Notizen eines Gewinners - Gerrit C. Paulson - E-Book

Notizen eines Gewinners E-Book

Gerrit C. Paulson

0,0

Beschreibung

Als Paulo McComen den Jackpot knackt, ist das der Anfang vom Ende seines beschaulichen Dachdeckerlebens. Der gigantische Gewinn bringt ihm die Erfüllung seiner größten Wünsche und stürzt ihn gleichzeitig in seine tiefste Lebenskrise. Schließlich steht er vor der letzten möglichen Wahl ... Eine abenteuerliche Geschichte vom trügerischen Glück der finanziellen Unabhängigkeit, von unbezahlbaren Werten, Euphorie und Größenwahn, der Sehnsucht nach Liebe und verlorenen Freundschaften, die zum Nachdenken anstiftet. Was hat echten Wert im Leben? Wie funktionieren Beziehungen? Und wonach sehnt sich am Ende das menschliche Herz wirklich?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 217

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

PROLOG

SCHWARZE ZAHLEN

PAULO, DER REICHE

GESTATTEN, ICH BIN GOTT

SCHÖN HAST DU'S HIER

LET'S DANCE!

KENNEN WIR UNS?

CHAMPAGNER STATT BILLIGBIER

WÖLFE IM SCHAFSPELZ

ICH WEISS, DASS DU MICH HÖREN KANNST

EINE ARMEE IN WEISS

ICH BRAUCHE DICH JETZT

WHISKY ZUM FRÜHSTÜCK

WIE IN TRANCE

UND WEITER IM PROGRAMM

DIE WELT DER GEGENSÄTZE

DER ANFANG VOM ENDE

EVERYTHING IS PERFECT

IRGENDWO DAZWISCHEN

»Das Chaos hier

ist unendlich,

doch die Liebe

ist es auch.«

Gisbert zu Knyphausen

(aus dem Song »Das Licht dieser Welt« vom gleichnamigen Album ©2017)

PROLOG

Er richtete sich in dem viel zu großen Doppelbett auf. Sein Körper schwankte leicht hin und her und noch immer lag der Geschmack von Whisky auf seiner Zunge. In seinem Kopf drehte sich alles und die Wände um ihn herum verschwammen immer mehr. Weiß und Blau, das waren die Farben, die er früher so sehr gemocht hatte. Doch jetzt war das Weiß ein wenig dunkler und auch das Blau war nicht mehr so kräftig. Es kam ihm manchmal so vor, als wären die Farben es leid, ein Teil dieses Raumes sein zu müssen und als wehrten sie sich gegen ihre Existenz. Das Licht strömte durch die schmutzigen Fenster in sein einst königlich wirkendes Schlafzimmer und erhitzte es. Und dennoch spürte er eine unangenehme Kälte seinen Körper durchziehen. Er streckte seine Arme, als wollte er der Decke näherkommen, sie greifen, sich daran festhalten. Er streckte sie mit einer Aggressivität, die verriet, dass er es mit seinem jungen Körper nicht gut meinte. Seine Rückenmuskeln zogen sich wie Drahtseile zusammen und bescherten ihm einen stechenden Schmerz, der schlagartig bis in den Kopf ausstrahlte. Erschöpft fiel er nach vorne und die weiche Matratze fing ihn auf.

So blieb er liegen, den Kopf in das Bett gepresst, und er fing an zu weinen. Er weinte einfach so vor sich hin. Warum er weinte, wusste er nicht und es war ihm auch egal. Er hatte nicht zu weinen versucht, es nicht heraufbeschworen oder gar darauf gehofft. Es passierte einfach und er ließ es zu. Er dachte nichts. Er träumte nichts. Es war die Leere, die ihn in den Schlaf wiegte. So sanft wie eine Mutter, die sich um ihren frisch geborenen Säugling kümmert. Diese Leere war fast erschreckend und doch war sie einfach. Es gab keine Gedanken, also gab es auch keine Sorgen. So war die Rechnung und sie ging auf. Er schlief.

