Oliver - Jürgen May - E-Book

Oliver E-Book

Jürgen May

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Beschreibung

Zwei Männer - Zwei Welten! Patrick ist ein gefeierter Filmstar, der sich von seinem Ruhm überrollt fühlt und sich zunehmend in ein von Angst bestimmtes Leben begibt. Matthew ist ein einfacher Angestellter, der von der Liebe enttäuscht wurde und sich mehr und mehr in seinen Tagträumen verliert. Was des einen Traum, scheint des anderen Realität! Doch die Wahrnehmung trügt und lockt beide unabhängig voneinander in ein Grenzgebiet zwischen weltentrückten Fantasien und nackten Tatsachen. Aber wer ist Oliver? Und welche Rolle spielt er in diesem Geschehen? Weiß er die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit zu ziehen? Vermag er eine Verbindung zwischen den Welten herzustellen?

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INHALT

Der Anfang

Die Trennung

Die Enttäuschung

Der Durchbruch

Die Verfehlung

Das Manuskript

Die Auszeit

Die Überraschung

Der Traummann

Die Chance

Die Einbildung

Die Einladung

Der Besuch

Die Erfüllung

Der Rückzug

Das Drehbuch

Der Köder

Die Entdeckung

Das Verhör

Die Begegnung

Das Geständnis

Der Drehbeginn

Die Erkenntnis

Die Liebenden

Die Enthüllung

KAPITEL 1

DER ANFANG

Dichte Nebelschwaden überzogen die Themse und ließen das entfernt gegenüberliegende Ufer nur erahnen. Joshua drehte sich noch ein letztes Mal um und schaute wehmütig dem riesigen Ozeandampfer hinterher, als dieser sich mit laut tönendem Schiffshorn aus dem Hafenbecken von Tilbury manövrierte. An Bord befand sich seine große Liebe, die eine Reise ans andere Ende der Welt antrat. Erst einen Tag zuvor hatte sich Eleonore von ihm getrennt und ihn an diesem feuchtkalten Morgen tränenüberströmt an den Landungsbrücken von London zurückgelassen.

„Ich werde Dich niemals vergessen!“, schluchzte Joshua, der erst in dem Moment, als der Schiffskoloss samt seinen Passagieren im trüben Dunstschleier verschwand, begriff, dass ihm ein Abschied für die Ewigkeit beschieden war.

„C U T!!!“, schrie Martin Harpshore durch seinen Schnäuzer hindurch, der ungepflegt lang über seine Lippen hing.

Dann erhob er sich von seinem Regiestuhl und stellte sich mit seinem gedrungenen Erscheinungsbild inmitten des Sets, wobei ihm sein schütteres rotes Haar strähnig ins Gesicht fiel. Er hatte die Schlussszene nach der zehnten Wiederholung für perfekt erachtet und daraufhin sämtliche Aufnahmegeräte ausschalten lassen.

„Ihr wart großartig!“, rief er freudestrahlend in die Menge und klatschte dabei kräftig in die Hände.

Für Martin Harpshore war mit der Unterzeichnung des Vertrags, den er mit den „Plittercaff Studios“ geschlossen hatte, zum ersten Mal der Wunsch nach einer vielversprechenden Regiearbeit in Erfüllung gegangen. Bisher war er nur für drittklassige Filmprojekte tätig geworden und umso mehr war er außer sich vor Freude, als der Intendant der Studios auf ihn zugekommen war und ihm den Entwurf des Drehbuchs zu „Der Todsünde so nah!“ zur Verfügung gestellt hatte. Martin war sich sicher, dass er mit diesem Film seinen Durchbruch erleben würde und er endlich den Ruhm einheimsen könnte, der ihm, trotz erfolgreich abgeschlossenem Regiestudium, so lange Jahre versagt geblieben war.

„Kommt heute Abend ins „Busters“! Wir haben allen Grund zum Feiern!“, forderte er die gesamte Filmcrew auf.

Und während er sich zurück in sein Hotel begab, begann ein reges Treiben am Set. Die Bühnenarbeiter bauten die Kameras samt den Laufschienen ab und der Tonmann trug mit ein paar Gehilfen seine Aufnahmegeräte zu den zum Abtransport bereitstehenden LKWs. Dabei beschimpfte er seine Leute lautstark als hirnlose Idioten und forderte sie unentwegt auf, vorsichtiger mit diesen hoch technischen Geräten umzugehen. Und während er wildgestikulierend zwischen herumliegenden Scheinwerfern hin- und herlief, bahnten sich übergroße Kabeltrommeln ihren Weg, um die endlos erscheinenden Verbindungsleitungen aufzurollen, die sich bei diesem Vorgang wie Schlangen in der Grube windeten.

Und zwischen all diesem Tohuwabohu stand Patrick Lockerty, der Hauptdarsteller, wie angewurzelt am Pier. Er konnte nicht fassen, dass nach wochenlangen Dreharbeiten, die alles von ihm abverlangt hatten, seine Rolle als Joshua beendet war. Patrick gehörte noch zu einem der vielen unbeschriebenen Blätter in der glamourösen Filmwelt; so hatte es der Produzent gewollt.

„Bringt mir ein neues Gesicht, dass die Kinoleinwand schmückt!“, hatte Diggery Fortwind, ein hagerer Mittdreißiger mit blonder Mähne und giftgrünen Augen, verlangt und sein gesamtes Team losgeschickt, danach zu suchen.

Nach unendlich vielen Kandidaten, die zum Vorsprechen erschienen waren, fiel schließlich die Wahl auf Patrick Lockerty, der zuvor als Komparse oder Statist in unbedeutenden Filmproduktionen mitgewirkt hatte. Zuletzt war er sogar mal in einer Nebenrolle einer TV-Produktion zu sehen gewesen, woraufhin er von Filmkritikern für seine authentische Darstellung eines heruntergekommenen Junkies gelobt worden war.

Patricks Eltern hatten ihm eine grundsolide Schauspielausbildung an der „Private Academy of Art and Drama“ in London ermöglicht, eine tragende Rolle war ihm jedoch bisher verwehrt geblieben. Dann überraschte ihn der Anruf einer Schauspieleragentur mit einem Termin zum Vorsprechen für die Rolle des Joshua Portsworth in „Der Todsünde so nah!“. Das Gremium ließ sich von Patricks außergewöhnlichem Talent überzeugen und entschied sich bei der Wahl des Hauptdarstellers einstimmig für ihn.

„Dieser Junge verkörpert genau den Typ, den ich mir vorgestellt habe!“, sprach Diggery voller Begeisterung.

„Er ist jung! Er ist unbedarft! Er wirkt ein wenig unsicher und ist dennoch selbstbewusst! Seine stechend blauen Augen drücken Schüchternheit aus, aber auch eine Spur von Verwegenheit! Und genau diese gespaltene Ausdrucksform benötigt er für die Rolle des Joshua!“, schob er noch fasziniert hinterher.

Diggery war sich sicher, dass er mit Patrick die richtige Wahl getroffen hatte. Denn er entsprach genau den Attributen des Mannes, der Anfang der Neunziger angesagt war. Markantes Gesicht, pechschwarze Haare und stahlblaue Augen, die Empfindsamkeit und Stärke zugleich auszudrücken vermochten. Patrick als Hauptdarsteller in Verbindung mit dem exzellenten Drehbuch betrachtete Diggery als Garant für eine gewaltige Sturmflut auf die Kinokassen. Im Stillen fieberte er schon den unzähligen Preisen entgegen, mit denen sein Film „Der Todsünde so nah!“, bei der Verleihung der „British Academy Film Awards“ von 1992 ausgezeichnet würde. Die Voraussetzung, dass der Film vorher nominiert werden müsste, sah Diggery als gegeben an. Denn, dass sein Film dabei übergangen werden könnte, hielt er für völlig ausgeschlossen.

„Bitte gehen Sie jetzt zurück in die Maske!“, sprach der Aufnahmeleiter, nachdem er Patrick nach längerer Suche am Pier gefunden hatte.

Patrick weilte immer noch in Gedanken versunken dort und hatte, mit weitem Blick über die mittlerweile vom Nebel befreite Themse, Zeit und Raum vergessen. Er stand mit seinen vierundzwanzig Jahren erst am Anfang seiner Karriere und hatte eine leise Vorahnung davon, welcher Ruhm ihm dieser Film einbringen würde. Doch von einer Kehrseite dessen ahnte er nichts.

„Ich komme mit Ihnen!“, antwortete er und folgte dem Aufnahmeleiter auf dem Fuß.

In der Garderobe angekommen, entledigte Patrick sich seiner Kleidung, die man ihm aus dem Fundus zur Verfügung gestellt hatte. Ein den fünfziger Jahren entsprechender Anzug nebst Trenchcoat, welcher ein wenig nach Mottenkugeln roch, hängte er ordentlich auf einen stummen Diener. Dann ging er in Jogginghose und Trägershirt gekleidet in die Maske, wo Estelle, die zuständige Maskenbildnerin schon auf ihn wartete.

