Nur ein Schatten von dir - Janne Loy - E-Book

Nur ein Schatten von dir E-Book

Janne Loy

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Beschreibung

Eine ganz besondere Liebe, ein unerklärliches Ende Vor langer Zeit beginnt Linda zögerlich eine Liebesbeziehung mit dem sehr viel jüngeren Joe, den sie als Aushilfe in ihrem Büro eingestellt hat - eine Beziehung, die alles durcheinanderwirbelt, nur um plötzlich zu enden, ohne Vorwarnung und ohne Erklärung. Getrieben von Schuldgefühlen und verborgenen Geheimnissen, begibt sich Linda auf eine Reise, die sie Jahre später zu einer schockierenden Enthüllung führt. Eine Geschichte über eine verlorene Liebe und die Suche nach der Wahrheit Erlebe mit Linda eine emotionale Achterbahnfahrt voller unerwarteter Wendungen. Manchmal sind die größten Geheimnisse diejenigen, die wir am meisten fürchten.

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Buch:

Lindas große Liebe mit dem sehr viel jüngeren Studenten Jo endete vor vielen Jahren abrupt, ohne dass sich Linda daran erinnern könnte, was damals passiert ist. Wie es scheint, weiß das auch niemand in ihrem Umfeld so genau. Linda zieht sich vom Leben zurück. Schuldgefühle quälen sie. Aber selbst die kann sie nicht einordnen. Mit dem Aufschreiben ihrer Geschichte, die ihre Liebe zu Jo von den Anfängen an beschreibt, hofft sie, der Sache endlich auf die Spur zu kommen. Und dann tritt eine Frau in ihr Leben, die Lindas Welt komplett in Stücke reißt.

Über die Autorin:

Nur ein Schatten von dir ist eine Neuauflage des seinerzeit von Janne Loy veröffentlichten Debütromans Zerronnenes Wachs. Wenn Janne nicht schreibt, fährt sie gerne mit dem Fahrrad durch Felder und Wiesen oder geht spazieren, am liebsten am Meer. Die gebürtige Nordwalderin wohnt in Borghorst und arbeitet in der Romanistik der Uni Münster.

Diese Geschichte ist für alle, deren große Liebe ohne jegliche Anzeichen von heute auf morgen nicht mehr auffindbar ist. Zunächst jedenfalls.

Vor allem für diejenigen, die es niemals fassen können.

»Bei dem Gefühl des Unvermeidlichen lief es mir eisig über den Rücken. Dieses Lachen nie mehr zu hören, Ich konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Für mich war es wie ein Brunnen in der Wüste.«

(Der kleine Prinz)

Und unter den dicksten Bäumen im Wald ist bestimmt ein ehemaliger Lichtmann, der alles in der Welt überschaut und behütet. Und ganz oben in den Baumkronen wohnen die Feen in Blätterhütten und fliegen tagsüber unsichtbar umher. Und dann flüstern sie einigen Menschen ins Ohr, keine Angst vor der Liebe zu haben.

(AUSZUG AUS LINDAS MÄRCHEN)

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

DAS MANUSKRIPT: 1: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Aushilfe gesucht

DAS MANUSKRIPT: 2: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Besuch von zwei alten Damen

DAS MANUSKRIPT: 3: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Die „kochenden“ Bewerber

DAS MANUSKRIPT: 4: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Joe

DAS MANUSKRIPT: 5: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Vergnügungstour nach Feierabend

LAUENBURG: Gegenwart: 2: Noch ein Zeichen

DAS MANUSKRIPT: 6: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Kein Frühstück, dafür ein Auftrag à la Benedikt

LAUENBURG: Gegenwart: 3: Emilia

DAS MANUSKRIPT: 7: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Planänderung

DAS MANUSKRIPT: 8: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Kleine rosa Kapseln

DAS MANUSKRIPT: 9: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Zeit für Emilia

DAS MANUSKRIPT: 10: Wilhelmshaven/Waldesch – damals, vor vielen Jahren Ein Koch für Frankreich: Tagträume

DAS MANUSKRIPT: 11: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Benedikts Geschäftsreise

DAS MANUSKRIPT: 12: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Böse Überraschung

DAS MANUSKRIPT: 13: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Fast ein Geständnis

DAS MANUSKRIPT: 14: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren: Der echte Koch

LAUENBURG: Gegenwart: 4: Der Traum

DAS MANUSKRIPT: 15: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

DAS MANUSKRIPT: 16: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

DAS MANUSKRIPT: 17: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

LAUENBURG: Gegenwart: 5: Isa

DAS MANUSKRIPT: 18: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

LAUENBURG: Gegenwart: 6: Der Vorleser

DAS MANUSKRIPT: 19: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

LAUENBURG: Gegenwart: 7: Beste Freundinnen

DAS MANUSKRIPT: 20: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

DAS MANUSKRIPT: 21: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

DAS MANUSKRIPT: 22: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

LAUENBURG: Gegenwart: 8: Unvollständiges Puzzle

DAS MANUSKRIPT: 23: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

LAUENBURG: Gegenwart: 9: Der Anruf

LAUENBURG: Gegenwart: 10: Julianes Bekenntnis

LAUENBURG: Gegenwart: 11: Befreiung

DAS MANUSKRIPT: 24: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

DAS MANUSKRIPT: 25: Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

LAUENBURG: Gegenwart: 12: Alte Schriftstücke

LAUENBURG: Gegenwart: 13: Abschied

Von der Autorin bereits erschienen

Das Buch

Die Autorin

Erster Teil

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PROLOG

Bis zu meiner Lebensmitte klopfte in größeren Abständen ein neues Glück an meine Tür, kam herein, legte den Mantel ab, setzte sich und verschwand nach einiger Zeit wieder. Dann und wann hinterließ es Spuren, die traurig oder komisch oder befremdlich waren, vereinzelt verlosch es spurlos. Zuletzt aber hinterließ es Risse in meinem Herzen, die nicht zu heilen vermögen. Es braucht Mut, etwas loszulassen, was einmal das Entscheidende im Leben war. Täglich denke ich an einzelne Stunden, Wochen oder Monate meines Lebens, die erfüllt waren von Zufriedenheit und Wohlgefühl, aber gleichwohl von meinem alles vernichtenden Misstrauen. Mein Gefühl sagt mir, dieses Misstrauen stehe womöglich in Verbindung mit dem Verlust der größten Liebe meines Lebens, auch wenn ich den Zusammenhang noch immer nicht erkennen kann.

Lange ist es her, dass ich damit begonnen habe, alles aufzuschreiben, aus dieser Phase meines Lebens, in der ich für kurze Zeit wirklich glücklich war. Fast ist es beendet, mein Werk. Seit Jahren schon. Fast! Was ich nicht hinbekomme, ist der Abschluss meiner Geschichte. Immer wieder hole ich mein Skript hervor und versuche es. Jahrelang. Aber ich kann mich an diesem einen Punkt, genau der, der das Ende meiner großen Liebe beschreiben soll, nicht mehr richtig konzentrieren. Ich bin da plötzlich nicht mehr bei der Sache. Meine Erinnerung lässt mich im Stich. Immer. So oft ich mein Gedächtnis auch ermahne, es auffordere, mich nicht länger hinzuhalten, es will sein Geheimnis für sich behalten.

Auch an diesem sonnigen Spätsommertag sitze ich mit Stift und Papier auf meiner kleinen Veranda, sinne über das Ende meiner Liaison nach, schaue währenddessen auf das unglaublich schöne Grün der umliegenden Felder, betrachte das Blumenmeer in Annas Garten, die beiden Hinkelsteine in meinem, die Dahlien neben dem Apfelbaum … Da brennt sich auf einmal ein verändertes Bild in meinen Kopf. Die Wiesen verlieren ihr prahlerisches Grün, werden blasser, verschwommener, die Gräser höher, uneinheitlicher. Schmale, buckelige Pfade führen zum teils sandigen, teils steinigen Ufer eines Flusses, der Maade.

