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Dieses Buch ist gemeinsam mit Jugendlichen entstanden. Denn wer weiß besser, wie es Jugendlichen in der Zeit der Pubertät geht und was sie unterstützen kann, als sie selbst? Es ist ein soziales Projekt, in dem sich Menschen aus völlig verschiedenen Bereichen zusammengefunden haben: Promis, Mediziner, Psychotherapeuten, Influencer, Sportler, Yogalehrer, Unternehmer und eben die Jugendlichen selbst. Sie alle haben sich Zeit genommen, um mit dir ihre Erkenntnisse zu teilen. So entstand eine Werkzeugkiste mit hilfreichen Tools für dein Selbstwertgefühl. In einer parallel erzählten Story geht es um das Mädchen Felicy, das auf dem Weg ist, erwachsen zu werden. Und das ist manchmal ganz schön anstrengend - vor allem, wenn man mit seiner durchgeknallten Ökomama in Berlin-Mitte lebt und sich unglücklich verliebt.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2021 Jacqueline Draheim-Frank
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Instagram: @yiyoja2016, E-Mail: [email protected]
Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Paperback: 978-3-347-28639-9
ISBN e-Book: 978-3-347-30381-2
Lektorat: Alexandra Heidenreich
Umschlaggestaltung: Heidrun Lutz
Layout und Satz: Eva Lisette Zahneißen
Illustration der Karten (S. 286 und 295): Theresa Grieben
Technische Beratung: Walter Greulich
Jacqueline Draheim-Frank
ONLINE MIT MIR
SELBST
Eine Story und Inspirationen von Profis und Promis als Geschenk für dein Selbstwertgefühl
Inhalt
Einleitung: Was? Wer? Warum?
Happy Hippo
Bene
Der unfaire Deal
Weiterer Psst-Eintrag – alles nervt
Immer noch genervt
Infoteil: Chakren, Energie, Spiritualität, Esoterik – was soll das alles?
Der Deal gilt
Infoteil: Ätherische Öle und Wellnesstipps von der Expertin Katharina Dauenhauer
Geeeääährne
Die erste Yogastunde: Bikiniworkout – oder was?
Ein paar Teens stellen sich vor
Infoteil: Der achtgliedrige Pfad
Der Plan
Yogastunde Nummer zwei – total sinnvoll, ist trotzdem langweilig
Okay, ich bin dann mal offen für Mums Freund
Infoteil: Ganz schön komplex, unser Körper. Ein Interview mit dem Mannschaftsarzt von Hertha BSC, Dr. Ulrich Schleicher
Meine Mum ist manchmal auch nur ein verliebtes Mädchen
Infoteil: Vegan – was bedeutet das und wieso überhaupt? Text von Mike Bachmann
Zwei Teens erzählen: Wir sind Vegetarier. Text von Annalu Grunwald und Eva Wolf
Infoteil: Was genau ist Buddhismus?
Die dritte Yogastunde – Körperaufrichtung und Selbstbewusstsein
Infoteil: Die richtige Haltung
Vierte Yogastunde, erledigt – krasse Bauchübungen, aber geil
Infoteil: Ist Zucker nun wirklich so ein Drama? & Rezepte für Naschkatzen
Infoteil: Effektive Bauchmuskelübungen
Gedanken über das Denken
Eddy und Franzi
Dad
Yogastunde Nummer fünf: Chemie und Säbelzahntiger
Sanssouci und ein Verkuppelungsversuch
Infoteil: Interview zum Thema Ayurveda & Jugendliche mit Bettina Hartmann
Gedankenströme
Yogastunde Nummer sechs: Krass, ich glaube, ich war im Flow
Kopfstand und Kalenderweisheiten
Yogastunde Nummer sieben – sexy Bum
Infoteil: Yogische Atmung & eine super Übung bei Nackenverspannungen
Der More-sexy-Plan
Infoteil: Rezepte für leckeres & gesundes Essen
Das will ich nicht!
Zu den Waffen
Geheimagentin in der Umkleide
Infoteil: Trainingsplan für Anfänger
Intention: niedere Beweggründe
Dicke Elefantentränen und piksende Mücken
Ego oder Liebe?
Das Leben geht weiter
Inzwischen schon: Yogastunde Nummer zehn
Infoteil: Der Sonnengruß A zum Mitmachen
Und manchmal ist wichtig unwichtig und unwichtig wichtig
Es ist so weit: die letzte Yogastunde und der Polarstern
Meditationsgeschichte
Die Party, Promis und die Frage, was im Kühlschrank nicht fehlen darf
Frage: Was möchtest du Jugendlichen von deiner Lebenserfahrung mitgeben? Promis und weitere inspirierende Menschen antworten
Was möchte ich dir mitgeben? Resümee meines Herzensprojekts
Schatzkarte
Tools-Land
Workbook: Online mit mir selbst
Infoteil: Therapie. Ein Interview mit der Diplompsychologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Christiane Werber
Einleitung: Was? Wer? Warum?
Warum dieses Buch?
Dieses Buch ist entstanden, weil ich es so gern in meiner Pubertät und in der Zeit meiner Selbstfindung unterstützend an meiner Seite gehabt hätte. Ein Buch, das dabei hilft, Antworten auf wesentliche Fragen des Lebens zu finden, ohne belehrend zu sein; das dem Leser neue Welten erschließt, ohne ihm vorgeben zu wollen, was das für ihn Richtige ist; eine Orientierungshilfe für stürmische Zeiten, die alles enthält, was man braucht, um seinen inneren Herzenskompass zu entdecken und ihm zu folgen.
Das Heranwachsen zu einem Menschen, der als erwachsen bezeichnet wird, ist so eine herausfordernde Zeit: Es bedeutet das Meistern von komplexen Entwicklungsaufgaben. Körperliche Umbauprozesse mit teilweise asynchronen Wachstumsschüben können zu motorischen und mentalen Unsicherheiten führen. Wusstest du, dass der Wachstumsschub meist am Kopf, an den Händen und Füßen beginnt und dann erst Arme, Beine und schließlich der Rumpf folgen? Das kann teilweise echt komisch aussehen. Und wenn der Prozess abgeschlossen ist, muss man seinen Körper quasi wieder neu bewohnen. Das Gehirn ist während des Wachstums eine Großbaustelle und die Hormone fahren Achterbahn. Die kognitive Entwicklung (Wahrnehmung, Lernen, Denken et cetera) eröffnet dir eine neue Welt. Ab circa elf Jahren ist man fähig zum hypothetischen und abstrakten Denken.1 Plötzlich reflektiert man sich und seine Umwelt, die Gedanken werden immer vielfältiger, immer wilder, immer mehr, immer lauter – wie ein Haufen wilder Affen, die von Ast zu Ast springen. Das kann herausfordernd, aber auch großartig sein, denn all das ermöglicht deine Selbstfindung.