Ob er vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden in seinem Bett verbracht hatte, wusste er nicht, denn es war genauso hell wie zu dem Zeitpunkt, als er eingeschlafen war. Was hätte ihn auch stören können? Seinen Wecker hatte er vor nicht allzu langer Zeit kurz und klein geschlagen. Die Telefonleitung war tot und sein Handy lag auf dem Grund des kleinen Brunnens direkt vor seiner Villa. Ein, zwei Schritte hatte er Anlauf genommen und es mit einer schwungvollen Bewegung durch die Luft ins Wasser befördert. Nach einem Blick auf die Datumsanzeige seiner Dolce & Gabbana bemerkte er jedoch, dass er nur einen einzigen Tag geschlafen hatte. Leicht verärgert mühte er sich aus dem Bett, zog T-Shirt und Boxershorts aus und ging ins angrenzende Badezimmer. Er strich mit dem Finger über seine Narbe an der rechten Augenbraue und tastete sie behutsam ab. Sie war wirklich da. Enttäuscht seufzte er auf. Die goldenen Wasserhähne wirkten jetzt ein wenig kitschig auf ihn, aber mit Silber hatte er sich damals nicht zufriedengeben wollen. Sein Blick fiel auf den Scherbenhaufen, der zusammengefegt auf dem Boden lag. Einige Marmorfliesen an der Wand waren zersprungen und heruntergefallen. Er stellte sich unter die Dusche, drehte den Hahn auf und ließ das Wasser über sich laufen, sah zu, wie es von seinen Haaren herabtropfte.

Als er sich abtrocknete, war der Spiegel beschlagen und die Erinnerung holte ihn ein. Vor langer Zeit hatte jemand einmal Nachrichten an Spiegeln für ihn hinterlassen, eine Art Geheimschrift, die durch Wasserdampf offenbart wurde:

Ich liebe dich

Ein warmer, wohltuender Schauer lief durch seinen Körper. Aber nur für einen Moment, dann wechselten Vergangenheit und Gegenwart und flossen ineinander. Fantasie und Wirklichkeit kämpften miteinander und er stand einfach nur da und sah sich diesen ungleichen Kampf an. Flehte und hoffte, dass die Fantasie Wirklichkeit und die Vergangenheit Gegenwart würde. Natürlich wusste er, wie der Kampf ausging, aber er wollte es, wie jedes Mal, neu bestätigt bekommen. So gerne hätte er sich geirrt, ein einziges Mal falsch gelegen, und wäre in der Fantasie versunken. Hätte ihm jetzt jemand gesagt, wie schön er es damals gehabt hatte, hätte er diesen Menschen ausgelacht und zum Teufel gejagt.

Wieder durchzog ein Schauer seinen Körper und er konnte sehen, wie sich die Haare auf seinen Unterarmen aufstellten. Er spürte zuerst die Kälte, dann den Schmerz. Ein, zwei, drei Minuten lang. Wenn es wehtat, fühlte er sich besser. Es erinnerte ihn wieder einmal daran, dass man sich nicht auf mehrere Schmerzen gleichzeitig konzentrieren konnte. Er spürte entweder seinen frierenden Körper oder die schmerzliche Enttäuschung, die Vergangenheit nicht zurückholen zu können.

Er trat einen Schritt vor und schaute in den beschlagenen Spiegel. Ein junger Mann, Ende zwanzig, schaute zurück. Ein wenig abgemagert, die Haut blutleer, aber wenigstens lächelte der Mund. Das gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Der Spiegel log nicht. Er befand sich noch in der Blüte seines Lebens und glücklicherweise war sein Äußeres nicht durch eine zu große Nase oder Segelohren entstellt. Im Gegenteil, er wusste genau, dass er relativ ansehnlich war. Er hatte eigentlich nie ein Problem damit gehabt, mit einer Frau ins Gespräch zu kommen. Doch so gut wie mit Anfang zwanzig sah er nicht mehr aus. Das Gesicht deutlich blasser, der Oberkörper weniger durchtrainiert. Damit hatte er sich mittlerweile abgefunden.

