Okaye Tage - Jenny Mustard - E-Book

Okaye Tage E-Book

Jenny Mustard

0,0
23,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sommer in London: Die Schwedin Sam, impulsiv und leicht chaotisch, ist vorübergehend für ein Praktikum bei einer hippen Agentur in die Stadt gekommen. Auf einer Party trifft sie den idealistischen Luc, der nach der Uni noch nicht so recht seinen Platz in der Welt gefunden hat. Die beiden verlieben sich - im vollen Bewusstsein, dass ihre Verbindung aufgrund der Umstände nur von kurzer Dauer sein kann. Abwechselnd aus Sams und aus Lucs Perspektive erzählt, folgen wir ihnen durch die Ups und Downs ihrer Beziehung, durch Glücksmomente und Zweifel, durch Verlustängste und Euphorie - ein hinreißender, temporeicher Debütroman, dessen Charme, Witz und Unmittelbarkeit man sich kaum entziehen kann!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 421

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungTEIL INOCH 180 TAGENOCH 164 TAGENOCH 153 TAGENOCH 136 TAGENOCH 114 TAGENOCH 111 TAGENOCH 77 TAGENOCH 76 TAGENOCH 70 TAGENOCH 47 TAGENOCH 19 TAGENOCH 0 TAGETEIL II180 TAGE BIS151 TAGE BIS105 TAGE BIS79 TAGE BIS49 TAGE BIS47 TAGE BIS39 TAGE BIS14 TAGE BIS9 TAGE BIS6 TAGE BIS0 TAGE BISTAG 1Danksagung

Über dieses Buch

Sommer in London: Die Schwedin Sam, impulsiv und leicht chaotisch, ist vorübergehend für ein Praktikum bei einer hippen Agentur in die Stadt gekommen. Auf einer Party trifft sie den idealistischen Luc, der nach der Uni noch nicht so recht seinen Platz in der Welt gefunden hat. Die beiden verlieben sich – im vollen Bewusstsein, dass ihre Verbindung aufgrund der Umstände nur von kurzer Dauer sein kann. Abwechselnd aus Sams und aus Lucs Perspektive erzählt, folgen wir ihnen durch die Ups und Downs ihrer Beziehung, durch Glücksmomente und Zweifel, durch Verlustängste und Euphorie – ein hinreißender, temporeicher Debütroman, dessen Charme, Witz und Unmittelbarkeit man sich kaum entziehen kann!

Über die Autorin

Jenny Mustard ist in Schweden geboren und lebt in London. Sie hat über 600.000 Follower auf Social Media, ihre YouTube-Videos wurden mehr als 50 Millionen Mal angeschaut. Zusammen mit ihrem Partner David hostet sie außerdem einen Podcast über popkulturelle Themen.

OKAYE TAGE ist ihr erster Roman.

Lisa Kögeböhn studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und Strasbourg. Seit 2010 übersetzt sie Romane und Sachbücher aus dem Englischen, darunter Autor:innen wie Kevin Kwan, Megan Nolan und Coco Mellors. Sie lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag

Titel der englischen Originalausgabe:

»Okay Days«

Für die Originalausgabe:

Copyright © Mustard Stories Ltd 2023

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln unter Verwendung eines Motivs von © Elisabeth McBrien

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6819-1

eichborn.de

Für Mormisund für David

TEIL I

NOCH 180 TAGE

Sam

Wir liegen in der Badewanne. Aufeinander, mein Rücken auf seinem Bauch. Das Wasser ist zu heiß, darum bitte ich Luc, mich mit den Knien hochzudrücken. Macht er. Jetzt bin ich nur noch zur Hälfte im Wasser, Bauch, Brüste und Oberschenkel kühlen langsam ab. Diese Verbrühter-Rücken/kalte-Vorderseite-Situation sollte aushaltbar sein, insgesamt ein Gleichgewicht. Aber ich bin immer noch angespannt. Ich summe vor mich hin, während er überlegt.

»Das fünfte Element«, sagt er. Ich würde mich gern umdrehen und seinen Gesichtsausdruck deuten, denn er klingt heute anders.

»Looper«, sage ich stattdessen.

Wir spielen das Bruce-Willis-Spiel. Er ist dran und mit vollem Ernst dabei. Höchstwahrscheinlich verliere ich, weil ich nur noch einen Titel in petto habe, bevor mir die Filme ausgehen. 12 Monkeys. Eine der zweihundert VHS-Kassetten, die meine Cousine Diwa als Kind aus dem Fernsehen aufgenommen hat. Manche setzen erst fünf Minuten nach Filmbeginn ein oder sind alle zwanzig Minuten von Werbung unterbrochen. Sugar Puffs, Head & Shoulders, Chiquita-Bananen. Jede Videokassette ist sorgfältig beschriftet, alphabetisch sortiert.

Ich liege nur noch zur Hälfte im Wasser, und trotzdem ist mir zu heiß. Die Hitze steigt mir zu Kopf, meine Schläfen pochen. Ich trage immer noch das Make-up von gestern und glaube kaum, dass die Deckkraft für mein glühendes Gesicht reicht. Die Foundation soll zwölf Stunden halten, ich kratze an der Vierundzwanzig. Ich würde gern in den Spiegel sehen.

Es ist fast Mittag, und wir sind beide verkatert. Heute Morgen waren seine Augen auf halb acht, meine verquollen.

»Sin City«, sagt Luc. Ich lasse ihn gewinnen, obwohl ich 12 Monkeys auf Lager hätte, aber ich will sofort aus der Wanne raus.

Abgetrocknet und angezogen setze ich mich an den Küchentisch. Ein kleines, rundes, antikes Möbelstück am Fenster, Mahagoni vielleicht, aber ich bin keine Expertin. Die Wohnung in North London gehört Diwa, ich bin nur den Sommer über hier. Sofa, Küchentisch, alle größeren Möbel gehören ihr. Nur das Bett ist meins. Ihre harte Matratze und das Metall-Bettgestell habe ich in den schmalen begehbaren Kleiderschrank gezerrt. Hochkant passt beides gerade eben hinein. Dann habe ich mir eine Memoryschaummatratze zugelegt, der erwachsenste Kauf aller Zeiten, auch wenn sie im Sonderangebot war. Sie liegt direkt auf dem Boden, ohne Gestell, und das verändert das Zimmer komplett. Aus Angst vor Schimmel drehe ich sie alle zwei Wochen um. Wenn Diwa im September wiederkommt, kann sie die Matratze behalten.

Luc holt die Flasche mit kaltem Kaffee aus dem Kühlschrank. Eiswürfel. Glasstrohhalme aus der dritten Schublade von oben. Er schäumt dicke Sojamilch in einer Schüssel auf, mit steifem Handgelenk. Er hat feinen Flaum auf den Unterarmen. Wenn er sich konzentriert, streckt er die Zungenspitze heraus, sie schnellt hin und her. Ich verkneife mir einen Kommentar, weil ich es charmant finde und nicht will, dass er damit aufhört. Er gießt den Schaum auf die Eiswürfel, den kalten Kaffee darüber, dann Zimt.

Wir schlafen erst seit acht Nächten miteinander, aber das ist jetzt schon Routine. Nach dem Aufwachen duschen wir oder gehen an freien Tagen in die Badewanne, danach Eiskaffee und Videos von Meerestieren am Küchentisch. Ich mag am liebsten Mantarochen. Er ist mehr der Seepferdchentyp.

Er ist schön. Ich mag seinen Körper. Weder zu groß noch zu klein, sondern mittel, weder haarig noch glatt. Schlank, definiert, aber nicht übermäßig muskulös, wie der Körper von jemandem, der auf sich achtet. Sein Gesicht mag ich am liebsten. Im Kontrast zum disziplinierten Körper hat er ein Schlitzohrgesicht, asymmetrisch, wie ein frecher kleiner Junge. Er muss mich nur angucken, und schon komme ich mir vor, als würden wir etwas im Schilde führen, als würden wir uns ständig und überall in einem Insiderwitz befinden. Oft weiß ich gar nicht, worüber wir eigentlich grinsen.