Diese Zeit, man nennt sie auch Adoleszenz, ist oft richtig stressig. Noch stressiger wird es, wenn die Erwachsenen das nicht nachvollziehen können und zusätzlich nerven. Abgrenzungen von den Eltern, Leistungsdruck in der Schule, sexuelle Orientierung, Konflikte mit Freunden, Liebeskummer, eigene Interessen und Werte finden, eventuell seine berufliche Zukunft vorausschauend planen, sich selbst immer mehr kennenlernen, sich annehmen, auf sich achtgeben, seine Social-Media-Identität finden … all das ist ein körperlicher und psychischer Fulltime-Job.
Ich war in dieser Entwicklungsphase unglaublich unsicher und trug Fragen mit mir herum, die all mein Denken und Handeln prägten. Fragen wie: Wer bin ich und was will ich wirklich? Wie gelingt es mir, an mich zu glauben und mich voller Energie auf meinen Weg zu begeben?
Diese Fragen sind natürlich mit Abschluss der Pubertät nicht auf einmal alle beantwortet; dieses Buch ist deshalb zwar an Jugendliche adressiert, aber das heißt nicht, dass es nur Jugendlichen etwas bringt, es zu lesen und die hier genannten Vorschläge auszuprobieren. Welches Ziel hat das Buch konkret?
Das Buch wurde von uns allen geschrieben, um dein Selbstwertgefühl zu stärken.
Ich bin mir so sicher, dass es dir eine Unterstützung sein wird, denn ein paar tolle Menschen haben auf den folgenden Seiten ihre Erfahrung und ihr Wissen einfließen lassen. Es handelt sich um Personen aus dem öffentlichen Leben, die von sich erzählen. Es sind Experten (Ich werde aus pragmatischer Sicht nicht jedes Mal zusätzlich die weibliche Form nennen. Ich finde, wir Frauen sind emanzipiert genug, um darauf nicht bestehen zu müssen und das völlig neutral aufzufassen), die dir Tipps geben, um dir damit etwas Gutes zu tun. Einige Jugendliche haben ebenfalls einen Teil des Buches für dich mitgestaltet. Es geht dabei auch um Yoga, aber nicht, weil du ein Yogi werden sollst oder Yoga das Nonplusultra ist, sondern weil du dem Übungssystem des Yoga vielleicht etwas entnehmen kannst, was dich weiterbringt – vielleicht eine coole Übung oder einen Denkanstoß. Ich bin ausdrücklich gegen jede vorgegebene Lebensphilosophie oder Lebensweise, die als die einzig wahre dargestellt wird. Einige der Gastautoren haben absolut gar nichts mit Yoga am Hut. Viele der Mitwirkenden leben komplett unterschiedlich, jeder sieht die Welt auf seine Weise. Und genau darum geht es hier:
Seinen eigenen Weg zu finden und nichts ungeprüft zu übernehmen.
Alles in diesem Buch geschah mit dem Anliegen, dir Anregungen und Erfahrungen mitzuteilen und dir Ideen und Vorschläge zu unterbreiten. Alle Mitwirkenden haben einen gemeinsamen Beweggrund: Wir wollen dir den Rücken stärken. Wir wollen dich auf deinem Weg unterstützen, der manchmal ziemlich holprig mit der Pubertät beginnt und nicht immer easy ist. Es gibt nicht nur seichte Spaziergänge, sondern auch Stolpersteine, riesige Hürden und Stürze. Dieser Weg hat das Ziel, dass du dich immer besser kennenlernst und irgendwann ganz bei dir selbst ankommst – bei dem großartigen Ich, das du bist und das in dir schlummert.
Was haben wir davon? Keinen finanziellen Nutzen jedenfalls. Sollte nach Abzug der Kosten für die Veröffentlichung dieses Buches für mich ein finanzieller Gewinn entstehen, werde ich diesen an soziale Projekte spenden. Ich betone das, um zu unterstreichen, dass es einmal nicht um Geld geht, auch nicht um Marketing, sondern nur um dich. Die anderen Autoren und ich haben dieses Buch also wirklich von ganzem Herzen für dich geschrieben. Das klingt kitschig? Ja, und der Beweggrund ist es ja auch. Ich bin froh, dass du dieses Buch jetzt in den Händen hältst und es lesen magst. Dann haben unsere investierte Zeit und unser Engagement einen Sinn gehabt.
Das Buch ist in mehrere Textteile gegliedert. Es gibt eine fiktionale Geschichte, die sich um das Mädchen Felicy dreht. Sie muss mit einer übertriebenen Eso-Ökomutter und der Trennung ihrer Eltern klarkommen und als zusätzlich das Thema Liebe ins Spiel kommt, wird es echt kompliziert … Felicy findet ihren eigenen Weg und die Suche danach verläuft zum Teil komisch (wenn man nicht direkt betroffen ist), aber auch schmerzhaft. Zwischen den Kapiteln sind Infoteile eingestreut, die das vertiefen, was sich thematisch auf Felicys Weg gerade zeigt: Fragen zur Ernährung, zum Sport, zum Sein an sich. Jugendliche und Experten haben diese Texte für dich verfasst. Am Ende der Felicy-Story stellen sich besondere Menschen vor, auch viele Personen aus dem öffentlichen Leben, die sich überlegt haben, was sie dir auf deinem Lebensweg mitgeben wollen – was ihnen dabei geholfen hat, ihren Weg zu finden. Sie alle sind erfüllt von dem, was sie beruflich oder privat leben. Sie alle waren Teenager mit Träumen, Unsicherheiten und Schwierigkeiten auf ihrem Weg zu sich selbst. Der Schlussteil des Buches besteht aus einem Selbstgestaltungsteil, der dir hoffentlich Spaß macht und dich auf der Entdeckungsreise zu dir selbst begleitet.
