen war. Mitten im Satz küsste er Gwen zur Begrüßung auf die Wange, strich sich sein rötliches Haar von der blassen Stirn und atmete tief durch. »Wie war die Hochzeit?«

»Gwen hat heute ein neues Instrument gelernt«, scherzte Jacob und reichte Declan eine Frühlingsrolle.

Der schaute sie mit großen Augen an, während er hineinbiss. »Echt?«

»Nicht wirklich. Durch ein Missverständnis musste ich Cello statt Geige spielen.«

»Oh, mein Gott, war es schwer?«

»Könnte man meinen«, erwiderte Jacob. »Aber nicht für Gwen.« Er zwinkerte ihr zu.

Sie wollte gerade widersprechen, als das Handy in ihrem Zimmer klingelte. Sie bedeutete den beiden, ohne sie weiterzuessen und mit ihrer Lieblingsvampirserie zu beginnen, und lief in den Nebenraum. Auf dem Display wurde Mabels Name angezeigt.

Mit einem warmen Gefühl in der Brust meldete sie sich fröhlich.

»Hi, Schätzchen. Heute war die Hochzeit, oder?« Mabels heisere Stimme war gezeichnet von einem Leben in Queens, aber das machte ihre liebevolle Begrüßung nur noch schöner.

»Jepp, in New Jersey. Die Hinfahrt war eine absolute Katastrophe, aber wir haben gutes Trinkgeld bekommen.«

»Na, das ist doch die Hauptsache.« Gwen hörte das Klicken der Kasse, wahrscheinlich schloss Mabel gerade den Laden. »Rate mal, wer heute hier war.«

»Ist Lindsey Stirling wiedergekommen?« Sie lehnte sich an ihre Kommode und legte eine Hand an ihren Hals.

»Nein, niemand Berühmtes. Dr. Richards von der Juilliard.«

Gwen stieß die Luft aus. »Oh.«

Die Juilliard war ein heikles Thema zwischen ihnen. Mabel hoffte immer noch, dass Gwen studieren wollte und sich für das Herbstsemester bewarb. Sie war mit achtzehn auf die Warteliste der Juilliard gesetzt worden, hatte ihre Bewerbung jedoch zurückgezogen, nachdem sie die Nachricht erhalten hatte, dass die finanzielle Unterstützung, die ihr zugesagt worden war, nicht mal annähernd ausreichen würde, besonders nach den Bestattungskosten für ihren Großvater.

Mabel hatte sich schuldig gefühlt, sich Vorwürfe gemacht, dass sie kein Geld zurückgelegt hatte, aber Gwen wollte nicht, dass sie sich verantwortlich fühlte. Sie gehörte nicht zur Familie, Mabel hatte also keinen Grund gehabt, für ihre Unigebühren zu sparen.

»Dr. Richards erinnert sich noch an dich.« Gwen konnte Mabels Lächeln förmlich hören. »Sie meinte, sie würde sich freuen, wenn du dich für den Herbst noch einmal bewirbst. Ich hab das Kostenproblem erwähnt – natürlich ohne dass es armselig rübergekommen ist –, und sie hat gesagt: ›Nun, wir schauen mal, was wir da machen können.‹«

Gwen starrte an die Wand ihres Zimmers. Eigentlich hätte sie vor Freude auf und ab hüpfen sollen, aber sie brachte nur ein halbherziges »Oh, wow« hervor.

»Ja, wow. Hast du dir das inzwischen mal durch den Kopf gehen lassen? Du hast doch noch keinen Vertrag für die nächste Saison unterschrieben, oder?«

»Nein, das steht nächsten Monat an. Ich werde darüber nachdenken, versprochen. Es wäre nur … Es wäre eine große Veränderung.«

Eine riesige Veränderung. Gwen war nicht mehr achtzehn. Sie spielte seit vier Jahren im Manhattan Pops Orchestra, hatte sich eine Karriere aufgebaut. Geige an einer Musikhochschule zu studieren, war nicht mehr ihre oberste Priorität.

