Oben ist besser als Unten - Andreas Lesti - E-Book

Oben ist besser als Unten E-Book

Andreas Lesti

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Beschreibung

Andreas Lesti erzählt seine Geschichte der Alpen anhand von Büchern, die ihm den Weg weisen. Er begleitet Goethe über den Furkapass, folgt Sherlock Holmes Spuren im Berner Oberland und steigt mit Thomas Mann auf den Zauberberg. Er sucht die großen Schauplätze der Alpen auf, das Matterhorn, den Montblanc, die Zugspitze, und er entschlüsselt für uns den Mythos Berg. Denn seit dem »Zauberberg« wissen wir: Wer oben war, kann unten nicht mehr leben.

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Seitenzahl: 421

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Andreas Lesti

Obenist besserals unten

Eine literarische Expedition in die Alpen

ROGNER & BERNHARD

1. Auflage, September 2013 © 2013 by Rogner & Bernhard GmbH & Co. Verlags KG, Berlin ISBN 978-3-95403-022-4E-Book ISBN: 978-3-95403-023-1www.rogner-bernhard.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile.

Lektorat: Ida Thiemann Umschlaggestaltung: Chrish Klose/Wednesday – Paper Works Karte: © Francisca Ruff/Wednesday – Paper Works Layout und Herstellung: Leslie Driesener, Berlin Gesetzt aus der Stempel Garamond durch omnisatz GmbH, Berlin E-Book Konvertierung: Calidad Software Services, Punducherry, Indien

»Und ewig dauert der Berg.«FREDLFESL

Inhaltsverzeichnis

Prolog: MEINE WELT SIND DIE BERGE

In einem anderen Tal

Berge im Blick

Der Alois

Kapitel eins: AUFWÄRTS

Die Spur der Bücher

Oben und unten

Schöne hohe Welt

Für alle Fälle

Die Leiden des jungen Goethe

Kapitel zwei: OH, IHR ENGLÄNDER!

London, Shoreditch, Alpine Club

Die Grand Tour

Teufelszeug

»Imbezile Crétins«

Kapitel drei: DAS IST DER GIPFEL!

Der Montblanc und wie ihn die Welt sah

Hinauf!

Verlorene Illusionen

Eine Frage der Ehre

Elf Mal auf den höchsten Berg der Welt

Wann ist ein Berg ein Berg?

Der höchste Berg Deutschlands

40 000 ½ Fuß

Der Großglockner und wie ihn die Welt sah

Männer mit Eigenschaften

Was vom Gipfel übrig blieb

Kapitel vier: DER TOURIST IST IMMER DER ANDERE

Das Jahrhundert des Tourismus

Achtung, Cooktourist!

Wetten, dass …?

Die Alpenländer

Veni, vidi, Rigi

Bahn frei!

Auf in die Berge

Die Piefke-Saga

Es Wirt schon

Kapitel fünf: ABWÄRTS

Auf dem Jubiläumsgrat

Als der Berg rief

Zum Trenker mit ihnen!

Der Bergdoktor

Ungleiche Brüder

Eine Expedition ohnegleichen

Kapitel sechs: ZAUBERBERGE

Danke für diese wundervolle Nacht

Davos schneit

Gegen die Wand

Bergkristall und Totengräber

Ein königlicher Zauberberg

Kapitel sieben: WAHN UND IRRSINN

Kuriosa

Wahrheit und Methode

Auf dem Kopf gehen

Selbstdarstellung und Superlative

Messners Everest-Experiment

Schummeln gilt nicht

Hochgefühle

Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen

Epilog: ZURÜCK INS TAL

Die Oben-ist-besser-als-unten-Bibliothek

Dank

Abdrucknachweis

Register

Prolog: MEINE WELT SIND DIE BERGE

In einem anderen Tal

Eigentlich wollte ich nur für drei Wochen bleiben. Doch dann dauerte alles sieben Jahre.

Aber das wusste ich natürlich noch nicht, als ich damals diese fünf Telefonate führte. Zuerst sprach ich mit dem Bürgermeister Franz Lorenz seiner Mutter, und die gab mir seine Telefonnummer, und als ich den Franz Lorenz anrief, musste der eine Weile überlegen:

»Naaaa«, sagte er dann, und es klang, als würde jemand ganz langsam eine quietschende Türe öffnen, »so was gibt’s bei uns nicht.« Und da schien das Gespräch schon wieder beendet. Aber dann sagte er noch: »Der Markus von Sankt Johann, der könnt’ so was haben, der Scheidle Markus.« Aber der Scheidle Markus lachte nur und sagte: »Ist schon lange ausgebucht.« Und dann überlegte auch er noch eine Weile. »Ja – doch – der Alois aus Hinterhornbach, der weiß, wer so was haben könnte. Aber jetzt, der Alois, wie heißt der noch, der Alois von der Gemeinde?« Könnte man nicht in der Gemeinde von Hinterhornbach anrufen?

»Jaaaa«, sagte der Scheidle Markus, und es klang, als würde nun jemand die quietschende Türe wieder schließen: »Wenn die Gemeinde besetzt ist – und das ist eher nicht der Fall … Also der Alois, der heißt … heißt Alois. Moment. Ja, jetzt: Leitner. Der Leitner Alois von Hinterhornbach, der weiß, wer so was haben könnte.«

Und so nahm ich zum ersten Mal Kontakt zum Alois auf, natürlich ohne zu wissen, was das für Folgen haben würde. Er war damals ganz schnell bei der Sache, fast schon mit militärischer Knappheit: »Aha, was suchst? Eine Almhütte für drei Wochen? Strom? Wasser?«, fragte er zielstrebig und fuhr fort, ohne weiter zu überlegen: »Die Maria hat so was, die rufst jetzt an und sagst einen schönen Gruß vom Alois.«

Die Maria hat eine Telefonnummer mit drei Ziffern und war unerwartet nett, als ich sie vom Alois grüßte, und schien sich überhaupt über meinen Anruf zu freuen. Einen Bauernhof habe sie und etwa 200 Höhenmeter drüber eine kleine Hütte und »Ja, drei Wochen im Sommer können Sie schon kommen«.

So war das, als ich vor sieben Jahren auf die Idee kam, drei Wochen auf einer schlichten Berghütte zu verbringen, im Hornbachtal in Österreich, einem Seitental des Lechtals. Das Lechtal, im Volksmund vokalsparend »Lechtl« genannt, ist – sagen wir mal – touristisch nicht besonders weit entwickelt. Es sieht nach Kanada aus. Oder nach Alaska. Nach Yukon oder Rocky Mountains, und als ich zum ersten Mal dort war, wäre ich nicht erstaunt gewesen, Lachse fangende Bären am Fluss zu sehen. Tatsächlich ist der Lech einer der letzten Wildflüsse Europas. Das heißt, zwischen seiner Quelle am Formarinsee oberhalb des Ortes Lech und dem Lechfall in Füssen im Allgäu darf er fließen, wie er will, und über die Stränge schlagen, ohne dabei gezähmt, gestaut oder sonst irgendwie eingeengt zu werden. In dem Reiseführer Deutsche Alpen, erschienen 1896, ist von einem vom Flusse stark verwüsteten Thal mit unwirtlichem Charakter, der sich auch in den ärmlichen Ortschaften ausspricht, die Rede. Besonders viel hat sich seither nicht geändert. Der Fluss wütet noch immer, und man weiß nie so genau, was wilder und abweisender ist: die Landschaft oder die Bewohner.

Touristen fahren durch das Tal hindurch, statt zu bleiben. Im Winter manövrieren Reisebusse aus bayerischen Städten 70 Kilometer über den Talboden und halten erst in den Wintersportorten, die weiter oben die Hänge erschlossen haben und nichts mit den Niederungen zu tun haben wollen. Die Menschen ärgern sich darüber, sowohl die Einheimischen als auch die Wintersportler, weil die Straße viel zu schmal, zu winklig und zu lang ist. Sie wurde noch für die Breite einer Postkutsche angelegt. An manchen Stellen ragen die Häuser wie zackige Keile in die Fahrbahn, und weil die Busse und Autos immer wieder hineinrauschen, haben die Lechtaler Riffelbleche an die Hauswände montiert. Die Art, mit der sie mit dem Durchgangsverkehr umgehen, sagt schon eine ganze Menge über die Bewohner aus.