Wir blättern die Gratiszeitung von gestern durch und sind uns einig, dass die Welt dem Untergang geweiht ist. Heute fehlt sein Schlitzohrgrinsen. Er reibt sich die Augen. »Sollen wir zu den Anzeigen vorblättern?«

Wir lesen sie uns vor, erst er, dann ich. Mit verstellten Stimmen, nicht weil wir es so lustig fänden, sondern eher, um etwas zu haben, was nur wir machen. Eine Frau ist auf der Suche nach einem großen jungen Mann, der während ihrer vierteljährlichen Golftrips ihre Katze sittet. Warum er groß und jung sein soll, steht nicht dabei. Vielleicht hat die Katze besondere Vorlieben.

Heute wirkt Lucs persönliche Anzeigenlesung halbherzig, wie eine Computeransage, die dazu programmiert wurde, freundlich zu klingen. Nicht ganz bei der Sache. Ich sage mir, das sei Einbildung und seine Performance gar nicht lustlos, bin aber schon seit dem Aufwachen nervös, weil er mir im Schlaf den Rücken zugedreht und mich nicht einmal berührt hat, bis wir aufgestanden sind. Irgendwas stimmt nicht zwischen uns.

Mein Magen knurrt.

»Wollen wir was essen gehen?«, frage ich.

»Klar, warum nicht. Worauf hast du Lust?«

»Bibimbap?«

»Unten am Kanal?«

»Ja, und auf dem Weg nach Hause könnten wir ja noch in den Laden, den du so magst.«

Er blickt auf. Ich bereue, »nach Hause« gesagt zu haben. Es ist mein Zuhause, und er soll nicht denken, ich würde es als unser Zuhause bezeichnen. In Wirklichkeit ist es ja sogar Diwas Zuhause. Wir sind noch in der heiklen Anfangsphase, in der es extrem auf Semantik ankommt. Ständig verpeile ich es, weil ich so ein verpeilter Mensch bin, und manchmal liege ich wach, wenn er längst schläft, und frage mich, was er wohl von meinem neuesten Fauxpas hält. Lieber schlafe ich vor ihm ein.

Von den acht Nächten seit dem ersten Mal haben wir sechs zusammen verbracht. Zweimal ist er nach Hackney in seine Wohnung gefahren, um sonst was zu tun. Beide Male habe ich ihn gefragt, und beide Male hat er gegrinst und gesagt: »Irgendwann muss ich doch mal schlafen, oder?« Beide Male habe ich mich auf unbestimmte, aber unbestreitbare Weise zurückgesetzt gefühlt. Wahrscheinlich muss er Klamotten wechseln oder seine Zimmerpflanze gießen, falls er eine hat. Aber über Nacht wegbleiben, um Pflanzen zu gießen, kann ja wohl nur als sexueller Affront aufgefasst werden.

Mir geht die schöne Unterwäsche aus. Nächstes Mal, wenn er seine Pflanze gießen geht, werde ich mir welche kaufen. Ich muss Diwa anrufen, um mir Geld zu leihen, mindestens zweihundert. Das ganze Auswärtsessen und Auswärtstrinken und Tanzengehen tut meinem praktisch leeren Konto nicht gut.

Diwa hat Geld. Reich ist sie nicht, hat aber auch keine Geldsorgen. Sie ist sechs Jahre älter als ich, überaus effizient und noch dazu gutaussehend, wie eine fünfzigjährige Ballettlehrerin, die nach einer tragischen Knieverletzung ihre Karriere als Primaballerina aufgeben musste. Strenger Dutt, spitze Ellbogen und weiche Wollkleider über kleinen Brüsten. Sie wirkt streng, ist es aber nicht. Diwa lacht unverhältnismäßig laut, eine dröhnende Lache. Und sie liebt schlechte Neunziger-Highschool-Komödien, in denen es um Partys und Kiffen geht und die hässliche Brillenschlange am Ende das hübsche Mädchen abkriegt. Oder in denen die hässliche Brillenschlange am Ende selbst zum hübschen Mädchen wird, wenn es diese Art von Komödie ist. Filme, die politisch so schlecht gealtert sind, dass ich sie mir nicht mehr angucken kann. In solchen Momenten fällt mir auf, dass sie älter ist.

Diwa verbringt den Sommer mit ihrer Partnerin Milly in deren Haus in Griechenland. Es ist Anfang Juli, und ich kann noch bis zum zwölften September bleiben, dann muss ich zurück nach Stockholm. Dort warten meine Wohnung und mein Job auf mich, auch wenn der schwedische Herbst nicht gerade meine Lieblingsjahreszeit ist.

Luc und ich haben noch nicht über die heutige Übernachtungsfrage gesprochen, und mein Magen rumort, als hätte ich einen Block Instantnudeln verschluckt, roh, und das wird erst weggehen, wenn wir die Frage geklärt haben. Trotzdem sage ich nichts.

Es ist ungewohnt, so vorsichtig zu sein. Sonst bin ich eher zu direkt und vergraule Männer gleich nach der ersten gemeinsamen Nacht, weil ich keine Lust habe, mich endlos mit Datingregeln herumzuschlagen, auf Tonfall, Wortwahl, Körpersprache zu achten. Und so meine einzigartige Persönlichkeit zu demonstrieren: exzentrisch, aber süß. Das ist mir alles viel zu kalkuliert. Stattdessen spiele ich Houdini, winde mich raus und beende die Sache, bevor sie überhaupt anfangen kann. Luc jedoch will ich nicht vergraulen. Bei ihm muss ich nicht auf meinen Tonfall achten. Aber heute macht er mich nervös. Und plötzlich achte ich doch auf alles.

Luc sitzt mir gegenüber am Küchentisch und sieht so sauber aus in seinem weißen T-Shirt. Durch die zurückgekämmten feuchten Haare wirken seine Wangenknochen schwindelerregend hoch. Er mag Klamotten und hat einen guten Stil, deshalb strenge ich mich an, wechsle zwischen androgynen Blazern und freizügigen Outfits, kombiniert mit viel Lippenstift. Ich will herausfinden, worauf er steht, aber bisher scheint ihm beides zu gefallen.

»Du bist so cool«, hat er an Abend Nummer vier gesagt, als wir nach einem kurzen Abstecher in einen Club betrunken nach Hause gingen. Eine Rasenfläche zu unserer Rechten, der Kanal zu unserer Linken, auf dem Asphalt das Klackediklack meiner Heels – ein sonderbarer Duftcocktail aus frischgemähtem Gras und muffigem Kanalwasser.

Der Himmel war schwarz, aber der Sommer längst da, deshalb fror ich nicht in meinem Spaghettiträgertop. Der Ausschnitt war so tief, dass ich befürchtete, auf der Tanzfläche einen Nippelblitzer provoziert zu haben, aber falls ja, hatte Luc sich nichts anmerken lassen.

»Ich bin cool?«, fragte ich.

»Ja, du kannst dich irgendwie so, na ja, gut präsentieren.«

»Seltsames Kompliment.« Ich lachte auf, nahm seine Hand und schwang sie hin und her.

»Ja, kann sein. Ich meine …«

»Was meinst du?«

»Na ja, du hast einen guten Tanzstil, ziehst dich cool an und kannst smalltalken. Du bist so ungefähr die ungehemmteste Person, die ich kenne.«

»Und du bist betrunken.«

»Du doch auch.«

»Aber danke, das hat mir bisher noch keiner gesagt. Gibt Extrapunkte für Originalität.«

Solche unorthodoxen Komplimente verteilte er öfter, hielt mir damit den Spiegel vor. Seine naive Großzügigkeit traf mich derart unvorbereitet, dass ich meine Freude darüber nicht überspielen konnte. Auf dem Rückweg schwebte ich förmlich, tänzelte, gab zweideutige Kommentare ab. Er lachte und sagte: Jetzt werd mal nicht übermütig. Zu Hause angekommen hatten wir intensiven Sex. Ich wollte meinem Ruf gerecht werden. Wie er das sah, weiß ich nicht, aber in meinen Augen setzten wir neue Maßstäbe. Meine bewusste Körperwahrnehmung schwand, ich machte keine sexy Gesichter oder Geräusche mehr, sondern fiel förmlich über ihn her, wie die Sexvariante von Schlingen beim Essen. Wir stachelten uns an, bis wir genug hatten, auf dem Rücken liegend zur Decke starrten und nach Luft rangen. Zu erschöpft zum Reden. Seine Hand sengend auf meinem Brustkorb. Meine Oberschenkel schwer auf der Matratze.