Nun ein paar Worte über mich und zur Entstehung dieses Buches, denn es geht auch darum, seine Träume zu finden und umzusetzen. Ich sitze gerade mit meinem Laptop in einem kuscheligen Wohnzimmer, der kräftige Duft eines Schietwettertees dringt in meine Nase, draußen pfeift der Wind und ich tue das, was ich wirklich will: Ich habe mich zum Schreiben dieses Buches eine Weile aus dem Alltagsleben herausgenommen.
Ein großer Dank gilt meinem tollen Mann, der die Familie managt, während ich hier tippe. Schon als Teenie träumte ich davon, versunken am Meer sitzend ein Buch zu schreiben. Ich hatte es genau vor Augen: Ich sah mich in einem hübschen Backsteinhaus mit Schilfdach direkt am tosenden Meer. Vielleicht kennst du das auch, wenn du einen Wunsch genau vor Augen hast? Falls das so ist, wünsche ich dir, dass du ihn nicht einfach aufgibst, sondern bewusst immer wieder überprüfst, ob du das wirklich willst und was du für deinen Traum tun kannst.
Ich fand immer Gründe, meinen Traum nicht aktiv umzusetzen.
Ich musste erst einmal etwas Vernünftiges studieren, um einen soliden Beruf zu ergreifen. Schreiben konnte ich ja später immer noch. Schließlich lernte ich meinen Mann kennen und bekam zwei wundervolle
Kinder. Familie, Haushalt, Arbeit – ich hatte alle Hände voll zu tun, für das Schreiben war keine Zeit übrig. Ein Germanistikprofessor, dem ich erzählte, dass ich keine Zeit zum Schreiben fände, fragte mich ruhig und klar: „Suchst du denn die Zeit dafür, dein Buch zu schieiben?“
Und da wusste ich es! Nein, ich suchte sie nicht wirklich, denn ein Buch zu schreiben und zu veröffentlichen, das tat ich inzwischen als naiven Traum ab. Vielleicht nahm ich das Leben seinerzeit zu ernst und hatte ein falsches Verständnis vom Erwachsensein? Hatte mein Verstand die Chefposition übernommen? Der Verstand ist nützlich und man muss ihn oft benutzen, aber er darf nicht das Brennen des Herzens überlagern. Erst mit Anfang vierzig begriff ich, dass man vieles selbst in der Hand hat und es sich verdammt gut anfühlt, wenn man das anpackt, wofür man brennt. Ich sitze nun in einem kuscheligen Backsteinhaus mit Schilfdach und schreibe ein Buch, das mir am Herzen liegt. Ich sehe zwar nicht direkt auf das Meer, aber ich kann es riechen, wenn ich das Fenster öffne. Zu meinem Traum gehört also auch dieses Buch. Ich war mir auf einmal absolut sicher, dass es richtig und wichtig ist, genau dieses Buch auf die Welt zu bringen. Eine Freundin unterstützte mich in meinem Bauchgefühl und so kam es, dass ich sofort lostippte. An dieser Stelle: Danke, Katha.
Ich bin also bildlich gesprochen gerade buchschwanger. Die Idee war plötzlich konkret da und der Titel ebenso. Ich legte los, ohne großartig abzuwägen, ob das alles funktionieren würde. Mit der gleichen Leichtigkeit traf ich auf Menschen, die mein Anliegen unterstützten. Jeder von ihnen hat einen kleinen ganz individuellen Schatz, den er dir auf diese Weise mitgeben möchte.
Keine Sorge, das hier ist kein weiterer Jetzt-wird-alles-feinchen-Ratgeber. Nein, denn Umweltverschmutzung, Kriege, Armut, Pandemien, Verbrechen und Egomenschen lassen unsere Außenwelt nicht gerade rosig erscheinen und das lässt sich auch nicht wegdiskutieren oder wegwünschen. In unserer Innenwelt gibt es auch so einige Dramen, die uns von einem Himmel auf Erden trennen. Und um sie wird es in diesem Buch gehen.
Dir wird auf den nächsten Seiten Kopfmüll begegnen, den du wahr scheinlich auch in dir trägst.
Und irgendwann werden sogar fünf konkrete Auslöser auftauchen, die deinen Homemade-Hürden(HoHü)-Schalter betätigen. Mal schauen, ob du sie kennst und bei dir entdeckst. Wetten ja? Wenn der HoHü-Schalter auf on ist, dann ist das Leben alles andere als eine Welt voller Zuversicht, Vertrauen, Abenteuer und Möglichkeiten.
In einem meiner Lieblingsfilme, Rendezvous mit Joe Black (ich stehe auf Liebesfilme), sagt Anthony Hopkins in einer bewegenden Szene einen sehr wahren Satz: „Das Leben vergeht wie im Flug!“2 An dieser Stelle muss ich immer weinen, wirklich immer. Es ist kein trauriges Weinen, eher ein gerührtes, bewegtes. Es ist wie ein symbolisches Andie-Stirn-Tippen: Ach ja, schon wieder fast verdrängt, das Leben ist endlich und es rennt. Warum erzähle ich dir das? Du bist noch jung. Stimmt! Aber auch deine Zeit bewegt sich kontinuierlich vorwärts. Dein Lebenszeit-Guthaben ist wahrscheinlich größer als meins. Du hast also mehr Zeit, dein Leben mit dir auszufüllen. Das ist nur verdammt schwierig, wenn man nicht klar weiß: Wer bin ich und was ist mir wirklich wichtig? Ich erzähle dir das, weil du wahrscheinlich gerade in der Pubertät steckst – und das ist oft der bewusste Anfang von: Ich bin … Ich bin nicht meine Eltern, nicht meine Schule, nicht meine Freunde. Da ist etwas, das ich ganz allein entdecken und angehen muss. Etwas? Dieses Etwas in ein Wort zu fassen, ist gar nicht so einfach, weil ein Wort automatisch das Etwas definiert und begrenzt. Gib diesem Etwas am besten eine eigene Bezeichnung. Ich nenne es meinen Polarstern. Warum? Das wirst du beim weiteren Lesen verstehen.
Online mit mir selbst versucht, dir dabei zu helfen, in dir aufzuräumen, zu sortieren, wiederzufinden, zu entdecken und Platz zu schaffen. Wofür? Das entscheidest am Ende du.