DAS MANUSKRIPT

1

Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

Aushilfe gesucht

Obwohl es bereits Ende April war, hatte der Frühling sich bislang nicht durchsetzen können. Bis gestern noch hatte der Winter ihn fest im Griff. Heute war der erste sonnendurchflutete Tag. Das war normalerweise wunderbar stimulierend, aber ich fühlte mich auf eigenartige Art energielos. Es war Montagvormittag. In meinem Büro in einer Reiseagentur am Rande von Wilhelmshaven, die neben Sport- und Abenteuerurlauben auch Gruppenreisen und Klassenfahrten an die Strände Portugals und die französische Küste organisierte, grübelte ich gerade über der Vorbereitung eines Ferientrips für eine Pfadfindergruppe, die im Juni ins warme Portugal wollte und nahezu täglich neue Anforderungen stellte oder die Zahl der Teilnehmer immer wieder änderte. Normalerweise bin ich ein geduldiger Mensch, aber die Reise für diese Truppe, die sich Skipping Squirrels nannte, war kaum planbar und die Bande sowie die beiden Gruppenleiter schafften es, meinen Reizbarkeitsspiegel mit ihren Anforderungen komplett an den Anschlag zu bringen. Außerdem konnte ich mich heute wieder einmal nicht konzentrieren. Meine Gedanken schweiften ständig zum Fenster hinaus, weit, weit davon. Ich würde mich mal wieder durch den Tag träumen, wie so oft. Ich plante Reisen in die Sonne. Dabei sehnte ich mich selbst nach Sonne und Wärme. Und nach noch etwas: Meinem Traummann, mit dem sich nach einem Streit noch kuscheln ließ, einem, der mir abends etwas vorlas oder den Rücken streichelte, während ich langsam und behaglich einschlafen durfte, der unter dem Sternenhimmel Schampus mit mir trank und der Bücher liebte.

Das nervige Gepiepe meines Faxgerätes riss mich aus meinen Gedanken. Ich fuhr aus meinem Drehstuhl hoch, streckte meinen linken Arm über einen Haufen noch zu bearbeitender Rechnungen und riss ungeduldig das vom Gerät ausgespuckte Schreiben heraus. Ich ahnte schon, wer der Absender war. Und genau. Als der Schriftzug der Skipping Squirrels sowie darunter die auffallend große Betreffzeile ALLGEMEINE ERWARTUNGEN an das Küchenpersonal während unseres Sommerlager-Aufenthaltes meine Augen quälte, rechnete ich gleich mit etwa hundert-siebenundfünfzig kuriosen Sonderwünschen und stöhnte hörbar auf.

»Doch nicht hier, Linda. Und dann so laut!«, hörte ich Juliane im Büro nebenan fröhlich lästern.

Die Schwelle, an der man regelrecht platzt, wenn jemand etwas Ironisches oder Zweideutiges sagt, war bei mir soeben erreicht und ich fuhr sie an:

»Juliane, verdammt. Kannst du dich bitte einmal mit deinen saublöden Kommentaren zurückhalten?«

Da stand die Frau mit dem allzeit perfekten Äußeren auch schon in meinem Büro. Sie schüttelte ihre kinnlangen, platinblonden Locken, die ihr sorgfältig geschminktes Gesicht umrahmten.

»Begeisterung liegt bei dir heute nicht gerade in der Luft, was? Schlecht geschlafen, Süße?«

Schlecht geschlafen hatte ich allerdings, und zwar aufgrund der vielen Arbeit, die im Büro auf mich wartete.

»Jawohl, das auch«, fauchte ich zurück.

»Du musst mir mit deiner miesen Laune aber nicht den Tag verderben.« Juliane baute provozierend ihre dürre Statur dicht vor mir auf, stemmte ihre Hände in die Hüften, wobei sie ihre überlangen, violett lackierten Fingernägel zur Schau stellte, und zog eine hämische Schnute, um kurz darauf beschwichtigend zu lächeln. »Wenn du zu viel um die Ohren hast, sag Bescheid. Rieke kann dir sicher zur Hand gehen.«

Rieke, die den frischen, herzlichen Menschentyp repräsentierte und unter Julianes Obhut eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau machte, war mit ihren neunzehn Jahren das Küken in der Agentur. Manchmal half sie mir auch ein wenig, kopierte etwas für mich oder kümmerte sich um die Ablage.

»Na gut. Sie könnte ein paar Briefe zur Post tragen und Geld für die Handkasse von der Bank holen«, sagte ich grantig und ohne Dankbarkeit.

Juliane zog ihre schmächtigen Schultern hoch und seufzte.

»Ich merk‘ schon. Du bist heute ungenießbar.«

»Kann vorkommen«, muffelte ich weiter.

Ohne sie anzusehen, nahm ich das Fax der Pfadfinder widerwillig zur Hand und schaute darauf, las aber gar nicht. Mein Kopf war schon wieder mit Grübeln beschäftigt. Wer war ich? Durchschnitt. Eine Tagträumerin. Schönträumerin. Nicht unbedingt der Frauentyp, der Männer dazu bringt, augenblicklich zu entflammen. Mein Haar war von hellem Honigblond und ich trug es lang bis zur Brust, wenn mein Kollege Torsti und Juliane auch meinten, das sei nicht mehr altersentsprechend. Zu meiner kleinen Welt gehörten zwei erwachsene Kinder, die mittlerweile ihr eigenes Leben lebten. David schlug sich als freier Journalist in den Niederlanden durch und wohnte mit seiner Freundin zusammen. Natalia arbeitete als Krankenschwester in Hamburg, kam wegen enormer potenzieller Verpflichtungen eher selten zu Besuch und wechselte ihre Männer so regelmäßig wie ihre Zahnbürste.

Irgendwie schien das mit den Frauen in meiner Familie und den Männern nicht so richtig zu klappen. Unbeirrt gab ich selbst dem aufgeweckten, sensiblen Typ den Vorzug, lieber mäßig schüchtern als zu vorlaut oder aufdringlich. Aber diese Art Mann war offenbar ausverkauft oder für andere Frauen reserviert. Bei mir schien diesbezüglich etwas falsch programmiert zu sein. Nahezu immer hatte mir das Leben den rücksichtslosen Helden zugespielt, den Hasserfüllten, der von seinem eigenen Gift verätzt, nicht mehr imstande war, jemanden zu lieben, oder den gefühlsarmen Vernunftmenschen, für den Sex kein Genuss, sondern eine Notwendigkeit wie regelmäßiger Stuhlgang war. Vergessen habe ich auch nicht den an geschlechtlicher Liebe gänzlich Desinteressierten, der sich seine Langeweile mit Holzfiguren schnitzen oder Nüsse sammeln in freier Natur vertrieb. Ich stellte mir häufig vor, vielleicht hielte das Universum an verborgenem Ort einen dicken Baum versteckt, behängt mit Urformen meiner Wunschkategorie und es existierte ein geheimes Spiel, nämlich zu erraten, wie ich mir einen davon pflücken konnte. Sollte meine esoterische Fantasie stimmen, war ich gewiss keine gute Spielerin.

Vorgestern Nacht wieder. Ich war aus. Tanzen. Hatte solche Lust verspürt, für eine Nacht die Welt mit meinen Händen aufzusammeln und an etwas anderes zu denken als an Stand-by-Flüge, desolat verlaufende Gruppenreisen und beunruhigende Kontoauszüge. Später fand ich mich in einer schmucken Männerwohnung, die einem recht galant scheinenden Mann namens Sven gehörte. Ich war wohl verrückt gewesen, einfach mit ihm zu gehen. So profimäßig, wie er uns Wein einschenkte, so gelassen wie er mir das korrekt gefüllte Glas reichte, die Unbefangenheit, mit der er nach dem ersten Schluck unter mein Shirt griff und mir auf spielerische Weise das Teil vom Leib riss, die schöpferische Energie, mit der er sich selbst entblößte, um den Koitus zu vollziehen, all das erinnerte mich an die routinemäßige Sachverständigkeit eines erfahrenen Draufgängers. Ich spürte ungeduldige Routine zwischen seinen Lippen, die ungeduldige Routine seiner Hände, ungeduldige Routine beim Überstülpen des Nahkampfgummis. Sodann kletterte er in Position, schaukelte und vibrierte mit verkrampfter Gesichtsmuskulatur gefühlte drei Sekunden auf mir und – eins, zwei, drei, zack – war er fertig. Rollte sich weg. Stand auf. Ließ mich liegen. Lief ins Bad. Ich hörte den Wasserhahn laufen. Als er zurückkam, stand ich bereits wieder fix und fertig angezogen vor seinem luxuriösen Scheiß-Angeber-Wasserbett und bat ihn, mich nach Hause zu fahren. Missmutig griff er nach seinen Klamotten, wobei er sich tatsächlich nicht nehmen ließ zu fragen, ob wir uns noch einmal wiedersehen. Ich verneinte. Seine Schuhe schepperten auf dem grauen Laminatboden, als er sich zu mir umdrehte und mich fassungslos ansah. Er rief ein Taxi und wir sprachen kein Wort mehr, während wir darauf warteten.