Später zog ich meinen kurzen Bademantel über und ging in die Küche. Er durchstöberte das Filmregal, während ich Erdbeeren für Vanilleeis würfelte. Anfang Juli, endlich warm. Ich stellte die Eisschälchen, Erdbeeren und Teetassen auf ein rundes Tablett und trug es ins Wohnzimmer. Das kühle Parkett gab knarzend unter meinen nackten Füßen nach. Ich war immer noch betrunken, und mir war etwas schwindelig. Wie wenn dir noch Stunden, nachdem du von Bord eines Schiffes gegangen bist, Phantomwellen durch den Körper laufen. Ich spürte Lucs Wellen. Phantomsex.

Um vier Uhr morgens legten wir Die Taschendiebin ein. Als der Film zu Ende war, hatte sich der Himmel vor den offenen Fenstern lidschattenblau gefärbt, und vom Dach kreischten die Möwen. Der Film gefiel uns so gut, dass wir ihn noch mal guckten.

Als ich direkt darauf zur Arbeit ging, roch ich nach Luc und schmeckte nach Alkohol.

Aber heute ist unsere neunte Nacht, und ich weiß nicht, ob er sie mit mir verbringen wird. Ich spreche ihn nicht darauf an und bin genervt von mir selbst, weil Schüchternheit eigentlich nicht mein Modus Operandi ist.

Beim Koreaner sitzen wir draußen, und das Stimmengewirr der umliegenden Restaurants, das vom Kanal zurückgeworfen wird, ist das perfekte weiße Rauschen. Ich nehme es mit dem Handy auf, für später in Stockholm, doch dann fällt mir ein, dass ich gar nicht zurückwill, also breche ich die Aufnahme ab und lösche sie.

Wir sind träge, die Sonne scheint so freundlich und entspannt. Früher Sonntagnachmittag, wir gönnen uns ein Bier, und keiner von uns hat irgendetwas vor. Eigentlich arbeite ich in einer hippen Stockholmer PR-Firma, mache aber den Sommer über ein Praktikum in einer der größten Londoner Marketingagenturen, dem Arbeitsplatz meiner Unifreundin Tabatha, die mich angepriesen und mir so den Job verschafft hat. Meine Chefin in Stockholm hat dem unbezahlten Urlaub großzügig zugestimmt, zum einen, weil die Referenz gut ist, und zum anderen, weil es die Firma keine Krone kostet. In der Agentur bekomme ich ein Praktikumsgehalt. Da es gerade eben fürs Leben reicht, hat Diwa gesagt, ich könne ihr die Miete später abstottern. Ich bezweifle, dass sie diese Schulden je eintreiben wird, werde jedoch selbst darauf bestehen, sobald ich wieder in meiner Bürowabe im Stockholmer Großraumbüro sitze.

Ich habe Marketing studiert, genau wie die meisten ichbezogenen Twentysomethings, die viel zu abgelenkt sind, um Karriereentscheidungen zu treffen, und im Anschluss an die durchgefeierte Zweijahrespause nach der Schule einfach ein »Warum nicht?«-Kreuz auf dem Immatrikulationsformular setzen. Aber wieso ich danach auch noch den Master gemacht habe, kann ich nicht genau sagen. Wahrscheinlich bin ich auf den Geschmack gekommen, der intellektuelle Anspruch reizte mich, ein bisschen wie Rätsellösen. Dass das Masterprogramm an einer Londoner Uni stattfand, schadete natürlich auch nicht. Zwei glorreiche Jahre lang durch die Straßen flanieren, Englisch sprechen, Clubs in East London abklappern und in South London essen gehen. Stundenlang mit Finn rauchen, Tabatha nerven und nicht einen Gedanken daran verschwenden, was danach kommen würde. Was tatsächlich kam, war mein erster Job, für den ich zurück nach Stockholm zog und der ganz okay, aber nicht sonderlich interessant war, weshalb ich innerhalb des ersten Jahres zu meiner aktuellen Firma wechselte. Dort arbeite ich jetzt seit einem Jahr und ein paar Monaten, werde aber nach meiner Rückkehr im September vermutlich Jobanzeigen scannen, weil mir meine Bürowabe nach dem Sommer in der Londoner Agentur reichlich unglamourös vorkommt.

Komisch, dass seit dem Masterabschluss weitere zwei Jahre vergangen sind, denn jetzt, wo ich wieder in London bin, im Sommer, und mit Tabatha arbeite und mit Finn rauche, kommt es mir vor, als wären die Jahre in Stockholm nur ein Wimpernschlag gewesen. Ein Fehler im Raum-Zeit-Kontinuum. Und plötzlich bin ich achtundzwanzig.

Luc arbeitet in einer Boutique mit genau zweiunddreißig Artikeln auf den Kleiderstangen. Darling heißt der Laden. Soll wohl ironisch sein, inwiefern weiß ich allerdings nicht. Mit seinem modernen monochromen Stil passt Luc jedenfalls gut hinein. Er hat schon zu Unizeiten in dem Laden gejobbt und arbeitet jetzt wieder dort, übergangsweise, wie er betont. Wenn er nicht arbeitet, bewirbt er sich auf Maschinenbau-Jobs, wofür er diverse Abschlüsse besitzt, der neueste davon erst ein paar Wochen alt. Er sieht nicht danach aus. Wobei, was weiß ich schon über typische äußerliche Merkmale von Maschinenbauingenieuren.

Er will die Zukunftschancen des Planeten durch die Weiterentwicklung raffinierter umweltfreundlicher Konzepte erhöhen, wie zum Beispiel unbemannte Solarflugzeuge, die die gesamte Weltbevölkerung mit kostenlosem Internet versorgen. Er wird ganz aufgeregt, wenn er darüber spricht, dass Bildung durch das Internet ein Menschenrecht ist, eine Notwendigkeit für den gleichberechtigten Zugang zu Informationen. Ihm gefällt das Win-win, die Überschneidung von Green Engineering und Politik, über den reinen Nachhaltigkeitsgedanken hinaus. Ich finde das alles extrem heiß.

An meinem Bierglas rinnt Kondenswasser herunter und trifft angenehm kalt auf meinen Finger. Ich schlüpfe aus meiner Sandale und kneife mit den Zehen in Lucs Wade. Das war als zärtliche Geste gedacht, aber er reagiert nicht, auch seine Augen kann ich durch die Sonnenbrille nicht erkennen. Immer noch kein Schlitzohrgrinsen.

Ich fühle mich plötzlich pappsatt. Mir ist schlecht.

»Sollen wir gehen?«, fragt er.

»Wir haben doch noch gar nicht ausgetrunken.« Ich muss an das Loch denken, das dieses Mittagessen in die zweihundert Pfund frisst, die ich mir erst noch von Diwa leihen will. Aber ich kann ihm ansehen, dass er loswill, also winke ich nach der Bedienung.

»Willst du noch in den Laden?«, frage ich. Klar sagt er und steht auf, fischt in der Tasche nach seinem Geldbeutel. Ich sage Das Essen geht auf mich, als könnte ich mir mit dem Bibimbap eine gemeinsame Nacht erkaufen.

»Sicher?«, fragt er. Ich zahle.

Der Laden ist eigentlich ein Café. Mitten im Raum steht der Bestelltresen. An den Wänden Regale mit Büchern, Magazinen, DVDs und Platten. Die Vorhänge an den Fenstern tauchen das Ladeninnere in ständiges Zwielicht. Ein typischer Klimbimladen, aber wir mögen ihn. Die Auswahl ist gut, und ich finde die Konzentration aufs Analoge romantisch. In der Ecke steht eine Art Telefonzelle, in der man Platten testhören kann, mit Kopfhörer statt Telefonhörer. An Abend fünf, einem Mittwoch, haben wir uns zusammen reingequetscht und Dinah Washington, Da Brat und Dolly Parton gehört. Danach haben wir uns lange geküsst, bis jemand vom Personal mit den Worten »Reißt euch zusammen!« an die Scheibe klopfte. Wir kicherten los, rissen uns zusammen und nahmen den Satz sofort in unseren Sprachgebrauch auf.