Ich wünsche dir viel Freude, jede Menge Aha-Erlebnisse und zahlreiche Inspirationsquellen.
Deine Jacqueline
Happy Hippo
Rums – die Tür ist zu. Ich bin so sauer! Ich könnte brüllen, habe ich auch, ehrlich gesagt, gerade, aber sie schnallt es einfach nicht! Ist es okay, wenn man seine Mutter manchmal so richtig scheiße findet?
Ich schließe meine Zimmertür ab, den Schlüssel besitze ich seit vier Monaten. Er ist Gold wert und täglich in Gebrauch. Da war sie ja mal ganz cool, meine Mum, also die Idee war cool, sie nicht, kann sie gar nicht.
Sie überreichte mir das Teil anlässlich meines fünfzehnten Geburtstages und fügte hinzu, dass ich das Recht auf Privatsphäre hätte und dass das in meiner Transformationsphase sogar unerlässlich sei.
Transformationsphase? What? Egal! Hauptsache, ich habe meine Ruhe. Der Zimmerschlüssel ist angeblich ein Symbol ihres Vertrauens, für mich ist er ein Symbol für: Yippie, ich kann flüchten!
Sie übergab mir meinen Zimmerschlüssel mit feierlicher Miene und umarmte mich fest, so als würde ich ausziehen, dabei war es doch nur ein fucking Zimmerschlüssel. Meine Güte, meine Mum macht aus allem immer so ein Drama.
Passend zu meinen Gedanken ruft sie aus der Küche, in der ich eben noch saß, bevor ich die Schnauze voll hatte und stampfend abzog:
„Felicy, jetzt hau doch nicht gleich wieder ab. Immer diese Art, sich zu entziehen, wenn es nicht nach deiner Nase läuft. Komm bitte her und hör endlich mal zu. So ist das einfach respektlos!“
„Lass mich in Ruhe, ich will einfach nur meine Ruhe, is’ mein gutes Recht!“, rufe ich.
„Wie soll ich denn mit dieser Energieblockade jetzt in den Yogakurs gehen? Das ist einfach nicht fair!“, jammert sie.
„Zieh dir deine indische Hängearschhose an, schnapp dir deine Schweißmatte und schwing dich auf das Fahrrad. Wie immer – so einfach ist das!“, entgegne ich kühl. Ich bin eben so richtig stinksauer.
„FELICY, es reicht! Noch ein Ton und es wird echt ungemütlich!“, schreit sie im höchsten Sopran.
Stille. Also, ich sage nix mehr, kann sie vergessen.
Fünf Minuten, zehn Minuten, fünfzehn Minuten vergehen …
Sie wird weich, ich höre, wie sich ihre Schritte auf dem knarrenden Parkettboden nähern.
Sie klopft. Na gut, soll sie sich entschuldigen. Ich drehe meine Musik leiser.
Butterweich flüstert sie nun durch die verschlossene Tür: „Felicy, ich weiß, ich bin gerade laut geworden. Du hast mich echt verletzt, aber die Reaktion, das war mein Ego, tut mir leid. Ich versuche, tief durchzuatmen, ja? Und nach dem Yoga reden wir in Ruhe, dann bin ich wieder mehr in meiner Mitte. Ich muss mich jetzt erst mal beruhigen, ein tief geführter Atem wird mir dabei helfen. Okay?“ „Hm!“, brumme ich.
Ein tief geführter Atem? Die hat doch echt ’ne Macke.
„Ist gut, Schatz, hab dich lieb, bis später!“
Die Wohnungstür klappt zu und ich bin alleine.
Darf ich vorstellen? So tickt meine Mum. Versteht ihr, was ich meine? Sie labert vielleicht ein Zeug!
Meine Mum ist eine krasse Nummer. Ich meine, sie ist bemüht und so. Sie kocht ab und zu ganz leckere Sachen. Ich kann immer Freunde mitbringen. Sie versucht, mir zuzuhören, auch wenn das nicht viel bringt, weil sie mich eben nicht versteht. Sie arbeitet viel, oft abends. Sie ist in einer Künstleragentur angestellt, eigentlich ganz cool, sie kennt eine Menge Promis. Sie könnte locker damit angeben, mit welchen Promis sie so abhängt. Aber so tickt sie nicht. Wie sie tickt? Sie ist eine volle Ökomum. Sie isst keine Tiere, trinkt nur Sojamilch und so ekliges Algenzeug. Zucker ist für sie der Tod auf Raten.
Sie isst lauter Sachen, die ich nicht aussprechen kann und auch nicht mag. Sie trägt indische Kleidung, no Labels, versteht sich. Jutewesten mit kleinen Spiegeln und Bommeln dran, Seidenhosen, die von hinten wie Windeln aussehen. Sie kauft nur Fair-Trade-Produkte, keine Kinderarbeit und so, teilweise näht sie sich die Sachen selbst drauf. Ehrlich, sie ist voll peinlich! Sie macht sich sogar ihre Kosmetik selbst, ihr Peeling besteht aus Sand und Olivenöl. Wir haben literweise Kokosöl im Bad stehen, sie macht damit alles: Zähneputzen, Haare einölen, eincremen, wahrscheinlich tränkt sie damit auch das WC-Papier. Ih, ich will dieses Bild aus dem Kopf haben – sofort! Unsere Dachterrasse ist ein einziges Beet. Hier wachsen Kräuter, Kartoffeln, Tomaten und sogar Kürbisse.
Wie sie aussieht? Eigentlich ganz okay.
Sie hat tolles, langes, glänzendes Haar, sie behauptet, das liegt an den täglichen Löffeln Schwarzkümmelöl, die sie zu sich nimmt. Sie hat lauter solche Geheimtipps auf Lager und nervt mich oft ungefragt damit. Schwarzkümmelöl schmeckt voll eklig, pur kriege ich das jedenfalls nicht runter, aber mir ist das auch zu stressig mit dem ganzen Gesundheitskram. Ich habe keine Lust, mir da einen Kopf zu machen. Alles, was nicht im eigenen Garten wächst, ist heutzutage krebserregend, oder?
Sie macht jeden Tag Yoga. Oh nein, es heißt, sie praktiziert Yoga.
Deswegen ist ihre Figur auch ganz okay, jedenfalls für eine Einundvierzigjährige.
