Ohne Schuld - Thomas Kühn - E-Book

Ohne Schuld E-Book

Thomas Kuhn

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Beschreibung

Aus einer zufälligen Begegnung in einer Berliner U-Bahnstation entwickelt sich eine fatale Beziehung zwischen dem Alkoholiker Robert und der ehrgeizigen Krankenschwester Ulli. Eine gemeinsame Reise nach Fischland/Darß endet in einem Unglück, nach dem nichts mehr so ist wie zuvor... Der Autor des Romans "Das Kupferhaus" zeigt mit seiner philosophischen Novelle "Ohne Schuld" über die großen Fragen nach Verantwortung und den Sinn des Lebens, dass jeder noch so kleine Zufall den Keim zu einer alles verändernden Geschichte bilden kann.

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Seitenzahl: 66

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www.tredition.de

Thomas Kühn

Ohne Schuld

Novelle

www.tredition.de

© 2015 Thomas Kühn

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7323-3106-2

Hardcover: 978-3-7323-3107-9

e-Book: 978-3-7323-3108-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1.

Wir gingen gemeinsam, auf gleicher Höhe, die Treppe hinunter. Es stellte sich, obwohl wir uns nicht kannten, ein Gefühl der Zugehörigkeit bei mir ein, das nicht mehr nur mein Gefühl zu sein schien, sondern etwas Manifestes, Wahrnehmbares. Ich hoffte darauf, dass einer von uns beiden zurückbleiben oder vorauseilen würde, um diese seltsame Halluzination zu brechen, aber nein: Jeder Schritt, den der eine ohne Rücksicht auf den anderen machte, war wie ein Schritt. Ich wurde nervös, konnte nur noch daran denken, ob sie auch so empfand, ob sie das wollte, ob uns vielleicht etwas verbände. Die Versuchung, sie sofort zu fragen: „Fühlst du nicht auch diese Verbundenheit? Wollen wir vielleicht einen Kaffee trinken gehen?“ trieb mir den Schweiß aus den Poren. Als wir den unteren Treppenabsatz erreichten, löste sich die Spannung. Ich war erleichtert und nahm meine Umgebung wieder wahr. Ich sah Menschen allein und in Gruppen, redend, schweigend, scherzend. Sie eilte mir voraus. Ich lief ihr hinterher. Verfolgte ich sie jetzt? War ich vielleicht doch nicht erleichtert, sondern begierig, dieses Gefühl wiederzubeleben? Durch die rückseitigen Scheiben des Bahnhofskiosks warf sie mir einen Blick zu. Wasserblaue Augen hinter einer modischen Brille, umspielt von blonden Strähnchen. Ich sah direkt ins Blaue. Sie machte eine Art Halse, als wollte sie den Zug auf dem anderen Gleis benutzen. Ich war nun enttäuscht. Aber sie umkreiste den Kiosk nur, wie es übrigens auch andere taten, in seltsamen elliptischen Schleifen. Plötzlich, als der Zug einfuhr, stand sie auf meiner Höhe, eine Waggonlänge nur entfernt, stieg in den Waggon neben meinem und die Türen schlossen sich. Den Rest der Fahrt ertrug ich nur mit geschlossenen Augen. Ich hatte die Chance verpasst, aus einer zufälligen Begegnung den Anfang einer Geschichte zu machen. Dennoch wurde eine Geschichte daraus, aber eine ganz andere als ich erwartet hatte. Ich kannte die Regeln des Übergangs nicht.

2.

Ich war gewissermaßen ein inoffizieller Mieter, wurde dennoch von allen flüchtig, aber freundlich gegrüßt. Das war ja ohnehin hier ein ständiges Kommen und Gehen. Wer achtete da schon auf den anderen! Die füllige Hausmeisterin hatte einen großen, weißen Ara, der, sobald die Sonne den Innenhof streifte, seine Urwaldlaute an der Frischluft in alle Himmelsrichtungen krächzte, ein so fürchterlich unmusikalisches Tier… Ich wohnte in der Einraumwohnung einer Kollegin, im Hinterhof. Sie hatte mir die Wohnung aus eigennützigen Gründen überlassen und fiel aus allen Wolken, als sie vom Verbleib ihrer Wohnung erfuhr. Das musste ich ihr später sagen. Von dem Geld erzählte ich ihr natürlich nichts. Aus dem Verhalten der Hausmeisterin schloss ich, dass wir Mieter frei seien, hier unsere Marotten auszuleben. Und so lebte ich auch meine aus, hielt mir keinen Ara, dafür sibirische Huskys in einer viel zu kleinen Wohnung, für die ich zwar die Miete zahlte, natürlich an meine Kollegin, aber sonst keine vertraglichen Verpflichtungen eingegangen war. Im Winter besorgte ich mir von einem Kohlenhändler Briketts und Feuerholz, setzte mich in meinen Rattan-Stuhl vor den erhitzten Kachelofen und las stundenlang Dostojewski, trank und rauchte, während meine Hunde schnarchten oder plötzlich in Träumen mit zuckenden Läufen winselten und verhalten wufften. Erinnerungen an Streifzüge durch die verschneiten Brandenburgischen Wälder, an den Geruch von Reh und Fuchs, an die irren Jagden hinter Wildschweinen her! Einmal waren die beiden wieder verschwunden, ich stolperte brüllend durch den Wald, da hörte ich wildes Heulen und Bellen. Als ich näher kam, sah ich sie um einen Busch herum toben. Im überwucherten Unterholz versteckte sich ein kleines Wildschwein, kein Frischling mehr, aber wahrscheinlich aus dem Frühjahrswurf, es verhielt sich ganz still, seine kleinen Augen, meinte ich, starrten mich voller Angst oder Hoffnung an. Es waren Kinderaugen. Der Hunger oder die Neugier musste es von der Familie, vom Schlafplatz weggetrieben haben. Nun saß es in der Falle. Die sonst so friedlichen, ruhigen Hunde gebärdeten sich wie Wölfe, mussten ihre Vorfahren doch in Ost-Sibirien sommers immer für sich allein sorgen, wenn die Tschuktschen ihrer zum Schlittenziehen nicht bedurften. Im Winter kehrten sie freiwillig zu ihrem Stamm zurück. Ich befürchtete, dass die Bache auftauchen würde und herrschte meine Hunde an, die aber nicht nachließen, sondern mich aufforderten, das zu tun, wozu ihnen offenbar selbst der Mut fehlte. Aber ich schnappte sie mir nur, leinte sie an meinen Bauchgurt und zerrte sie eilig weiter. Sie jaulten auf, drehten sich um und schienen mein Verhalten nicht zu verstehen.