An dem Abend, Abend fünf, unterhielten wir uns vorm Einschlafen über schlechte Dates, und ich gestand, dass meine Beziehungsgeschichte eher von Quantität als Qualität geprägt war. Ein kurzes Vergnügen, nichts Ernstes. Er wirkte nicht überrascht, was wiederum gemischte Gefühle in mir hervorrief, und ging am nächsten Morgen zur Arbeit und von da aus direkt nach Hause, um seine Pflanze zu gießen, und schrieb mir erst abends spät. Ich fragte mich, ob diese Info seinen Eindruck von mir geändert hatte. Ob er jetzt dachte, ach so eine ist sie, wie auch immer beziehungsunerfahrene Menschen sein mochten. Abend sechs verbrachte er bei sich zu Hause, aber an Abend sieben gingen wir tanzen und betranken uns sinnlos. Über Beziehungen unterhielten wir uns nicht mehr, also war es vielleicht gar nicht so wichtig.

Ich betrinke mich gerade fast jeden Abend und mag das Gefühl, ein bisschen wie frei sein. Außerdem sind unsere Voraussetzungen gut. Ich muss erst in zwei Monaten zurück nach Stockholm, uns bleiben also viele Tage ohne große Verpflichtungen in einer leeren Wohnung. Aber heute lächelt Luc nicht, womöglich bleiben uns doch nicht so viele Tage in der leeren Wohnung. Wahrscheinlich bin ich bloß paranoid. Ich hoffe es.

Nachdem Luc auf die Karte geguckt und sich nach Inhaltsstoffen erkundigt hat, bestelle ich uns Bubble Tea, die passende Wahl für einen Klimbimladen. Schwarze Bubbles für mich, grüne für Luc. Der Tee kostet vier fünfzig pro Stück, eine gute Summe, um sie auf seine symbolischen Schulden bei mir draufzuschlagen, obwohl das natürlich albern ist. Er schaut sich bei den DVDs um, kauft aber keine, weil er kein Gerät hat, um sie abzuspielen. Er guckt sich nur die Cover an und merkt sich die Filme.

Er schlürft seinen Bubble Tea. »Reiß dich zusammen!«, sage ich etwas zu laut und stoße ihn mit der Hüfte an. Er lächelt, kontert aber nichts. Kurz frage ich mich, ob es etwas bringen würde, ihn durchzuschütteln.

Ich gehe zu den Büchern und tue so, als würde ich mir die Blurbs durchlesen. Ich schiele zu ihm rüber. Er beugt sich gerade über die American-New-Wave-Abteilung, mit dem Rücken zu mir, und sein Nacken ist so angespannt, dass die Sehnen hervortreten. Seine Arme sind blass, die Nackenhärchen flaumig. Heute ist Abend neun, und ich weiß genau, wie seine Haut riechen würde, wenn ich jetzt rübergehen und einen Kuss darauf drücken würde. Aber ich lasse es. Ich tue weiter so, als würde ich Blurbs lesen, und kaue Tapioka-Bubbles.

Jetzt kehre ich ihm den Rücken zu, und er fragt, ob ich fertig sei. Er kommt nicht rüber. Er schlingt seine Arme nicht um mich.

An der U-Bahn-Station in der Nähe meiner Straße bleibt er stehen.

»Ich glaub, ich fahr nach Hause.«

»Pflanzen gießen?«

»Wie bitte?«

»Ach, nichts.« Ich wende den Blick ab. Das Instantnudeldurcheinander in meinem Magen wandert nach oben. Gerade ist es im Hals angekommen, und ich habe Angst, dass es meine Augen erreicht.

»Kann sein, dass wir uns ein paar Tage nicht sehen«, sagt er. »Muss arbeiten, Wäsche waschen, Dad besuchen und so.«

»Dreckige Klamotten stören mich nicht.« Ich zupfe an seinem T-Shirt. »Sonst leih ich dir was.«

»Nett von dir, aber diesmal nicht. Sehen wir uns am Wochenende? Samstag oder so?«

Am Wochenende. Noch fünf Tage. Okay, er macht gerade Schluss.

Abend neun werde ich nicht mit Luc verbringen. Abend neun werde ich allein im Bett verbringen und alles analysieren, jede einzelne Nachricht. Ich bin nicht stolz darauf.

Er beugt sich vor und küsst mich. Geschlossener Mund, zu kurz, um ihn auszukosten. Unser letzter Kuss, und ich konnte ihn nicht auskosten.

Er wendet sich ab und läuft die Treppe zur Bahnstation runter. Und mit ihm verschwinden sein Rücken, sein Kopf und seine flaumigen Nackenhärchen unter der Erde.

Ich gehe nach Hause, in Schockstarre. Schleiche barfuß auf Zehenspitzen übers Parkett. Sitze mit einem Glas Wasser vor der Nase am Küchentisch, ohne es anzurühren. Abwesend blättere ich in der Zeitung von gestern. Dann gehe ich ins Schlafzimmer, ziehe das Laken ab und drehe die Matratze um. Sie landet mit einem dumpfen Wumms und rüttelt mich wach.

Ich schreibe ihm.

12 Monkeys.

Er antwortet.

Keine halben Sachen.

NOCH 164 TAGE

Lucas

Sie setzt sich neben mich und gibt mir einen Ohrstöpsel. Ich stecke ihn mir ins Ohr, und sie scrollt auf der Suche nach einem Song durch ihre Playlists. In der U-Bahn ist es heiß, ich hoffe, ich habe keine Schweißflecken unter den Armen, aber da ich es eh nicht ändern kann, sehe ich nicht nach.

U-Bahn-Fahrten sind unser Ding geworden, so wie inzwischen vieles unser Ding geworden ist – mit diesen kleinen Sie-und-ich-Ritualen versuchen wir wohl, so viele Erinnerungen wie möglich aus unserer kurzen gemeinsamen Zeit herauszuholen. Es ist ziemlich unklug, sich mit einer Frau einzulassen, von der du weißt, dass sie bald wieder wegzieht, aber wir haben darüber gesprochen und beschlossen, unklug zu sein. Wir sitzen hautnah, die Wärme ihres Oberschenkels dringt durch die Stoffschichten, meine Hand liegt auf ihrem Bein. Als sie meinen Nacken berührt, stellen sich mir die Haare auf, und ich schließe benommen die Augen.

Das Lied fängt an. Trommelwirbel, Klavierklimpern. Das Intro kommt mir bekannt vor, aber ich kann es nicht einordnen, obwohl es ein berühmter Song ist und mir der Titel wirklich einfallen sollte. Ich lächle Sam wissend an, als wollte ich sagen, ach der, gute Wahl.

Dann singt Nina Simone los, O-o-h Child, und ich bin dankbar für ihre markante Stimme.

Das ist unser Bahn-Ding. Wir setzen uns hin oder lehnen uns aneinander, sie gibt mir einen Ohrstöpsel und spielt mir einen Song aus einer ihrer diversen Playlists vor. Sam bezeichnet diese Fahrten als meine musikalische Erziehung, scherzhaft natürlich, was es nicht weniger unangenehm macht, weil es stimmt. Sie weiß unglaublich viel, tut es jedoch ab, scheint unbeeindruckt von meinen teils schockierenden Wissenslücken. Mich stört es. Ich habe das Gefühl, von außen in ein buntes Aquarium zu schauen, aber selbst wenn ich eingeladen wäre, könnte ich ja doch nicht unter Wasser atmen.

Mein Kleidungsstil legt nahe, ich würde mich mit elektronischer Musik auskennen, kurz über dem Knöchel endende Hosen, dazu Schuhe mit Traktorsohle. Das veranlasst immer wieder Leute, sich mit mir über abwegige Subgenres zu unterhalten, von denen ich keine Ahnung habe.