„Wie schön, Mr. Lockerty, dass Sie doch noch zu mir gefunden haben! Es war mir ein Vergnügen, auf Sie warten zu dürfen“, begrüßte Estelle den Jungschauspieler mit ironischem Unterton, der unkommentiert blieb.

„Aber bitte! Nehmen Sie doch Platz!“, forderte sie Patrick schließlich auf, nachdem er aufgrund ihrer Ansage wortlos und schuldig dreinblickend an der Tür stehen geblieben war.

„Danke, Miss Hockwind!“, entgegnete Patrick mit einer Schüchternheit, die Estelle ihm nicht abkaufte.

„Ich komme gleich zu Ihnen!“, sagte sie, während sie im Nebenraum frische Handtücher holte.

Estelle war eine schlanke junge Frau mit brünettem Pagenkopf, die ein starkes Selbstbewusstsein besaß und aufgrund ihrer exzellenten Fertigkeiten über einen hohen Bekanntheitsgrad verfügte. Wenn es um ausgefallene Masken ging, insbesondere für Fantasyfilme, dann fiel bei der Suche nach einer befähigten Maskenbildnerin unweigerlich ihr Name.

„Kommen Sie heute Abend auch ins „Busters“, Mr. Lockerty?“, fragte sie ihn während sie ihm ein Handtuch umlegte.

„Aber sicher, Miss Hockwind!“, antwortete er und Estelles Herz machte einen Sprung; entsprach er doch genau ihrer Vorstellung von dem Traummann, der es fertigbringen würde, ihr schlaflose Nächte zu bereiten.

„Das freut mich!“, fügte sie nur knapp hinzu, da sie fürchtete, er könnte sich auf ihr gezeigtes Interesse etwas einbilden.

„Soweit kommt das noch!“, dachte Estelle und blieb in ihren Gedanken verhaftet.

„Ich habe schon eine Menge dieser gutaussehenden Typen für ihre Rollen zurechtgemacht. Und es ist immer dieselbe Wandlung, die sie nach und nach vollziehen. Noch unbekannt, wirken sie oft schüchtern und unbeholfen. Und wenn sich ihr Erfolg einstellt, steigt ihnen dieser zu Kopf. Danach sind sie das, was der Ruhm folglich aus ihnen macht. Arrogant, selbstverliebt und überheblich! Und der hier bildet keine Ausnahme!“, redete sie sich ein, um sich selbst vor einem törichten Annäherungsversuch, der aus ihrer Sicht unstrittig zu ihrer vorgefassten Meinung führen würde, zu schützen.

Dann machte sie sich daran, Patrick abzuschminken und ihm die Pomade aus den Haaren zu waschen. Um der Gestalt des Joshua zu entsprechen, hatte sie ihn vor Drehbeginn gekonnt ein paar Jahre älter werden lassen und ihm mit ein paar Pinselstrichen seine Jugendlichkeit aus dem Gesicht entfernt.

„So werde ich einmal aussehen?“, hatte er belustigt gefragt, als ihm sein befremdlich wirkendes Ebenbild im Spiegel erschienen war.

Danach hatte er sich am Set eingefunden und übertraf mit seiner Erscheinung alle Erwartungen des Regisseurs, der sich in seiner Wahl der Maskenbildnerin bestätigt fühlte.

„Gleich haben Sie es geschafft, Mr. Lockerty!“, sagte Estelle, als sie den Föhn zur Seite legte und Patrick vorsorglich eine Feuchtigkeitscreme auftrug, die sein Gesicht vor Trockenheit bewahren sollte, welche aufgrund der entfernten Theaterschminke zu erwarten war.

„Dann bis heute Abend, Miss Hockwind!“, sagte Patrick mit einem aufblitzenden Strahlen in den Augen, als er die Maske verließ.

„Ach ja! Bis heute Abend!“, erwiderte Estelle gelangweilt, so als würde sie ihm nur beiläufig ihre Aufmerksamkeit schenken.

„Der meint wohl, er bräuchte nur einmal mit seinen blauen Augen zu funkeln und ich würde ihm gleich zu Füßen liegen! Nun, da hat er sich aber gewaltig getäuscht!“, sprach Estelle in sich hinein.

Nachdem Patrick die Garderobe verlassen hatte, machte er sich zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof von Tilbury. Und während er, mit sich und seiner Leistung zufrieden, dorthin schlenderte, eilten zahlreiche Passanten an ihm vorbei, ohne Notiz von ihm zu nehmen. Keinem einzigen dieser entgegenkommenden Menschen hatte er auch nur die leiseste Spur eines Blickes entlocken können, der verriet, dass man ihn kannte.

„Weshalb sollten Sie auch?“, fragte er sich belustigt, obwohl eine nicht nachzuvollziehende Enttäuschung in seiner selbstironisch gestellten Frage mitgeschwungen war.

Patrick hatte seine Rolle glänzend gespielt und er fühlte sich aufgrund seines schauspielerischen Talents bereits wie ein vom Publikum gefeierter Star. Nur, dass das Publikum fehlte und er auf seinem Weg zum Bahnhof lediglich, wie jeder andere auch, ein unbekannt daher schreitender Passant war.

Im überfüllten Zug von Tilbury nach Shoreditch machte Patrick die gleichen Erfahrungen. Er stand inmitten eines Pulks von Leuten, von denen er ständig angerempelt wurde. Alle stierten apathisch vor sich hin oder wirkten durch das Beschallen der Musik, die lautstark in den Kopfhörern ihrer Walkmans dröhnte, wie in Trance versetzt. Und niemand, außer einer drallen Blondine mit Schmollmund, schenkte Patrick Beachtung. Diese hatte sich während der gesamten Fahrt, ohne zu wissen wer er war, lediglich durch sein gutes Aussehen animieren lassen, ihm verführerisch zuzuzwinkern. Patrick ignorierte dieses wilde Augenklimpern und stieg, am Zielbahnhof angekommen, erleichtert aus, obwohl er sich bis zur Tür mühsam durchboxen musste und sie nur im letzten Augenblick erreicht hatte, bevor sie im Begriff war, sich unumkehrbar zu schließen.

Vom Bahnhof aus waren es nur ein paar Minuten zu Fuß bis zu seinem Apartment, welches in der Camlet Street, die sich in der Nähe des „Arnold Circus“ befand, lag. Patrick kam gebürtig aus Shoreditch, einem Ortsteil von Hackney im nordöstlichen London und er lebte gerade mal ein paar Straßen weiter von seinem Elternhaus entfernt, welches sich in der Montclare Street befand.

„Hoffentlich zieht er nicht so weit weg!“, hatte seine Mutter Joyce, in Befürchtung dessen, zu ihrem Mann gesagt, als Patrick vor sechs Jahren, um auf eigenen Beinen stehen zu wollen, auf Wohnungssuche gegangen war.

Sehr zu ihrer Erleichterung hatte sich Patrick, eng verbunden mit dem Stadtteil, in dem er geboren wurde, entschlossen, in der Nähe seiner Eltern zu bleiben. Er war mit einer vollständigen Abnabelung im zarten Alter von achtzehn Jahren doch noch mit zu vielen Ängsten vor dem Erwachsenwerden behaftet.

Kurz vor Erreichen seines Apartments, welches sich im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses befand, sprang Patrick in einem nahen gelegenen Chinarestaurant hinein und bestellte dort eine Portion „Chop Suey“ zum Mitnehmen. Nach einer Wartezeit von ungefähr zehn Minuten überbrachte ihm einer der Kellner die zubereitete Speise, ohne Patrick besondere Beachtung zu schenken.

„Nicht als Schauspieler erkannt zu werden ist eine Sache, als Stammgast ignoriert zu werden eine andere!“, ärgerte Patrick sich beim Hinausgehen.

Zu Hause angekommen, machte er sich sofort über sein Essen her, hatte er am Filmset doch schon mit aufgekommenen Hungerattacken gekämpft und wie sich nach dem heruntergeschlungenen Mahl herausstellte, zudem auch mit einer nicht mehr zu unterdrückenden Müdigkeit. Fast schon im Sitzen schlief er auf seinem Sofa ein und sackte nach einer Weile kraftlos zur Seite, um in einen komatösen Schlaf zu verfallen.

Stunden später wachte Patrick triefnass wieder auf und musste sich erst einmal orientieren, wo er war. In einem aufwühlenden Traum war er als Berühmtheit, nachdem Paparazzos ihn wie ein wildes Tier gejagt hatten, in einer ausweglosen Hofeinfahrt gestellt worden. Geblendet vom Blitzlichtgewitter, welches er schützend mit einer ausgestreckten Hand abzuwehren versuchte, geriet er in eine Panikattacke, die ihn in Schweiß gebadet aus seinem Alptraum riss.

Patrick schoss wie eine Rakete hoch, schüttelte sich kurz und rannte in sein Badezimmer, um sich zu duschen. Dabei durchquerte er sein winziges Wohnzimmer, welches immer noch mit der spartanischen Einrichtung ausgestattet war, die er sich während seines Studiums nach und nach von Trödelmärkten zusammengestellt hatte. Seine Eltern wollten damals die Finanzierung seiner Wohnungseinrichtung übernehmen, stießen dabei jedoch auf seine Ablehnung, da er die Ansicht vertrat, dass sie ihn mit der Übernahme der Mietkosten ausreichend genug unterstützen würden.