Die Mentalität der Menschen, die in dieser Transitzone leben, besteht aus einer Mischung aus Grundskepsis und Missgunst, die gelegentlich in offene Unfreundlich- oder gar Feindseligkeit umschlägt, die man nur mit viel Wohlwollen als Charme auslegen kann. Wenn sich jemand von »draußen« zum Beispiel einem frisch geteerten Stück Fußweg nähert und davor stehen bleibt, sagt der Bauarbeiter bestimmt: »Das kostet 20 Euro.« Ganz einfach, weil er davon ausgeht, dass Fremde nichts anderes im Sinn haben können, als ihm das Leben schwer zu machen, ihm seine Arbeit mutwillig zerstören zu wollen, und er in dieser Annahme schon einen Preis für das Vergehen festgelegt hat. Man gerät also, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben, in eine Art Deliktbringschuld.

In einer Wirtschaft, von der jeder vernünftige Gast günstige Preise erwarten würde, kostet ein Schnitzel so viel wie am Münchner Viktualienmarkt, dafür ist die Qualität so schlecht wie der kaum vorhandene Service. Der deutsche Wirt hat sowohl die Unfreundlichkeit als auch das Zwangsverhalten der Talbewohner übernommen und untersagt aus nicht nachvollziehbaren Gründen das Essen im Biergarten, auch wenn man das Schnitzel selber hinausträgt. Nebenan beschränkt das Hotel Alpenrose die Nutzung des Wellnessbereiches strikt auf Hotelgäste, auch wenn man dafür bezahlen würde. Die Holzschnitzschulen bieten »Kettensägenschnitzkurse« an, und an einem Haus am Taleingang steht in Holz geschnitzt die präzise gedachte meteorologische Weisheit: »Wenn’s Wetter so bleibt, isch’s morgen genauso wie heit.«

Das ist natürlich alles nur ein, zugegeben, im Tourismus unglücklicher Abwehrmechanismus, mit dem die Lechtaler ihre zarte Seele schonen. Denn wenn man den Menschenschlag erst einmal kennengelernt und er einen akzeptiert hat, man also einen Schritt von »draußen« nach »drinnen« gemacht hat, oder auch von »unten« nach »oben«, dann fällt auch wieder ein bisschen Sonne ins Tal; zum Beispiel in Form eines selbst gebrannten Zirbenschnapses oder eines Stücks Bergkäse. Und nur, dass wir uns jetzt nicht falsch verstehen: All diese schrulligen Merkwürdigkeiten machen dieses Tal zu einem der interessantesten und meistunterschätzten der Alpen.

Ich reiste damals an einem wolkenverhangenen Tag in der Dämmerung an und war mir nicht sicher, ob es gut oder schlecht war, dass ich nicht im Haupt-, sondern in einem Seitental gelandet war, über dessen Bewohner die Lechtaler so dachten, wie ich über das Lechtal dachte. Ich folgte den Schildern und bog rechts auf eine schmale Straße ab. Schon auf den ersten Metern schossen die Felswände bedrohlich empor, und ihre Schatten verdunkelten den Boden. Alles wirkte so finster, eng und abweisend, dass ich fürchtete, mein Ziel niemals zu erreichen. Im Dezember und im Januar, erzählten sie mir später, vermutlich um mich aufzumuntern, fällt überhaupt kein Sonnenlicht in dieses Tal. Ich versuchte mir das vorstellen, aber es gelang mir nicht. Einige Kurven weiter war dann tatsächlich Schluss. Hinter der Kirche, dem Brunnen und dem Dorfwirt, der, wie ich bald erfuhr, sein ganzes nicht unbeträchtliches Vermögen verspielt hatte, stand auf der rechten Seite der Bauernhof von der Maria. Zuerst begrüßten mich die Katzen, dann kam Maria selbst aus der Stube. Sie trug eine blaue Schürze und eine rot gefärbte Strähne im schwarzen Haar.

»Wir fahren gleich hoch zur Hütte. Ich fahre im Traktor voraus«, sagte sie sehr zielgerichtet. Sie ging noch mal zurück in die Stube, kam mit einem Schlüssel so groß wie ein Korkenzieher wieder und schaute, als wären ihr nun Bedenken gekommen, kurz auf mein Auto. Dann befand sie: »Wird schon klappen.« Die Straße führte in steilen Serpentinen nach oben, zunächst auf Asphalt, dann auf Schotter. Die Vorderreifen verloren immer wieder die Haftung. Auf der linken Seite sollten der Länge nach platzierte Baumstämme ins Rutschen geratende Fahrzeuge davor schützen, in die Schlucht zu stürzen. Ich stellte mir vor, dass dort unten schon Dutzende zerschmetterter und ausgebrannter Wracks lagen und die Baumstämme nach jedem Unfall erneuert würden. Ich stellte mir vor, wie ich selbst in meinem alten braunen Kombi rückwärtsrutschen, den Baumstamm wegdrücken und dann nach unten fliegen würde, auf die Felsen krachend, mich wieder und wieder überschlagend, bis schließlich alles still wäre. Wenn ich, wie in einem Computerspiel, drei Leben hätte, ich glaube, ich würde eines davon für so ein Erlebnis opfern. Ich verdrängte den Gedanken und konzentrierte mich wieder auf Maria und den Traktor, und zum Glück wurde die Straße nun flacher und führte über Almwiesen auf ein Waldstück zu. Die Schneegrenze war nicht mehr weit. Wir fuhren unter den Bäumen hindurch, und dann erreichten wir die Lichtung, auf der die Hütte stand.

Berge im Blick

Ich war direkt aus der Großstadt ins Hornbachtal gefahren, und als mein Auto schließlich hinter Marias Traktor vor der schlichten Berghütte zum Stehen kam, fühlte sich die Welt sehr unwirklich an. Ich räumte meine Klamotten aus dem Koffer in den alten Bauernschrank, die Lebensmittel ins Küchenregal und das Fahrrad in den Stall, in dem schon seit vielen Jahren keine Kühe mehr waren. Nur ihr Geruch lag noch in der Luft. Ich versuchte, die Hütte etwas wohnlicher zu machen, indem ich die furchteinflößende, aus Draht und Kunstblumen gefertigte Wanddekoration entfernte und die Überwürfe wegzog, die auf der Couch und der Eckbank lagen. Auf einem Fenstersims entdeckte ich neben einer Kerze auf einem gehäkelten Untersetzer ein Buch. Es lag offen aufgeschlagen da, auf die Seiten 28 und 29 fiel ein blasses Licht, so als hätte gerade eben jemand darin gelesen und es dort für einen kurzen Moment abgelegt. Ich nahm das Buch und war erstaunt: Es war Francesco PetrarcasDie Besteigung des Mont Ventoux. Ich wollte diesen Text, mit dem angeblich die Geschichte des Alpinismus begann, schon seit langem lesen. Dass ich hier, mitten in den Alpen, darauf stieß, irritierte und erfreute mich gleichermaßen.

Auf 1100 Metern in der Einsamkeit hatte ich anfänglich einen reflexhaften Mobilfunk- und E-Mail-Impuls, eine Angst, die Welt dort unten könnte ohne mich etwas Wichtiges unternehmen. Es war komisch, denn eigentlich war ich in die Berge gekommen, um für drei Wochen meine Ruhe zu haben.