Auch Sam hat mir als Erstes eine Musikfrage gestellt, als wir uns nach all den Jahren wiedergesehen haben. Wir hatten uns vorher nur einmal getroffen, mit siebzehn, achtzehn, und ich wusste nicht, ob sie sich daran erinnerte. An dem Abend, als ich sie wiedersah, feierte Sams Freundin Tabatha eine Party in ihrer großen Wohnung in South London. Ich sah gerade nach, ob der Kühlschrank ein zuckerfreies Getränk hergab, als eine Stimme mich nach meiner Meinung zum Song fragte.

»Sollte genau dein Ding sein, wenn man dich so anschaut«, sagte sie.

Ich schloss die Kühlschranktür, und da stand sie. Eigentlich unmöglich, aber sie war es. Jahre später, älter, hagerer, aber definitiv sie. Arme verschränkt, hochgezogene Augenbraue, sexy. Ihr amüsierter Gesichtsausdruck glich die abweisend verschränkten Arme aus. Ihre schwarzen Haare waren dicht und verwuschelt.

»Ehrlich gesagt kommt mir der Song nicht mal bekannt vor«, sagte ich und suchte ihr Gesicht nach Anzeichen dafür ab, dass sie mich erkannte.

Jetzt zog sie auch noch die andere Augenbraue hoch. »Den kennst du nicht? Ernsthaft?«

»Willst du was trinken?«, fragte ich und machte die Kühlschranktür wieder auf.

»Ich bin Sam.«

Okay, sie erkannte mich also nicht.

Ich streckte ihr die Hand entgegen und sagte: »Luc.«

Sie ignorierte die Hand und beugte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. Darauf war ich nicht vorbereitet, ich begriff nicht, was sie vorhatte, zog den Kopf zurück, bemerkte sofort meinen Fehler, streckte den Kopf wieder nach vorn, um in die Luft zu küssen, krachte dabei jedoch mit der Wange gegen ihre. Sie lachte. »Immer mit der Ruhe.«

»Warte, ich probier’s noch mal«, sagte ich, legte die Hand auf ihren Oberarm und berührte ihre Wange leicht mit meiner. Sie küsste in die Luft, und ich ließ wieder los.

»Ich nehme ein Bier«, sagte sie.

Wir gingen ins große Wohnzimmer, wo Tabatha und die anderen aus ihrem Freundeskreis sich laut über irgendetwas unterhielten. Sam stieß mit ihrer Bierflasche gegen meine Bierflasche und ging zu ihnen. Ich entdeckte meine Freund:innen Henry und Patti in einer anderen Ecke, wo sie sich über die Arbeit unterhielten. Henry stand wie immer nudeldürr und stocksteif da, als würde er ein Korsett tragen, kerzengerade, ohne darüber nachzudenken. Patti war das genaue Gegenteil. Rund, dunkel, schlaff.

»Mum hat gefragt, ob du Sonntag kommst«, sagte Henry.

»Klar, ich komm vorbei.« Ich war zum Mittagessen eingeladen. Die Perlmans wohnten in der Nähe von meinem Dad in Edgware, wo Henry und ich aufgewachsen waren. Seine vielen Familienmitglieder wohnten auf engstem Raum in einer kleinen Doppelhaushälfte und bildeten einen deutlichen Kontrast zu meinem ausgedünnten Stammbaum.

Patti und Henry fingen an, ihr Eigenkapital für den Wohnungskauf und die damit verbundenen Ängste zu vergleichen, und obwohl ich nicht betrunken war, konnte ich mich nicht auf das Gespräch konzentrieren. Immer wieder sah ich zu Sam rüber, und manchmal sah sie zurück.

Meine überschwängliche Freude hatte sich in unterschwellige Enttäuschung verwandelt, weil sie mich nicht wiedererkannte, bis die Freude schließlich fast komplett verpufft war. Ich hätte mir gewünscht, dass sie rüberkam, mit mir redete. Aber vorhin am Kühlschrank war sie auf mich zugekommen. Jetzt war ich dran, und wenn ich wollte, dass etwas passierte, musste ich dieses Etwas in die Hand nehmen. Ich fuhr mir durchs Haar und krempelte die Ärmel meines Pullovers hoch. Er war aus dunkelblauer Baumwolle und in eine dunkelblaue Chino gesteckt. Zu Hause hatte ich das für ein gutes Outfit gehalten, bezweifelte es jetzt aber. Hoffentlich glaubte sie nicht, ich wolle französisch wirken oder so. Sie trug eine dunkelbraune, tief aufgeknöpfte Bluse. Sie wirkte satinweich, wie Schokolade. Die Musik wechselte, ein langsamer Lo-Fi-Beat erklang. Ich ging rüber.

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, fragte ich: »Willst du tanzen?«, und streckte die Hand aus, auch wenn das so gar nicht auf eine Party wie diese passte. Sie starrte mich an, als hätte sie mich nicht verstanden, und ließ meine Hand peinlich in der Luft hängen. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. »Hey, ich wollte wissen, ob du, äh, mit mir tanzen willst.« Ein Funke des Wiedererkennens huschte über ihr Gesicht, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein.

»Nein, aber danke für das Angebot.« Sie grinste. »Das sind Tabatha und Finn«, sagte sie dann und deutete nacheinander mit dem Kopf auf die beiden.

»Ja, Finn und ich kennen uns schon, aber schön, dich kennenzulernen, Tabatha«, sagte ich und war erstaunt, dass man meiner Stimme die Abfuhr schon nicht mehr anhörte. Garantiert würden sie sich später über mich lustig machen, aber vielleicht war es das wert, immerhin redeten wir jetzt miteinander.

Finn war Grafikdesigner, der manchmal für Henrys und Pattis Agentur arbeitete, und die paar Male, die wir uns getroffen hatten, war er immer nett gewesen. Er sprach wild gestikulierend in einem mit Hongkong-Englisch gewürzten Cockney und schnitt dabei Grimassen, als wäre sein Gesicht aus weichem Ton. Wäre Tabathas Gesicht aus Ton, dann aus steifgetrocknetem, sie schien ein ganz anderer Typ zu sein. Sam sah mich an, ihre Augen waren Magneten, und mir fiel plötzlich nichts mehr an Tabatha und Finn auf.

Eine Stunde später stand ich wieder auf der Suche nach einem Drink vorm Kühlschrank, als sie meine Hand nahm und mich nach draußen führte. Sie zündete sich eine Zigarette an, und ich lehnte ab, als sie mir die Schachtel hinhielt.

»Ich bringe es einfach nicht über mich, selbst zu drehen«, sagte sie und hielt den Rauch in der Lunge. »Ist die günstigere Variante, ich weiß, aber zu Hause raucht kein Mensch Selbstgedrehte. Außerdem bin ich zu ungeduldig.«

»Zu Hause in Stockholm?« Ich biss mir auf die Zunge, weil ich das eigentlich nicht wissen konnte.

»Ist mein Akzent so stark?« Sie prustete. »Findest du. Dass ich. Sehr skandi. Navisch. Klinge?«, fragte sie in heftig übertriebenem nordischen Stakkato.

»Wow.«

»Findest du das sexy? Überrascht, dass ich nicht blond und blauäugig bin?«

»Ja. Und nein.« Ich deutete mit dem Kopf auf sie. »Mach noch mal.«

Sie lachte. »Ich glaube, ich gehe nach Hause. Willst du mit? Ich hab noch Wein da.« Ihr Gesicht war so ungerührt, dass man niemals für möglich gehalten hätte, dass sie mir gerade ein unanständiges Angebot gemacht hatte. Diese direkte Art, über Gefühle zu sprechen, sollte später eine meiner liebsten Charaktereigenschaften an ihr werden. Selbst schwer zu äußernde Gefühle. Als fiele ihr Ehrlichkeit überhaupt nicht schwer. Ganz im Gegensatz zu mir, ich wusste ja manchmal selbst nicht, ob ich log oder die Wahrheit sagte. Die chronische Uneindeutigkeit der Engländer:innen – ist wohl genetisch bedingt.

Im Bus redete sie ununterbrochen. Beim Aussteigen nahm ich ihre Hand. Vor der Haustür kramte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und schloss auf. Bevor wir reingingen, drehte sie sich zu mir um.

»Bist du dir ganz sicher, Mister?« Wieder die amüsierte Augenbraue.