Nachdem Patrick sich geduscht und umgezogen hatte, verließ er sein Apartment und ging zur Liverpool Street Station, um dort die Tube nach Tottenham Court Road Station zu nehmen. Ein paar Häuserblocks davon entfernt befand sich das „Busters“, eine Künstlerkneipe in der Dean Street, mitten in Soho, in die Martin Harpshore eingeladen hatte.

Auf Martins Veranlassung hin, war die Bar für die angekündigte geschlossene Gesellschaft, die aus der gesamten Filmcrew bestand, reserviert worden und als Patrick dort ankam, lief die Party schon auf Hochtouren. Bis auf ihn waren alle, die in irgendeiner Form mit der Produktion des Films zu tun hatten, erschienen und vom Sog der Feierlaune bereits erfasst worden.

„DA IST JA UNSER NEUER SHOOTINGSTAR!“, schrie Martin euphorisch auf, als Patrick die Bar betrat und sogleich von den übrigen Partygästen jubelnd umzingelt wurde.

Sofort wurde er genötigt, einen Champagner nach dem anderen zu trinken, um den bereits angestiegenen Alkoholpegel der anderen aufzuholen. Auch wenn Patrick sich dagegen zu wehren versuchte, gelang es ihm nicht, der Belagerung zu entkommen, die ihm dieses, nach seinem Geschmack, eklig prickelnde Zeug unaufhörlich einflößte.

„GUT GEMACHT!“, schrie Martin wohlwollend in Patricks Ohr und schlug ihm, dem Alkohol geschuldet, so kräftig auf die Schulter, dass dieser in die Knie ging.

„DAS WIRD UNSER DURCHBRUCH!“, brüllte Martin ihm noch hinterher und sah sich als Regisseur, und Patrick als Hauptdarsteller, bereits als erfolgreiche Newcomer in der Filmbranche.

„Nun lasst mich doch mal zu Luft kommen!“, sprach Patrick in die ausgelassen feiernde Runde und befreite sich von unzähligen Armen, die ihn pausenlos umschlangen und ihm das Gefühl bereiteten, von ihnen langsam und allmählich erstickt zu werden.

„SCHLUSS JETZT DAMIT!“, schrie Patrick in die Menge und warf die Arme, die ihn erneut ergreifen wollten, energisch zurück, was jedoch als spaßige Partyeinlage aufgefasst wurde, um ungehindert fortzufahren.

Patrick blieb schließlich nichts anderes übrig, als sich zu Boden fallen zu lassen und zwischen hüpfenden Beinen hindurchzukriechen, um dann auf geradem Weg ins rettende Klo zu flüchten.

Dort angekommen, schloss er sich unbemerkt ein und vernahm sogleich eindeutige Geräusche aus der Nachbarkabine, aufgrund dessen er sich kräftig auf die Lippen biss, um seinen aufkeimenden Lachkrampf zu unterdrücken.

Roger war einer der Tontechniker und er hatte sich mit Mia, einer Mitarbeiterin aus dem Fundus, hierhin zurückgezogen, um ihre beidseitig auf der Tanzfläche hitzig entfachte Begierde zu befriedigen. Dabei stießen sie im Rhythmus ihrer Lust lautstöhnend gegen die instabile Trennwand, so dass Patrick befürchtete, die Toilettenkonstruktion würde jeden Moment zusammenbrechen.

Um dem zu entkommen, beschloss Patrick sich zurück in die Bar zu begeben und sich von der dort unaufhörlich steigenden Partystimmung mitreißen zu lassen.

„Das Ganze hier ist nur zu ertragen, wenn ich mitmache“, dachte er und reihte sich grölend in einen Kreis ein, der sich auf dem Parkett, zum Rhythmus der Musik, wild hopsend, drehte.

Nach der dritten Runde entdeckte Patrick in einem anderen sich drehenden Kreis, Estelle, die hüpfend ihre Beine hochwarf und damit ihren Pagenkopf rhythmisch zum Wippen brachte. Patrick versuchte ihr zuzuwinken, doch ohne Erfolg, hielt man ihn festgepackt, ohne das er es schaffte, einen seiner Arme zu lösen. Und so rasten die beiden sich drehenden Kreise immer wieder karussellartig aneinander vorbei und Patrick gelang es nicht, sich aus der Umklammerung zu befreien, um zu Estelle hinüberzuwechseln.

Irgendwann wurde die Musik ruhiger und dementsprechend lösten sich auch die hopsenden Formationen auf. Patrick sah, dass Estelle sich zu einer Couch im hinteren Bereich der Bar bewegte und wollte ihr folgen. Doch jeder, der ihm auf dem Weg dorthin entgegenkam, hielt ihn in irgendeiner Form davon ab. Frauen sowohl als Männer tätschelten seine Wangen, legten ihre Arme um ihn und drängten ihm Küsse auf. Helen, eine gewöhnlich wirkende Rothaarige war von ihm so angetan, dass sie sein Gesicht mit beiden Händen ergriff und er keine Chance hatte, ihrem Kussmund, der unaufhaltsam auf seine Lippen zusteuerte, auszuweichen. Andrew, der in „Der Todsünde so nah!“ eine unbedeutende Nebenrolle spielte, wagte einen plumpen Anmachversuch, indem er Patrick kräftig ans Gesäß packte und ihm dabei einladend tief in die Augen schaute. Nachdem Patrick es endlich geschafft hatte, sich durch die hemmungslos gewordene Partygesellschaft zu kämpfen, schmiss er sich neben Estelle auf die Couch und atmete tief aus.

„Das ist erst der Anfang!“, sprach sie.

„Wie?“

„Der Anfang, Mr. Lockerty! Bald werden Sie sich vor Fans, die Sie bedrängen, nicht mehr retten können!“, erklärte Estelle.

„Dann schaffe ich mir halt Bodyguards an!“, witzelte er.

„Und das wäre dann das Ende ihrer persönlichen Freiheit!“, antwortete sie ernüchternd.

„Miss Hockwind! Wollen wir das mit der förmlichen Anrede nicht lieber lassen?“, fragte Patrick, nachdem eine Bardame ihnen zwei Gläser Champagner gebracht hatte, die er nutzen wollte, um das Eis zu brechen.

„Mr. Lockerty! Sie müssen wissen, dass ich das bei Schauspielern grundsätzlich ablehne. In meiner Tätigkeit als Maskenbildnerin betrachte ich die Akteure lediglich als meine Objekte, an denen ich arbeite. Und um meine Arbeit gut zu machen, brauche ich eine gewisse Distanz.“, antwortete Estelle kühl.

„Ausnahmslos?“

„Warum sollte ich gerade bei Ihnen eine Ausnahme machen?“

„Vielleicht weil ich anders bin als die anderen!“

„Ach! Sie fühlen sich also jetzt schon als etwas Besonderes? Dachte ich es mir doch!“, entgegnete Estelle, die sich in ihrer Meinung über emporkommende Stars bestätigt fühlte.

„Wie meinen Sie das?“, wollte Patrick wissen.

„Hören Sie, Mr. Lockerty! Angehende Schauspieler sind doch alle gleich! Ein erster Erfolg, und schon steigt Ihnen dieser zu Kopf!“, verallgemeinerte Estelle.

„Aber wie wäre es denn, wenn ich jemanden bräuchte, der mich vor einer solchen Dummheit bewahrt? Jemanden wie Sie zum Beispiel! Müsste man in dem Fall denn nicht für ein inniges Verhältnis sorgen, welches jegliche Art von Förmlichkeiten ausschließt?“, fragte Patrick verschmitzt.

„Ach! Wissen Sie…!“, formulierte Estelle eine schlagfertige Antwort, die jedoch jäh unterbrochen wurde.

„Also hierhin hast Du Dich verkrochen!“, rief Grace, eine dralle Schönheit, die sich torkelnd den Weg zu Patrick bahnte und dabei fast über ihre Füße fiel.

„Böser, Böser Patrick!“, schimpfte sie mit hängenden Augenlidern und betont erotischer Stimme.

Dann warf sie sich neben ihn, um ihm Worte ins Ohr zu säuseln, die er nicht verstand.

Mittlerweile hatte sich die wilde Party zu einer Orgie entwickelt und wenn Roger und Mia sich für ihr Stelldichein, aus einem noch vorhandenen Schamgefühl heraus, aufs Klo zurückgezogen hatten, dann ging es jetzt in den schummrigen Ecken der Bar hemmungslos zur Sache.

„Du gehörst jetzt mir!“, fauchte Grace verrucht, während sie sich auf Patricks Schoß setzte und ihm ihre Brüste ins Gesicht drückte.

„Also mir reicht´s jetzt!“, sagte Estelle und rannte, sich durch die Menge boxend, zum Ausgang.

„HEY! BITTE WARTEN SIE! ICH KOMME MIT!“, schrie Patrick ihr hinterher und schmiss Grace im hohen Bogen zur Seite.

„HIER GEBLIEBEN!“, schrie diese und krallte sich an seinem Hosenbein fest.