Um sein morgendliches Ritual beginnen zu können, stellte er sich so selbstsicher wie möglich vor den Spiegel und atmete tief durch. Die Beine noch etwas wackelig, die Brust nach vorn gedrückt, begann er laut zu sprechen: »Junge, das Leben ist hart. Und jetzt guck dich an, du bist jung und hast alles, was man sich kaufen kann! Jetzt geh raus und denk dran: Immer lächeln!«

Es wurde langsam dunkel, doch die Farben des Himmels beeinflussten ihn schon lange nicht mehr. Er hielt sich nicht an ihre Gesetze, nachts schlafen und tagsüber im Büro. Acht Stunden arbeiten, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr, minus Wochenenden und vier Wochen Urlaub. Einmal im Quartal einen ergaunerten Krankenschein. Für ihn galt das alles nicht mehr. Er hatte eigene Regeln, denen er folgte, denn er selbst hatte sie aufgestellt und konnte sie auch wieder brechen.

Er betrat seinen riesigen begehbaren Kleiderschrank und zog sich seine alte Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt an. Die leicht bekleidete Frau auf der Vorderseite des Shirts streckte ihren Mittelfinger in die Luft. Er ging zurück ins Zimmer und klopfte dabei die Hosentaschen ab. Er fühlte links ein rundes Bündel zusammengerollter Geldscheine und rechts einen kleinen Notizblock mit Stift, aber sein Haustürschlüssel fehlte. Nach einer halben Stunde vergeblicher Suche fiel ihm wieder ein, dass der Ersatzschlüssel draußen im Blumenkübel vor der Eingangstreppe liegen musste. Er ließ die riesige Marmortür hinter sich ins Schloss fallen und machte sich zu Fuß auf den Weg. Die Fahrten mit seinem Porsche war er schon lange leid. Seit einiger Zeit stand das heruntergekommene Auto wie ein Denkmal auf dem großräumigen Vorplatz seiner Villa. Jetzt schenkte er ihm im Vorbeigehen nur noch einen verachtungsvollen Blick.

Der Gang zum Getränkemarkt gehörte mittlerweile zu den wenigen Regelmäßigkeiten in seinem Leben. Immer geradeaus, an der ersten Straßenecke links und über die Hauptstraße, dann zwei Häuserblöcke weiter auf der linken Seite. Dort befand sich Tonis Laden. Als er vor dem Getränkemarkt stand, wollte er am liebsten wieder umkehren, doch seine Hand kam ihm zuvor. Er öffnete die Tür und ihm strömte eine warme Wolke Zigarettenqualm und der Geruch von Kaffee entgegen.

»Ach, du bist es, du alter Glückspilz! Eine Sekunde bitte, ich bin gleich bei dir.« Die Stimme kam aus der linken hinteren Ecke.

Wenige Minuten später trat ein kleiner, gebrechlich wirkender Mann mit einem haarlosen Kreis auf dem Hinterkopf an ihn heran. Ihm fiel ein Spruch seines lange verstorbenen Vaters wieder ein: »Der ist so klein, der muss ein Italiener sein!« Er hatte als kleiner Junge oft darüber gelacht, denn es stimmte ja. Die Leute waren klein und sie sprachen Italienisch. Aber jetzt wusste er nicht genau, ob ihm zum Lachen zumute war.

»Lass mich raten, zwei Flaschen Whisky, eine Flasche Cola und eine Schachtel Zigaretten?«

»Genau Toni, deswegen komm ich zu dir.«

Toni stammte tatsächlich aus Italien. Seine kleinen wurstigen Finger tippten die Beträge in die Kasse ein. Er beobachtete den eifrigen Verkäufer dabei, wie er alles in einer undurchsichtigen Tüte verstaute. Wie jedes Mal ertappte er sich dabei, dass sein Blick an dem großen Muttermal an Tonis linker Hand hängen blieb. Er betrachtete es genauer und empfand Ekel dabei. Der riesige dunkle Fleck schien eine Art gut gedüngter Boden für Haare zu sein. Den Handrücken bedeckte ein hässliches Büschel.

Er schüttelte sich kurz.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Toni.