Es passierte manchmal, und nur dann, wenn eine Übellaunigkeit mich in den Arm nahm, dass ich ein kleines bisschen eifersüchtig auf Juliane war. Das Leben offerierte ihr scheinbar alles, um glücklich zu sein und bot ihr meiner Meinung nach nur wenig Grund zur Unzufriedenheit. Sie hatte bewusst reich geheiratet, woraus sie nie ein Geheimnis machte. Im Gegenteil. Sie war stolz auf ihr Attribut in Form eines angesehenen und gutverdienenden Chefarztes. Ihr Herz hing auffällig an materiellen Dingen. Juliane liebte Statussymbole und teure Klamotten. Anerkennung und Bewunderung waren für sie sehr wichtig, weswegen sie ihren anstrengenden Büroalltag wunderbar meisterte, ohne sich jemals zu beklagen. Lange Zeit hatte sie als Sprechstundenhilfe für ihren jetzigen Ehemann, den Chefarzt der Inneren Abteilung in der Reinhard-Nieter-Klinik, gearbeitet. Eines Tages hatte sie jedoch Lust bekommen, einmal etwas anderes zu probieren, als im Krankenhaus die Routinearbeiten zu erledigen. Ihr Mann war seit Langem mit Vincent, dem zweiten Geschäftsführer des Reisebüros, in dem ich arbeitete, befreundet und so hatte Juliane rasch eine neue Aufgabe und fing zunächst als Vincents Sekretärin bei uns an. Ohne viel eingearbeitet worden zu sein, war sie in allem, was zu ihren Aufgaben gehörte, perfekt, weswegen Vincent sie schon bald zur Büroleiterin beförderte. Ihrem Mann half sie häufig noch samstags oder sonntags im Sprechzimmer aus, wenn es auf der Inneren Abteilung besonders viel zu tun gab und wegen des Wochenendes die beiden regulären Arzthelferinnen nicht anwesend waren. Zwar konnte man über Juliane, was ihr mangelndes Einfühlungsvermögen betraf, oft nur den Kopf schütteln, aber grundsätzlich hatten wir sie schon gern, immerhin war sie immer hilfsbereit.

Plötzlich hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen meiner Schroffheit.

»Sorry. Ich bin heute leicht reizbar, Juliane.« Ich hob entschuldigend die Schultern und lächelte krampfhaft. »Die Skipping Squirrels, du weißt schon. All die Extrawünsche und die schon im Vorfeld der Gesamtplanung telefonisch avisierten Bedenken hinsichtlich der Mahlzeiten, der Qualität und Quantität der Betten und, und, und …«

Sie grinste breit. »Lass dich von denen nicht unterkriegen. Zeig Enthusiasmus bei deiner Arbeit. Gib Feuer. Antworte fröhlich und bestimmt, wenn jemand dich am Telefon anmeckert. Ich kann mit allen Kunden umgehen, ob anstrengend oder nicht«, prahlte sie und schwebte stilvoll aus dem Raum.

Ich drehte mich zu meinem Schreibtisch um und schnaufte. Am liebsten hätte ich ihr etwas nachgeworfen. Da legte sich beruhigend eine Hand auf meinen Oberarm. Ich hatte Isa gar nicht kommen hören.

»Du kriegst das hin mit diesen Pfadfindern, Linda.« Und im Flüsterton: »Lass Juliane doch reden, was sie will.«

Ich zwinkerte ihr unwillkürlich zu. Isa hatte recht. Julianes große Klappe war sicher auch manchmal nur Schein.

»Gefällt’s dir?« Isa drehte sich im Kreis. »Neu, diese Hose.«

»Hey. Top! Du trägst Jeans! Wie kann das sein?«, lachte ich.

Ich war überrascht. Isa verbarg ihre etwas rundliche Gestalt zu oft unter wallenden Gewändern, die sie fülliger erscheinen ließen, als sie war. Diese dunkle Jeans und die schlichte weiße Bluse dazu standen ihr gut. Die blauen Strähnchen in ihrem kurzen schwarzen Haar mochten bei dem einen oder anderen nicht zu Unrecht den Anschein von Nonkonformismus erwecken, jedoch war Isa in erster Linie authentisch und warmherzig.

»Nora hat mir die Jeans aufgeschwatzt.«

»Hat sie gut gemacht. Lass dich öfter von ihr beschwatzen.«

Isa grinste. »Ich überleg es mir. Sie kommt heute Abend noch bei mir vorbei. Sie will mir zeigen, was sie nun endlich für Finn gekauft hat.«

Nora war Isas 30-jährige Tochter, alleinerziehende Mama zweier reizender Mädchen und seit mehr als einem Jahr heimlich verliebt in ihren Lehrerkollegen Finn. Soweit meine Informationen reichten, versuchte Nora verzweifelt, für Finn ein passendes Geschenk als Dank für dessen Hilfe beim Tapezieren ihrer Küche zu besorgen, tauschte allerdings alle erstandenen Objekte aus Unsicherheit erst einmal wieder um.

»Den Bildband über Norwegen hat sie also auch nicht für ihn behalten?«

»Nee. Hat sie nach reiflicher Überlegung in die Buchhandlung zurückgebracht.« Isa knautschte die Lippen. Man merkte ihr an, dass sie ihre Tochter auch nicht so ganz verstand, aber mitfühlte.

»Nora sagt zwar, dass Finn Norwegen liebt, aber sie meinte, da er schon ein paar Mal dort war, erübrige sich vermutlich ein Bildband. Es müsse etwas anderes her. Etwas Geschmackvolles, aber nicht zu aufwendig, damit es nicht anbiedernd wirke.«

»Herrje. Sie macht es sich wirklich nicht leicht.«

»Nora fürchtet sich davor, dass Finn hinter ihre Verliebtheit kommt und sie auslachen könnte. Sie geht fest davon aus, dass er ihre Gefühle nicht erwidert. Mir tut sie so leid.«

Ich zuckte mit den Schultern und drückte Isa schnell. Was sollte man da machen? Jeder Ratschlag käme einer Anmaßung gleich.

Isa und Juliane waren meine engsten Kolleginnen, doch Isa war mir besonders vertraut und wichtig. Wir drei standen in der Mitte des Lebens, hatten unsere jugendliche chronische Sexyness im Großen und Ganzen hinter uns gelassen und trugen stattdessen die uns in den Jahren als feine Fältchen in unseren Gesichtern dokumentierten Freuden und Blessuren umher.

Juliane und Isa arbeiteten im Büro nebenan, waren im Grunde nur Vincent, unterstellt.

Isa war nur halbe Tage im Büro. Zusammen mit Torsti kümmerte sie sich um Einzelreisende.

Torstis unrasiertes Gesicht schaute gerade zu uns herein.

»Ist Hannes heute gar nicht da?«, fragte er in einem Jammerton.

»Der ist bestimmt noch beim Zahnarzt«, mutmaßte Isa. »Ich komm sofort und helfe dir bei den Reservierungen, Torsti.« Sie klopfte mir noch mal ermutigend auf die Schulter. »Ich mach mich an die Arbeit. Bis gleich.«

Mein Blick huschte zu Torstis Kopf, der durch die Tür um die Ecke lugte, bis Isa bei ihm war. Seine vollen dunklen Haare wirkten wieder einmal ungewaschen. Dicke Ringe unter seinen Augen verdarben seinen warmherzigen Gesichtsausdruck. Es war uns allen klar, dass er Probleme hatte, er sprach aber nie darüber. Höchstens mit Hannes.