Aber an diesem Abend, während sie das tägliche Drama zwischen Vampiren und Werwölfen verfolgte und sich jeden Bissen ihres Hühnchens mit Pilzen auf der Zunge zergehen ließ, fragte sie sich, ob die Juilliard vielleicht der richtige, nächste Schritt war. Wäre sie die nächste Sarah Chang geworden, wenn sie studiert hätte, eine Geigensolistin, die zusammen mit den besten Orchestern der Welt auftrat? Gwen war dem Manhattan Pops Orchestra direkt nach der Highschool beigetreten, doch würde sie jetzt bereits Solos spielen, wenn sie mit achtzehn an die Juilliard gegangen wäre?

Am nächsten Morgen saß Gwen um sieben im Zug, einen Vanilla Latte in der einen, ihre Geige in der anderen Hand.

Als Mitglied des Manhattan Pops Orchestra bekam sie Rabatt, wenn sie Proberäume in der Carnegie Hall anmietete. Für gewöhnlich spielte sie dort, damit sie nicht den ganzen Tag ihre Nachbarn störte, wenn sie neue Stücke einstudierte. Und falls sie doch einmal in der Wohnung Geige üben musste, zum Beispiel wenn sie kurzfristig für einen Auftritt gebucht worden war, bei dem sie für jemanden einsprang, backte sie schon im Voraus Besänftigungs-Brownies und verteilte sie an die Bewohner über, unter und neben ihnen.

Zu Anfang, kurz nach ihrem Eintritt ins Orchester, hatte Gwen jeden Tag einen Raum zum Üben gemietet, weil sie das Gefühl gehabt hatte, sie kam nicht hinterher, als würde sie nicht dazugehören. Dieses Gefühl war nie ganz verschwunden, obwohl sie in der Sitzordnung kontinuierlich nach vorn rückte. Mittlerweile spielte sie in der vierten Reihe am Gang.

Sie war gerne sonntagmorgens in der Carnegie Hall. Dann war es dort nicht so voll, und es war einfacher, einen guten Raum zu bekommen. Ihre nächste Orchesterprobe fand erst am Mittwoch statt, aber sie musste noch eine Menge tun, um sich für ihren Auftritt am Wochenende vorzubereiten.

Gwen betrat das Gebäude durch den Seiteneingang, um nach oben zur Verwaltung zu gehen, wo sie einen Raum buchen konnte. Die Flure waren verlassen, aber durch einige geschlossene Türen war gedämpft Musik zu hören. Sie fühlte sich genauso wie damals als Kind, wenn sie durch die Gänge von Mabels Musikladen in Queens geschlendert war und dem Unterricht in den Proberäumen gelauscht hatte. Oft hatte sie ihr Ohr an eine der Türen gedrückt, hinter der Geigenmusik gespielt wurde – ergreifende Melodien und lebhafte Allegri. Ein gesamtes Universum, das sich vor ihr entfalten würde, hätte sie nur durch eine dieser Türen treten können.

Sie erreichte das Büro am Ende des Flures und bezahlte für neunzig Minuten in Studio fünf. Es war einer der größten Räume, der während der Stoßzeiten oft von Orchestern reserviert wurde, aber Gwen war früh dran und hatte Glück. Sie machte sich auf den Weg ans andere Ende des Gebäudes, doch als sie sich ihrem Raum näherte, hörte sie, dass Cellomusik daraus hervordrang. Genauer gesagt die Suiten für Violoncello solo von Bach. Dieses flüssige und präzise Spiel … Sie musste nicht einmal durch das kleine Fenster schauen, um zu wissen, wer spielte.

Xander Thorne saß auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes, sein Cello zwischen den Oberschenkeln, während sich seine Finger flink über das Griffbrett bewegten. Seine Augen hatte er geschlossen, und seine Stirn war wie immer gerunzelt, als sei er unzufrieden.

Während Gwen ihm zusah, wurde ihr bewusst, dass er bereits vor acht Uhr morgens in der Carnegie Hall übte, obwohl er auf der gestrigen Hochzeit bis in die frühen Morgenstunden gefeiert hatte – das hatte sie auf Instagram gesehen, als sie ihn heimlich gestalked hatte. Sie bewunderte seine Disziplin. Aber er war in ihrem Raum … und sie würde ihn vermutlich unterbrechen müssen.