Ich bin am Alpenrand aufgewachsen, und von meinem Heimatort aus kann man die Gipfelkonturen an Föhntagen gut sehen, dann kleben sie wie eine Fototapete am Horizont. Der Föhn verzerrt die Distanzen und macht die Menschen grantig bis verrückt. Vielleicht ist es aber auch nur dieses Bild, das die Menschen verrückt macht. Doch der Weg in die Berge war nicht weit. Wir konnten frühmorgens das Panoramafernsehen im »Dritten« ansehen, und zwei Stunden später waren wir dort, wo der Schnee im Fernsehen am besten aussah. Wir konnten mit dem Fahrrad an einem Tag in die Berge und zurück fahren, wir konnten sogar in sechs Tagen an den Gardasee radeln. Der Weg ins Lechtal war ebenfalls nicht weit, und als Jugendlicher verbrachte ich dort viel Zeit. Irgendwann erfuhr ich, dass mein Großvater der Erste gewesen war, der die Lechschlucht und ihr Wildwasser mit einem Kajak befahren hatte. Vielleicht zog es mich nun auch deswegen wieder dorthin zurück.

Ich lebe mittlerweile 700 Kilometer von den Bergen entfernt, im sehr flachen Berlin, eine Stadt, die auf ihre Weise dazu beigetragen hat, die Liebe zu den Bergen zu verstärken, denn manchmal vermisst man Dinge erst, wenn sie einem abhandengekommen sind. In Berlin lernte ich: Wenn ich ein Heimatgefühl habe, dann geht es von den Bergen aus. Vor meiner Reise hatte ein bayerischer Bergsteiger gesagt: »Wenn du auf einen Berg steigst, fühlst du dich danach immer besser.« Das ist natürlich keine große Weisheit, und trotzdem hatten seine Worte in mir bewirkt, dass ich augenblicklich zurück in die Berge und auf irgendeinen Gipfel steigen wollte. Da beschloss ich, ins Lechtal zu fahren.

Nun hingen in ebendiesem Tal die Wolken vor dem Fenster, und ich wollte die Wetterberichte im Internet befragen, wann sie wieder verschwinden. Aber ohne Netz ist das schwierig. Also: hinunter ins Tal, online gehen und wieder hoch. Wie zwanghaft dieses Verhalten war, bemerkte ich erst, als ich nach vier Tagen auf die Idee kam, den Wetterbericht im Radio zu hören. Nur um dann wiederum zu erkennen, dass keine der Wettervorhersagen in diesem Tal zutrifft. Langsam gewöhnte ich mich daran. Manche Orte bezeichnen es mittlerweile als Qualitätsmerkmal, dass sie keinen Handy- oder WLAN-Empfang haben. In den Bergen gibt es noch viele solcher Orte.

Die Stadt schürt Sehnsüchte: nach Natur, nach Kälte, Wetter, nach Einsamkeit, nach Ausgesetztsein, nach Abenteuer und nach Gefahr. Im Grunde ist das eine zutiefst romantische Sehnsucht. Aber damit bin ich ja nicht allein, zumindest nicht, wenn man die Zahl der Menschen, die ähnlich denken, an den Outdoorklamotten bemisst, die sie in Großstädten zweckentfremdet tragen, um ihre zweite – abenteuerliche – Identität anzudeuten – oder vielleicht auch nur ihre Sehnsucht danach, sie ausleben zu dürfen. Aber hier oben fühlte sich die Realität dann doch anders an. Ein Sportpsychologe hat mir das einmal erklärt: »Weil wir in Deutschland eine sehr lange Periode haben ohne Krieg und Hungersnöte und mit sehr starker wirtschaftlicher Absicherung, leben wir in einer warmen Wolke, die sich aber auch ein bisschen leblos anfühlt. Es gibt diesen Spruch:Wenn’s dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis. Im 21. Jahrhundert akzeptieren wir keine Grenzen mehr und erweitern – nicht zuletzt über das Internet – unsere eigenen Möglichkeiten ins Unendliche.« Er sagte: »Man lebt in so einer komischen, wässrigen Welt, in der alles möglich ist, aber eben nur virtuell. Und dann fühlt man sich entfremdet und sucht nach Körperlichkeit und Sinnlichkeit.« Ich blickte aus dem Stubenfenster in die graue Bergwand auf der anderen Talseite.

Unten regnete es, oben schneite es.

Die Schneegrenze war wieder ein Stückchen Richtung Hütte gewandert.

Es war Juni.

Wenn heute etwas für das Ehrliche und Echte – für das Analoge, könnte man auch sagen – steht, dann sind es die Berge. Ich beobachtete den Weg, auf dem wir heraufgefahren waren, und fragte mich im Minutentakt: Kommt da wer zwischen den Bäumen auf die Hütte zu? Es kam niemand. Die Zivilisation war weit weg, und die einzigen Hinweise auf sie waren die Kondensstreifen der Transatlantikflieger, die den kleinen Himmelausschnitt zwischen den Wolken über mir kreuzten. Auf der Wiese vor der Hütte sah ich in der Abenddämmerung ein Reh und eine Hirschkuh, manchmal huschte auch etwas vorbei, das aussah wie ein Waschbär, sich dann aber als verfettete Katze herausstellte. Weiter oben sah ich Gämsen im Fels. Aber die interessantesten Tiere bewegten sich in der Luft – die Fledermaus, die zuverlässig jeden Abend durch die Dämmerung flatterte, und dann der Adler! Ich weiß es noch genau, es war an einem Donnerstag um 19:49 Uhr, da flog er über die Hütte, und der Umstand, dass er sehr hoch flog und trotzdem noch als sehr, sehr großer Vogel zu erkennen war, erübrigte jede Frage, ob das nun wirklich ein Adler war. Wer einen Löwen sieht, fragt auch nicht lange, ob es ein Löwe ist. Er segelte ganz ruhig dahin, brauchte kaum Flügelschläge, und verschwand dann hinter dem höchsten aller Gipfel. Ich glaube, das war der Moment, in dem ich angekommen war.

Am nächsten Vormittag riss der Himmel auf. Darauf hatten die Dorfbewohner augenscheinlich schon lange gewartet. Wie auf ein Kommando fuhren sie mit ihren Traktoren und Mähgeräten aus den Ställen: Heu machen. Auch die Wiese vor der Hütte wurde gemäht, und ich merkte bald, dass das eine Art Ersatz für die Zeitungslektüre ist, weil sich alle auf der Wiese treffen und Neuigkeiten austauschen. Die ganze Familie der Maria kam zusammen und dazu der Alois mit seinem Motorrad. Das war der Alois, wie sich herausstellte, mit dem ich telefoniert hatte, der Alois, der mich zur Maria vermittelt hatte. Der Alois, der zwar einen Nachnamen hat, aber wenn man im Tal fragt, wie der laute, dann sagen die Leute nur: »der«. Er heißt einfach »der Alois«. Er gehörte irgendwie zur Familie, zum Dorf, zum Tal, musste aber beim Heumachen nicht helfen. Er war nur dabei. Dafür mussten die drei Töchter, die beiden Söhne und der Hund helfen. Sie fuhren mit dem Mäher über die zum Teil gefährlich abschüssige Wiese am Waldrand entlang, durch Senken und Erhebungen, kreisförmig von außen nach innen. Der Alois setzte sich zu mir auf die Bank, legte die Sense auf den Boden und erklärte: »Die nächsten drei Tage bleibt das Wetter schön, und das Heu wird trocknen.« Im Gegensatz zum Internet-Wetterbericht und Radio Tirol behielt er recht.

Es waren die ersten schönen Tage, die ich im Tal verbrachte, und ich kam mir vor wie ein kleiner Junge, der die Welt entdeckte. Ich radelte hinauf auf eine Alm, wo sie Käse und Speck verkauften, ich kletterte neben einem Wasserfall auf einen Felsen und schlug mich, weil ich den Rückweg nicht fand, durch Maggikraut, Farne und Totholz zurück zum Forstweg. Ich floh vor aggressiven Kühen und stieg schließlich auf den höchsten Berg der Gegend, auf den 2592 Meter hohen Hochvogel – auch um zu sehen, wohin der Adler geflogen war.