»Definitiv. Wieso?«

»Wollte nur sichergehen, dass wir uns gut genug kennen. Nicht dass du das, äh, abstoßend findest.«

Und da wusste ich, dass sie es wusste. Ich machte zwei Schritte auf sie zu und küsste sie. Ihre Schultern bebten vor Lachen.

»Ich dachte, du hättest mich nicht erkannt«, sagte ich.

»Ich wusste nicht, ob du mich erkannt hast.«

»Doch. Sofort.« Und strich ihr mit der linken Hand die verwuschelten Haare glatt.

*

Letzten Monat habe ich noch einen Abschluss gemacht. Diesmal war es ein einjähriger Kurs in Umweltingenieurswesen. Ich hatte beschlossen, nach meinen Mastern noch mal an die Uni zurückzukehren, weil es zwar anständige Jobs für Maschinenbauingenieure gab, anständige grüne Jobs jedoch selten und hart umkämpft waren.

Vorher, als ich vor lauter Geldsorgen ständig meinen Kontostand gecheckt hatte und meine Bewerbungen es selten über das Stadium einer Wir-bedauern-dass-Mail hinausgeschafft hatten, war ich eingeknickt und hatte eine Stelle in einer Pharmafirma angenommen. Es zerriss mich innerlich. Bei der Arbeit schlich ich die stillen Korridore entlang, und nach Feierabend googelte ich Steuerskandale und ethisch fragwürdige Praktiken des Unternehmens. Illegale Tests, Tierversuche, Ausbeutung von Arbeiter:innen in Dritte-Welt-Ländern. Ein weiteres Uni-Intermezzo konnte ich mir nicht leisten, aber Dad finanzierte mir mit einem Teil des Erbes den Umweltingenieursstudiengang, sodass ich mich jetzt wieder um grüne Jobs bewarb. Bisher nur Wir-bedauern-dass. Ich würde einfach weitermachen, bis ich etwas fand, hoffentlich Richtung Herbst. Nur noch ein Sommer bei Darling. Sollte doch zu schaffen sein.

Nirgends sonst hatte ich je solche Sphären der Langeweile erreicht wie bei der Arbeit in diesem Laden, der so wenige Artikel verkaufte, dass ich nie etwas aufzuräumen, zusammenzufalten oder wegzuhängen hatte. Stunden verstrichen ohne einen einzigen Kunden. Mein Handy durfte ich nicht benutzen.

Ich hatte den Verdacht, dass die quälende Langeweile das chemische Gleichgewicht meines Gehirns zerstört und dafür gesorgt hatte, dass manches mir mehr ausmachte als anderen. Mit Kater aufzuwachen zum Beispiel, der selbstzerstörerische Aspekt daran. Manche Freund:innen verschliefen nach wie vor einen Großteil des Wochenendes, aßen nach dem Aufwachen etwas Frittiertes und zogen wieder los. Frittiertes Essen hat mir noch nie sonderlich geschmeckt, aber selbst langes Feiern hatte mittlerweile seinen Reiz verloren, weil das darauffolgende Ausschlafen den ganzen Tagesrhythmus durcheinanderbrachte und ich mich stressen musste, um alles Verpasste wieder aufzuholen.

Mit Sam jedoch machte mir Kater nichts aus, und ihr schien es erst recht nichts auszumachen. Unsere erste gemeinsame Woche war aufregend gewesen, wenn auch ziemlich erschreckend, wie bereitwillig ich meine Alltagsroutinen über Bord geworfen hatte. Deshalb versuchte ich, es etwas ruhiger anzugehen und nicht jede Nacht bei ihr zu schlafen. Doch auch die Zeit allein zu verbringen, hatte meine Gefühle nicht im Geringsten abgekühlt. Es sorgte nur dafür, dass ich mich isoliert fühlte, wie wenn man einen analogen Fernseher ausschaltet und die Sendung weiterläuft, ob man zuschaut oder nicht. Also ließ ich mich drauf ein, zwei Monate mit Sam in London, und wollte so viel Zeit mit ihr verbringen, wie sie mir erlaubte. Wir würden noch früh genug richtige Jobs und richtige Partner:innen und Möbelstücke haben.

Ich war nicht unglücklich mit meinen Mitbewohnern. Trotzdem wünschte ich mir eine eigene Wohnung. Das Studentenleben kam mir nicht mehr passend vor, aber ich hatte so viel Zeit mit Studieren verbracht, dass ich nicht einmal den Hauch eines Puffers auf dem Konto hatte. Sobald ich im Herbst einen anständigen Job finden würde, wollte ich ein halbes Jahr sparsam leben und dann eine Wohnung mieten, je nachdem, was meine Ersparnisse bis dahin hergaben. Und sei sie auch noch so winzig und in Zone 4. Danach würde ich Eigenkapital für einen Wohnungskredit ansparen. Die zwei Monate mit Sam waren die letzte Runde, bevor die Bar zumachte. Ein letzter unvernünftiger Sommer, das tiefe Luftholen vorm Kopfsprung.

Es kam mir immer noch unwirklich vor, dass Sam und ich vor zwei Jahren in der gleichen Stadt zur gleichen Zeit unseren Master gemacht, ihn sogar in der gleichen Woche abgeschlossen hatten. Wenn ich bei Darling gelangweilt hinter der Kasse stand, sah ich mir oft Fotos von Sam an, obwohl es nicht erlaubt war. Ihr Instagram war chaotisch, strahlte jedoch eine fieberhafte Ästhetik aus. Halbvolle Pastateller, Selfies mit Freund:innen beim Rauchen. Ich dachte über die Willkürlichkeit unseres Treffens nach. Sie hatte zwei Jahre in London studiert, ihr Freund Finn kannte meinen Freund Henry, und trotzdem hatten wir uns bis vor zwei Wochen nie gesehen. Das war schwer zu glauben. Ich malte mir mögliche Szenarios aus, in denen wir uns in Jahr eins begegneten, in Jahr zwei. Und stellte mir vor, wie wir einander knapp verpasst hatten. Wie wir uns in Coffee Shops aneinander vorbeidrängelten. Den gleichen Artikel in der Tageszeitung lasen und gleich darauf reagierten. Auf dieselbe Party eingeladen wurden, aber einer von uns konnte nicht. Synchrones Retweeten. Gleichzeitig unterschiedliche Leute küssen. Mit diesen Szenarios lenkte ich mich ab, bis ich um 19 Uhr endlich den Laden schließen, die reale Sam treffen und mir von ihrem Tag erzählen lassen konnte.

Meine Masterabschlussfeier hatte zwei Tage vor Sams stattgefunden. Alles war genau wie erwartet. Juliwetter, sonnig seit morgens. Robe und Hut kratzig. Mein Vater stolz, aber unfähig, es zu zeigen. Meine Mutter immer noch tot.

Dad war in Ordnung, wir kamen klar. Als alleinerziehender Vater war er nie streng gewesen, hatte mich nie unfair behandelt oder angeschrien. Wir kannten uns einfach nicht sonderlich gut. Ich war froh, Henrys Familie gefunden zu haben. Auch wenn es eigentlich nichts sein sollte, was man finden musste. Eigentlich sollte man hineingeboren werden, oder?

Manchmal wünschte ich, Dad wäre strenger gewesen. Als Mum noch lebte, hatte mein Alltag Struktur gehabt, das Essen stand immer um sechs auf dem Tisch, immer selbstgekocht, und dabei unterhielten wir uns über den Tag. Kein Fernsehen und keine Verabredungen vor den Hausaufgaben. Als Kind war ich wesentlich abgehärteter gegen Brokkoli als die meisten Gleichaltrigen. Aber nach ihrem Tod konnten weder Dad noch ich uns aufraffen, um sechs am Küchentisch zu sitzen. Alles, was uns an sie erinnerte, wurde vom Speiseplan gestrichen. Stattdessen wärmte Dad irgendein Tiefkühlgericht auf, je farbloser, desto besser, damit wir es vorm Fernseher essen konnten. Über unseren Tag unterhielten wir uns nur noch selten, wenn, dann flüchtig, und er schien es nicht übers Herz zu bringen, die Hausaufgaben-vorm-Spielen-Regel durchzusetzen. Über ein Jahr lang ernährten wir uns von Fischstäbchen, Kartoffelecken und Tiefkühlpizza. Ohne Mum als Anker zerrann unser Alltag, verlor an Gestalt.