Unser Hannes mit der Riesenbrille kümmerte sich um die Organisation neuer Reiseziele, buchte für Abenteurer Rucksacktouren, Kletterurlaube, Segeltörns. Er sprach nicht viel, kam, grüßte, machte sich an die Arbeit und ging wieder. Hin und wieder versuchte ich, ein wenig mit ihm zu schwatzen. Aber es funktionierte nicht. Funktionierte bei keinem von uns – mit einer Ausnahme. Mit Torsti kam er prima aus. Torsti war handwerklich sehr geschickt und hatte Hannes im Jahr zuvor kräftig beim Hausbau unterstützt. So hatte sich eine Art Freundschaft zwischen den beiden entwickelt. Auf der Arbeit redeten sie nie privat, aber in der Freizeit trafen die beiden sich manchmal auf ein Bierchen. Was Torsti betraf, waren es in der Regel mehrere Bierchen.

Benedikt, Vincents Partner und der andere Geschäftsführer des Reisebüros sowie mein unmittelbarer Chef, war selten anwesend, sodass ich für nahezu alles allein verantwortlich und in gewissem Grade auch haftbar war. Ich liebte meinen Job, war auch stolz angesichts der Verantwortung, die mein Chef mir übertragen hatte. Doch manchmal wurde es mir einfach zu viel. Benedikt war die meiste Zeit des Jahres irgendwo in Europa unterwegs, um neue Ziele für unsere Gruppenreisen zu entdecken. Gestern Abend jedoch rief er mich zu Hause an, um mir zu sagen, dass er heute kommen wolle, um nach dem Rechten zu sehen. Als ob ich mich nicht eh‘ um alles allein kümmern musste! Bis er eintrudelte, wollte ich wenigstens noch den Bettenplan für das Pfadfinderlager fertigstellen.

Zum Frühjahr hin war im Büro immer Hochkonjunktur, sodass ich jedes Jahr einen mir geeignet erscheinenden Studenten einstellte, der mir zunächst im Büro half und über den Sommer für uns in Frankreich als Animationskraft oder Surflehrer arbeiten konnte.

Der junge Mann, der mich nun fröhlich begrüßte, war einer meiner Kandidaten für dieses Jahr. Er nahm sein Käppi ab, kam auf mich zu und gab mir die Hand. Seine Stimme, seine offenen Gesichtszüge und sein beflügelter Gang ließen mich an eine Kombination von Sensibilität, Stärke und Beherztheit denken.

»Hallo. Schön, dass du heute Zeit hast. Ich bin Linda. Ist das du okay für dich?«

»Aber sicher. Ich bin Joe-Niklas Zacharias. Meine Kumpels sagen Joe oder Nick. Zacharias können wir unter den Tisch fallen lassen.«

»Dann nenn‘ ich dich einfach Joe.«

In mein Herz drängten komplexe romantische Töne, als ich ihm einen Platz anbot und fragte, ob er lieber Kaffee oder Saft trinken wolle. Er entschied sich mit einem hinreißenden Lächeln für Kaffee.

Ich rief nach Rieke. Gleich schritt sie beschwingt durch die Tür, fragte nach meinen Wünschen, nickte fröhlich und rauschte pfeifend wieder hinaus.

Indessen fühlte ich, wie sich Joes überwältigende Aura in meine Seele sog. Immer wieder strich ich mir verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während ich mit ihm zunächst über den schönen Frühlingstag und derlei Smalltalk-Banalitäten plauderte.

Rieke hatte sich mit dem Service beeilt, sogar für Brötchen gesorgt. Ihre Sommersprossen tanzten in ihrem Gesicht, als sie belustigt schmunzelte, weil ein frecher Spatz durch das geöffnete Fenster in den Raum geflogen kam und seltsam furchtlos meinen Arbeitsplatz inspizierte, gerade in dem Moment, als sie das Tablett vor uns auf den Tisch stellte.

»Darf ich?« Joe war aufgestanden und deutete auf eines der Körnerbrötchen.

Ich nickte. Ungeniert griff er danach, zerbrach es behutsam im Stehen und zerkrümelte ein Stückchen auf einen Teller, den er auf die Fensterbank stellte, während er sich sachte ein paar Schritte rückwärts entfernte, sich für zwei Sekunden zu uns umdrehte und konspirativ einen Finger auf seinen Mund legte. Er wandte uns wieder den Rücken zu und zwitscherte. Mein Ernst, er konnte perfekt zwitschern. Aufmerksam verfolgte ich sein Tun und kicherte, als wäre ich vierzehn. Gleichzeitig machte ich mir Sorgen um Rieke, die vor Lachen zu ersticken drohte. Was den Spatz nicht daran hinderte, auf den Teller zu hüpfen und die Krumen aufzupicken. Wie Joe da von mir abgewandt vor dem Fenster stand … Wow!

Ich nutzte die den Augenblick, um meinen Blick gemächlich über seinen Rücken wandern zu lassen, ohne dass es auffiel. Ich betrachtete sein Haar, das dem sanften Braun von guter Vollmilchschokolade glich und in leichten Wellen seinen Kopf umschmeichelte. Angeregt durch die entzückende Ansicht wünschte ich, dass der Spatz noch etwas blieb. Bedauerlicherweise funktionierte die Telepathie zwischen dem Vogel und mir nicht, und er flog davon, so flugs, wie er hereingeflogen war.

Juliane lugte herein, hatte Riekes Gelächter vernommen und wollte auch Anteil an unserem Spaß nehmen.

»Was ist denn bei euch los? Weswegen gackert ihr so herum?«

»Hey Juliane. Alles okay. Wir sind einfach gerade ein bisschen ausgelassen.«

Sie musterte in Sekundenschnelle erst Rieke, die sich nur schwer wieder einkriegen und deshalb nicht sprechen konnte, und dann Joe. Augenblicklich schaute sie mich an, etwas säuerlich und gleichermaßen fragend. Ich verspürte keine Lust auf Erläuterungen, und lediglich anstandshalber stellte ich ihr meinen Bewerber vor.

»Das ist Joe-Niklas. Er interessiert sich für den Job an unserer Surfschule.«

»Hallo.« Höflich ging Joe auf sie zu und gab ihr die Hand.

Sie fixierte ihn mit neugierigem Blick und schüttelte flink ihre wilde Haarmähne auf. Ihr puppenhaftes Antlitz neigte sich schwach nach links und präsentierte ihm ihr kokettestes Lächeln, während sie lasziv eine Locke ineinander drehte, ganz so, als wolle sie ihn schon auf eine heiße Nacht einstimmen.

Ich verscheuchte sie.

Das Bewerbungsgespräch verlief dermaßen wünschenswert, dass ich mir keine ausgezeichnetere Hilfe im Büro und keinen geeigneteren Surflehrer für unsere Frankreichurlauber vorstellen konnte. Joe studierte Sport, Biologie, insbesondere Ornithologie und Meeresbiologie. Er berichtete, Französisch habe er nach zwei Semestern aufgegeben, um sich mehr auf die anderen Fächer konzentrieren zu können. Er surfe leidenschaftlich gern und mit Bedacht auf die Semesterferien wäre es ihm gut möglich, von Juli bis Oktober in Frankreich seine Surfkenntnisse weiter zu vermitteln.

Ich war angetan von seinen Augen, die farblich zwischen steinund moosgrau changierten und einen lodernden Scharfsinn verrieten. Und das sagte ich ihm. Sofort wunderte ich mich über meine Kühnheit. Deswegen täuschte ich einen kleinen Husten vor, damit er mein Erröten hoffentlich hierauf zurückführen würde.

Alles in allem mutmaßte ich, dass dieser charmante und anregende Mann ernsthaft erwog, die Welt zu entern.