3.

Eines Tages, es war wieder April geworden, der Ara schreckte mich immer wieder aus meiner Lektüre der ‚Wahlverwandtschaften‘ auf, gerade wenn ich nicht damit rechnete, als die Haumeisterin in Begleitung eines sehr fein gekleideten Herrn die Treppe hinaufschnaufte. Es war ein sehr hellhöriges Haus, ich unterbrach meine Lektüre endgültig. Der Atem stockte mir. Jetzt sei die Sache mit dem Vertrag doch herausgekommen, dachte ich. Nun würde ich auch noch meine Wohnung verlieren. Ich hatte nicht aufgeräumt. Dann die Hunde, für die ich nicht einmal Steuern zahlte. Ich versuchte mir schnell eine Geschichte zurechtzulegen. Das seien gar nicht meine Hunde, würde ich erzählen. Die gehörten der Hauptmieterin. Ich sei hier ja ohnehin nur zu Gast. Würde Wohnung und Hunde hüten, solange sie im Ausland sei. Wo? In den USA, Stipendium, Studium, was weiß ich. Ja, aber der Untermietsvertrag, ich dürfe hier ja gar nicht ohne Vertrag wohnen. Wo sei ich denn polizeilich gemeldet? Tja, wo war ich eigentlich gemeldet? Und drei Monate dürfe man doch ohne Untermietvertrag? Oder wie war das nochmals? Aber dieser Zustand der Wohnung, wo seien die Möbel der Vor- oder Hauptmieterin, man könne doch sehen, dass das nicht die Einrichtung einer gepflegten jungen Frau mit hochfliegenden Plänen – USA! Stipendium! – sei, sondern die eines seltsamen, ärmlichen, etwas verwahrlosten Einzelgängers! Man würde mich vor die Tür setzen. Und Ulli? Obwohl ich ratlos war, wie es weitergehen sollte, wusste ich, dass es weitergehen musste. Da fiel mir der Papagei ein. Sei das überhaupt erlaubt, Papageien in der Wohnung? Dann noch ein so fürchterlich lautes Tier? Ständig werde ich gestört in meiner Lektüre, wo bleibe da die Rücksicht, das Recht auf Privatsphäre? Meine Hunde dagegen – nie ein Mucks. Nur im Wald, aber leben wir denn hier im Wald?

4.

Sie blieben geräuschvoll stehen. Auf der Etage, auf der ich hauste. In der Wohnung gegenüber wohnte eine hübsche Studentin. Ein Hoffnungsschimmer! Diese Mieterin und ihre Wohnung waren doch viel einladender. Sie gehen doch bestimmt zu ihr, redete ich mir ein. Die füllige Hausmeisterin schnaubte jetzt sehr deutlich, unterhielt sich – sehr laut - vor meiner Tür mit dem Herren. Ich hörte dennoch nur Bruchstücke, so sehr war ich mit meiner Angst beschäftigt: „schlechter Zustand!“ – „Verwahrlost!“ - „Vollsanierung!“ – Also doch ich! So schlimm? Dann klingelte es. Bei mir. Ich hatte es befürchtet! Was tun? Die Hunde schauten nur träge, aus ihren Träumen erwacht, auf, schauten zu mir hin und als sie sahen, dass ich keine Vorbereitungen zum Aufbruch machte, rollten sie sich wieder mit einem Stöhnen synchron zusammen, vergruben ihre Schnauzen unter dem Schwanz und dösten weiter. Musste ich überhaupt öffnen? „Herr Lorenz, öffnen Sie doch bitte, ich weiß, dass sie zuhause sind! Hier ist ein Herr von der neuen Wohnungsverwaltung. Er macht nur eine Hausbegehung. Haben Sie den Brief nicht erhalten? Haben Sie nicht den Zettel im Hausflur gelesen? Es ist wichtig, der Herr will sich nur einen Eindruck von ihrer Wohnung verschaffen! Sie sind der letzte Mieter!“. – Genau das hatte ich ja befürchtet! So deutlich musste sie das aber nun auch nicht sagen. Auch noch im Treppenhaus, damit es alle erfahren. Nun würde alles ans Licht kommen. Ich überlegte rasend schnell. Vielleicht war es aber doch nicht so