Auf einmal ließ er den Bogen sinken, sodass ein ersticktes Quietschen zu hören war. Er nahm einen tiefen Atemzug und begann erneut mit der Suite Nr. I. Sein Oberkörper schien im Einklang mit jedem Takt zu pulsieren, als wären er und das Cello miteinander verschmolzen und würden zusammen atmen.

Wie gebannt sah Gwen zu und versuchte, es zu begreifen – versuchte herauszufinden, wie es ihr gelingen konnte, genauso viel Leidenschaft in ihr eigenes Spiel zu legen. Sie war hin und wieder dafür kritisiert worden, zu hölzern und fantasielos zu sein, und Xander Thorne war das genaue Gegenteil.

Gerade als sie im Begriff war, sich vom Fenster abzuwenden, um im Büro nachzufragen, ob man ihr einen anderen Raum zuteilen könne, spannte er den Kiefer an und ließ erneut den Bogen sinken, nur um wenige Sekunden später noch einmal von vorn zu beginnen.

Gwen runzelte die Stirn. Sie hatte keinen Fehler gehört.

Er hatte gerade sechs Takte gespielt, bevor er sich abrupt erhob und mit seinem Instrument zur gegenüberliegenden Wand begab. Dort blickte er zu dem Fenster hinaus, das zur Straße rausging, und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare.

Als Perfektionistin konnte Gwen seine Frustration an sich sehr gut nachvollziehen, nicht jedoch den Grund dafür. Die Suiten für Violoncello solo von Bach waren nichts, was zu einer solchen Verzweiflung führen sollte, besonders nicht, wenn man sie spielte wie er.

Xander ließ seine Schultern kreisen, dehnte den Nacken und setzte sich dann auf einen Stuhl vor dem Fenster, um langsam den Bogen an die Saiten zu führen. Mit Blick auf die 7th Avenue spielte er eine sanfte, vertraute Melodie. Wohl mir, dass ich Jesum habe.

Gwen fühlte sich, als hätte man ihr einen Schlag in den Magen versetzt. Ausgerechnet heute, einen Tag nach der Hochzeit, entschied er sich für dieses Stück. Nachdem sie selbst es mehr schlecht als recht gespielt hatte. Als würde er das auf seine Art korrigieren wollen.

Ihre Wangen röteten sich vor Scham. Jeder Gedanke daran, in einem anderen Raum zu proben, war mit einem Mal vergessen. Dieses Studio gehörte ihr. Und Xander war ihr im Weg.

Entschlossen stieß sie die Tür auf und registrierte voller Genugtuung, dass er zusammenzuckte und den Bogen sinken ließ. Sie marschierte auf ihn zu und bemühte sich um eine ungerührte Miene. »Ich hab Studio fünf für die nächsten anderthalb Stunden gebucht. Du musst Wohl mir, dass ich Jesum habe also woanders üben.«

Es machte den Anschein, als hätte er nicht verstanden, was sie gesagt hatte. Sein Blick ruhte auf ihr, beinahe schockiert, aber er rührte keinen Muskel.

Gwen stellte ihren Geigenkoffer ab und begann, sich die Jacke aufzuknöpfen, die sie trotz des warmen Aprilwetters morgens immer noch brauchte. Sie ignorierte seine Anwesenheit und breitete sich in ihrem Raum aus. Den sie reserviert und bezahlt hatte.

»Seit wann spielst du im Manhattan Pops Orchestra?«, schallte seine Stimme durch den Raum mit der perfekten Akustik zu ihr herüber.

»Seit vier Jahren«, erwiderte sie knapp und sah ihn mit einer herausfordernd hochgezogenen Augenbraue an. »Wir haben uns letzten August kennengelernt. Übrigens direkt vor diesem Studio.«

Er wirkte nicht verlegen, nur konzentriert. Außerdem machte er keine Anstalten, sein Cello einzupacken.

Gwen biss die Zähne zusammen und griff nach einem Notenständer. Dann ging sie zu einem Stuhl in der Mitte des Raumes, drehte ihn in eine andere Richtung und stellte den Notenständer davor.