Die anderen Bewerber für den Surflehrer-Job lud ich erst gar nicht ein. Ich wollte Joe-Niklas.

Schon zwei Tage später half er mir im Büro. War er bereits morgens da, sortierte er Kontoauszüge, mittags verfasste er kleinere Angebote und nachmittags akquirierte er telefonisch und sehr erfolgreich neue Kunden.

Morgens betrachtete ich ihn verstohlen von der Seite, mittags sah ich liebevoll an ihm entlang, nachmittags war ich voller Sehnsucht. Und abends machte ich mir Gedanken, ob ich verrückt geworden war.

»So eine Sch ...«

Manchmal schaute Joe mich leicht verlegen an, sagte aber anfangs nicht viel.

LAUENBURG

Gegenwart

1

Warnzeichen

Gleich heute Morgen, kurz nach dem Aufwachen durchzuckt mich eine Ahnung, dass mich etwas Unerwartetes einholen würde. Seit Jahren hat mein Leben nur noch etwas mit, sagen wir, hinnehmen zu tun. Ich habe mich daran gewöhnt, manchmal ohne Anlass von einer Unruhe oder außergewöhnlichem Herzklopfen gestresst zu werden, aber das verflüchtigt sich in der Regel schnell wieder. Jetzt jedoch ergreift mich eine unnatürliche Nervosität, die ich in dieser Form vorher noch nie gespürt habe.

Es mag wohl an meiner unruhigen Nacht liegen. Ich erinnere mich, wie ich in meinem Traum gefangen, vom Bett aus durchs Fenster am Himmel etwas Blinkendes wahrnahm. Unmittelbar dachte ich an eine Sternschnuppe. Doch das Ding war viel zu rund. Ich glaubte, einen riesigen Stein zu erkennen. Und dieser Brocken trieb mit zunehmender Geschwindigkeit auf mein Fenster zu. Er schien direkt auf mich zu zu gleiten und zu wachsen, je näher er kam. Erschrocken, beide Arme schützend über meinem Kopf verschränkt, duckte ich meinen Kopf unter ein Kissen. Jeden Augenblick erwartete ich ein Klirren und das Splittern von Glas. Stattdessen begann draußen etwas laut zu dröhnen. Ich riss ich meine Augen auf. Noch realisierte ich nicht, dass ich in meinem Bett lag, außer Gefahr war. Furcht brannte in mir, lähmte meine Beine, die ich in diesem Augenblick nicht mehr spürte.

Da fuhr mir plötzlich ein zärtlicher Wind über meine nackten Arme und bereitete dem Schrecken ein Ende.

Erleichtert nahm ich die zartgrünen, transparenten Vorhänge wahr, die sich vor der offenen Balkontür im Wind bauschten. Ich atmete auf, blieb aber erschöpft liegen.

So verweilte ich einen kurzen Moment, eine Hand auf dem linken Knie, mein Kopf ruhte in der anderen. Ich zitterte noch, obwohl mir nicht kalt war. Mit dem Zipfel meiner Bettdecke wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Was träume ich auch dauernd für einen Mist! Fröhliche Sonnenstrahlen erwärmten mein Schlafzimmer. Gestern noch hat es erbarmungslos geregnet.

***

Von draußen ertönt immer noch das nervige ratternde Geräusch. Blick auf meinen Wecker. Es ist schon nach neun. Ich muss aufstehen. Ich schaffe es nur schwer hoch. Die Arthrose in meinen Hüften und Knien macht mir zu schaffen. Ich schleppe mich ins Bad und auf die Toilette. Putze meine Zähne. Schleiche unter die Dusche, wo ich den Brauseschlauch aufdrehe und mich auf dem an den Fliesen angeschraubten Sitzbänkchen niederlasse. Es tut mir gut, mir im Sitzen die Haare zu waschen, meine schlaffe Haut einzuseifen und zu versuchen, mit voll aufgedrehtem Duschkopf den Schrecken meines Traums fortzuschwemmen. Warm und kräftig fließt das Wasser an meinen Brüsten hinunter, die ihre Jugendlichkeit schon lange eingebüßt haben und nun zwei luftleeren Ballons gleichen. Währenddessen hoffe ich vergeblich auf das Nachlassen meiner Unruhe.

Später schlüpfe ich in meine Lieblingshose und zupfe ein ärmelloses Shirt aus dem Schrank, das ich gern trage.

Im Wohnzimmer sperre ich die Terrassentür auf, um durchzulüften. Meinem liebenswerten Kumpel Joe rufe ich ein herzliches »Guten Morgen!« zu. Er ist es, der da draußen mit der Säge herumhantiert und mich wegen des lauten Motorengeräusches nicht hören kann.

***

Mein Blick durchs Küchenfenster schweift vorbei an reglosen Wolken, hellblau, mit wolligen weißen Rüschen, unter die weiter entfernt endlos erscheinende grüne Wiesen schlüpfen. Es ist ein warmer, aber windiger Septembertag. Die letzten Reste des Sommers wetteifern noch mit dem sich ankündigenden Herbst. Da sehe ich den Briefträger, der gerade etwas in meinen Postkasten wirft. Ich beobachte belustigt, wie er anschließend pfeifend weiter schlendert. Die Sonne weckt die Heiterkeit in den Menschen.

Von dem freistehenden knallbunten Säulen-Briefkasten, ein Flohmarkt-Mitbringsel meiner verstorbenen Freundin Isa, werde ich mich niemals freiwillig trennen. Mein Postständer wird umschwärmt von einer Gruppe lachsrosa Teehybriden, die meinen Vorgarten auffrischen, aber im Kasten landen seit Jahren für gewöhnlich nur Werbung, Kataloge und dergleichen. Papier, mit dem ich mich üblicherweise zum Zeitvertreib eine Weile beschäftige und das ich dann in den Müll befördere. Postkarten und Briefe bekomme ich ausgesprochen selten. In der heutigen Zeit wird doch nur noch über E-Mail, meistens sogar nur noch mit dem Handy mithilfe dieser rätselhaften WhatsApp kommuniziert. Ich vertraue diesem ganzen technischen Kram nicht. Umso mehr wundere ich mich über diesen Umschlag, den ich soeben in meinem Postkasten finde. Mitsamt den üblichen Werbeprospekten trage ich ihn in die Küche und lege ihn auf der Anrichte. Der Absender ist eine Olivia Herzbeck aus Wilhelmshaven. Ich kenne niemanden mit diesem Namen. Da bin ich mal gespannt.

Zuerst werde ich mir aber einen Tee machen, Lavendel und Melisse zur Beruhigung, mit einem Schuss Zitrone. Ich stelle den Wasserkocher an, krame in der Tee-Box nach dem richtigen Beutel, übergieße diesen mit kochendem Wasser und zünde eine duftende Kerze an. Während sich die kleine Flamme schaukelnd in der Fensterscheibe spiegelt, fällt mein Blick auf Joe, der in meinem Garten wütet und gerade die langen Äste meines Apfelbaumes zurückschneidet. Sein Haar ist inzwischen ganz grau, aber er ist immer noch gesund und fit, bis auf seine Herzrhythmusstö-rungen. Aber die hat er mit seinen Betablockern gut im Griff. Ich betrachte sein Gesicht beim Arbeiten. Es hat sich in den vielen Jahren, seit ich ihn kenne, kaum verändert. Vor langer Zeit war ich einmal mit ihm zusammen. Ich habe ihn sehr geliebt. Aber dann ist etwas dazwischengekommen. Damals spielten Misstrauen, Zweifel und die Besorgnis um mein eigenes Image ein gemeines Spiel mit mir und überzeugten mich davon, dass ich kein Recht hatte, ihn zu lieben. In Wirklichkeit war die Zeit mit ihm etwas Wertvolles, ein Gut, das ich hätte schützen müssen. Heute ist das alles nicht mehr ganz so schlimm für mich. Joe kommt mich regelmäßig besuchen, um mich zu fragen, ob er mir bei diversen Dingen behilflich sein kann oder ob er mir etwas aus der Stadt besorgen soll. Manchmal bleibt er auch ein Stündchen zum Plaudern oder um mir etwas vorzulesen. Inzwischen ist er längst verheiratet und hat zwei fabelhafte Söhne.