„LOSLASSEN!“, brüllte Patrick und befreite sich ziemlich unliebsam aus ihren Klauen.

„WARTEN SIE!“, rief er erneut.

„Wo willst Du denn hin?“, hauchte eine weitere Blondine, die aus dem Nichts erschienen war und ihre Arme wie Tentakeln um Patricks Hals legte.

„Zisch ab!“, ging Andrew diese Femme Fatal, für die sie sich hielt, an und löste Patrick aus ihren Fesseln.

„Du stehst doch auf Kerle!“, sagte er ohne jeglichen Zweifel und griff Patrick zwischen die Beine.

„Aber nicht auf Dich!“, blaffte dieser zurück und versetzte Andrew einen kräftigen Stoß, der ihn zu Boden zwang.

„SO WARTEN SIE DOCH!“, schrie Patrick wieder und wieder, während unzählige Hände ihn fassten, um ihn zurückzuhalten.

Plötzlich griff Patrick sich an den Hals und rang nach Luft, die ihm mit einem Mal ausgeblieben war. Schweißperlen traten auf seine Stirn und ein Ausdruck von Panik konnte man seinem verzerrten Gesicht entnehmen. Sein Kopf lief feuerrot an und seine Augen quollen über, während ein Wasserfall an seinem Rücken herunterstürzte. Dann fiel er auf die Knie und drohte zu ersticken.

„LASST MICH DURCH!“, schrie Estelle, die dieses Szenario noch mitbekommen hatte, bevor sie im Begriff war, das „Busters“ zu verlassen.

„Was ist mit Ihnen?“, fragte Sie besorgt, während sie Patricks Hemdkragen öffnete; erhielt jedoch keine Antwort.

„RUFT EINEN KRANKENWAGEN!“, schrie sie daraufhin durchs Lokal.

„Nein! Nicht!“, stieß Patrick heraus.

„Aber…!“, wollte Estelle widersprechen.

„Raus! Bitte! Raus!“, presste Patrick stoßweise aus seinem Mund.

„Kann mir jemand helfen?“, fragte Estelle in die Runde, woraufhin Andrew sich sofort bereiterklärte.

Dieser packte Patrick unter die Arme und zog ihn bis vor die Tür, wo er ihn auf einen Mauervorsprung absetzte.

„Danke!“ sagte Patrick während er immer noch nach Luft rang.

„Keine Ursache!“, erwiderte Andrew.

„Und wegen eben! Das tut mir wirklich leid! Ich weiß nicht was in mich gefahren ist!“, fügte er noch hinzu.

Patrick, keines weiteren Wortes fähig, gab Andrew mit einem Wink zu verstehen, dass er seine Entschuldigung annehmen würde.

„Geht´s besser?“, erkundigte sich Estelle, woraufhin Patrick mit seinem Kopf nickte und ein Taschentuch hervorholte, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

„Sie können wieder reingehen! Ich kümmere mich um ihn!“, wies Estelle Andrew an, der sich auf dem Absatz umdrehte und verschwand.

„Hatten Sie einen solchen Anfall schon öfter?“, fragte Estelle, die sich immer noch um Patrick sorgte.

„Nein! Noch nie!“, antwortete er und vergaß dabei, dass er am frühen Abend ebenso schweißgebadet aus seinem Traum erwacht war.

„Dennoch sollten Sie einmal mit ihrem Arzt darüber sprechen!“, riet Estelle.

„Das ist lieb gemeint, aber es geht mit schon wieder besser!“, lehnte Patrick ab.

„Aber das könnten die Vorboten für eine ernsthafte Erkrankung sein!“, hielt Estelle dagegen, ohne das Patrick nochmal auf das Thema einging.

„Bitte! Können Sie auf ihrem Weg nach Hause einen Umweg machen und mich an meiner Wohnung absetzen? Ich übernehme natürlich die Kosten fürs Taxi!“, fragte Patrick, dessen Zustand sich langsam normalisierte.

„Kein Problem!“, sagte Estelle und winkte ein Taxi, welches sich ihnen näherte, heran.

„Bitte nach Shoreditch in die Camlet Street!“, wies Patrick den Fahrer an, während er sich erschöpft neben Estelle auf die Rücksitzbank fallen ließ.

„So ein riesen großer Umweg ist das für mich gar nicht. Ich wohne in der Britannia Row in Islington.“, stellte Estelle fest.

„Nun ja! Das halbiert natürlich mein schlechtes Gewissen!“, scherzte Patrick.

Als das Taxi in der Camlet Street einbog, zog Patrick sein Portemonnaie aus der Hosentasche und zahlte den Fahrpreis einschließlich eines beträchtlichen Trinkgeldes. Dann wollte er Estelle eine Zehnpfundnote zustecken, um ihr die Weiterfahrt zu bezahlen, was sie jedoch vehement ablehnte.

Nachdem das geklärt war, verabschiedete sich Patrick von Estelle und fiel beim Versuch, aus dem Taxi auszusteigen, benommen zurück auf seinen Sitz.

„Warten Sie! Ich helfe Ihnen!“, sagte Estelle und stieg aus, um Patrick stützend bis zu seiner Haustür zu begleiten.

„Wäre es nicht besser, Sie kämen noch mit hoch?“, fragte Patrick, nachdem er seine Wohnungsschlüssel hervorgeholt hatte.

„WIE BITTE?“, schrie Estelle ihn an.

„Das ist ja wohl der erbärmlichste Versuch, den man jemals an mir verübt hat!“, fuhr sie Patrick mit giftversprühenden Augen an.

„Aber nein! So war das nicht…!“

„Einen auf „hilflos“ machen und ich falle auch noch darauf rein!“, unterbrach Estelle ihn barsch.

„Bitte! So hören Sie doch!“, sprach Patrick vergeblich.

„Fast hatten Sie mich soweit, dass ich in Ihnen eine Ausnahme gesehen habe! Aber wissen Sie was? Sie sind sogar noch schlimmer als die anderen!“, polterte Estelle herum.

„Bitte!“, sprach Patrick erneut, kam jedoch nicht dazu weiterzusprechen, da er sich erneut an den Hals fasste und auf die Knie ging.

„Was ist denn nun jetzt?“, rief der Taxifahrer ungehalten aus dem Fenster, welches er halb heruntergelassen hatte.

„ENTWEDER HELFEN SIE MIR ODER SIE VERSCHWINDEN!“, schrie Estelle ihn an, woraufhin er aufs Gaspedal trat.

„Atmen Sie gleichmäßig ein und aus!“, forderte sie Patrick auf, während sie seine Schlüssel nahm und erst beim dritten Versuch, den richtigen fand.

Dann griff sie Patrick unter die Arme und half ihm durch ein knarzendes, mit Wandfliesen versehenes Treppenhaus, Stufe für Stufe bis in den zweiten Stock. Dort angekommen, zeigte Patrick, nach Luft ringend, den linken Gang hinunter auf die dritte Tür rechts, an der er am Rahmen lehnend stehenblieb und Estelle erneut die Suche nach dem richtigen Schlüssel überließ.

„Volltreffer!“, sagte sie beim ersten Ansatz und schaltete sogleich das Licht an, welches ihr einen kleinen Eingangsbereich offenbarte, von dem zwei Türen abgingen.

„Bitte gehen Sie voran!“, forderte Estelle Patrick auf, der sich an ihr vorbeischob und immer noch schwer atmend die Tür zum Wohnzimmer öffnete.

Zielsicher marschierte er zu seinem Sofa und ließ sich darauf völlig entkräftet fallen. Estelle war ihm sogleich gefolgt und begab sich zu einer Kitchenette, welche sich auf der linken Seite neben einer weiteren Tür befand.

„Bitte! Sie müssen ausreichend trinken!“, sagte Estelle, die Patrick ein großes Glas Wasser hinhielt, welches er, bis auf einen kleinen Rest, in einem Zug leerte.

Danach schlief er ein und ließ Estelle mitten in der Nacht, allein in einer für sie völlig fremden Wohnung, zurück. Diese fühlte sich in ihrer Situation gefangen und griff zum Telefon, um ein Taxi zu rufen. Doch dann bemerkte sie Patricks unruhigen Schlaf, der ihm ganz offensichtlich Alpträume bescherte, was sie dazu veranlasste, den Wählvorgang zu unterbrechen.

„Ich kann ihn doch in seinem Zustand nicht einfach so liegen lassen!“, hatte sie, sich ihrer Verantwortung stellend, gesagt.

Daraufhin schob Estelle in ihrer pragmatischen Art zwei Sessel zusammen und begab sich auf die Suche nach ein paar Wolldecken.

Die Tür neben der Kitchenette führte sie direkt ins Schlafzimmer, wo sie in Patricks Kleiderschrank fündig wurde. Kurzerhand ergriff sie zwei Decken und zog die Schiebetür des Schranks wieder zurück, bis das mannshohe Mittelteil in Form eines Spiegels direkt vor ihr zum Stehen kam. Dabei machte sie eine Entdeckung, mit der sie im Leben nicht gerechnet hatte.

„Ist das denn zu fassen? Das glaube ich jetzt nicht!“, stockte sie und blieb für einen Moment lang mit offenem Mund stehen.