»Alles gut, ist nur ein wenig kalt hier.«

Zu gerne hätte er seine Gedanken einfach laut ausgesprochen. Aber der kleine Mann mit seinen eingefallenen Wangenknochen und den dunklen Augenhöhlen erregte sein Mitleid. Eine Sekunde lang dachte er darüber nach, ihm den läppischen Betrag von vielleicht fünf oder sechshundert Euro über die Theke zu schieben. Damit könnte er die Operation bezahlen und das Muttermal entfernen lassen. Er tat es natürlich nicht. Der alte Toni hätte das Geld schon deshalb nicht angenommen, weil er zu stolz war. Das Angebot würde er als Beleidigung betrachten.

»Achtzehnvierzig bekomme ich von dir«, platzte Tonis Stimme in seine Überlegungen.

Er klopfte erneut seine Taschen ab. Eine Brieftasche besaß er schon lange nicht mehr. Er holte das tennisballgroße zerknitterte Bündel heraus und zog geschickt unter den vielen Zweihunderteuroscheinen einen Zwanziger heraus.

»Der Rest ist für dich!«

Eigentlich gab er schon lange kein Trinkgeld mehr, weshalb ihn die Leute fassungslos anschauten und manchmal auch beleidigten. Doch heute wollte er sich wenigstens einreden können, etwas Gutes getan zu haben. Er dachte kurz darüber nach und kam zu dem Schluss, dass letztendlich alles nur Einbildungssache war. Er erinnerte sich an einen Satz, den er vor Kurzem erst in sein Notizbuch geschrieben hatte:

Es ist nicht wichtig, Stark zu sein sondern sich stark zu fühlen.

Seiner Meinung nach war da etwas Wahres dran. Er fand auch, dass es schwieriger war, wenn man wusste, dass man sich selbst belog. Jemand, der das Glück hatte, dumm zu sein, konnte sich mühelos fühlen wie ein Held. Aber er war keineswegs dumm.

Erst auf dem Nachhauseweg fiel ihm auf, dass es schon fast wieder Herbst war. Die Blätter waren nur noch durch einen seidenen Faden mit den Bäumen verbunden und verloren langsam ihre Farbe. In der Luft lag eine freundliche Milde, die er mit jedem Atemzug spüren konnte. Es faszinierte ihn, wie hart und effizient die Natur war. Alles Überflüssige wurde einfach abgestoßen, ohne Emotionen, ohne Reue. Als würden die Bäume mit dem Wind für diesen tödlichen Komplott kooperieren, um Platz für etwas Neues zu schaffen.

So ähnlich könnte es auch bei uns funktionieren, dachte er. Einen wesentlichen Unterschied stellte er aber doch fest und holte sein kleines Notizbuch aus der rechten Hosentasche. Auf eine freie Seite schrieb er:

Die Natur denkt nicht, sie tut nur.

Das konnte man von vielen Menschen wohl auch behaupten, aber nicht von allen. Er musste ein wenig schmunzeln, doch sein Gesichtsausdruck fror gleich wieder ein. Genau das waren die Dinge, über die er gerne mit jemandem gesprochen hätte. Doch ihm fiel niemand mehr ein, der ihm zuhören, geschweige denn ihn verstehen würde.

Gedankenverloren lief er den Weg zu seiner Villa zurück. Als er vor dem weißen, mit scharfen Spitzen bewehrten Eingangstor stand, fühlte er sich ein wenig benommen. Er war trunken von seiner eigenen Weltanschauung. Er spürte, wie seine Gedanken sein Gehirn regelrecht vergifteten. Nur war es die Realität, die ihm toxisch vorkam, und entfliehen konnte er ihr immer nur zeitweise, wie sehr er sich auch bemühte.

Bevor er den Schlüssel unter dem Blumenkübel hervorzog, blickte er sich um. Niemand sollte dieses Versteck kennen, denn er wollte es nicht ständig wechseln müssen. Er schnappte sich den Schlüssel und versuchte mit zitternder Hand, das Schloss zu öffnen.