Sie sagt, der Körper sei der Tempel der Seele, daher müsse man ihn gesund bewegen, ernähren und pflegen.
Aber in ihren weiten indischen Klamotten sieht sie aus wie ein verhülltes Nilpferd. Deswegen hat mein Dad sie während eines Streits auch bissig ein „nach Bounty riechendes Happy Hippo“ genannt.
Sie wurde daraufhin richtig hysterisch und meinte, sie sei höchstens ein Happy Hippie und kein Hippo und Kokos sei sehr wohlriechend und würde nicht so künstlich in der Nase beißen wie das Chemiezeug seiner Parfümeriekosmetikabteilungsdamenbetthupferl. Meine Eltern stritten viel, vor zwei Jahren gab’s die Scheidung. Aber ehrlich gesagt: Seit sie getrennt sind, sieht meine Mum wieder glücklich aus. Sie strahlt fast immer. Ihre fröhlichen Augen, die mag ich. Ich war echt sauer und traurig, als Dad auszog, aber meiner Mum geht es besser und damit auch mir. Mein Zuhause war nur noch eine Kampfarena, es war echt nicht mehr auszuhalten. Wie es meinem Dad geht, weiß ich nicht genau. Er hat seit einem Jahr eine feste Freundin. Ich mag sie nicht besonders, sie macht immer so einen auf best friends und das geht mir voll auf die Nerven. Sie, Caro, ist superhübsch und um einiges jünger als mein Dad, ich schätze, fünfzehn Jahre. Ich habe sie lieber nicht gefragt. Sie arbeitet als Farb- und Typberaterin in einem bekannten Friseur- und Kosmetiksalon. Ihr Style ist echt gut, aber meinen Dad hat sie auch umgestylt und das finde ich total daneben.
Er sah immer super aus, eben wie mein Dad. Ich mochte seine beigen Cargohosen und die Flanellkarohemden. Jetzt macht er jeden Trend mit, momentan trägt er Oversize-T-Shirts in Weiß, schwarze Jeans und Nike-Turnschuhe. Er sieht von hinten aus wie ein Sechzehnjähriger, und wenn er sich umdreht, sieht man in das Gesicht eines Mittvierzigers. Ziemlich uncool, so auf jung gestylt, ohne es zu sein. Er ist mir fremd geworden, sieht gar nicht mehr nach meinem Dad aus. Ich hasse Veränderungen. Und Caro redet viel zu viel und dann auch noch so aufgesetzt mit ihrem Ich-bin-so-multikulti-Englisch-Mix-Slang. Kennt ihr das, wenn Leute immer wieder englische Sätze einstreuen, während sie sprechen, um cool zu wirken? Ich finde das nicht cool, sondern affektiert. Folgende Szene ereignete sich neulich – nur, damit es deutlicher wird. „Felicitas, you must have the Must-have-Nagellack von Chanel Nummer 211, die Farbe ist so Bombe, it’s so amazing! Ich nehme dich mal mit zu see&be (das ist deeer In-Salon), mein sweet dear! Und dann hübschen wir dich so richtig auf, sodass dich keiner mehr erkennt. Das wird so crazy, Darling!“, flötete Caro mir begeistert ins Ohr, während sie mich umarmte, als wäre ich ihre beste Freundin.
Sie hat noch nicht einmal wahrgenommen, dass ich nie Nagellack trage, nur Transparentlack. Und ehrlich: Must-have-Nagellack? Schon der Ausdruck schreit: Ich bin oberflächlich und tussig!
Und will ich das? Will ich so aussehen, dass mich keiner mehr erkennt? Nö! Ich finde mich ganz okay so. Aber am schlimmsten ist dieses Halb-Englisch-halb-Deutsch-Gerede, mit dem sie immer um sich schmeißt. Ich meine, sie kommt aus Schleswig-Holstein und nicht aus England. Aber alles ist bei ihr great: das
Frühstück, das Wetter et cetera. Aber es geht noch schlimmer: Wenn etwas richtig toll ist, kommt: „Oh my goodness, ich bin so thankful for that.“ Oder auch schön: „I’m so in love with my neue Gucci-Handtasche.“
Noch eine Impression? Es geht noch
schlimmer. Jetzt bin ich in Fahrt.
Okay, so ein richtig geiler Ausschnitt aus ihren Erzählungen, ein Caro-Originalzitat. Ich habe es mir gemerkt, weil Franzi und ich sooo einen Lachflash hatten, dass wir uns das aufgeschrieben haben. Franzi ist meine beste Freundin.
Wenn wir mal nicht so gut drauf sind, zitieren wir Caro. Das hilft immer. Franzi hat chronischen
Liebeskummer, daher zitieren wir Caro häufig. Folgende Situation: Franzi und ich trafen Dad und Caro zufällig an einem Sonntag in einem Café in Berlin-Mitte. Wie immer war Caro die Einzige, die sprach. Und so beschrieb sie uns ihren Samstagabend:
„Die Location war so was von trendy. Der Event war only für High Society, you know. Das Fingerfood war amazing. Ich trug meine High-Waist-Jeans, das Must-have dieser Saison, low waist ist so No-Go. And the goody bag, it was so sweet. Ich war so geflasht von the energy in der Location, so viele geile people in one loft, what an atmosphere. Never ever vergesse ich dieses Date, sweet honey!“ Dann küsste sie meinen Dad innig. Das tut sie oft vor mir. Manchmal frage ich mich, ob das echt ist oder ob sie mir damit nur demonstrieren will, wie verliebt sie sind.
Wovon sie da erzählt hat? Sie waren auf einer Filmpremiere mit anschließender Party.
Das macht meine Mum andauernd, das gehört zu ihrem Job, und sie ist dabei so was von entspannt.
Caro schafft es, allem einen Glamouranstrich zu verleihen. Really! Sie beschreibt selbst einen Supermarkt als Hightech-food-and-beverage-Location mit VIP-Edge – das ist dann die Ecke mit den teureren Lebensmitteln wie Kaviar oder Champagner.
Sie klingt so albern und aufgesetzt, I’m pretty kotzing from that.
Boah, was meine Mum zu wenig ist, ist Caro zu viel.