Sie würde ihn einfach ignorieren, bis er endlich ging. Wann immer das sein mochte …

Gwen legte ihr Notenheft auf den Ständer, öffnete ihren Geigenkoffer und griff nach dem bernsteinfarbenen Kolophonium, um ihren Bogen damit einzureiben.

»Wo hast du studiert?«

Gwen erstarrte auf ihrem Stuhl, leicht vorgebeugt, den Arm noch zum Koffer ausgestreckt. Dann wandte sie sich zu ihm um.

Er schien immer noch keine Eile zu haben, den Raum zu verlassen. Es wirkte eher, als sei er noch nicht fertig mit seiner Befragung von gestern. Er erhob sich vom Stuhl und ließ sich stattdessen auf die schmale Fensterbank sinken, den Hals des Cellos in einer, den Bogen, der auf seinen Oberschenkeln ruhte, in der anderen Hand.

Gwen richtete sich auf und begann, den Geigenbogen mit dem klebrigen Baumharz einzureiben. »Ich hab nicht studiert.« Sie schluckte. »Ich hatte eine Geigenlehrerin, bin aber nicht zur Uni gegangen.«

Toll, dass er ihr ausgerechnet diese Frage stellte, besonders nach ihrem gestrigen Gespräch mit Mabel. Absolut fantastisch.

Als sie ihn wieder ansah, hatte er die Augenbrauen zusammengezogen und die Lippen nachdenklich zusammengepresst. Er beobachtete, wie sie das Baumharz über den Bogen gleiten ließ. Ein paar Sekunden dieses prüfenden Blicks – und sie hinterfragte alles, was sie über die Behandlung eines Geigenbogens mit Kolophonium gelernt hatte.

Er atmete ein, um etwas zu sagen, doch überlegte es sich dann anders. Stattdessen nahm er den Cellobogen in die andere Hand und fuhr sich frustriert mit den Fingern durch die Haare.

Gwen fiel plötzlich ein, dass er nicht nur irgendein Kollege war, der sie nervte, sondern der Frontmann ihrer Lieblingsband, die sie seit fünf Jahren ständig hörte. Sie kannte die Art, wie er sich durch das Haar strich. Sinnlich. Mit einem Räuspern wandte sie sich eilig ihren Noten zu, damit er nicht mitbekam, dass sie rot wurde.

»Arbeitest du am Bernstein-Medley?«, fragte er. Sie hörte, dass er endlich vom Fenster wegtrat und sich seinem Cellokoffer zuwandte.

»Ja.« Sie begann, in ihrem Notenheft zu blättern, damit sie loslegen konnte, sobald die Tür hinter ihm zugefallen war.

Der alte Holzfußboden knarrte unter seinen Schritten.

Ihr wurde warm, und ihre Haut begann zu prickeln.

»Ist es gut?«, fragte er mit tiefer, vibrierender Stimme.

Sie sah mit schmalen Augen über die Schulter zu ihm. »Du hast es dir noch nicht angeschaut?«

Er schüttelte den Kopf, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Einen Meter von ihr entfernt blieb er vor seinem Koffer stehen. »Direkt vom Blatt zu spielen, hat etwas Aufregendes. Findest du nicht?« Er hob die Augenbrauen und sah sie an, als hätten sie etwas gemeinsam – als hätte sie gestern aus freien Stücken vom Blatt gespielt.

Gwen schnaubte. »Echt jetzt? Als erster Cellist kommst du zur Probe, ohne vorher geübt zu haben?«

»Manchmal.« Er zuckte mit den Schultern.

Gwen beneidete ihn um diese Arroganz. Darum, dass er niemanden beeindrucken musste und ganz auf sein Talent vertraute. Solange sie zurückdenken konnte, arbeitete sie selbst doppelt so hart wie die meisten anderen.

»Wollen wir zusammen üben?«, fragte er.

Die Frage traf sie völlig unvorbereitet, sie sah ihn sprachlos an. Ihr Körper geriet für einen Augenblick in einen Schockzustand und weigerte sich, Sauerstoff einzuatmen. Er wollte Bernstein mit ihr spielen? Xander Thorne? Mit ihr?