»Das gibt‘s doch nicht, warum geht die verdammte Tür nicht auf!«, zischte er. Er vermutete eine bösartige Intrige und sah sich erneut um. Nachdem er ein paar Erdreste von dem Schlüssel entfernt hatte, startete er einen zweiten Versuch. Der Schlüssel glitt nun wie von selbst in den Zylinder und öffnete die riesige Tür. Er schleuderte erleichtert die Schuhe durch den Eingangsbereich und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Im Vorbeigehen warf er seine Jacke direkt neben den Sessel, auf dem er noch nie gesessen hatte, und ging in die Küche. Dort drehte er zuerst die Whiskyflasche und anschließend die Colaflasche auf, schüttete sich das Glas drei Viertel mit Whisky voll, füllte es bis zum Rand mit Cola auf und setzte sich damit in Bewegung.

Musikerhimmel nannte er das Zimmer liebevoll, das er anpeilte. Unzählige Gitarren hingen an der Wand, deren makellose Lackierung sein blasses Gesicht widerspiegelten. Gelbe, grüne, schwarze, weiße, blaue, gestreifte und karierte Gesichter schauten ihn von allen Seiten aus an. Er atmete tief ein und genoss den vertrauten Geruch des Ahornholzes. Die Wände waren mit grauem Schaumstoff beklebt. Es standen riesige Verstärker da, bei deren bloßem Anblick einem die Ohren schmerzten. In der Mitte befand sich ein kleiner Hocker, neben dem ein schwarzes Kabel lag. Er stellte das Glas auf dem Boden ab, nahm sich eine E-Gitarre von der Wand und setzte sich. Er spürte, wie das durchgesessene Leder unter seinem Gewicht langsam nachgab.

Behutsam steckte er das Kabel in die Buchse und legte den Schalter des Verstärkers um, als handelte es sich um den Hauptakt eines heiligen Rituals. Ein leichtes Dröhnen breitete sich im Raum aus. Er fing an zu zählen: »Eins, zwei, drei ... und gooooooo!«

In dem Moment, als er die Saiten anschlug, zitterte die Luft, die Wände schienen zu wackeln und die Erde zu beben. Die Vibrationen des Basses konnte er deutlich auf seiner Haut spüren. Da saß er nun, mit geschlossenen Augen, nippte ab und zu an seinem Glas und spielte. Er spielte bekannte Lieder, er spielte eigene Lieder, er improvisierte. Ohne nachzudenken bewegte er seine Finger und nur das Verlangen, sein Glas wieder aufzufüllen, konnte ihn von seinem Hocker losreißen.

SCHWARZE ZAHLEN

Paulo McComen füllte seinen Lottoschein in der kleinen Annahmestelle am Stadtrand von Dublin aus. Auf dem Weg dorthin hatten die Straßen nach nassem Asphalt gerochen und die Menschen waren ihm mit aufgespannten Regenschirmen entgegengekommen. Er setzte sieben Kreuze, die sein ganzes Leben Hals über Kopf verändern und seinen Charakter auf den Prüfstand stellen sollten.

Seit er achtzehn Jahre alt war, gab es keine Ziehung, bei der er nicht mitspielte. Oft träumte er vom großen Geld, vom gütigen Schicksal, das ihn von den Sorgen über die Hypothek des elterlichen Hauses und seinen klappernden Wagen auf einen Schlag befreien würde. Er hatte es zwar vor ein paar Jahren bis zum Dachdeckermeister gebracht und verdiente ein wenig mehr als die Gesellen in seinem Betrieb, doch sein Geld war am Ende des Monats trotzdem immer knapp. Dass er bloß einen handwerklichen Beruf ausübte, hieß noch lange nicht, dass er nicht clever genug war, um eine Universität zu besuchen. Er befand sich jedoch in der misslichen Situation, dass seine Mutter nach einem Herzinfarkt nicht mehr in der Lage war, zu arbeiten. Er wollte nicht tatenlos zusehen, wie sie mit ihrer dürftigen Rente immer mehr Schulden anhäufte. Paulo war entschlossen, seinen Teil dazu beizutragen, das kleine Haus am Stadtrand gemeinsam halten zu können. Auf das universitäre Wissen musste er ja nicht zwingend verzichten. Er las sich kreuz und quer durch die Bibliotheksregale, von Bohr bis Schrödinger, von Hegel bis Nietzsche.