Ich warte ein paar Minuten, bis der Tee durchgezogen ist, nehme dann die dampfende Tasse, greife nach dem Brief und setze mich an den Küchentisch, ein altes, aber wunderbar stabiles und guterhaltenes Exemplar aus zimtfarbenem amerikanischen Nussbaum. Der würzige Duft des Tees schlüpft in meine Sinne und ich genieße ihn in behutsamen Schlucken. Ein Brot kann ich mir auch nachher noch schmieren.

»Ach! Du Vergessliche!«, schimpft eine innere Stimme mit mir. »Um deine Post zu lesen, musst du leider wieder aufstehen.«

Richtig. Denn meine Augen sind schlechter geworden im letzten Jahr. Die Lesebrille ist inzwischen mein wichtigstes Utensil. Und die liegt jetzt wo? Moment, ... im Bad? Nein, da habe ich gar nichts gelesen. Im Wohnzimmer auf dem Sideboard könnte sie sein.

Ich stehe auf, ziemlich lahm, und stütze mich dabei auf der Tischplatte ab. Die Arthrose! So mobil wie einst bin ich heute nicht mehr.

Im Wohnzimmer werde ich tatsächlich fündig, nehme die Brille von der Kommode und gehe zurück in die Küche, wo ich mich schwerfällig wieder auf der Eckbank niederlasse. Mit kleinen langsamen Schlucken nippe ich am Tee. Und kümmere mich endlich um den Brief.

Der Umschlag ist korrekt an mich adressiert:

Frau Linda Mondhi

Hinter der Münze 32

21481 Lauenburg

Behutsam schlitze ich das Kuvert auf, entfalte das in gut leserlicher Handschrift geschriebene DIN A4-Blatt. Und beginne zu lesen …

Sehr geehrte Frau Mondhi,

Sie mögen mir meine Aufdringlichkeit verzeihen. Mein Name ist Olivia Herzbeck. Lange habe ich nach Ihrer Anschrift geforscht und diese nach vielen Bemühungen letztendlich von einem Herrn Benedikt Rosenkemper erhalten, der seinen Wohnsitz in Frankreich, in Montpellier, hat.

Ich schreibe Ihnen heute aufgrund einer nicht unbedeutenden Angelegenheit, welche eine Dame betrifft, die Sie bereits eine gewisse Zeit vor mir kannten. Diese hatte mich eindringlich gebeten, Ihnen nach ihrem Tod ein Utensil auszuhändigen, das sie Ihnen nicht für immer vorenthalten wollte. Sie war zu Lebzeiten nicht dazu in der Lage und dies nicht nur, weil sie Ihre Anschrift nicht kannte. Ganz sicher ist es nicht meine Absicht, Sie zu beunruhigen oder aufzuregen, doch meinem Empfinden nach könnte mein Besuch für Sie von immenser Wichtigkeit sein. So gern würde ich persönlich mit Ihnen sprechen. Wann wäre es Ihnen recht?

Hochachtungsvoll

Olivia Herzbeck

Oben rechts ist eine Telefonnummer angegeben. Was hat das zu bedeuten? Wer konnte diese Frau sein? Ich schüttele unwillkürlich den Kopf und denke einen Augenblick lang, dass ich mittlerweile zu alt bin, um wunderliche Dinge zu ernst zu nehmen. Nein, ich bin nicht sonderlich alarmiert. Gespannt. Ja. Neugierig. Außer meiner Tochter Natalia und meinem Sohn David habe ich keine Verwandten. Ich habe nahezu alle sozialen Kontakte in Wilhelmshaven hinter mir gelassen, seit ich vor Jahren von dort nach Schleswig-Holstein in die kleine Stadt Lauenburg an der Elbe gezogen bin.

In Wilhelmshaven lebte ich von Geburt an. Dort ging ich zur Schule, heiratete, bekam Kinder, ließ mich scheiden. Ich hatte dort einen tollen Job und Freunde, aber alles, was mit dieser Stadt in Zusammenhang stand, interessierte mich auf einmal nicht mehr. Das ist nun so viele Jahre her. Ich fühlte damals schlagartig, dass ich so schnell wie möglich von dort wegmusste. Denn trotz eines psychiatrischen Aufenthaltes litt ich weiter unter unbezähmbaren Beklemmungen, die ohne Vorwarnung aus der Luft in mich drangen und sich dort stundenlang festbissen. Sie raubten mir das bisschen an Lebensenergie, das überhaupt noch in mir übrig war. Manchmal waren es versteckte Ängste und seltsame Unruhezustände, die mich lähmten. Aber das Gefühl, das sich am deutlichsten hervortat, war die Vorstellung, etwas Dunkles mit mir herumzutragen, etwas, das darauf wartete, gesühnt zu werden. Ich hatte keine Ahnung, um was es sich handelte, aber ich hätte alles getan, um das Vergehen abzutragen, für Wiedergutmachung zu sorgen, wenn das Delikt für mich greifbar gewesen wäre. Ich zog mich immer mehr von meinen Freundinnen zurück. Vielleicht war es auch umgekehrt, und meine Freundinnen bekamen es mit der Angst, wenn ich von meiner anonymen Schuld sprach. Nachts trieben meine Grübeleien mich in den Wahnsinn. Ich verbrachte damals sogar einen ganzen Monat abgeschieden in einem Kloster, betete und fastete dort in der Hoffnung, meinen Verstoß zu erkennen. Meine Kinder besuchten mich zu dem Zeitpunkt öfter als gewöhnlich zu Hause und versuchten, mich aufzurichten. Nichts half. Meine seelischen Torturen wurden immer schlimmer. Sie ähnelten einem Raubtier, das mich von innen in Stücke riss. Nur die Idee fortzuziehen, spendete mir neue Leuchtkraft für mein Leben.

Beinahe hätte ich ein Häuschen in Pirna in der Sächsischen Schweiz, weit weg von Wilhelmshaven gekauft. Es hatte auf Fotos ausgesehen wie ein Puppenhaus, hätte jedoch gründlich renoviert werden müssen. Ich hatte zunächst große Lust gehabt, es umzugestalten, um für den Rest meines Lebens darin zu wohnen. Weit fort von allem. Meine Kinder lebten inzwischen ihr eigenes Leben und darin hatte ich ohnehin wenig Platz.

Benedikt, mein damaliger Chef, hatte das Haus wegen seines guten Preises gekauft. Nach Öffnung der Grenzen zwischen Ost und West waren Häuser im Osten extrem günstig. Im Nachhinein aber wurde ihm klar, dass er doch nicht so recht Gefallen daran finden konnte und bot es mir an. Denn spätestens nach der kurzen Reise, die er mit mir nach England gemacht hatte, ein paar Tage nach meiner Entlassung aus der Psychiatrie, war er sich sicher, dass ich verrückt geworden war. Auch er hielt es für besser, dass ich Wilhelmshaven verließ, um irgendwo neu anzufangen.

Dann meldete sich Anna, meine langjährige Freundin. Sie überzeugte mich davon, zu ihr nach Lauenburg in das freistehende Nachbarhaus zu ziehen.