Nach drei Tagen lag das Heu trocken auf der Wiese, und mittags kam die Maria mit ihren Kindern und dem Hund und schafften es in mehreren Fuhren hinunter zum Hof. Die Wiese lag nun so akkurat da wie ein Stück gestreifte Butter. Die Maria und ihre beiden Töchter entfernten mit den Sensen die noch übrig gebliebenen Halme, die Blicke bang zum nun wieder ockerfarbenen Himmel gerichtet. Der Alois war heraufgekommen, aber schon nach zehn Minuten warf er sein Motorrad wieder an und fuhr davon.

Im Hornbachtal gibt es nicht viele verschiedene Nachnamen und eigentlich auch nicht viele verschiedene Vornamen, aber daraus sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen. Der Bürgermeister heißt wie der Gemeindehiwi, der Bauer heißt wie der Wirt und der Bauarbeiter wie der Senner. Nur der Pfarrer heißt natürlich anders. Und wenn man sie fragt, ob sie verwandt sind, sagen sie: »Ja, irgendwie schon.« Und tatsächlich sehen sie alle sehr ähnlich aus. Die Frauen haben alle die gleiche Frisur, den Kurzhaarschnitt mit einer entweder rot oder blond gefärbten, in die Stirn hängenden Strähne. Die Männer haben alle das gleiche runde Gesicht, den gleichen Schnauzer und den gleichen schwer interpretierbaren Blick, der ihnen etwas Schelmisches, Bauernschlaues, Infantiles, Argwöhnisches oder Boshaftes geben kann. Es ist unerklärlich, aber die Alten sehen ganz anders aus als die Jungen, und es ist schwer bis unmöglich, die physiognomische Verbindung von den Jungen zu den Alten herzustellen. Aus dem runden Gesicht wird ein spitzes, hageres, der Schnauzer verschwindet, und der Körper krümmt sich. Wenn die Männer also Mitte 50 sind, dann müssen sie sich allesamt und sehr schnell in diesen anderen Typus verwandeln. Vermutlich über Nacht.

Der Alois war der Einzige, der anders aussah. Er war der einzige Mann im Dorf, der den physiognomischen Lückenschluss zwischen den Jungen und den Alten herstellte. Sein Alter war schwer zu schätzen, weil sein Gesicht Anteile von naiver Jugendlichkeit und zugleich von trauriger Altersweisheit trug. Er war – sozusagen als Ausgleich dafür, dass sich alle anderen Männer im Ort über Nacht verwandelten – dazu verdammt, für immer gleich auszusehen.

Als das Heu weggefahren und die letzten Halme geschnitten waren, war ich wieder allein und ging zurück in die Hütte. Mein Blick fiel auf die Fensterbank und Die Besteigung des Mont Ventoux. Ich nahm das Buch, zog eine Daunenjacke an und setzte mich mit einem Glas Weißwein auf die wurmstichige Holzbank unter dem Giebeldreieck. Der Text begann mit den Worten: Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, »den Windigen« nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen, allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen. Ich las weiter: Petrarca war am 26. April 1336 auf den Mont Ventoux in der Provence gestiegen. Er wanderte von dem Dorf Malaucene aus auf den 1902 Meter hohen Gipfel und genoss oben eine dann doch etwas unglaubwürdige Aussicht auf das Mittelmeer und den Atlantik. Ich blätterte zum Nachwort. Dort stand, dass Petrarca eine andere Art, sich zu bewegen, eingeleitet habe, dass im 14. Jahrhundert die Besteigung eines Berges unerhört gewesen sei, dass er einen Normbruch begangen habe. Deswegen sei diese Bergtour die Geburtsstunde des Alpinismus und Petrarca selbst sein seelischer Vater, ihm sei es gelungen, unbewusst die ursprünglichen Beweggründe für das Bergsteigen zu definieren: die Läuterung von Körper und Geist.

Ich legte das Buch auf die Bank, rieb mir die Augen und beobachtete die Wolken – eine sehr gewinnbringende Tätigkeit. Mir war nicht aufgefallen, dass sich das Wetter geändert hatte. Der ockerfarbene Himmel war dunkelgrau geworden. Aus dem Talschluss rollten Gewitterwolken wie eine Lawine heran. Die Stimmung hatte sich innerhalb von 24 Seiten Petrarca komplett geändert. Aus der Düsternis schob sich eine bedrohlich dunkle Regenwolke auf die Hütte zu und schien sie verschlucken zu wollen. Es war still, und ich sah sie ganz klar, diese riesige Wand aus dichtem Regen, Nebel, Dunst und Wolken. Von der Felskarspitze rollte der Donner herunter, und sein Echo sprang durch die Westwand. Die Fichten neigten sich im Wind. Dann stoben erste Tropfen durch die Luft, und schlagartig verdunkelte das Gewitter die Welt, als ginge sie unter.

Ich blickte wieder auf das Buch, und mit einem Mal hielt ich Petrarca und alles, was über seine Ventoux-Besteigung geschrieben wurde, für intellektuellen und weltfremden Schmarrn.

Der Alois

Am nächsten Morgen drückte der Schnee die Fichten zu Boden, die noch nicht gemähten Wiesen waren platt gedrückt, viele kleinere Bäume einfach abgeknickt. Die Hornbachtaler trösteten sich damit, dass es im Nachbartal noch schlimmer zugegangen war. Durch das Gewitter war es kalt geworden, und ich musste, um heizen zu können, das Holz vor der Hütte mit einer Axt spalten. Eine wunderbar klare Tätigkeit. Wenn man es gewöhnt ist, ständig Mails in die virtuelle Welt hinauszuschicken und keine Ahnung zu haben, was daraus wird, dann empfindet man diesen körperlichen Einsatz, der dazu führt, dass in einer Kiste klein gehackte Hölzchen liegen, mit deren Hilfe der Ofen anzufachen ist, als etwas sehr Ehrliches. Nach etwa zehn Minuten Holzhacken spürte ich meine Finger nicht mehr, und gerade als ich mich dazu entschloss, hineinzugehen und einzuheizen, hörte ich ein sich näherndes Motorrad. Mit einem Hieb rammte ich die Axt in den Baumstumpf, rieb die kalten Finger aneinander und blickte auf den Feldweg nach Norden.

Ich sah noch nichts, aber ich wusste, dass das nur der Alois sein konnte, und prompt erschien sein Motorrad zwischen den Bäumen. Er fuhr den Weg herauf, trug keinen Helm und grüßte mich, indem er den Kopf kaum merklich nach oben bewegte. Er sagte, dass sie gestern die Sensen vergessen hätten, und deutete neben die Bank. Ich sah in seine schlauen Augen und spürte diese praktische Intelligenz, die Gescheitheit von Intellektualität unterscheidet. Es war eine stille, wörtersparende Begegnung. Dann geschah etwas, ein Moment, von dem ich, noch bevor er zu Ende war, wusste, dass er mich noch lange beschäftigen wird. Hier oben, vor einer Berghütte auf 1100 Meter Höhe, stand ich dem Alois gegenüber, und dann erfassten seine Augen den Mont Ventoux; das Buch lag neben den Sensen auf der Bank. Alois sagte: »Diese Besteigung hat es nie gegeben.« Er hatte den Buchdeckel nur ganz kurz fokussiert, und seine Aussage war so militärisch knapp und präzise wie einst am Telefon.

»Ach so«, sagte ich, weil mir in dem Moment gar nichts mehr einfiel.

»Und selbst wenn es sie gegeben hätte, wäre sie noch lange nicht die Geburtsstunde des Alpinismus«, ergänzte der Alois bestimmt.

»Ach so«, sagte ich wieder, weil ich es immer noch nicht fassen konnte. Und dann langsam: »Wie kommst du darauf?«

»Weil der Mont Ventoux nichts mit Alpinismus zu tun hat. Er ist 1902 Meter hoch und kein Berg in alpinistischer Hinsicht. Er ist vielleicht für die Radfahrer der Tour de France interessant, aber nicht für Bergsteiger. Da führt heute eine asphaltierte Straße hinauf!«

»Und was ist deiner Meinung nach die Geburtsstunde des Alpinismus?«

Er zögerte keine Sekunde: »Natürlich die Besteigung des Montblanc, 1786, da ist alles losgegangen. Du solltest mal lesen, wie Horace-Bénédict de Saussure damals da hochgestiegen ist. Aber auch Haller und Rousseau solltest du lesen, dann verstehst du alles.« Der Alois schaute wieder mit einem Blick voller Skepsis in den Himmel, zurrte die Sensen an seinem Motorrad fest, sagte »Ich muss wieder ins Tal« und fuhr über den Feldweg davon.