Wie konnte mein Dad sich nur in diese Frau verlieben? Ich versteh es nicht und will es auch nicht. Ich will das alles nicht, warum hat mich keiner gefragt? Es ist auch mein Leben. Dad fehlt mir, wie er war, und es fehlt mir auch, wie wir gemeinsam waren. Aber jetzt, so mit ihr zusammen, finde ich ihn einfach nur blöd. Er ist mir fremd geworden, er hat sich so verändert.
Gibt es noch normale Erwachsene, also solche, die total normal ticken?
Ich kenne hauptsächlich vier Kategorien.
Da sind zuerst die Peinlichen, die „Ich mache auf jung und cool“-Kategorie. Sie kommen aufgesetzt rüber, verwenden Jugendsprache und diese meist auch noch total falsch. Sie folgen jedem Modetrend, obwohl es einfach nur peinlich aussieht. Schon mal eine Mittdreißigerin in Low-Waist-Jeans gesehen, die sich nach ihrem Kind bückt? Was da so alles unappetitlich rausquillt! Ih!
Dann kommen die Fanatischen, die „Ich lebe richtig und die anderen sind alle nicht so weit und clever wie ich“-Kategorie. Sie halten sich für cooler, besser, intelligenter. Sie sind Veggis, Veganer, Yogis, Extremsportler, Hardrocker, Spießer, Ökos, beruflich erfolgreiche
Überflieger, eben alle, die meinen, ihre Lebensweise sei die ultimativ richtige und alle anderen hätten keine Ahnung.
Dann gibt es auch noch die Angepassten. Dazu gehören die abgestumpften Hausfrauen, die null Pepp haben, die Spießer und die Über-Fleißigen, die nur noch arbeiten und funktionieren. Entweder sind sie total gestresst, frustriert oder gelangweilt. Das sind alle, die ihr Leben irgendwie hinnehmen und fast nur noch wie Roboter funktionieren. Ihre einzigen Lebenszeichen sind jammern, stöhnen, tratschen und immer weiter stupide vor sich hin leben.
Und schlussendlich wären da die Ellenbogen: Das sind alle, die nur an sich denken, oft gekoppelt mit einer der drei anderen Kategorien. Sie sind rücksichtslos, können nicht zuhören, sind null empathisch und jeder Satz beginnt mit „Ich“. Alles dreht sich nur um sie selbst.
Aber so normale, lebensfrohe, tolerante, nette, spannende Erwachsene, die sich altersgerecht benehmen, mit Vorbildfunktion und Respekt und so, davon gibt es echt wenige.
Mein Dad war mal okay. Vor seinem jugendlichen Umstyling. Jetzt gehört er leider zur ersten Kategorie.
Eins allerdings rechne ich ihm hoch an: Er hat bewirkt, dass ich essen kann, was ich essen will. Das war ein Megazoff damals. Ich liebe Süßes und ich lasse mir das auch nicht verbieten! Die ständigen Vorträge meiner Mum über den „bösen“ Zucker konnte ich nicht mehr hören. Ich habe mir schließlich von Dad Hilfe geholt. Dad hat dann irgendwann dermaßen auf den Tisch gehauen und gesagt, ich sei schließlich auch sein Kind und wenn sie mir je diese Algenscheiße aufdränge, dann würde er vor Gericht gehen. Da war meine Mum das erste Mal ziemlich leise und gab klein bei: „Okay, ich vertraue darauf, dass Felicy mit der Zeit spürt, was ihr guttut und was nicht. Sie hat Instinkte und wird wieder auf sie hören, wenn sie die Konsummaschinerie hinterfragt.“
„Guck doch gleich mal im Kaffeesatz nach, ob du was über ihre Zukunft lesen kannst!“, polterte Dad und warf die Tür zu. Das war das letzte Mal, dass er bei uns zu Besuch war. Bis dahin kam er auch nach der Trennung manchmal noch auf einen Kaffee oder Tee vorbei, aber nun nicht mehr.
Meine Eltern haben versucht, einigermaßen freundschaftlich miteinander umzugehen – für mich, denke ich.
Aber das hat auf Dauer nicht funktioniert.
War ich vielleicht schuld mit meiner Zuckerbeschwerde bei Dad? Vielleicht hätte ich das alleine regeln sollen. Ich weiß nicht sicher, ob es mit dem letzten Streit zu tun hat oder ob Caro der Grund dafür ist, dass Dad nicht mehr vorbeikommt. Caro mochte es nicht, dass Dad mich zu Hause besuchte. Wie auch immer, er ist nicht mehr Teil meines Zuhauses und das ist schlimm. Ich fühle mich manchmal alleine ohne diese Familie, die ich einmal hatte. Es wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Und ich kann nichts daran ändern. Was für ein lähmendes Gefühl!
Ich besuche ihn zwar ab und zu, aber da ist ja auch immer Caro. Es ist anders, er ist anders, wir haben uns nicht mehr viel zu sagen. Er ist höflich zu mir und gerade das fühlt sich so fremd an. Es ist, als lebten wir inzwischen in anderen Welten, dabei trennen uns nur vierzig Autominuten. Ich denke oft an ihn und wünschte, er würde einfach mein Dad sein so wie damals. Das ist alles einfach nur traurig!
Manchmal ruft er an oder schreibt: „Wie geht’s, Süße?“
Ich antworte zwar, aber eher kurz. Ich weiß einfach nicht, was ich erzählen kann und was nicht. Ich mag nicht, dass er Caro was von mir berichtet, und ich mag auch nicht ständig schlecht von Mum reden. Das würde nur zu weiterem Streit führen, der eh nichts bringt. Wenn ich an Dad denke, kriege ich einen Kloß im Hals. Dann mag ich eigentlich weinen, aber es geht einfach nicht. Kennt ihr das, wenn man supertraurig ist, sich aber verbietet, es zuzulassen? Und irgendwann will man weinen und kann es einfach nicht. Bei mir gibt es dann immer diesen Kloß im Hals, er fühlt sich an wie ein Tränenstau. Manchmal glaube ich, wenn ich mal richtig heulen könnte, würde mir das guttun. Das wäre dann, als ob ich mich frei weinen könnte.
Puh, manchmal fühlt man sich echt scheiße und kann nichts tun. Ich kann ja nichts dafür, dass meine Eltern sich nicht leiden können. Das hätten sie sich besser vorher überlegen sollen, bevor sie ein Kind gemacht haben. Oder haben sie sich wirklich mal geliebt? Kann man sich wirklich richtig lieben und das alles verlieren und sich nicht einmal daran erinnern, wie sehr man sich geliebt hat?