»Warum willst du so weit in den Osten? Linda, du brauchst jetzt eine Freundin in deiner Nähe! Als ich dich aus der Klinik abgeholt habe, schien es mir nicht so, als wärst du über das Geschehene hinweg.«

»Hinweg?! Wie soll ich über etwas hinwegkommen, was für mich nicht greifbar ist? Ich kann mich auch nach drei Monaten in der Klapse an nichts Reales erinnern. Ich fühle nur, dass damals unten am Fluss etwas Scheußliches passiert sein muss. Juliane lag auf einer Bahre. Sie war tot. Joe war nur kurz da. Oder er war nicht da, und ich habe mir seine Gegenwart nur eingebildet. Ich kann mich nicht richtig erinnern. Die wilde, holprige Umgebung am Fluss keimt in meinem Gedächtnis immer wieder auf, die Wiese, die Bäume, Büsche, das Gras. Nachts schleichen sich steinartige Gebilde, die zu Monstren heranwachsen, in meine Träume. Was ist mit Juliane passiert? Ich weiß nicht mehr, warum sie auch dort war, was sie gesagt hat. Auf einmal war sie tot. Ich bin wie blind, erkenne kein Detail, wenn ich versuche, mir den Schauplatz wieder in Erinnerung zu rufen. Alles verschwimmt.«

»Du hast eine Amnesie, Linda. Aufgrund des Schocks. Vermutlich kommt dein Gedächtnis eines Tages unerwartet zurück.«

»Man munkelt, ich sei verrückt geworden. Zerstört und zerbrochen. Mir ist es egal. Vollkommen gleichgültig. Juliane ist tot. Und Joe hab ich so lange nicht gesehen. Er hat mich nicht einmal in der Klinik besucht!«

»Linda, bitte … ich weiß, dass das alles schwer für dich ist. Er konnte …«

»Es hätte mir nichts ausgemacht zu sterben, Anna. Ich vermisse Joe so sehr. Der Arzt sagt, es ist ungewiss, ob ich mich je wieder an Details erinnern kann. Das hat er auch der Kripo immer wieder zu erklären versucht. Du weißt, dass die zwei Polizistinnen mich anfangs mehrmals in der Klinik aufgesucht haben. Sie wollten herausfinden, woher ich Juliane kenne. Ob wir uns an der Maade verabredet hatten oder wir uns zufällig dort getroffen hatten. Ob wir befreundet oder nur Kolleginnen waren. Juliane. Juliane. Juliane! Ich konnte diese dämlichen Fragen nicht beantworten. Weil ich mich nicht erinnern konnte, warum Juliane auch am Fluss war. Und heute kann ich es immer noch nicht. Irgendwann haben die Polizisten aufgehört zu insistieren. Diese Befragungen waren sinnlos. Mich interessiert auch jetzt nur, wo Joe abgeblieben ist.«

»Die Kripo hat Nachforschungen angestellt, um herauszufinden, was genau mit Juliane geschehen ist. Sie haben dir erklärt, was sich mit Joe ereignet hat, und sie haben versucht, die buckligen Fugen zwischen dem Ablauf des Geschehens an der Maade ebnen zu können. Dabei konnten sie keine Verbindung herstellen zwischen …«

»Ich will nichts mehr davon hören. Nichts mehr, Anna! Zwölf Wochen Psychiatrie! Ich habe null neue Lebensqualität gewonnen und ich will das alles hinter mir lassen. Ich muss raus aus Wilhelmshaven, weg von Benedikt und diesem Reiseunternehmen.«

»Überleg es dir gut. Und wenn du es ernst meinst, dann nimm nicht das Haus in Pirna. Nach wie vor vermiete ich das Holzhaus neben mir. Hinter dem Haus ist ein verwunschener Garten, den du mögen wirst. Das Häuschen wird in sechs Wochen frei werden. Die derzeitigen Mieter ziehen aus, und ich würde mich freuen, wenn du darin wohnen würdest. Ich überlass es dir zu einem absoluten niedrigen Mietpreis. Du weißt, ich bin auf Geld nicht angewiesen. Mein Mann hat mir genug finanzielle Mittel hinterlassen, als er gestorben ist. Dein Chef soll selbst zusehen, was er mit dem Kaufvertrag anstellt. Du kannst nicht immer noch die Kastanien für ihn aus dem Feuer holen.«

Ich gab schließlich nach und zog nach Lauenburg in Annas Holzhaus. Anna ist eine wirklich gute Freundin, aber seit meinem Umzug will ich mit ihr und auch mit niemandem sonst mehr über Vergangenes sprechen. Und sie versteht es zu schweigen.

Joe, der einige Monate später, ohne jemals sein monatelanges Abtauchen zu erklären, überraschend nachgezogen ist, ging meinen Fragen bezüglich dessen, was damals passiert ist, stur aus dem Weg. Natürlich bringe ich auch heute hierfür immer noch kein Verständnis auf, aber es tut so gut, ihn hier zu haben. Wir sind beste Freunde geworden.

Meine Kinder sehe ich selten. Sie sind sehr beschäftigt. Manchmal fühle ich mich, als lebe ich auf einer Insel, die im Nichts umherschwimmt und für niemanden erreichbar ist.

Ich gehe nicht mehr aus. Anna versucht immer mal wieder, mich dazu zu bewegen. Früher fuhr ich oft ans Meer, setzte mich in den Sand oder auf einen Steg und ließ meine Gedanken langsam in die schwappenden Wellen rieseln. Dort wurden sie gründlich durchgespült und kamen sauber wieder zum Vorschein. Ich vermisse das Meer so sehr.

Ein dummes Gefühl, ein Gefühl von Sich-nicht-vergnügen-dürfen schleicht seit meinem Umzug nach Lauenburg um mich herum. Ich kann es nicht abstellen. Ein Vierteljahrhundert früher hatte ich noch Lust auf Abenteuer, auf Feste, auf Kontakte. Bis zu dem Tag, an dem an diesem Fluss in Wilhelmshaven, der Maade, etwas Schreckliches passiert sein muss, hatte ich geglaubt, auch dann noch die Freuden und Köstlichkeiten des Lebens in mich aufzusaugen, wenn ich alt bin. Das war ein Trugschluss. Heute bringt mich niemand mehr dazu, an Vergnügungen teilzuhaben. Es ändert sich oft viel im Leben. Ich bin eine einsame, langweilige, verdrießliche Seniorin geworden. Wer sollte mir also schon etwas Wichtiges zu sagen haben? Was will diese Olivia Herzbeck von mir?

Nichtsdestotrotz, es wird nichts anbrennen, wenn ich diese Dame später anrufe. Meine anfängliche Neugier ist mit einem Mal verflogen und macht einem Anflug von Melancholie Platz. Nein, jetzt gerade habe ich keine Lust mehr darauf. Mich beschäftigen auf einmal andere Dinge. Mein Manuskript, das fast zu einer Lebensaufgabe für mich geworden ist.

Ich bewahre es in meiner Küchenschublade auf, weit hinten. Ab und zu nehme ich es zur Hand, verändere ein paar Kleinigkeiten im Satzbau, füge Absätze hinzu, lösche oder ersetze einzelne Passagen. Manchmal habe ich das Gefühl, wie in einem Nebelschleier zu schreiben. Eine Denkblockade ruiniert immer wieder meine Eingebungen. Eines Tages werde ich es schaffen.

DAS MANUSKRIPT

2

Wilhelmshaven – damals, vor vielen Jahren

Besuch von zwei alten Damen

Einer unserer Strände, für die wir eine Lizenz zum Betreiben einer Windsurfschule besaßen, war der in Le Lavandou. Für dieses Jahr musste die Lizenz nicht verlängert werden, da sie regelmäßig für zwei Jahre galt. Ich war froh, nicht wieder einen Antrag beim Bürgermeister stellen zu müssen, denn der war wenig erbaut davon, dass die Strände in der Umgebung immer mehr an Animation boten und – wie er sich auszudrücken pflegte – »das natürliche Umfeld darunter sehr leidet«. Alle zwei Jahre musste ich mich auf eine langwierige Diskussion mit ihm einlassen, die ich letztendlich stets gewann. Unklar blieb, ob er Spaß daran hatte, ein bisschen mit mir zu pokern. Das blieb mir jetzt erst einmal erspart. Dennoch gab es momentan viel zu tun für mich. Eine Schulklasse aus Schortens sollte in fünf Wochen in einer Herberge in Le Lavandou einquartiert werden, die Benedikt für diesen Zweck vor Jahren gekauft hatte. Es war eine ehemalige Arztpraxis, ein recht geräumiges Haus, aber keine Villa. Optisch machte der Bau wenig her. Aber das Gebäude war zweckmäßig, ausbaufähig und verfügte über mehrere Zimmer. Vincent und Lutz, Julianes Ehemann, hatten neben einigen Schwarzarbeitern aus den umliegenden Ortschaften bei Le Lavandou Benedikt beim Ausbau unter die Arme gegriffen. Aufgrund der unglaublichen Mühe, die sich alle mit diesem Projekt gegeben hatten, und der damit verbundenen Kosten war der Innenausbau recht gut gelungen. Die Gäste durften sich über einige hochmoderne separate Duschen sowie einen großen Gemeinschaftsduschraum und ordentliche Toiletten freuen. Es gab eine gigantische Gemeinschaftsküche mit zwei Herden, zwei Backöfen, drei Kühlschränken und einem kolossalen Esstisch in der Mitte, an dem den Gästen das Frühstück und auf Wunsch auch ein warmes Mittag- und Abendessen serviert werden konnte. All das erforderte zweifelsohne auch eine kleine Staffel an Personal innerhalb der Saison. Dazu gehörten eine Putzfrau, ein Koch und für den Animationsbereich brauchten wir zumindest einen Surflehrer, denn Windsurfing war der Renner in diesen Jahren. Und in diesem Sommer würde Joe den Surflehrer-Job in Frankreich machen – und folglich nicht mehr bei mir im Büro sein. Wie schade.