Es war der Beginn von etwas, von einer Freundschaft vielleicht, und vielleicht auch von einer Idee. Ich konnte noch nicht benennen, was genau es war, aber ich spürte es. Eines wusste ich: Seit diesem Dialog sah ich den Alois mit anderen Augen.

Am Nachmittag klarte es etwas auf, und ich ging auf einem schmalen Pfad, der hinter der Hütte begann, bergauf. Von den Bäumen tropfte das Wasser, und meine Stiefel rutschten auf den nassen Wurzeln wie Ski herum. Der Geruch von feuchtem Moos und Tannenharz lag in der Luft. Nach einer halben Stunde kam ich auf eine Lichtung, und dann kam die Sonne hervor. Die Bergwelt dampfte und glitzerte wie ein noch nicht getrocknetes Ölgemälde. Ich dachte an den Alois. Was war das eben für ein Gespräch gewesen?

Als ich abends zurück zur Hütte kam, lagen auf der Bank drei vergilbte Bücher und daneben ein Zettel, auf dem stand: »Gruß, Alois«. Ein Buch hieß Die Alpen. Das zweite hieß Julie oder Die neue Héloïse und das dritte: Kurzer Bericht von einer Reise auf den Gipfel des Montblanc. Ich wusste noch nicht, dass das meine ersten Wegweiser durch die Alpen sein würden: ins Berner Oberland, ins Wallis und nach Chamonix.

Den Alois sah ich erst sieben Jahre später wieder.

Kapitel eins: AUFWÄRTS

Die Spur der Bücher

Ich blieb noch zwei Wochen im Hornbachtal. Genug Zeit, um Alois’ Bücher zu lesen. Genug Zeit, um darüber nachzudenken. Genug Zeit, um neugierig zu werden. Der Sommer blieb launisch. Die Schneegrenze wanderte von den Almen zur Hütte, dann wieder hinauf und wieder zurück. Die Landschaft war weiß, dann grün, dann wieder weiß. Ich verließ die Hütte oft morgens bei Sonnenschein, um dann schon am Mittag im prasselnden Regen, augekühlt und durchnässt, wieder zurückzukommen, mich am Feuer aufzuwärmen und zu lesen. Ich tauchte also immer tiefer ein ins 18. Jahrhundert, in dem die Menschen anfingen, sich für Berge zu begeistern, und hier oben, vor dem schlichten Ofen in der Einsamkeit der Hütte, konnte ich mir gut vorstellen, welchen Anteil Albrecht von Haller, Jean-Jacques Rousseau und Horace-Bénédict de Saussure daran gehabt hatten.

Der Alois war verschwunden, er sei »weg«, hieß es im Tal, und sie sagten »weckch«, kehlig und kratzig. Das sei ganz normal, er verschwände immer wieder mal für einige Wochen in die Berge und nein, da müsse man sich keine Sorgen machen. Der Alois, so erfuhr ich im Ort, wurde im Hornbachtal geboren und war schon als Kind ein guter Bergsteiger. Als Jugendlicher kletterte er so ziemlich durch jede Wand und auf jeden Gipfel in der näheren Umgebung. Aber das reichte ihm nicht. Er dachte über die Dinge nach, hinterfragte sie, las Bücher, und bald wurde seinen Eltern klar, dass sie ihn aufs Gymnasium schicken müssten – ungewöhnlich genug für dieses abgelegene Seitental. Das war allerdings erst der Anfang. Er machte ein sehr gutes Abitur und wollte studieren. »Und jetzt pass auf«, sagte die Maria eines Abends, »er hat in München Philosophie studiert.« Aus ihrem Mund klang das so, als hätte er sich mit Lepra infiziert. Er studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte und beendete das Studium auch. »Dann ist er wieder hierher zurück ins Hornbachtal gekommen«, sagte die Maria langsam, »und das konnten wir alle noch viel weniger verstehen als den Grund, warum er weggegangen war.«

Seine drei Bücher waren geblieben und hatten mich angesteckt. Ich wollte mehr wissen, mehr lesen, wollte die Orte sehen, die in den Texten verherrlicht wurden. Ich blickte auf die Fensterbank. Ich hatte das Petrarca-Buch wieder genauso dort hingelegt, wie ich es gefunden hatte, die Seiten 28 und 29 aufgeschlagen, und nun, da ich es so liegen sah, stellte ich mir für einen kurzen Moment vor, dass der Alois es hingelegt hatte, nur damit ich es finden konnte, nur damit er mich darauf ansprechen konnte, nur damit er mir die anderen Bücher geben konnte – und nur damit diese Idee durch meinen Kopf irrlichtern konnte. Das war natürlich alles Unsinn. Und doch war ich längst dabei, einen Plan zu schmieden.

Es war ein Dienstag, an dem ich nach Westen aufbrach. Der Alois war immer noch nicht wiedergekommen und es war sinnlos, auf ihn zu warten. Und so folgte ich seinen Büchern, wollte über das Inntal in die Schweiz, über Zürich ins Berner Oberland. Ich wollte Albrecht von Hallers Arkadien sehen, wollte Rousseaus Romantikschmerz empfinden und Saussures Gipfel erleben.

Es dämmerte bereits, als ich aus dem Tal herausfuhr, auf die Lechtalstraße abbog und über das Hahntennjoch ins Inntal fuhr, ein steiler und wilder Übergang, mit engen Kurven und in den Fels gesprengten Tunneln. Abenteuerlich, furchteinflößend und tödlich für Motorradfahrer, die die Kurven unterschätzen. Nach der schneebedeckten Passhöhe fuhr ich an einer bewirteten Alm vorbei und las auf dem Schild »Methadon-Alm«. Sie hieß natürlich nur so ähnlich; doch ich stellte mir heroinabhängige Bergbauern vor, die auf der Methadon-Alm auf Entzug waren.

Imst, Landeck, wo das Land tatsächlich ein Eck beschreibt, weil der Inn hier aus dem Engadin kommt und dann einen Bogen nach Osten beschreibt, Arlbergtunnel und dann über Feldkrich in die Schweiz. Vorbei an Liechtenstein, dann parallel zur Zugstrecke nach Davos, weiter nach Sargans und zum Walensee, wo die Gondeln über die Autobahn schweben. Ich erreichte den Zürichsee, fuhr an seinem Südufer entlang durch die Orte Lachen, Wädenswil, Adliswil und Kilchberg. Wo Thomas Mann begraben ist und Christian Kracht in seinem Roman Faserland einen Schäferhund aller Wahrscheinlichkeit nach auf dessen Grab kacken lässt. Dann bog ich nach Süden ab, hinein in die Berge, um über Luzern, Sarnen und Brienz fahrend schließlich spätnachts in Interlaken anzukommen, dem Ort zwischen den Seen.

Oben und unten

Fast 300 Jahre vor meiner Ankunft hatte im Berner Oberland die Erschließung der Alpen begonnen – auf literarischer, wissenschaftlicher und touristischer Ebene. Es war der dort ansässige Arzt, Botaniker, Bibliothekar und Poet Albrecht von Haller, der 1732 mit seinem Gedicht Die Alpen das Interesse an den Schweizer Bergen weckte. Die Mischung aus Alpinismus, Botanik und Poetik faszinierte die Massen so sehr, dass noch zu Hallers Lebzeiten 30 Auflagen in mehreren Sprachen gedruckt wurden. Forscher, Abenteurer, Philosophen und Dichter aus ganz Europa wollten plötzlich mit eigenen Augen sehen, worüber Haller schrieb. Heute würde man sagen: Die Schweiz boomte.