Wenn man sich erinnern würde, dann könnte man doch nicht so fies zueinander sein. Also meine Freundin oder mein Freund kann doch nicht zur Feindin oder zum Feind werden, nur weil es zwischen uns nicht mehr passt. Man kann merken, dass man nicht mehr so viel Spaß zusammen hat, es eben mit einer anderen Person besser passt. Das ist traurig, aber kein Grund, sich zu hassen. Doch nicht jemanden, den man sehr lieb hatte. Denn eigentlich hat man ihn doch immer noch lieb, es klappt nur nicht mehr zusammen. Man liebt einen Menschen doch nicht nur, weil er so gut zu einem passt! Das frage ich mich immer wieder: Wie kann das sein, dass aus Liebe Hass wird? Ich glaube, das geht nicht, dann war es nie Liebe. Zu romantisch? Kann sein, aber so möchte ich später lieben. Ich möchte den Menschen lieben und nicht die
Bedingung, dass es passt. Manchmal denke ich zu viel und dann kommt da so etwas bei raus. Ich finde meine Gedanken manchmal echt schlau, aber ich behalte sie für mich oder ich schreibe sie in mein Tagebuch und da lasse ich sie stehen, bis ich mal liebe. Und dann kann ich das überprüfen, dann kann ich mich überprüfen, ob ich eine gute Erwachsene geworden bin oder auch völlig verblendet lebe.
Ich würde mich echt gern verlieben, das muss toll sein, aber bisher hatte ich dieses Gefühl noch bei keinem. Ein paar sind echt nett und so, aber keiner haut mich um. Bene beispielsweise ist ein super Typ, aber Schmetterlinge im Bauch hatte ich noch nie seinetwegen. Er ist einfach ein super Kumpel. Er kommt aus Syrien und wohnt fast nebenan im Wohnheim. Er hat so richtig was durch, dagegen sind meine Probleme niedlich. Er erzählt nicht wirklich was darüber, ich weiß keine Details, aber ich möchte nicht gesehen haben, was er gesehen hat, nicht gefühlt haben, was er gefühlt hat und nicht erlebt haben, was er erlebt hat.
Er ist unglaublich. Er lernt wie ein Wahnsinniger unsere Sprache, er ist bald besser in Rechtschreibung als ich, er spricht total super. Ich glaube, er ist sehr intelligent und definitiv ein Sprachgenie.
Bling! Ah, er schreibt gerade. Das passt ja. „Bock, zu treffen?“
„Klar, Park 15 Min.?“
„Bin da!“
Felicys Mum, gezeichnet von der siebzehnjährigen Charlotte Lampert; Instagram: @flowingcharlie
Bene
Bene ist schon da. Er ist nicht zu übersehen: groß und dünn, voll der Lauch. Er hat fast immer gute Laune.
Er grinst mich breit an und streckt mir kauend ein Fladenbrot entgegen. Er isst immer, wirklich immer, wenn er kann. Er kann essen und essen und wird nicht dick, total unfair.
„Bene, ehrlich, du hast nicht schon wieder ein Picknick mitgebracht? Und das innerhalb von fünfzehn Minuten?“, stelle ich kopfschüttelnd fest.
„Ey, das sind nur Reste, die hat uns der Dönerverkäufer geschenkt. Mama hat auch noch Pflaumen vom Hausmeister bekommen. Er besitzt drei Pflaumenbäume im Garten. Er bringt uns jeden Tag heimlich eine Tüte mit, seine Frau darf das nicht wissen.“
„Geil, voll lecker. Lass uns an die Spree setzen und futtern!“, schlage ich vor.
Im Korb sind Fladenbrot, Gurken, Tomaten, Kräutersoße zum Dippen und ein Haufen Pflaumen.
Berlin im Sommer ist irre. Heute sind schweineheiße achtunddreißig Grad. Hunderte von Leuten sitzen am Spreeufer rum und chillen. Die Biergärten und Cafés sind überfüllt. Alte Omis sitzen am Tisch neben Fußballprolls, Null-Bock-Black-Outfit-Teenies neben überzeugten Ökoeltern, gestylte Russinnen mit Rolex und Brilli neben Hartz-IV-Empfängern, Bauarbeiter neben Professoren. Berlin ist voller Gegensätze.
Überall ist Stimmengewirr zu hören. Autos hupen in der Ferne. Manchmal schließe ich die Augen, um nur die Stadt zu hören: Sie ist voller Geräusche, voller Leben.
Die Luft ist heute heiß und stickig. Mein T-Shirt klebt sofort an meiner Haut, Bene tropft sogar der Schweiß von der Nase. Es geht kein Luftzug, der Asphalt auf den Straßen ist kurz davor, sich in eine klebrige Masse zu verwandeln. Ein Musiker spielt Gitarre, zwei Straßenkünstler zeigen eine akrobatische Performance und verdienen sich damit ein paar Euro. Ein schwules Paar knutscht frisch verliebt auf dem Rasen, Dampfer, randvoll beladen mit Touris, schippern vorbei und mittendrin sitzen Bene und ich.
Bene aus Syrien und ich aus ’ner typischen Scheidungsfamilie. Jeder hat den Kopf voll und jeder ist damit irgendwie allein, auch wenn man gerade zusammen ist. Wisst ihr, was ich meine? Auch wenn man Freunde hat, so richtige, sind da trotzdem diese traurigen Sachen, die man erlebt hat, oder die schweren Gedanken im Kopf, Ängste, Selbstzweifel und so. Damit ist man allein. Es wäre cool, wenn man doofe Sachen aus dem Gehirn löschen könnte. Wie beim Computer: Einfach ab in den Papierkorb. Die Gedanken in meinem Hirn quatschen mich manchmal krass voll und das nervt echt total und vor allem sind sie oft nicht hilfreich.
Ich meine, ich kann Bene zuhören, wenn er mich braucht, und er mir.
Aber ich kann nicht ungeschehen machen, was er erlebt hat.
Ich kann ihm seine Sorgen nicht nehmen, kann seine traurigen Erlebnisse nicht wegradieren und er nicht meine.