Mittlerweile half er mir seit drei Wochen. Eines Morgens, es war ein Freitag, brachte er eine pinkfarbene Rose für mich mit ins Büro, worüber ich mich sehr freute. Ich konnte nicht einschätzen, ob es nur eine Liebenswürdigkeit von ihm war oder ob er mich umwerben wollte. Letzteres war wahrscheinlich nur Fantasie und ich verbannte diesen Gedanken aus meinem Kopf, nicht aber aus meinen Tagträumen.

So eine fleißige und aufnahmefähige Saisonkraft wie ihn hatte ich zuvor noch nie. Er nahm mir viele Routinearbeiten ab. Meine eigene Arbeit erledigte ich jedoch bald schon nicht mehr so konzentriert wie gewohnt. Lieber unterhielt ich mich mit ihm, und ich war froh, dass niemand hierbei meinen Blutdruck kontrollierte. Beide liebten wir französische Autoren, besonders Jean-Jacques Rousseau, Guy de Maupassant, Antoine de Saint-Exupéry und Michel Houellebecq. Wir diskutierten viel über Rousseaus Gedankenwelt, über Émile, über die Weltanschauung Houellebecqs …

Es war Joe, der mich meistens ermahnte, nun mit der Arbeit fortzufahren.

Ich mochte besonders Zitate von Rousseau, solche wie diese:

Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten. Oder: Um einen guten Liebesbrief zu schreiben, musst du anfangen, ohne zu wissen, was du sagen willst, und ihn beenden, ohne zu wissen, was du gesagt hast.

Hierauf wusste Joe eine Menge zu sagen. Anschließend rauchte mir der Kopf.

Einmal las ich ihm meinen Lieblingsdialog aus Der kleine Prinz vor, in dem der Fuchs dem kleinen Prinzen erklärt, was zähmen bedeutet. »›Das ist eine in Vergessenheit geratene Sache«, sagte der Fuchs. Es bedeutet, sich vertraut machen …‹«

Joe legte die Stirn in Falten, nickte und kommentierte auch das. Sein Blick war vollkommen ernst, als er sagte: »Zähmen ist Vertrauen verdichten, es mit Wachs überziehen und einen Docht aus Verbindlichkeit und Achtung hineinstecken. An diesem darf man niemals zündeln, um das Wachs nicht schmelzen zu lassen, sonst bleibt vom Vertrauen nichts übrig.

Es gab keinen Grund, dem etwas hinzuzufügen. Es war exakt das, was ich auch dachte.

»Vertrauen, das sich zwischen zwei Menschen mühsam aufgebaut und schließlich stabilisiert hat, wird leider viel zu oft im Leben durch eine Nachlässigkeit oder Lieblosigkeit oder durch unangebrachtes Misstrauen zerstört«, sagte er.

Ich nickte und er wechselte das Thema. »Ich muss gleich noch die restlichen Pfadfindergruppen aus dem Oldenburger Umkreis anrufen. Ein bisschen Akquise kann nicht schaden.«

»Klar, gerne. Häng‘ dich ans Telefon.«

Ich freute mich immer wieder über sein Engagement und genoss seine Sensibilität, liebte seine Ausstrahlung. Zuweilen warf er mir kokette Blicke zu, die mich verunsicherten. Auch spürte ich, dass seine Augen manchmal einen Moment zu lang auf mir verweilten, und irgendwann begann ich davon zu träumen, wie er mein Gesicht mit Küssen bedeckt. Wie schade, dass er bald in Frankreich arbeiten würde. Dennoch war es besser. Für meinen Blutdruck.

Was mich verunsicherte, war die Tatsache, dass Joe sich zwar mit mir gern zu unterhalten schien, jedoch ständig auch mit Juliane, Isa und Rieke ein wenig flirtete. Es wirkte auf mich jedenfalls so. Vielleicht täuschte ich mich auch.

An einem der folgenden Tage sollte er noch einmal die Telefonakquise für mich übernehmen, doch im Büro nebenan brauchten die Damen Unterstützung bei der Computerarbeit. So saß Joe heute eben dort.

»Morgen solltest du dem Steuerberater die Akten vom Frankreich-Geschäftskonto mit den dazugehörigen Unterlagen bringen«, sagte ich zu Joe, der gerade damit beschäftigt war, Juliane und Isa das Textverarbeitungssystem zu erklären, das Vincent für sein eigenes Unternehmen neu angeschafft hatte. Er fürchtete ansonsten der Zeit hinterherzulaufen. Ich hoffte insgeheim, dass Benedikt dieser Idee nicht nacheifern würde. Die Software auf meinem Rechner reichte vollkommen aus, wenngleich sie tatsächlich veraltet war und schon oft genug getestet hatte, wie viel meine Nerven aushielten. Das war mir jedoch allemal lieber, als mich auf ein komplett neues Programm einzustellen.

»Bei der Gelegenheit könntest du auch den neuen Darlehensvertrag für die Neuausstattung der Surfschule kopieren und ihm vorlegen. Das wäre schön.«

Ich vernahm meine eigenen Worte als seltsame Melodie. Warum Isa verstohlen lächelte, war mir unmittelbar klar. Meine Anweisungen klangen eine Spur zu samtig, als handele es sich nicht um einen Arbeitsauftrag, sondern um eine Aufforderung zum Beischlaf. Ich schämte mich vor mir selbst. Irgendetwas machte Joe mit meinem Denkvermögen. Mein Kopf wurde heiß und suchte nach passenden Worten, die kamen und wieder abtauchten, wenn er neben mir stand. Entweder klangen meine Sätze auffällig flaumig wie soeben, oder aber sie erschienen mir plötzlich naiv oder in dem Moment ungeeignet, der Situation nicht sachdienlich. Ich bemühte mich schon tagelang um Beherrschung, damit keinem auffiel, wie ich in Joes Gegenwart meine Unbefangenheit verlor, erst recht nicht Joe. Daher beendete ich meine Anweisung zur Tarnung mit einer strengeren Fassung:

»Und das muss bis morgen Mittag erledigt sein. Der Steuerberater wartet dringend auf die Dokumentationen.«

Joe verneigte sich leicht.

»Geht in Ordnung, Chefin.«

Sein sonniges Lächeln verfolgte mich noch eine kurze Zeit, bevor ich beschloss, es aus meinem Kopf zu verbannen, um meinen Verstand abzukühlen. Schließlich wollte ich mir noch die Bewerbungen derjenigen ansehen, die sich für die Stelle des Kochs in Le Lavandou interessierten. Bevor die Klassenfahrt vernünftig organisiert werden konnte, musste eine Köchin oder ein Koch eingestellt sein.

Ich hatte mich noch nicht lange durch den Stapel mit den Bewerbungsunterlagen gewühlt, als Maxi, die für die Buchung der Flüge zuständig war, ihren orangeroten Stoppelhaar-Kopf in mein Büro steckte.

» Sieh dir das mal an. Ich könnte kotzen.«

Sie öffnete den Mund und streckte die Zunge heraus.

Genervt lief ich hinter ihr her. Was war denn jetzt wieder so wichtig?