Dann drehte sie sich im Zeitlupentempo um und musste ernüchternd feststellen, dass das Spiegelbild sie nicht getäuscht hatte.

„Was bist Du doch für eine Närrin? Du hast Dir das Funkeln in seinen Augen wieder einmal nur eingebildet!“, dachte Estelle, als sie voller Enttäuschung das gerahmte Poster über Patricks Bett betrachtete, auf dem ein kerniger Bauarbeiter, halbnackt abgelichtet war.

KAPITEL 2

DIE TRENNUNG

Zwischen unzähligen leeren Flaschen, manche nur halb, wachte Matthew Pridshort vom Gestank eines schalen Biergeruchs und von Erbrochenem in einem Partykeller eines Bekannten auf. Ein kleiner Lichtkegel hatte sich am Morgen durch den Kellerschacht gedrängt und die Ausmaße einer durchzechten Nacht erleuchtet, welche Matthew nun mit dröhnendem Kopf betrachtete. Um ihn herum lagen acht Saufkumpanen, die sich einen Wettkampf im Schnarchen lieferten, während sie zwischen Alkohol, Essenresten und dem, was die Mägen wieder hergegeben hatten, lagen, was Matthew erneute Würgereize bescherte. Schnell sprang er auf, rannte zur Toilette und spülte seinen Rachen mit reichlich kaltem Wasser, um ein weiteres Erbrechen zu verhindern. Anlass dieses Saufgelage war das Spiel England gegen Frankreich zur Fußball Europameisterschaft 1992 in Schweden, dass in Malmö stattfand und lediglich mit einem 0:0 unentschieden ausgegangen war.

Aschfahl im Gesicht und mit eklig schlechtem Atem machte Matthew sich auf den Weg, an der „St. Mildred´s Church“ in Tenterden vorbei, in die Station Road, wo die Eltern seines Freundes Brian wohnten.

„Sag mal! Spinnst Du?“, fragte Brian, der aufgebracht die Tür öffnete, nachdem er Matthew zuvor vergeblich gesucht hatte.

„Nicht mehr als Du!“, erwiderte dieser und drängte sich an seinem Freund vorbei, um in den Genuss eines ersehnten Kaffees zu kommen.

„Mein Gott! Du siehst ja fürchterlich aus!“, sagte Mary und zog Matthew am Ärmel in die Küche.

„Hier! Nimm einen kräftigen Schluck!“, sprach sie und reichte ihm einen Pott Kaffee, der so stark war, dass man einen Löffel hätte darin stellen können.

Brians Mutter mochte Matthew sehr, verkörperte er in ihren Augen das Idealbild eines Schwiegersohns, den sie sich gewünscht hatte. Die Typen vor ihm waren ihr allesamt zuwider gewesen, hatte es sich doch durch die Reihe hinweg um picklige Halbstarke gehandelt, die keine Manieren besaßen. Die Tatsache, dass Brian sich in keinen von ihnen verguckt hatte, war von Mary ein jedes Mal voller Erleichterung aufgenommen worden. Doch dann erschien Matthew auf der Bildfläche und der wies alle Anstandsformen auf, die aus einem gut situierten Elternhaus hervorgingen. Mit ihm wurde es zum allerersten Mal ernst um ihren Sohn, der sich unsterblich in Matthew verliebt hatte; eine Tatsache, die sie allerdings vor ein Problem stellte. Matthew war damals schon neunzehn Jahre alt, ihr Spross allerdings erst fünfzehn. Und Marys Ehemann Gavin war nicht willens diese Liaison zu akzeptieren, wodurch sie gezwungenermaßen zwischen zwei Stühlensaß. Sie teilte zwar Gavins Bedenken, war aber froh, dass Brian sich wenigstens einen anständigen Jungen ausgesucht hatte. Außerdem war ihr Sohn, der vor Liebe völlig dahingeschmolzen war, eh nicht mehr von Matthew abzubringen gewesen und sie, als liebende Mutter, konnte es auf keinen Fall zulassen, dass er durch die Ablehnung seines Vaters verletzt würde. Mit Engelszungen hatte sie ihren Mann bekniet, bis dieser nach langem Hin- und Her seine Zustimmung gab und Matthew den Zutritt in sein Haus gewährte, was ihm zuvor strikt untersagt worden war.

„Brichst Du meinem Jungen das Herz, breche ich Dir Dein Genick!“, musste Gavin unbedingt noch loswerden, als Matthew sich nach seinem ersten Besuch, der anlässlich des Endspiels der Fußball WM 1986 stattgefunden hatte, verabschiedete.

Dabei strahlte Gavin über beide Ohren hinweg und ließ Matthew im Unklaren darüber, ob diese Kampfansage ernst zu nehmen war oder nur scherzhaft ausgesprochen wurde. Seitdem waren sechs Jahre vergangen und während dieser Zeit hatte Matthew nie einen Anlass geboten, aufgrund dessen er sich vor dieser Drohung hätte fürchten müssen.

Doch nun war Matthew derjenige, dessen Herz kurz davorstand, zu zerbrechen.

„Ob Gavin seine Androhung auch zu meinen Gunsten auslegen wird?“, fragte er sich nachdem er ahnte, dass etwas zwischen ihm und Brian im Busch war.

„Lass uns nach Hause fahren!“, forderte Brian seinen Freund auf, der immer noch halbtrunken in der Küche hockte und sich seinen Kopf hielt.

Matthew und Brian wohnten zusammen in einem Apartment in Dartford, welches sie zwei Jahre zuvor bezogen hatten. Aufgrund der hohen Mieten waren sie gezwungen gewesen, ihren Wunsch, in London leben zu wollen, aufzugeben. Daher hatten sie beschlossen, auf eine Stadt auszuweichen, die eine Verkürzung ihrer Wegstrecke versprach. Alle, die Matthew und Brian kannten, hielten sie für ein hübsch anzusehendes Paar, dass unsterblich ineinander verliebt war. Beide maßen um die eins achtzig, waren durch und durch trainiert und galten als auffallend gutausstehend. Attribute, aufgrund dessen sie gut zueinander passten und sämtliche Blicke auf sich zogen, egal wo sie gemeinsam auftraten. Brian hatte pechschwarze Locken und Matthew eine blonde unbändige Löwenmähne, die er für gewöhnlich kurz trug. Aufgrund ihrer Gegensätze, die sich in ihrem Äußeren wie auch charakterlich zeigten, hatten sie sich gegenseitig wie zwei Magnete angezogen und sich daraufhin untrennbar miteinander vereint. So hatte es Matthew jedenfalls immer empfunden.

„Ich habe mir große Sorgen um Dich gemacht!“, sprach Brian nachdem sie zu Hause angekommen waren und er sich mit einer Tasse Tee auf die Couch gesetzt hatte.

„Warum? Du machst ja auch, was Du willst!“, antwortete Matthew schnippisch.

„Ich habe Dir aber zumindest gesagt, wo ich hinfahre, und ich bin zurückgekommen!“, widersprach Brian.

„Ich halt nicht! Du hast Dich einfach vom Acker gemacht und was Du kannst, kann ich schon lange!“, entgegnete Matthew bissig.

„Und dann fährst Du in unsere alte Heimat und besäufst Dich mit ehemaligen Schulkameraden bis zur Besinnungslosigkeit?“

„Warum nicht? Hat Spaß gemacht! Mache ich jetzt öfter!“, antwortete Matthew spitz.

„Matthew! Ich habe die halbe Stadt umgekrempelt, um Dich zu finden. Ich habe unseren gesamten Freundeskreis alarmiert. Und niemand ist auch nur auf die leiseste Idee gekommen, dass Du Dich in den Zug nach Tenterden gesetzt hast. Und meine Eltern wollte ich eigentlich nicht beunruhigen!“, erklärte Brian.

„Das brauchtest Du auch nicht! Ich kann gut auf mich selbst aufpassen!“, entgegnete Matthew trotzig wie ein Kind.

„Verstehst Du denn nicht? Ich bin vor Sorge um Dich umgekommen! Ich dachte…!“

„Was dachtest Du?“, unterbrach Matthew.

„Matthew! Ich war nicht bei Jolene, wie ich gesagt habe! Ich habe mich mit einem Typen getroffen! Genauer gesagt, mit Hendrik!“, gestand Brian.

„Und Du dachtest, ich hätte Dir hinterherspioniert?“, fuhr Matthew seinen Freund an.

„Ja! Und nicht nur das! Ich dachte, Du hättest Dir was angetan!“, ließ Brian verlauten.

„Was für ein Quatsch! Warum sollte ich?“, brauste Matthew auf.

„Matthew! Das mit Hendrik geht schon länger! Und das mit uns beiden funktioniert doch schon seit einer Ewigkeit nicht mehr!“

„Was soll das heißen?“, wollte Matthew wissen.

„Du musst doch zugeben! Wir haben uns völlig auseinandergelebt und uns schließlich verloren! Ich habe diese Tatsache lange Zeit ignoriert! Aber das kann ich jetzt nicht mehr!“, sprach Brian geknickt.