Als ich im Hornbachtal Hallers Text gelesen hatte, hatte ich zwar eine Ahnung von seiner Begeisterung gehabt, aber ihr Ausmaß hatte ich nicht verstanden. Das änderte sich, als ich am nächsten Tag unter einem strahlenden Himmel die Landschaft betrachtete. Interlaken liegt nicht nur zwischen zwei Seen, sondern auch zwischen mächtigen Viertausendern und dem sanften Vorgebirge. Es ist eine Bühne, auf der die Berge inszeniert werden. Um mir diese Inszenierung noch besser ansehen zu können, wollte ich auf den Logenplatz. Ich wollte mit dem Bähnli, wie die Schweizer ihre Bergbahnen nennen, hinauffahren nach Grindelwald, zur Kleinen Scheidegg, und dann ins Hochgebirge auf über 3500 Meter. Mit anderen Worten: Ich wollte das ganze Repertoire der Gebirgslandschaft bestaunen, ohne auch nur einen Höhenmeter aufzusteigen. Ich marschierte durch den Ort zum Bahnhof, vorbei an Grandhotels und Outdoorläden, eine Mischung, die ganz gut umreißt, was und wie Interlaken heute ist: verblasster Belle-Époque-Charme und Extremsportdestination. Am Bahnhof musste ich mich zwischen Reisegruppen einsortieren und hörte Sprachen, deren Herkunft ich nicht zuordnen konnte. Es beruhigte mich etwas, dass auch englisch sprechende Naturburschen mit Eispickeln und großen bunten Rucksäcken hier auf die Bahn warteten. Am Schalter löste ich ein Ticket zu einem obszön hohen Preis. Dafür erreichte ich nach einer guten Stunde den Bahnhof »Kleine Scheidegg«, und von hier aus wirkte die Szenerie, als hätte ein genialer Bühnenbauer alles so arrangiert, nur um den Gästen den besten Blick in die Eigernordwand zu ermöglichen. Das Hotel Bellevue des Alpes strahlte den Grandhotelcharme des 19. Jahrhunderts aus, der in merkwürdigem Gegensatz zu den wahllos fotografierenden Asiaten stand. Gleise und Weichen kreuzten sich hier wie am Münchner Hauptbahnhof. Aber man sieht hier für gewöhnlich nur nach oben. Ich legte den Kopf in den Nacken, und hoch über mir zeichneten sich die Konturen von Eiger, Mönch und Jungfrau im Gegenlicht ab, und mir wurde klar, warum sich die Sichtweise auf die Berge an einem Ort wie diesem verändern musste. Die Kleine Scheidegg liegt auf einem Plateau, von dem aus die bedrohlich nahen Berge ein wunderschönes Bild abgeben. Es ist, als würde man von einem Feldherrnhügel aus eine Schlacht beobachten, fasziniert, staunend, betroffen, aber doch aus sicherer Distanz. Man blickt aus der Horizontalen in die Vertikale, bekommt ein Gefühl dafür und hat doch keinen Schimmer von dem, was man hier betrachtet. Man ist sehr nah dran und zugleich sehr weit weg.

Halb Europa ließ sich im 18. und 19. Jahrhundert von diesem Anblick verzaubern und verrückt machen. Lange vor mir hatte der britische Bergsteiger und Schriftsteller Leslie Stephen hier ganz in der Nähe gestanden. Stephen hatte in den Alpen eine ganze Menge gesehen, war auf dem Montblanc gewesen und hatte vom Sonnenuntergang dort oben geschwärmt. Doch über das Berner Oberland schrieb er: Aber weder Chamonix noch Zermatt können sich, was Großartigkeit und Kühnheit des Entwurfes anbetrifft, mit dem Berner Oberlande messen. Kein erdentbundenes Gebild schwingt sich zu der Erhabenheit auf, die uns in Lauterbrunnen und Gindelwald überwältigt angesichts der dräuenden Felsenfeste. … Weder das Gezack um den Montblanc noch das Matterhorn selber zeichnet so edlen Umriss wie der Eiger, dieses Ungeheuer, das den Himmel anzuspringen scheint.

Ich fuhr weiter mit der Jungfraubahn nach oben, und nach weiteren 50 Minuten im Zug erreichte ich das Jungfraujoch, den höchsten Bahnhof Europas, 3454 Meter über dem Meer, »The Top of Europe« genannt. Gemeinsam mit den Chinesen, Indern, Koreanern, Japanern und Amerikanern stieg ich aus, um Gefahr zu laufen, in der dünnen Luft ohnmächtig zu werden – das gehört genauso zu diesem außergewöhnlich hohen Ort wie das indische Restaurant Bollywood. Es roch nach Curry, und in dem labyrinthischen Geflecht aus Gängen, Rollbändern und Aufzügen drängten sich die Reisegruppen kurzatmig aneinander vorbei. Sieben Lifte verbinden acht Ebenen, und insgesamt fünf Kilometer Tunnel ziehen sich durch den Berg. Täglich kommen rund 6000 Besucher, um sich den Irrsinn anzusehen. In den Stollen gibt es ein Kino, einen Eispalast, eine Prosecco-Bar, einen Sauerstoffraum und einen Erlebnisstollen, in dem Richard Strauss’ Alpensinfonie gespielt wird. Am »Self Service Restaurant« verkaufen sie »Jungfraujoch Bowl Noodle« und verlangen für heißes Wasser vier Euro, weil viele asiatische Gäste ihre eigenen Fertigsuppen mit hochbringen. Und dann trägt einen ein Aufzug noch mal 107 Meter höher hinauf auf die Aussichtsplattform Sphinx auf 3571 Meter. Im Aufzug erzählte mir ein Mann aus Bombay, dass er gestern in Innsbruck gewesen sei und am nächsten Tag in Heidelberg sein werde. Er hatte »Europe: 15 days, 9 countries« gebucht. Auf der Plattform flatterte die Schweizer Fahne im Wind, die Viertausender sahen aus wie unbedeutende Hügel, und die Touristen staksten unbeholfen durch den Schnee und drehten sich im Kreis, weil sie das Panorama anders nicht erfassen konnten: im Süden das Wallis mit dem Aletschgletscher, dem Dom und dem Weisshorn, im Westen die Jungfrau, das Silber-und das Rottalhorn, im Osten der Eiger und das Wetterhorn und im Norden die Tiefe, aus der die Bahn auf unerklärliche Weise zu diesem Punkt heraufgefahren war. Das Jungfraujoch ist einer der merkwürdigsten Plätze in den Alpen.

Das alles sollte man gesehen haben, bevor man sich mit Albrecht von Haller beschäftigt. Ich hatte die 490 Alexandrinerverse vor dem knisternden Ofen in der Hütte im Lechtal gelesen. Es war eine zähe Lektüre gewesen und der Stil so verstaubt wie der verlassene Stadel hinter der Hütte. Man könnte sagen, es ist eine Mischung aus Erlebnis- und Exkursionsbericht über die Weite der Gebirgsketten und Gletscher, über Pflanzen und Kristalle und über die Charaktereigenschaften der Älpler: Ihr einfaches Leben in der unschuldigen Welt ist rein und glücklich, völlig im Einklang mit der Natur. Und das klingt mit Haller so:

Hat nun die müde Welt sich in den Frost begraben,Der Berge Täler Eis, die Spitzen Schnee bedeckt,Ruht das erschöpfte Feld nun aus für neue Gaben,Weil ein kristallner Damm der Flüsse Lauf versteckt,Dann zieht sich auch der Hirt in die beschneiten Hütten,Wo fetter Fichten Dampf die dürren Balken schwärzt;Hier zahlt die süße Ruh die Müh, die er erlitten,Der Sorgen-lose Tag wird freudig durchgescherzt,Und wenn die Nachbarn sich zu seinem Herde setzen,So weiß ihr klug Gespräch auch Weise zu ergötzen.Der eine lehrt die Kunst, was uns die Wolken tragen,Im Spiegel der Natur vernünftig vorzusehn,Er kann der Winde Strich, den Lauf der Wetter sagenUnd sieht in heller Luft den Sturm von weitem wehn;Er kennt die Kraft des Monds, die Würkung seiner Farben,Er weiß, was am Gebürg ein früher Nebel will;Er zählt im Märzen schon der fernen Ernte GarbenUnd hält, wenn alles mäht, bei nahem Regen still;Er ist des Dorfes Rat, sein Ausspruch macht sie sicher,Und die Erfahrenheit dient ihm vor tausend Bücher.