Dad kam zur Abschlussfeier, mein einziger Gast. Als ich ihn im Publikum sah, verkrampfte sich etwas in meiner Brust, er nickte mir aufmunternd zu und umklammerte das Programm. Es würde zerknittert sein, wenn er es losließ. Hinterher gingen wir zum selben Italiener wie immer. Er bestellte uns einen Prosecco, noch bevor wir die Speisekarte aufschlugen.

»Auf dich, Lucas.« Wir hoben die Gläser, stießen aber nicht an. »Das ist wirklich ein besonderer Tag. Und Mum … ich weiß, wie gern sie dabei gewesen wäre bei der Feier.« Er seufzte. »Na ja, was ich eigentlich sagen will – gut gemacht. Ich bin stolz auf dich.« Wir nippten am Prosecco und schwiegen. Ja, total steif, aber besser bekamen wir es nicht hin, und obwohl ich dagegen ankämpfte, machte es mich traurig. Ich wollte einfach nur bestellen, essen, bezahlen und dann gehen und mich mit Henry besaufen.

»Weißt du, was Mum heute Morgen gemacht hätte?«, fragte Dad. »Einen Marmorkuchen.«

»Marmorkuchen?«

»Weißt du das nicht mehr? Du hast Marmorkuchen geliebt«, sagte er, und ich suchte meine Gehirnwindungen nach der Erinnerung ab. Ich erinnerte mich daran, wie entspannt er in ihrer Gegenwart war, wie gelöst. Wäre sie bei der Zeremonie dabei gewesen, hätte er das Programm nicht so fest umklammert. Ich fragte mich, wie ich gewesen wäre. Bei der Zeremonie, aber auch sonst, als Mensch.

»Und ihr gelbes Kleid, das mit den weißen Blumen, ihr Lieblingskleid, erinnerst du dich daran?«

Ja.

»Ja.«

»Das hätte sie bestimmt getragen. Und ihr Parfüm.«

Ich lächelte, trank meinen Prosecco aus und versuchte, mir den Duft ihres Parfüms in Erinnerung zu rufen. Ich fragte mich, ob Dad noch ein Fläschchen davon hatte. Ob er sich manchmal erlaubte, es zu versprühen.

*

Jetzt, Bein an Bein mit Sam auf dem U-Bahn-Sitz, ist der Nina-Simone-Song zu Ende. Ein neues Lied fängt an, eins, das ich nicht kenne. Ängstlich registriere ich ihren erwartungsvollen Blick, sie kneift mir ins Bein.

»Shirley Bassey?«, sagt sie, wie eine Frage.

»Ach ja, wofür ist die noch mal berühmt?«

»Oh Mann. Diamonds Are Forever, der Love-Story-Song, Big Spender, Goldfinger.«

»Stimmt. Kommt aber nicht an Nina Simone ran.«

»Auch wieder wahr. Hey, willst du mal meinen neuen Lieblingssong hören?«

Nein, will ich nicht. Ich will sofort mit diesem Spiel aufhören, weil ich fürchte, dass ihr auf einer dieser U-Bahn-Fahrten klar werden wird, dass ich nur so tue, als ob, dass ich eigentlich ziemlich normal und gar nicht so heiß bin, wie meine Klamotten nahelegen. Sie liebt Partys. Ich kenne den Kaloriengehalt jedes einzelnen Lebensmittels in ihrem Kühlschrank.

Sam findet den Song und drückt Play. Ich ziehe den Ohrstöpsel raus und gehe Richtung Tür. An der nächsten Haltestelle muss ich raus, außerdem habe ich keine Lust mehr, Musik zu hören. Sie kommt hinterher, nimmt mir den Stöpsel aus der Hand und steckt ihn wieder in mein Ohr.

»Hey«, sagt sie. Ihr Lächeln ist so natürlich und wertfrei, dass meine Sorge mir albern vorkommt. Sie zeigt mir ziemlich deutlich, dass sie mit mir zusammen sein will, und seit sie plötzlich hinter dieser Kühlschranktür stand, ist sie alles andere als zurückhaltend. Und trotzdem will ich sie unbedingt beeindrucken. Mal ehrlich, sie hat wirklich mehr Vertrauen verdient.

Ich gebe es auf, krampfhaft verbergen zu wollen, dass ich ein musikalischer Analphabet bin und längst nicht so heiß, wie ich aussehe. Ich entspanne mich und höre mir den Song an. Sie greift nach meiner Hand und streicht mit dem Daumen über meine Handfläche, als wollte sie die Linien darauf glätten. Das Lied ist langsam und lautmalerisch.

»Flora Purim«, sagt sie. Ich bitte sie, lauter zu machen, und lecke mir die Lippen, weil sie von der staubigen U-Bahn-Luft trocken sind und spannen. Sam holt einen Lippenbalsam aus der Tasche und schmiert ihn sich auf die Lippen. Eine dicke wächserne Schicht. Dann legt sie die Hände an meine Wangen, zieht meinen Kopf zu sich und drückt ihren Mund auf meinen. Der Atem aus ihrer Nase kitzelt auf meiner Haut. Sie bewegt die Lippen hin und her, spielt eine winzige Mundharmonika.

Mit einem Schmatzer löst sie sich von mir. »So. Besser?«

»Noch mal.« Ich küsse sie heftig. Sie lacht durch die Nase.

Jetzt schmecken meine Lippen nach Grapefruit und Öl, und ihr Lippenbalsam reiht sich ein in die Gerüche, die mein Hirn abspeichern und mit ihr verbinden wird. Wenn ich mich je zu dieser U-Bahnfahrt zurückversetzt fühlen möchte, muss ich nur eine Grapefruit kaufen.

Wir nähern uns der nächsten Station. Ich muss umsteigen, sie nicht.

»Sehen wir uns heute Abend?«, frage ich.

»Ich will mal wieder ins Kino.«

»Okay, ich gucke nach, was läuft.«

Ich muss aussteigen und schlüpfe gerade noch raus, streife mit der Schulter die schließende Tür. Draußen drehe ich mich um, sie pustet mir noch einen Luftkuss zu, und ich winke zurück und gehe los. Flora Purim singt von Schmetterlingen. Ich passe mein Tempo dem Takt an.

Da bricht die Musik ab. Jähe Stille.

Sams Ohrstöpsel hat die Verbindung zum Handy verloren. Ich drehe mich zur U-Bahn-Tür um. Sie streckt die Hand mit dem Ohrstöpsel aus. Ich halte den anderen hoch. Sie zuckt mit den Schultern. Ich forme ein lautloses Sorry.

Die Bahn fährt los und verschwindet im Tunnel. Die Geräusche der U-Bahnstation treten an Flora Purims Stelle. Und ich fühle mich gestrandet, abgeschnitten. Wie ein Kabel, das gekappt wurde.

NOCH 153 TAGE

Sam

Ich atme tief ein, halte die Luft an. Der Rauch brennt mir in der Lunge. Langsam stoße ich ihn aus, und als er mir über die Lippen strömt, komme ich mir irgendwie sinnlich vor. Es ist Samstagnachmittag, der erste August, und ich trinke Kaffee mit Tabatha und Finn. Wir sitzen draußen.

Im Augenblick rauche nur ich. Am liebsten würde ich die Tischkante packen und laut etwas rufen, um die beiden zum Lachen oder zum Applaudieren zu bringen, tue es aber nicht. Stattdessen lehne ich mich zurück, halte mir die Zigarette nah an den Mund und beobachte, wie der Rauch aufwärts rinnt, schwerelos.

Bisher war der Sommer ein einziger wolkenloser Himmel, Sättigung auf Anschlag. Tagsüber blau, abends rosa. Manchmal lila wie ein frischer Bluterguss. Aber heute regnet es, träge dicke Tropfen. Über den Außenbereich des Cafés spannt sich eine blauweiß gestreifte Markise, und der Regen prasselt so schön auf dem Stoff, als würden hunderte von kleinen Fröschen darüberspringen.