„Wie meinst Du das?“, fragte Matthew stutzig, da er nicht verstand, was Brian ihm infolgedessen sagen wollte.

„Ich werde Dich verlassen!“, enthüllte Brian mit einer unumkehrbaren Entschlossenheit.

„ABER WIESO?“, schrie Matthew erschrocken auf.

„Weil ich Dich nicht mehr liebe! Ich liebe Hendrik und ich ziehe zu ihm!“, sprach Brian in einer Endgültigkeit, die Matthew keine Chance ließ, Maßnahmen für eine Rettung ihrer Beziehung zu ergreifen.

„Wann?“, fragte Matthew kleinlaut.

„Heute noch!“, sagte Brian und holte seinen bereits gepackten Koffer aus dem Schlafzimmer.

„Den Rest hole ich nach und nach!“, ließ er Matthew wissen, bevor er die Wohnungstür öffnete, um danach ins Treppenhaus zu verschwinden.

„REISENDE SOLL MAN FÜR GEWÖHNLICH NICHT AUFHALTEN!“, brüllte Matthew ihm aufgebracht hinterher und schmiss die Tür hinter sich zu.

Für einen kurzen Moment bemerkte Matthew, dass Brian am unteren Treppenabsatz stehengeblieben war, doch er zögerte zu lange, um die Tür nochmal zu öffnen. Dann vernahm er weitere Schritte, die ihn Stufe für Stufe unwiederbringlich von seinem geliebten Brian trennten.

Noch verspürte er keinen Schmerz, doch die Erfahrung eines solchen, der kurz darauf an die Stelle seiner Wut trat und ihm das Herz brach, sollte er noch machen.

„Brian hat mich verlassen!“, schluchzte Matthew, der einen Tag später vor der Tür seiner ehemaligen Schwiegereltern stand und wie ein Schlosshund heulte.

„Junge! Nun komm erst einmal herein!“, sprach Mary, die von dieser Nachricht sichtbar ergriffen war.

„Erzähl mal! Was ist denn passiert?“, forderte Gavin Matthew väterlich auf, hatte er ihn doch mittlerweile tief in sein Herz geschlossen.

Matthew wusste nicht wohin mit seinem Kummer, stand er doch, nachdem seine Eltern vor Jahren nach Spanien ausgewandert waren, ziemlich alleine da. Und so wandte er sich in seiner Verzweiflung an Brians Eltern, die zwar einerseits gewillt waren, ihm beizustehen, doch andererseits und verständlicherweise ihrem Sohn wesentlich näherstanden.

„Matthew, mein Lieber! Es tut uns unendlich leid für Dich und glaube mir, wir würden alles in Bewegung setzen, könnten wir Dir in irgendeiner Weise helfen. Aber so wie Du, sind auch wir gezwungen, Brians Entscheidung zu akzeptieren.“, gab Mary ihm schweren Herzen zu verstehen.

„Du bist uns zu jeder Zeit herzlich willkommen! Wann immer Dir danach beliebt, uns zu besuchen; unsere Tür steht Dir immer offen!“, versicherte Gavin und schloss Matthew fest in seine Arme.

„Ihr habt mich stets wie einen Sohn behandelt! Dafür danke ich Euch!“, sprach Matthew und verließ das Haus, um zurück nach Dartford in seine Wohnung zu fahren, in der er sich zum ersten Mal in seinem Leben einsam und verlassen vorkam.

Die nächsten Tage verbrachte Matthew damit, sich seinem Schicksal hinzugeben und schaffte es nur gelegentlich, sich von seinem Sofa zu erheben. Stundenlang saß er da und stierte in seinem still gewordenen Apartment vor sich hin. Fast schon krankhaft horchte er auf jedes Motorengeräusch, das von vorbeifahrenden Autos herrührte, und in jedem glaubte er Brians Golf erkannt zu haben. Wie oft schon hatte er auf der Couch gesessen und das Herannahen von Brians Wagen, den dieser, wenn er von der Arbeit kam, in der Nähe des Hauses abstellte, vernommen. Kurz darauf war im Treppenhaus immer das Geräusch von Brians Schlüssel zu hören gewesen, woraufhin Matthew jedes Mal an die Tür gerast war, um seinen Freund freudestrahlend zu empfangen. In den letzten Tagen hatte Matthew das Motorengeräusch unzähliger Golfs vernommen, aber nicht ein einziges Mal mehr dieses sich anschließende und vertraute Geräusch des Schlüssels, auch wenn er seine Ohren noch so spitzte.

Tagsüber ging Matthew seiner Arbeit im Büro nach, doch er war nicht in der Lage, seinen Kummer zu überspielen. Am Mittagstisch, an dem er zuvor oft den Alleinunterhalter abgegeben hatte, hüllte er sich nur noch in Schweigen und übernahm lediglich die Rolle des Zuhörers.

„Ach Matthew! Lass den Kopf nicht hängen!“, sprach Nancy, die nicht mit ansehen konnte, wie ihr Kollege litt.

„Wir sind immer für Dich da!“, tröstete Molly den niedergeschlagenen Matthew, um ihn seelisch und moralisch aufzubauen.

„Weißt Du was, Matthew? Nimm einfach mich!“, sprach Howard scherzhalber und legte wohlwollend seinen Arm um ihn.

„Glaube mir, er ist es nicht wert!“, sprach Amber, die Mitleid mit Matthew hatte.

Von all den Versuchen seiner Kollegen, ihn trösten zu wollen, fühlte Matthew sich bedrängt, was dazu führte, dass er sich immer mehr zurückzog und sich schließlich isolierte.

Auch der Umgang mit seinen Freunden hatte sich mit dem Tag, an dem Brian ausgezogen war, stark verändert. Die Tatsache, dass sie sowohl mit Matthew als auch mit Brian befreundet waren, führte dazu, dass sie nicht wussten, wie sie sich den beiden gegenüber verhalten sollten. Demzufolge war ein lockeres Miteinander nicht mehr möglich und Matthew fühlte sich zunehmend unwohl in ihrer Gesellschaft, woraufhin er sich auch von ihnen distanzierte.

Die Telefonate mit seinen Eltern empfand Matthew alles andere als trostspendend, hielten sie ihm doch jedes Mal wohlwollend vor Augen, dass auch er dem richtigen Partner noch begegnen würde.

„Es gibt keine Hand voll, sondern ein ganzes Land voll!“, sprach seine Mutter verheißungsvoll, ohne dass es ihr gelang, ihren Sohn mit einer solchen Aussage aufzuheitern.

Und so telefonierten sie nur noch sporadisch, um sich über alltägliche Dinge auszutauschen, ohne dass Matthew sein Leid loswerden konnte, was er von seinen Eltern erfahrungsgemäß auch nicht erwartete.

„Setz Dich in den Flieger und komm uns besuchen! Das mediterrane Klima hier wird Dir guttun und Du kommst mal auf andere Gedanken!“, bot Matthews Vater ihm an.

„Ich überlege es mir!“, antwortete Matthew, was einer Absage gleichkam.

Noch nie hatte er sich seinen Eltern in persönlichen Angelegenheiten anvertrauen können. Egal um was es sich drehte; er wurde von ihnen stets mit Lösungsvorschlägen überschüttet, die ihn in seiner Situation, in der er sich gerade befand, völlig überforderten.

„Seid Ihr nicht mal in der Lage, mir einfach nur zuzuhören?“, schrie er sie oftmals an und rannte, sich unverstanden fühlend, in sein Zimmer und schmiss die Tür hinter sich zu.

Und so waren es, für ihn unbegreiflich, immer die Eltern anderer gewesen, die ein offenes Ohr für ihn hatten. Zu guter Letzt Brians Eltern, bei denen er sich stets aufgehoben fühlte, behandelten sie ihn wie ihren eigenen Sohn.

Durch die Trennung von Brian würde er auch sie verlieren, dessen war er sich sicher. Bei diesem Gedanken überkam Matthew ein Gefühl der Einsamkeit, welches er bislang nicht kannte. Dem geschuldet saß er verloren auf seiner Couch, trank eine Tasse Tee und erinnerte sich an die wilden Partys, die in diesem Apartment regelmäßig stattgefunden hatten. Mit Brian an seiner Seite ging es in der gemeinsamen Wohnung immer hoch her und Matthew hatte sich dabei stets lebendig gefühlt. Jetzt durchfuhr ihn ein Gefühl der Leere und sein Apartment, das sonst von lebhaftem Treiben bestimmt worden war, strahlte nun nur noch Trostlosigkeit aus. Und Matthew, der bisher vor Agilität strotzte, hatte das Gefühl, all seine Lebensgeister verloren zu haben.

Nachdem er stundenlang ins Leere stierend und von Trauer erfüllt auf seinem Sofa hocken geblieben war, übermannte ihn schließlich ein Überlebenstrieb, der ihn zwang, in seinem Inneren einen Schlussstrich zu ziehen. Auch wenn dieser nur von symbolischer Natur war und seinen wahren Gefühlen entgegenstand, sollte ein nicht aufzuhaltender Tatendrang, seiner tief empfundenen Wut, die Gefahr lief, vollends von Trauer überdeckt zu werden, Ausdruck verleihen.