Als er einmal ehemalige Mitschüler wiedertraf, die inzwischen studierten, bemerkte er, dass sie zwar viel wussten, aber dafür so gut wie gar nichts verstanden. Er spürte, dass sie sich hinter Fachbegriffen versteckten, um ihm zu erklären, wie die Welt funktionierte. Paulo war davon wenig beeindruckt. Er hatte das deutliche Gefühl, ihnen geistig überlegen zu sein, hielt diesen Eindruck jedoch lieber vor ihnen verborgen.

Das Geld für sein Lottospiel investierte er immer gern, da er darin die einzige Chance sah, jemals an eine beträchtliche Summe zu kommen, ohne gleich eine Bank überfallen zu müssen. Bei jeder Ziehung saß er gespannt vor dem Fernseher, zündete sich eine Zigarette an und fragte sich aufs Neue, was eine so bezaubernde Frau mit solch einem makellosen Körper dazu bewegte, dem Job einer einfachen Lottofee nachzugehen. Er war sich sicher, dass sie zweifelsohne auch ein Model oder eine berühmte Schauspielerin hätte sein können.

Als die entscheidende Ziehung schon in vollem Gange war, konzentrierte sich Paulo auf den Bildschirm. Er verfolgte erwartungsvoll, wie sich die große Glaskugel mit den kleinen weißen Bällen darin drehte. Kurz bevor die erste Zahl fiel, richtete er sich auf, wie er es immer tat, wenn er eine leichte Anspannung verspürte. Sein Blick sprang hin und her zwischen dem Ball und der Frau, als könne er sich nicht so recht entscheiden. Ihre Bluse spannte leicht über der Brust und bei einer vorteilhafteren Kameraeinstellung hätte er sicherlich zwischen den Knöpfen hineingucken können.

Paulo verglich die erste Zahl mit der auf dem Lottoschein. Sie stimmte. Er beugte sich nach vorne und drückte seine Zigarette in den Aschenbecher, ohne seinen Blick vom Fernseher abzuwenden. Eine Minute später fand er auch die zweite und dritte Zahl auf seinem Zettel wieder. Er wusste ganz genau, dass es verrückt war, nach drei Richtigen vom großen Geld zu träumen, aber bei der vierten Zahl sah er sich schon in einem brandneuen Auto sitzen. Der Zigarettenstummel glühte im Aschenbecher vor sich hin und verbreitete einen unangenehmen Gestank, doch Paulo stieg jetzt nur noch der Duft druckfrischer Geldscheine in die Nase. Er wackelte verneinend mit dem Kopf, um die Spinnereien so schnell wie möglich abzuschütteln, und rieb sich die Augen. Krieg dich wieder ein!, dachte er und schmiss sich in das Rückenpolster des Sessels zurück.

Auf dem Fernsehbildschirm erschien die 34. Schwarz auf weißem Ball. Paulo wurde hektisch und fühlte einen Tropfen Schweiß unter der Achsel seitlich herunterlaufen. Wenige Sekunden später schienen es unzählige Tropfen zu sein. Eine beklemmende Wärme strömte durch seinen Körper und alles um ihn herum schien bedeutungslos zu werden. Von der Aufregung überwältigt, fragte er sich immer wieder, wie viel Geld er wohl für fünf Richtige bekommen würde. Er war so in Gedanken, dass er beinahe die sechste Zahl verpasste. Sie leuchtete auf dem Bildschirm auf. Sein Herz schlug wie ein Presslufthammer.

»Sechzehn«, flüsterte er fast tonlos.

Seine zittrigen Finger zogen den Lottoschein dicht heran. Seine Augen suchten, doch er war so benommen, dass er nichts mehr klar erkennen konnte. Alles verschwamm und fiel aus seinem Blickfeld heraus. Seine Knie hatten bereits nachgegeben und er rutschte zwischen die Sitzfläche und den massiven Holztisch. Aus dem Lautsprecher kam auf einmal nur noch eine dumpfe und verzerrte Stimme, als hätte jemand den Geschwindigkeitsregler heruntergedreht. »Uuund diiiie Zuuusaaatzzaaaaahl lauuuutet ...« Einige Sekunden später ging das Geleier in ein schrilles Pfeifen über. Paulo bemerkte gerade noch, dass sein Oberkörper nach vorne fiel. Dann war es dunkel.