Seine Leser waren sich einig: Haller hatte das alpine Arkadien entdeckt – mitten im Berner Oberland.

Ich hatte vor dem Ofen gesessen, vom Buch aufgeblickt und war nach draußen gegangen. Dort hatte ich direkt auf den Bergwald, die Felswände, die Schneefelder und die gezackte Gipfellinie geschaut. Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht war dieser Moment der Impuls gewesen, der mich veranlasst hatte, diese Reise in die Schweiz zu unternehmen.

Haller, das muss man ihm lassen, war der Erste, der den großen Unterschied zwischen »unten« und »oben« erkannte. Unten befinden sich verhaßte Gründe, oben grüßte man den Berg mit Freuden. Unten war die Zivilisation und ihre tausend Bücher, oben wurde freudig durchgescherzt. Auch später, als die Gipfel der Alpen nach und nach erobert wurden, teilte sich die Welt in ein »Unten« und ein »Oben«. Bis heute sagt man unten Sie und oben du. Wer oben war, kann unten nicht mehr leben, steht in Thomas Manns Zauberberg. Man muss oben gelebt haben, um zu wissen, wie es sein muss. Hier unten fehlen die Grundbegriffe. Und wer unten ist, kann jene, die nach oben steigen, nicht verstehen. »Geh nur wieder hinauf. Mit dir ist nichts mehr anzufangen.« Und er ging wieder hinauf. Er kehrte in die »Heimat« zurück, heißt es im Zauberberg.

Ich war oben und wollte nach unten, nämlich mit der Bahn durch die Eigernordwand hindurch. Die Stationen heißen »Eismeer«, »Eigerwand«, und bei »Eigergletscher« waren fast alle Touristen im Zug eingeschlafen. Die Höhe macht müde. Sieben Kilometer verlaufen im Tunnel, und als einmal Bergsteiger in der Wand in Not geraten waren, hatte man versucht, sie durch den Tunnelschacht zu retten. Auf der Kleinen Scheidegg, genau zwischen »oben« und »unten«, stieg ich aus, weil ich von hier aus hinunter ins Tal wandern wollte, unterhalb der Gletscher und Felswände, im Schatten der Berge. Ich blickte hoch zur Jungfrau und hatte die Kälte der Höhe noch in den Gliedern. Ist es nicht merkwürdig, dass 1811 ausgerechnet die Jungfrau der erste Viertausender in den Schweizer Alpen war, der bestiegen wurde? Und ist es nicht auch merkwürdig, dass ihr zu Füßen ein Ort diesen Namen trägt? Pascalon … errötete bis über die Ohren, wenn man von der Kleinen Scheidegg sprach, da er nicht anders glaubte, als es sei eine sehr leichtsinnige junge Dame, schrieb Alphonse Daudet in Tartarin in den Alpen, ein Buch, das mir später auf meiner Reise begegnen sollte.

Ich schnürte die Stiefel fester und ging los.

Schöne hohe Welt

Bücher lesen heißt wandern gehen, schrieb Jean Paul, und Goethe mahnte in seinen Aphorismen: Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen. 200 Jahre vor mir wurde Wandern zur sentimentalen Kulturtätigkeit. Das Gehen durch die Berge wurde auf die Metaebene gehievt, und die literarische Wanderung »Auf den Spuren von …« war im Kommen. Nun stolperten sie alle durch die Schweiz und erklärten es zur großen Kunst. Es war nicht immer ganz klar, wo der Spaziergänger zum Wanderer und wo der Wanderer zum Bergsteiger wurde. Obwohl: Zum Bergsteigen waren die empfindsamen, hypochondrischen Romanciers in den seltensten Fällen fähig. Sie wollten die Erhabenheit spüren, und das ist sozusagen das Gegenteil des Bergsteigens. Auf der Aussichtsterrasse den Handrücken an die Stirn halten, tief einatmen und dann, aahhh, den hinabstürzenden Wasserfall schauen. Die schreckliche Nordwand aus dem Tal betrachten und dabei, oohhh, beinahe in Ohnmacht fallen. Dabei war das ungefähr so gefährlich, wie in einem Museum vor einem Landschaftsgemälde zu stehen. Tatsächlich in die Berge zu gehen oder sie zu besteigen, nein, das bedeutete reale Gefahr, Kälte, Anstrengung und womöglich andere nicht auszudenkende Unannehmlichkeiten. Und doch schrieben sie alle über ihre Erlebnisse in den Bergen – ein Widerspruch, der in der Alpenliteratur bis heute eine Rolle spielt: Diejenigen, die sich in die Berge wagen, erzählen oft nicht darüber. Und diejenigen, die darüber erzählen, haben keine Ahnung, weil sie nur die Erhabenheit spüren wollen.

So zieht sich das Wechselspiel zwischen Literatur und Leben durch das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert wie ein Wanderpfad durch die Berge. Zwischen 1750 und 1790 stieg die Zahl der Reiseberichte über die Schweiz um mehr als das Achtfache. Die Trennlinie zwischen authentischer Berichterstattung und fiktionaler Prosa war kaum mehr zu ziehen: Reisebeschreibungen brachten einen Kanon an Formen, Vergleichen und Metaphern für Berglandschaften hervor, der auch die zeitgenössischen Dichter noch beeinflusst. Es gab Flaneure und Wanderer, Wissenschaftler und Künstler, Schaumschläger und Dummschwätzer, Abenteurer und Bergsteiger. Und ohne es zu bemerken, waren sie alle Teil eines großen Kreislaufs. Reales wurde zu Fiktivem, Fiktives zu Realem, und am Ende kam, wie bei einer langen stillen Post, oft etwas ganz anderes an als das, was am Anfang stand. Und es war auch gar nicht mehr notwendig, selbst zu reisen: Friedrich Schiller war nie in den Alpen, weil er alles, was er für den Wilhelm Tell, der in den Schweizer Bergen spielt, benötigte, entweder nachlas oder sich von seinem schweizreisenden Freund Goethe erzählen ließ. Die Axt im Haus ersetzt den Zimmermann, heißt es im Tell – der Goethe im Haus ersetzte die Schweizreise.

Es war also ausnahmsweise mal kein Engländer, der den Schweizern ihr Nationalmythos schrieb. Es war ein Deutscher, der die Schweiz nie gesehen hatte, weil seine Tuberkulose das verhinderte. Der Geschichte des renitenten Freiheitskämpfers Tell erfand er zwar nicht – sie kursierte schon seit dem 16. Jahrhundert –, aber es war Schillers Drama, das sie ab 1804 international bekannt machte und die Schweiz mit ihren Felsen, den Schneebergen und Staubbächen auf die Bühnen Europas brachte.

Versteckte Pfade wurden bald zu ausgetrampelten Wegen und diese Wege zu ausgelatschten Straßen. Auch ich wanderte nun auf so einem Weg hinunter ins Tal, Richtung Lauterbrunnen. In regelmäßigen Abständen kamen mir ganze Wandergruppen entgegen, die in verschiedenen Sprachen grüßten. Rousseaus »Zurück zur Natur« ist heute wieder erstaunlich aktuell. Seine Kritik am reizüberfluteten Leben in den Städten und seine Vorstellung von einem besseren Leben weit weg von aufregenden Finanzkrisen, sinkenden Löhnen, schamlosen Bereicherungen der Oberschicht und drohenden Revolutionen passt auch ins 21. Jahrhundert. Die Renaissance des Wanderns lässt sich mit Rousseaus Naturverständnis gut erklären.