„VERDAMMTER SCHEISSKERL! ICH KOMME AUCH OHNE DICH KLAR!“, schrie Matthew durch die Wohnung und rannte von blindem Aktionismus getrieben in den Keller, um sich mit Umzugskartons zu bewaffnen.

Im ersten Schritt räumte er Brians restliche Klamotten, die dieser zurückgelassen hatte aus dem Schrank, um sie zu verpacken. Mit jedem einzelnen Wäschestück, welches er in Händen hielt, verspürte er einen Stich, den ein Dolch ihm mitten ins Herz versetzte und ihm damit einen unerträglichen Schmerz zufügte, der seinen Körper von der äußersten Haarspitze angefangen bis hinunter zu seinen Füßen durchdrang.

„DIESER MISTKERL!“, schrie Matthew dabei laut heraus und rieb sich mit seinem Hemdärmel die Tränen, die unaufhörlich flossen, aus dem Gesicht.

„ICH HÄTTE DICH NIEMALS WEGEN EINES ANDEREN VERLASSEN!“, brüllte Matthew vor sich hin und stopfte Brians T-Shirts zusammengeknüllt in einen der Kartons, auch wenn er zuvor noch darauf geachtet hatte, dessen Kleidung ordentlich zu stapeln.

In einem weiteren Karton schmiss er wutentbrannt sämtliche gerahmten Bilder, auf denen er gemeinsam mit Brian zu sehen war. Dabei war es ihm völlig gleich, ob sie zu Bruch gehen könnten, was einigen dann, aufgrund der ungeheuerlichen Wucht, widerfuhr.

Im Badezimmer angekommen, schob Matthew vom Zorn gepackt sämtliche Utensilien, die Brian gehörten mit seinem rechten Unterarm in eine Plastikbox, die er anschließend fest verschloss. Gerade als er das Bad wieder verlassen wollte, entdeckte Matthew noch eine Haarbürste, die er vergessen hatte einzupacken, woraufhin er, um sie zu ergreifen, zitternd seine Hand ausstreckte. Einige von Brians schwarzen Locken hatten sich in ihren Borsten verfangen und waren nach dem Säubern hängengeblieben. Wie auf Knopfdruck wechselte Matthew beim Anblick dieser Bürste seine Gemütsverfassung und die zuvor aufgekommene Wut fand sich in einer tief empfundenen Traurigkeit wieder.

Matthew hatte Brians Haarpracht geliebt und bei jeder Gelegenheit, die sich bot, war er mit seinen Fingern durch dessen große Locken geglitten. Brian hatte ihn dabei stets angestrahlt und seinen Kopf genüsslich gegen seine Hand gedrückt.

In Erinnerung daran, hielt er die Bürste festumklammert vor sich und konnte den Blick darauf nicht wieder abwenden. Tränen schossen wie Fontänen aus ihm heraus und er hatte nur noch den einzigen Wunsch, sterben zu wollen.

Nach Matthews Empfinden waren er und Brian innerhalb ihres Freundeskreises das glücklichste Paar von allen gewesen. Dass Brian das vielleicht anders sehen könnte, war Matthew nie in den Sinn gekommen, hatte dieser ihm nie etwas Gegenteiliges zu verstehen gegeben.

„UND DANN STELLT MICH DIESER SCHWEISSKERL EINFACH VOR VOLLENDETE TATSACHEN!“, schrie Matthew erneut drauflos, da seine Wut wieder die Oberhand gewann und die Trauer rücksichtslos beiseiteschob.

In einem Kraftakt stapelte Matthew alle gepackten Kartons im Flur übereinander und benachrichtigte Brian, dass seine Klamotten zur Abholung bereitstünden.

Zwei Tage später stand Brian mit einem Transporter vor der Tür und klingelte, obwohl er noch seinen Schlüssel besaß. Er war alleine aufgetaucht; Matthew hatte jedenfalls, aus dem Fenster blickend, niemanden sonst im Führerhaus des Fahrzeugs entdeckt.

„Hey!“

„Hey!“

„Wie geht´s Dir?“, fragte Brian, der sich in seiner Haut sichtbar unwohl fühlte.

„Gut! Und selbst?“, antwortete Matthew mit verquollenen Augen.

„Auch!“

„Ich packe dann mal zusammen!“, sagte Brian, erleichtert darüber, dass er einer Aufgabe nachgehen konnte; war die Spannung, die zwischen ihm und Matthew herrschte, für ihn kaum auszuhalten.

„Ich überweise Dir für die nächsten sechs Monate die Hälfte der Miete! Bis dahin solltest Du Dir eine kleinere Wohnung suchen!“, teilte Brian seinem Ex mit und legte seinen Schlüssel auf die Kommode, die im Eingangsbereich der Wohnung stand.

Matthew war daraufhin keines Wortes fähig und stand zur Salzsäule erstarrt da. Wenn Brian ihm sein Herz nicht schon vorher gebrochen hätte, dann wäre es spätestens jetzt in diesem Moment geschehen.

„Halt die Ohren steif!“, sprach Brian und packte seinen letzten Karton, mit dem er hastig die Treppe hinunterlief.

Am Absatz angekommen, drehte er sich noch einmal um und schaute Matthew mit Tränen in den Augen an.

Auch wenn es seine Entscheidung war, sich von Matthew zu trennen, ging ihm der tatsächliche Vollzug doch entschieden mehr an die Nieren, als er gedacht hatte.

„Bitte komm zurück!“, formten Matthews Lippen lautlos, doch sie verstummten unausgesprochen in seinem Herzen.

Daraufhin stürzte Brian zu seinem Transporter, schmiss den Karton hinein und fuhr fluchtartig davon. Tränen schossen wie Sturzbäche über sein Gesicht und er manövrierte seinen Wagen, blind wie ein Maulwurf, quer durch die Straßen von Dartford.

Matthew blieb wie versteinert zurück und verstand die Welt nicht mehr. Hatte er auch vorher schon den Schmerz der Trennung empfunden, so wurde dieser erst jetzt durch die bewusstgewordene Endgültigkeit des Abschieds in einer nicht zu verkraftenden Weise spürbar.

Von da an zog Matthew sich zunehmend von der Außenwelt zurück; einzig seinem Beruf als kaufmännischerAngestellter vermochte er noch nachzugehen. Doch in seinem Privatleben entfernte er sich immer weiter von der Realität, indem er sich seinem stetig wachsenden Drang, sich in Tagträumen zu verlieren, vollkommen hingab. So sehr, dass ihm die Rückkehr in die Wirklichkeit immer schwerer fiel. Die Male, an denen er erst mitten in der Nacht in die Realität zurückfand, häuften sich derart, dass sein Zustand als besorgniserregend zu betrachten war.

Doch das hinderte Matthew nicht daran, wieder und wieder in seine Traumwelten abzutauchen, die ihm ein jedes Mal eine neue Variante seiner ausgeprägten Fantasievorstellung bot. Im Grunde bescherte sie ihm ein immerwährendes Glücksgefühl in Verbindung mit einem gutaussehenden Mann, der unsterblich in ihn verliebt war. Nur das dieser Mann sich stets verwandelte und sich der Ort der Glückseligkeit auf der Landkarte der Illusionen ständig verschob.

Die Inhalte der Träume, in der Matthew sich immer häufiger flüchtete, waren zumeist angeregt von Liebesfilmen, die er sich leidenschaftlich gerne im Abendprogramm ansah. Beim bloßen anschauen blieb es jedoch nie, durchlebte er diese Schmachtfetzen gefühlsmäßig mit allen Wirrungen, die man von einem guten Film in Sachen Liebe erwartete. Nicht selten verliebte Matthew sich unsterblich in den hübschen Hauptdarsteller, welcher daraufhin in seiner selbst erschaffenen Traumwelt erschien und ihn mit einer hingebungsvollen Liebe in den siebten Himmel katapultierte.

KAPITEL 3

DIE ENTTÄUSCHUNG

E in Jahrhundertsommer sorgte 1976 für Temperaturen, die bislang nur in den Tropen gemessen wurden und ganz Cornwall sah sich einer glühenden Hitze ausgesetzt, die die Bewohner flüchtend zu den nahegelegenen Stränden trieb, um sich dort in das erfrischende Nass der Ozeane zu stürzen. Porthgwidden war einer dieser Strände, der vom Port St. Ives aus, fußläufig in nur fünf Minuten zu erreichen war und wegen seines seichten Einstiegs vornehmlich von Familien und Schulklassen frequentiert wurde.

An einem Vormittag, an dem die Hitze wieder einmal im Begriff war, ein unerträgliches Maß anzunehmen, versammelte sich eine Schülertraube um das Thermometer der St. Ives Primary-School, welches im Schatten unterhalb des Dachs vom Eingang befestigt war. In der Schulordnung stand geschrieben, dass, wenn das Thermometer die 30 Grad Grenze überschreitet, den Schülern mit sofortiger Wirkung Hitzefrei eingeräumt werden muss. Auch wenn die meisten Schüler schon einmal die zehnfache Abschrift der Schulordnung als Strafarbeit aufbekommen hatten, war ihnen lediglich diese eine Vorschrift in Erinnerung geblieben, handelte es sich nämlich um die Einzige, die zu ihren Gunsten ausgelegt werden konnte.