Mehrere Stunden später kam er wieder zu sich. Das Erste, was er hörte, war ein angenehmes und beruhigendes Plätschern. Er stellte sich einen Wasserhahn vor, den jemand vergessen hatte zuzudrehen. Noch ein wenig orientierungslos und fast noch in derselben Körperhaltung, in der er umgefallen war, lag er auf dem Boden. Aus einer klaffenden Wunde über der rechten Augenbraue tropfte Blut auf das Laminat. Paulo stützte sich vorsichtig am Tisch ab und richtete sich auf, dann ging er wankend ins Badezimmer und betrachtete die Wunde im Spiegel. Er griff nach einem Handtuch, machte es nass und fing an, sich das geronnene Blut von der Stirn und der Wange zu wischen.

Er starrte auf das Handtuch und fragte sich, warum er in Ohnmacht gefallen war. Beim besten Willen, er wusste es nicht. Angestrengt und verkniffen runzelte er die Stirn und versuchte, sein Gehirn zu zwingen, diese Information irgendwie doch preiszugeben, ohne Erfolg.

Es musste etwas mit dem Fernseher zu tun haben, denn als er zurück ins Wohnzimmer kam, bemerkte er, dass er noch eingeschaltet war. Gerade, als er der Sache näherzukommen schien, klingelte es an der Tür. Er drückte das Handtuch auf die Wunde und ging langsam in den Flur. Zehn Uhr? Das kann doch noch gar nicht sein!, schoss es ihm durch den Kopf. Er öffnete die Tür.

»Hey Paulo!« Eine gut gelaunte Frau stand vor ihm, die bei seinem Anblick erschrak und einen Moment innehielt. »Was ist denn mit dir passiert?«

»Ich bin nur hingefallen, halb so wild.«

»Nimm mal das Handtuch weg!«

Paulo senkte den Arm. In diesem Moment verschwand auch das letzte übrig gebliebene Lächeln aus dem Gesicht der jungen Frau. »Wir fahren ins Krankenhaus, das sieht ja schlimm aus!«

Nach mehreren Versuchen, eine Fahrt ins Hospital abzuwenden, gab er letztendlich nach und sie fuhren los.

»Unser Date habe ich mir ein wenig anders vorgestellt«, sagte die Frau besorgt, während sie das Gaspedal durchtrat.

»Glaub mir, ich mir auch.«

Paulo konnte jedes Schlagloch der kaputten Straße spüren. Immer, wenn das Handtuch durch die unkontrollierten Bewegungen an seiner Wunde rieb, wollte er schreien. Männer schreien nicht, zumindest nicht, wenn sie neben einer bildhübschen Frau sitzen, dachte er dann. Die Chancen standen etwa fünfzig zu fünfzig, dass sie ihn für das wehleidige Getue noch mehr mochte, weil sie jemanden zum Bemuttern hatte, oder dass sie ihn danach nie wieder anrufen würde. Das Risiko wollte er nicht eingehen.

Im Krankenhaus angekommen, musste er zunächst einige Zettel ausfüllen, bis ihn die Dame an der Rezeption aufforderte, sich in den Behandlungsraum Nr. 16 zu begeben. Er zuckte kurz zusammen. Die letzten Worte klangen in seinem Kopf deutlich nach. Da er sich darauf jedoch keinen Reim machen konnte, bat er seine Verabredung, kurz zu warten, und verschwand in einem der langen Gänge der Ambulanz.

Paulo hasste den Geruch in Krankenhäusern. Alles schien so steril, dennoch war er sich sicher, dass eine leichte Note von Erbrochenem in der Luft lag. Als er vor dem Behandlungszimmer stand, starrte er einen Moment lang auf die schwarze Zahl an der weißen Tür. Irgendwas ist komisch, dachte er und runzelte die Stirn. Er versuchte vergeblich, seine Irritation einzuordnen, dann betrat er den Raum und nahm sich vor, nicht weiter darüber nachzudenken. Vorsichtig setzte er sich auf die Behandlungsliege und sah sich in dem Zimmer um. All die vielen Plakate mit abgebildeten Skeletten, Knieabschnitten und Handgelenken im Querschnitt, konnte er nur kurz betrachten, denn die Tür öffnete sich und ein älterer Mann mit zerzaustem Haar trat ein.