Normalerweise rauche ich nur, wenn ich trinke, weil ich den Geschmack nicht mag. Das ist eher etwas, was man auf Partys gegen die Langeweile tut, wenn die Hände nach Beschäftigung suchen. Aber heute will ich aus dem Vollen schöpfen, und Rauchen ist die angemessene Geste dafür.

Ich bin ungewohnt ruhig. Ich bin nicht auf dem Sprung, muss nirgendwo hin. Meine Beine reglos unter dem Tisch, die Füße schwer auf dem Kies. Aber tief in meiner Brust sitzt die Enge, die quälende Gewissheit, dass dieser Moment verstreichen wird. Noch sechs Wochen bis Stockholm.

Allerdings könnte die Enge genauso gut vom Rauchen kommen, also beschließe ich, sie zu ignorieren.

»Und? Wie gehts Lucas?«, fragte Tabatha mit zweideutigem Unterton. Ihr roter Lippenstift ist gekonnt aufgetragen.

»Gut. Er kommt nach der Arbeit vorbei.«

»Komm schon, lass uns teilhaben«, sagt Finn. »Mehr Sexleben, als über deins zu reden, habe ich im Moment nicht.«

»Ich glaube, so funktioniert das nicht.«

»Doch, Stellvertretersex.« Finn, eigentlich Finley, noch eigentlicher Shun. Er hat mir mal erzählt, dass Shun auf Kantonesisch rein bedeutet. Wir mussten beide lachen. Tabatha und ich haben zusammen Marketing studiert, aber wie Finn da ins Bild passt, weiß ich nicht mehr. Er wurde irgendwie integriert. Trotz der zwei Jahre in Stockholm, während derer wir nur gelegentlich abends per Videocall Kontakt hatten, war sofort alles wie früher, kaum dass ich in London gelandet war. Rauchen auf Tabas Balkon, Einmischen in Privatangelegenheiten.

»Also, ich mag Luc, das ist ja wohl offensichtlich«, sage ich. »Er ist schlau, und wir reden viel.«

»Und?« Finns Lachfältchen bahnen sich Wege über sein entspanntes Gesicht, wie Flüsse auf einer Landkarte. Deltas und Fjorde, durch vergangene Freuden geformt.

Er knöpft sich den Hemdkragen auf, greift nach seiner Kaffeetasse und sieht mich auffordernd an. Er wirft öfter mal mit Unverschämtheiten um sich und kommt problemlos damit durch. Er flirtet unter der Gürtellinie mit uns beiden, und mir gefällt die Obszönität, auch wenn es mir vage unfeministisch vorkommt, darauf einzugehen.

»Der Sex ist gut, das hab ich doch schon erzählt«, sage ich. Finn zeigt auf meine Zigarettenschachtel, also zünde ich ihm eine an. »Er ist sehr aufmerksam. Fragt mich, ob mir gefällt, was er da macht, und so.«

»Ach, ein Gesprächiger, so einen hatte ich auch mal«, sagt Tabatha. »Der hat mir auch von anderen Frauen erzählt, also wie sie aussahen und wo sie es getrieben haben, im Auto, im Pool, einmal sogar auf dem Squashplatz.« Sie legt den Kopf schief, und ihr Haar glänzt wie gezogenes Karamell, als sie es zusammennimmt und sich über eine Schulter streicht.

»Im Bett? Ganz schön unverschämt«, sage ich.

»Ähm, hallo? Kennen wir uns?«, fragt Finn. Wir lachen.

»Passte aber irgendwie, hab mich dran gewöhnt«, sagt Tabatha und schmunzelt und sieht hübsch dabei aus. Irgendwie kann man ihr am Gesicht ablesen, dass sie reich ist. Sie kann sich die gute Gesichtspflege in medizinisch wirkenden Glasfläschchen mit Pipetten leisten. Ihr Haar kennt keinen Frizz. Und ihre Klamotten – irgendwie ist es, als würden meine Klamotten nicht zur gleichen Spezies gehören wie die von Tabatha. Ihre sind schwer, haben satte Farben und schmiegen sich perfekt an ihre Kurven.

Einmal hat sie mir ein Facial spendiert. Gefangen auf der Liege, mit fremden Händen im Gesicht, die unaufhörlich mein Gewebe kneteten, fingen meine Beine an zu zittern. Vierzig Minuten lang hielt ich durch, dann entschuldigte ich mich und saß die restlichen zwanzig Minuten im Foyer ab und wartete auf Tabatha. Ich tat so, als hätte ich es genossen, immerhin war die Behandlung teuer, und sie zahlte. Aber das würde ich mir nie wieder antun. Schließlich schneide ich mir sogar die Haare selbst und war seit vier Jahren nicht beim Zahnarzt.

»Über andere Frauen redet Luc allerdings nicht«, sage ich. »Eher über Körperstellen, die ihm auffallen, oder er ärgert mich mit irgendwas.«

»Und darauf stehst du?«, fragt Finn und legt eine Hand auf Tabathas Schulter, um sie zu massieren. Der Anblick gefällt mir. Ich überlege. Sex war für mich immer etwas Ernstes, aber mit Luc ist er albern, das Gegenteil von inszeniert. »Erst war ich ein bisschen überrascht. Aber jetzt gefällts mir. Gibt dem Ganzen irgendwie eine neue Dimension.«

»Du musst ihn echt heiß finden«, sagt Finn.

»Finden wir Lucas nicht alle ein bisschen heiß?«, sagt Tabatha und leckt sich die Lippen. Obwohl Lucs Anziehungskraft nichts mit mir zu tun hat, bin ich stolz. Sein Blick fokussiert sich derart auf dich, dass du das Gefühl hast, er würde tatsächlich zuhören, statt den richtigen Moment abzupassen, in dem er dich unterbrechen kann. Er ist so jemand, der dir nachschenkt, bevor dein Glas überhaupt leer ist.

Mein Handy auf dem Tisch pingt. Eine Nachricht von Diwa. Na, wie gehts? Wohnung schon niedergebrannt? Fragwürdige Leute eingeladen?

Nach kurzem Überlegen antworte ich: Nur Luc.

Finn erzählt Tabatha von einer nervigen Kollegin, eine Story, die ich schon kenne. »Sorry«, bedeute ich Finn und zeige auf mein Handy. Er ist ziemlich streng, was Smartphone-Etikette angeht.

Wer zum Henker ist Luc?, fragt Diwa.

Lucas. Weißt du nicht mehr?

Nee? Und dann: Ach doch. Und dann: Du meinst den Lucas?

Genau den.

Ruf mich an.

Bin gerade mit Freund:innen unterwegs. Morgen? Ich trinke kalten Kaffee und merke es gar nicht, weil ich in Gedanken schon die Geschichte spinne, die ich Diwa erzählen werde. Welche Details ich auslasse, in welcher Reihenfolge. Am besten wird ihr der Teil gefallen, als er mich gefragt hat, ob ich mit ihm tanzen will, und ich wusste, dass er weiß, wer ich bin.

Morgen früh.

Okay, früh. Ist es schön in Griechenland? Wie gehts Milly? Wie ist das Haus?

Es ist kein Haus, sondern ein Domizil. Komm doch her. Kannst Lucas mitbringen.

Haha, sehr witzig. Bis morgen.

*

Dass ich Luc kenne, habe ich übrigens Diwa zu verdanken. Sie war schon immer mein liebstes Familienmitglied, und ich verbrachte lieber Zeit mit ihren Eltern als meinen eigenen, auch wenn ich mir wie ein schlechter Mensch vorkam, als ich mir das eingestand. Sie war in London geboren, ich in Stockholm. Mein Pappa war zum Studieren von Bukarest nach Schweden gegangen und hatte Mamma bei einem Midsommarfest kennengelernt. Diwas Mum, meine Tante, war von Bukarest nach London gezogen und hatte kurz darauf einen Studenten aus Beirut geheiratet, meinen Onkel. Diwa ist Einzelkind. Ich habe zwei jüngere Brüder, trotzdem fühle ich mich Diwa näher als meinen eigenen Geschwistern.

Jede Schulferien fragte ich meine Eltern, ob ich nach London fahren dürfe. Diwa und ihre Eltern, Sofia und Armin, schienen nichts dagegen zu haben, ich hatte nie das Gefühl, ihnen zur Last zu fallen.