Mit der Nase vorn stand Oliver Mayson vor der Messeinheit und beobachtete den Anstieg der Quecksilbersäule, um seinen Schulkameraden in regelmäßigen Abständen die Gradzahl zuzurufen, die unaufhaltsam weiter stieg.

„GLEICH IST ES SOWEIT!“, brüllte er mit einem Mal, woraufhin die Schüler zusammenrückten und ihre Hälse reckten, um über Olivers Schulter hinwegzugucken.

„HITZEFREI!“, schrie er kurz darauf, als das Thermometer 30,1 Grad anzeigte und er die Information, ohne auch nur einen Bruchteil einer Sekunde abzuwarten, hinausposaunte.

Oliver war ein neunjähriger Junge mit blonder Mähne und braunen Augen, der nur allzu gerne im Mittelpunkt stand. Nun, nachdem er sich der Grundlage seiner Forderung sicher war, preschte er mit einer Schülerschar im Schlepptau nach vorne, um das Büro des Direktors aufzusuchen.

„Mr. Piper! Ich mache Sie auf Punkt 10 Absatz 2 der Schulordnung aufmerksam, die besagt, dass ab einer Temperatur von 30 Grad, den Schülern Hitzefrei zu gewähren ist. Ich fordere Sie nun auf, sich der Tatsache, dass diese Grenze bereits überschritten ist, zu vergewissern und dass Sie der Vorgabe der Schulordnung entsprechend nachkommen!“

„Nun! Junger Mann!“, sprach Mr. Piper, ein bärtiger Mann jenseits der vierzig, der mit exakt gescheiteltem Haar kerzengerade hinter seinem Schreibtisch saß.

„Dann solltest Du aber auch wissen, dass es im Ermessen der Schulleitung liegt, wie dieser von Dir erwähnte Passus umzusetzen ist. Er besagt nämlich nicht, dass wir die Schüler grundsätzlich vom Unterricht befreien müssen. Es ist lediglich zu gewährleisten, dass sie nicht den Raumtemperaturen der Klassenzimmer ausgesetzt sind!“, belehrte der Direktor seinen forsch auftretenden Schüler.

„Aber natürlich weiß ich das! Ich kann ja lesen! Dennoch fordert die Schulordnung Sie zum Handeln auf! Also! Was werden Sie jetzt veranlassen?“, fragte Oliver in seiner altklugen und vorlauten Art, die von seinen Eltern unterstützt wurde, lag es in deren erzieherischen Absicht, ihren Sohn mit dem nötigen Durchsetzungsvermögen auszustatten, welches er für ein zielstrebiges und erfolgreiches Leben benötigen würde.

„Wartet draußen auf dem Schulhof auf Eure Lehrer! Ihr werdet mit Ihnen in geschlossenen Gruppen zu Porthgwidden Beach gehen. Dort schreibt Ihr einen Aufsatz über die klimatischen Bedingungen in Cornwall, während Ihr Euch zwischendurch beim Schwimmen abkühlen könnt!“

„Nun! Ich werde mich mit meinen Schulkameraden zurückziehen, um mich mit ihnen zu beraten! Aber ich denke, Ihr Vorschlag ist durchaus annehmbar!“, sprach Oliver, so als wäre der Direktor auf seine Zustimmung angewiesen.

„Da bin ich aber froh! Ich danke Dir für Dein Entgegenkommen!“, erwiderte Mr. Piper, der Oliver wegen seiner direkten und aufgeweckten Art, die er an seinem eigenen Sohn vermisste, mochte.

„Also hört mal her!“, rief Patricia Lester, die als Olivers Klassenlehrerin den Auftrag des Direktors erhalten hatte, mit den Schülern an den Strand zu gehen, hatten diese ihre Schwimmsachen aufgrund der langanhaltenden Hitzewelle stets dabei.

„Einmal durchzählen und dann geht´s los!“, sprach sie zu ihren Schutzbefohlenen, während sie ihr feuerrotes Haar zu einem Zopf band, der ihr sommersprossiges Gesicht zur Geltung brachte.

Oliver hatte ein besonders inniges Verhältnis zu seiner Klassenlehrerin. So dachte er jedenfalls, auch wenn Mrs. Lester bemüht war, Ihre Schüler gleichzuhalten. Er war schon öfter nach dem Unterricht bei ihr zu Besuch gewesen, um mit ihrer Tochter Sammy zu spielen. Sammy war eine blonde und pausbackige, durch und durch verwöhnte Göre, die ihren Oliver schon im zarten Alter von acht Jahren heiraten wollte. Sehr zum Ärgernis ihrer Mutter hatte sie in ihrem ständig wachsenden Ideenreichtum die Küchengardine aus der Schiene gerissen und lief mit ihr als Braut verschleiert durch St. Ives. Oliver trat an einen Kaugummiautomaten heran und zog nach mehrmaligen Versuchen einen Plastikring heraus, den er seiner Angebeteten mit einem lautstark verkündeten Ehegelübde an den Finger steckte. Die Ehe hielt allerdings nur zwei Tage, da Sammy ihrem frisch angetrauten in ihrer verzogenen Art eine hysterische Szene machte, die Oliver kurzerhand mit einer schallenden Ohrfeige beendete. Die Scheidung verlief daraufhin ohne Hinzuziehung ihrer Anwälte und ohne eine angemessene Trennungsphase, da Mrs. Lester sowohl Oliver als auch ihre Tochter am Arm packte und gleichermaßen schüttelnd zur Ordnung rief. Danach reduzierten sich die Treffen auf ein rein platonisches Freundschaftsverhältnis, war ihre feurig entfachte Liebe durch den unschönen Zwischenfall mit einem Mal erloschen. Dennoch träumte Oliver noch wochenlang von seiner geliebten Sammy und stellte sich in seiner Fantasiewelt vor, wie er als Prinz hoch zu Ross mit seiner Prinzessin durch sein Königreich ritt und vom Volk bejubelt wurde.

„Mrs. Lester?“, fragte Oliver, als er auf dem Weg zum Strand neben seiner Lehrerin herging, so wie er es immer tat, wenn diese mit ihrer Klasse unterwegs war.

„Was gibt´s?“, wollte sie wissen und schaute hinab auf ihren anhänglichen Schüler, der wie ein Pferd zu galoppieren begann.

„Kann ich beim nächsten Mal mein Pferd mitbringen? Ich würde viel lieber am Strand reiten als im Meer schwimmen!“

„Wie heißt denn Dein Pferd?“, fragte Mrs. Lester, die genau wusste, dass Oliver keines besaß.

„Thunderbolt!“, antwortete er mit einem aufblitzenden Leuchten in den Augen.

„Weißt Du was? Wenn wir wieder einmal einen Ausflug machen, dann fragen wir Deine Eltern, ob Du Thunderbolt mitnehmen darfst! Vielleicht erlauben Sie es Dir ja!“

„Wissen Sie, Mrs. Lester? Thunderbolt ist ein außergewöhnliches Pferd! Meine Großeltern haben es mir geschenkt! Ich habe schon zahlreiche Turniere mit Thunderbolt gewonnen!“

„Oh! Gratuliere! Dann sind Deine Großeltern bestimmt mächtig stolz auf Dich!“, sprach Mrs. Lester mit dem Wissen, dass Olivers Großeltern schon vor Jahren gestorben waren.

„Oh ja! Das sind sie! Opa trainiert mich und Thunderbolt jeden Tag!“, sprach er erhobenen Hauptes.

Dann nahm er Mrs. Lesters Hand und spazierte wortlos mit ihr weiter, bis sie nach einer weiteren Biegung den Strand erreichten.

Oliver der Lüge zu bezichtigen wäre zwecklos gewesen, war er sich derer, in dem Moment, wenn er sie verbreitete, nicht bewusst. Für ihn entsprachen seine Geschichten der Wahrheit, zumindest so lange bis er eine Neue erfand. Seine Fantasie war nahezu grenzenlos und hatte seine Eltern einst in beunruhigender Weise aufmerksam werden lassen. In einem klärenden Gespräch mit Mrs. Lester waren sie jedoch übereingekommen, dass, solange Oliver sich nicht allzu weit von der Realität entferne, sie ihn in seiner Fantasiewelt belassen. Da an Oliver keinerlei weitere Auffälligkeiten festzustellen waren und seine schulischen Leistungen als überdurchschnittlich gut angesehen werden konnten, verfolgte man seine kleinen Geschichten mit einer entsprechenden Wachsamkeit, jedoch ohne diesen eine übertriebene, von Sorge getragene Bedeutung beizumessen.

Fünf Jahre später, die anderen Jungs prahlten schon mit ihren ersten Liebeserfahrungen, war auch Oliver der Meinung, er müsse sich eine Freundin zulegen. Es war ja nicht gesagt, dass alle so kratzbürstig und verzogen waren wie Sammy. Die hatte ihm zwischenzeitlich den Rücken gekehrt und ging mit seinem besten Freund Todd.