»Ahhh, ich sehe schon, da werden wir Nadel und Faden brauchen.«

Paulo hatte gehofft, dass die vier Wörter »Nadel«, »Faden«, »nähen« oder »Spritze« nicht in der Unterhaltung vorkommen würden, obwohl er wusste, dass das ein wenig naiv war. Okay, dachte er, dann muss es wohl so sein!

Die Nadel durchdrang seine Haut wie Butter und er spürte jeden einzelnen Stich. Jedes Mal, wenn der Arzt mit dem Faden die beiden Enden der Wunde zusammenzog, schoss blitzartig ein Schmerz durch seine Wange und den Hals hinunter bis in die rechte Seite seiner Brust. Es war nicht das erste Mal, dass er genäht wurde. Deswegen war er mit diesem Schmerz gut vertraut, was die Sache jedoch nicht unbedingt angenehmer machte. Er wollte sich ablenken und unternahm erneut den Versuch, sich zu erinnern. Gedanklich ging er den kompletten Tag noch einmal durch. Es musste etwas mit dem Fernseher zu tun haben und wahrscheinlich auch mit Zahlen. Eine vage Idee entstand, als ihm einfiel, dass er die Lottoziehung im Fernsehen gesehen hatte. Noch ein wenig im Unklaren darüber, ob er das alles nur geträumt hatte, öffnete er seinen Mund.

»Ja genau ..., die Lottoziehung«, sagte er ganz leise, und dann, ein wenig lauter und bestimmter: »Die Lottoziehung!« Beim dritten Mal brach es förmlich aus ihm heraus:

»Lottoziehung!

Die sechste Zahl!«

Der Arzt blickte ihn erschrocken an. »Nur noch einen Stich junger Mann, dann bin ich fertig. Und danach reden wir mal über ihre geistige Verfassung!«

»Nein, nein«, rief Paulo. »Sie verstehen nicht ..., ich muss los!«

Plötzlich schoss das Blut wieder in seinen Kopf und er hatte das gleiche Kribbeln im Bauch, das er vor seiner Ohnmacht im Sessel sitzend verspürt hatte. Er wartete auf das Ende seiner Behandlung mit einem Grinsen im Gesicht, das den Arzt etwas irritierte. Kaum hatte der den Faden geschnitten, sprang Paulo von der Liege und rannte hinaus.

»Warten Sie! Sie können nicht einfach so gehen!«, schrie ihm der Arzt hinterher, doch dieser Satz verhallte wirkungslos. Paulo zog bereits sein Date hinter sich her und stürzte durch die Drehtür auf den Vorplatz.

»Ich muss ... wir müssen nach ... die Lottozahlen«, stotterte er vor sich hin, während er nervös versuchte, sich anzuschnallen.

Seine hübsche Begleitung verstand die Welt nicht mehr und war sichtlich verwirrt von Paulos Verhalten.

»Verstehst du nicht?«, drängelte Paulo und griff nach ihrer Hand. »Nach Hause! ... der Schein! Ich ..., ich ... bin reeeeiiich!«

»Gaaanz ruhig!« Die Dame hatte offensichtlich Schwierigkeiten, ihm gedanklich zu folgen. »Du bist gerade auf den Kopf gefallen. Du solltest dich erst einmal beruhigen, okay?«

Paulo atmete kurz durch, um seine Sprache wiederzufinden. »Glaub mir, es ist wichtig! Ich erklär's dir später, aber jetzt müssen wir verdammt noch mal sofort zu mir nach Hause fahren!« Er erklärte ihr genau, was passiert war, und wies sie immer wieder an, schneller zu fahren. Da er die Fahrt jedoch nicht wirklich beschleunigen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich abzulenken.