Jean-Jacques Rousseau also. Auch der französische Schriftsteller, Philosoph und Aufklärer, der gerne als »Wegbereiter der Französischen Revolution« bezeichnet wird, wanderte durch die Berge des Wallis, auf die ich vom Jungfraujoch aus geblickt hatte, und diese Wanderung beeindruckte ihn so sehr, dass er Julie oder Die neue Héloïse schrieb, das zweite Buch, das mir der Alois auf die Bank vor der Hütte gelegt hatte. 1761 erschien der Briefroman, dessen Hauptfigur Saint-Preux vom Genfer See aus ins Wallis wanderte. Er berichtet seiner geliebten Julie im 23. Brief von seiner Reise und den seltsamen Gegenden: … Bald hingen unermeßliche Felsen in Trümmern über meinem Haupt; bald umströmten mich hohe, rauschende Wassergüsse mit ihrem Nebel; bald öffnete eine immerwährende Flut zu meiner Seite einen Abgrund, dessen Tiefe das Auge sich nicht zu erforschen getraute. Zuweilen verlor ich mich in eines dichten Waldes Dunkelheit; zuweilen, wenn ich aus einem Schlunde herauskam, erquickte auf einmal meinen Blick eine angenehme Wiese. Eine erstaunliche Vermischung von wilder und bebauter Natur zeigte überall der Menschen Hand, wohin man nicht geglaubt hätte, daß sie jemals gedrungen wäre; auf der Seite einer Höhe fand man Häuser; wo man nichts als Brombeeren gesucht hätte, da sah man dürre Weinreben, auf abgerutschtem Erdboden Weinberge, auf den Felsen die trefflichsten Früchte und in Abgründen Felder.

Aber in der Héloïse geht es natürlich nicht ums Wandern. Es geht um eine unmögliche Liebe: Der gewöhnliche Hauslehrer Saint-Preux verliebt sich ausgerechnet in ein Mädchen aus adliger Familie, was in der Literatur dieser Zeit nie gut ging und zum Tod eines oder beider Liebender führte. In diesem Fall, das kann man verraten, trifft es sie. Rousseau ahnte vermutlich nicht, dass die leidenschaftlichen Texte, die er seinen Saint-Preux in den Schweizer Bergen schreiben lässt, die Alpenbegeisterung fortsetzten, die mit Haller begonnen hatte. Die Héloïse machte die Berge zum romantischen Rückzugsort, ohne den Rationalismus der Aufklärung, der bei Haller noch angedeutet war. Es ging um tiefe Empfindungen und große Gefühle. Willkommen in der Romantik. Saint-Preux schreibt:

… denn der Berge senkrechte Ansicht rührt die Augen auf einmal und weit stärker als Aussicht auf Ebenen, die man nur seitwärts von fern sieht, und wo jeder Gegenstand uns einen anderen verbirgt. … Man ist da ernsthaft ohne Schwermut, ruhig ohne Unempfindlichkeit, zufrieden, daß man ist und denkt.

Die Héloïse wurde als »Jahrhundertbestseller« bezeichnet, und ihr Erfolg trieb Buchhändler dazu, das Buch tage- und stundenweise auszuleihen. Hallers Alpen erreichte 30 Auflagen, die Héloïse über 100! Beide Bücher beflügelten die Popularität der Schweiz. Haller und Rousseau waren ihre ersten Werbetexter.

Für alle Fälle

Die belletristischen Erfolge blieben nicht ohne Konsequenzen. Immer mehr Künstler, Gelehrte und solche, die sich dafür hielten, folgten dem literarischen Ruf der Wildnis und merkten dabei nicht, dass sie nicht die Ersten waren, die begeistert unter den Wasserfällen oder an den Passhöhen standen, die einen Sonnenauf- oder -untergang beobachteten, die das Alpenglühen und einen Gletscher sahen oder einen Stein in einen Bergsee warfen. Sie gingen alle in Spuren, wie ein kurzer Blick nach vorne zeigt: Goethe würde in den Spuren Hallers gehen, Lord Byron in den Spuren Goethes, Leo Tolstoi in den Spuren Byrons und Sir Arthur Conan Doyle in den Spuren Leo Tolstois. Einer, der 1873 nach einer winterlichen Bergtour ebenfalls durchs Lauterbrunnental abstieg, war Leslie Stephen. Natürlich, schrieb er, könnte ich die Schönheit der winterlichen Wengernalp in Umrissen schildern, die Stunden des Schneewatens zählen, in Entzücken ausbrechen über die von beschneiten Tannen eingerahmten Gipfel und mich des längeren ergehen über alles Liebliche und Erhabene eines unvergleichlichen Wintertages. Und kritisiert dann seine britischen Dichterkollegen: Byrons Ausschroten der Landschaft dünkt mich geradezu unverschämt. Scotts Schlichtheit wäre der Erhabenheit des Gegenstandes kaum angemessen. Wordsworth hätte in seine Gesichte übersetzt; und der feinsinnige Shelley wäre zwischendurch in metaphysisches Geschwöge verfallen. … Wer, wie ich, in ihren Fußtapfen wandelt, beschränkt sich besser aufs einfache Bekenntnis der Ehrfurcht.

Murmeltiere und Bergdohlen begleiteten mich auf dem Weg ins Lauterbrunnental. Ich stieg über Allmend und Wengen hinab, unter mir Wiesen und Brombeerstauden, über mir: die Westwand der Jungfrau – Fels, Eis, Schnee und darüber die Sonne. Im Frühjahr und im Herbst bildet sich in dieser Wand, kurz bevor die Sonne untergeht, in klaren Linien ein Schattenkreuz: das Schweizer Kreuz, sagen die Einheimischen stolz, weil man an Nationalsymbolen nie genug haben kann. Nach zwei Stunden erreichte ich den Talboden. Der Weg fiel regelrecht ins Tal hinein. Die Bergwand vor mir wurde immer höher, so dass ich das Gefühl hatte, immer kleiner zu werden. Es war mittlerweile später Nachmittag, und mir taten meine Füße weh, und zwar nicht die Sohlen, sondern der Spann. Am Ortsschild von Lauterbrunnen hielt ich es nicht mehr aus und entschloss mich, die Einlegesohlen aus den vermaledeiten Bergschuhen zu nehmen. Da bemerke ich es: Unter den Sohlen lagen Thermosohlen, die ich dort für eine Nachtwanderung im Winter hineingelegt hatte. Nun aber war ich damit fünf Stunden durch den Sommer gelaufen und hatte dabei meine Füße gequetscht, als würde ich chinesische Lotosfüße anstreben.

Ich hielt mich rechts, trat in den Schatten ein und sah schließlich den Wasserfall. Der Staubbachfall schoss über die Felskante hoch über dem Tal und trieb mir den Sprühregen ins Gesicht. Fast 300 Meter spritzt das Wasser durch die Luft, und die Thermik verteilt es in alle Himmelsrichtungen. Das Staunen am Staubbachfall gehörte zum festen Bestandteil der Alpenreise im 18. Jahrhundert – und es war Albrecht von Haller, der den Staubbachfall dazu machte:

Hier zeigt ein steiler Berg die Mauer-gleichen Spitzen,Ein Wald-Strom eilt hindurch und stürzet Fall auf Fall.Der dick beschäumte Fluß dringt durch der Felsen RitzenUnd schießt mit gäher Kraft weit über ihren Wall.Das dünne Wasser teilt des tiefen Falles Eile,In der verdickten Luft schwebt ein bewegtes Grau,Ein Regenbogen strahlt durch die zerstäubten TeileUnd das entfernte Tal trinkt ein beständigs Tau.

Ein Wandrer sieht erstaunt im Himmel Ströme fließen,Die aus den Wolken fliehn und sich in Wolken gießen.

Ohne diese Zeilen wäre wohl auch Johann Wolfgang von Goethe am 14. Oktober 1779 nicht zum Staubbachfall gereist und hätte nicht das Gedicht Gesang der Geister über den Wassern an Charlotte von Stein geschickt:

Seele des Menschen,Wie gleichst du dem Wasser!Schicksal des Menschen,Wie gleichst du dem Wind!