Wir müssen beide damit klarkommen – aber das ist jetzt gerade unwichtig. Traurige Gedanken, verpisst euch! Die Sonne scheint und alles ist jetzt, genau jetzt und hier, total schön.
Wir essen Brot, schwitzen in der Sonne und grinsen uns an. Wir quatschen über alles Mögliche, wir sind eigentlich nie still. Das bedeutet wohl, dass wir uns viel zu sagen haben. Kennt ihr das, dass man mit manchen Menschen einfach nicht reden kann und man sich gar nicht erklären kann, wieso? Mum würde sagen, man schwingt nicht miteinander.
Ich bin übrigens nicht so ein Mädchen-Mädchen.
Ich versuche mal zu erklären, wie ich das meine. Ich sehe zwar aus wie ein Mädchen und fühle mich im richtigen Körper und so, aber ich verstehe mich oft besser mit Jungs als mit Mädchen. Nicht falsch deuten, ich hänge nicht mit Jungs ab, weil ich versuche, ihnen zu gefallen, wie die tussige Linda zum Beispiel. Nee, ich bin einfach so ein Kumpeltyp. Ich bin sportlich und unkompliziert. Ich fahre Skateboard, finde Schminke albern, außer Wimperntusche, die finde ich gut. Ich stehe auf Computerzocken und gucke gern Fußball im Fernsehen. Ich trage am liebsten bequeme Klamotten, schon cool und so, eben sportlich, aber niemals tussig. Ich werde nie ein Mädchen-Mädchen sein, will ich auch gar nicht!
Ich weiß, das klingt jetzt echt nicht nett und voll nach Klischees. Klar, es gibt auch easy Mädchen, die nicht tussig sind, die meine ich natürlich nicht. Ich meine diese übertriebenen Mädchen-Mädchen wie Linda, die unterscheiden sich allerdings krass von mir.
Oh Gott, Linda. Sie ist so ein übertriebenes Mädchen-Mädchen, total gestylt und geschminkt, von Kopf bis Fuß. Sie ist zwar superhübsch, aber megaaffektiert. Sie wirft ihr Haar alle fünf Minuten von links nach rechts, will immer im
Mittelpunkt stehen und lacht total unecht, wenn sich ein attraktiver Junge auch nur in Hörweite befindet. Sie weiß genau, was Wirkung erzielt, alles scheint perfekt einstudiert: wie sie geht, steht, spricht und wie sie lacht. Jeder Wimpernschlag sitzt und ihre Lieblingshobbys sind Selfies und Schminkworkshops, geht gar nicht. Ich mag unechte Menschen sowieso nicht. Und Linda ist nur nett, wenn sie etwas von einem will oder wenn die Leute fame sind. Linda macht mich richtig aggressiv, ich kann sie null leiden. Kennt ihr das? Man muss die Person nur ansehen und schon kocht die Wut im Bauch. Boah, so nervig, die Frau. Sie macht immer einen auf super drauf und total nett, dabei kann sie richtig zickig sein. Aber kaum einer schnallt das. Die Mädchen himmeln Linda an und die Jungs stehen fast alle auf sie. Ich kenne keinen, der sie nicht toll findet. Selbst Bene, echt lächerlich! Wenn er mit ihr spricht, redet er eine Oktave tiefer und plustert sich breitbeinig und -armig auf wie so ein Plüschhahn. Plüschhahn ist genau das richtige Wort, damit ärgere ich ihn immer.
„Was ist das, ein Plüschhahn?“, fragte er interessiert, als ich ihn das erste Mal so nannte. Er dachte, es sei eine Vokabel, die er noch nicht kannte.
Ich habe sooo gelacht und ihm erklärt, dass es das Wort nicht wirklich gibt, also nicht in dieser Kombination. Es ist meine eigene Kreation. Er kratzte sich am Kopf und sah mich verwirrt an. Ich musste ihm erklären, was ein Hahn in der Bedeutung eines Gockels und was ein Plüschtier ist. Wir haben lange gebraucht, das aufzuklären, und hatten dabei die Lachflashs unseres Lebens. Und dann begriff er endlich mein Wort:
„Also, Jungs plüschen sich auf, wenn hübsche Mädchen dabei sind. Sie haben eine geschwollene Brust wie ein Hahn, bevor er kräht, damit alle Hühner gucken. Du sagst nicht ‚wie ein Hahn‘, sondern ‚wie ein Plüschhahn‘, weil du diese Jungs nicht ernst nimmst. Du findest unser Verhalten kindisch wie ein Plüschtier.“
„Ja, so könnte man das zusammenfassen!“, grinste ich anerkennend. Das hätte ich tatsächlich nicht besser erklären können.
„Wir sind doch nicht kindisch, wenn wir euch beeindrucken wollen! Wir meinen das sehr ernst!“
„Sorry, dass ich lache, aber ihr müsstet euch selbst beobachten können. Es ist echt peinlich. Der übertrieben coole Cowboygang, als ob ihr gerade vom Pferd gestiegen wärt. Dann eure geschwollene, breite Haltung und diese bemüht tiefe Stimmlage – das ist einfach nur lustig!“
„Na und? Wenn ihr Mädchen zusammen kichert, mit dem Po wackelt und an uns vorbeistolziert, dann seht ihr aus wie eine Plüschgans!“, stellte Bene unbeeindruckt fest.
„Hm, so habe ich das noch nicht betrachtet, aber ich bin ja auch nicht so drauf“, konterte ich.
„Stimmt, du machst dir einfach nix aus Jungs, da können wir noch so plüschen.“
„Ihr plüscht bei mir ja nicht.“
„Na, du sendest auch keine weiblichen, interessierten Signale aus! Ein bisschen muss man uns auch animieren.“
„Hm, kann schon sein.“
„Stehst du denn auf Jungs?“
„Bene, du bist echt geil, eine ziemlich direkte Frage.
Wenn ich lesbisch wäre, wäre ich wohl leicht überfordert mit deiner direkten Art.
Denkst du, das würde ich dir einfach so mal eben auf die Nase binden? Aber nee, bin ich nicht. Ich finde Jungs schon toll, aber bisher war da einfach keiner, der mich umgehauen hat.“
„Warum ein Geheimnis daraus machen? Hier in Deutschland ist man doch zum Glück frei. Jeder so, wie er fühlt, ist doch seine Sache.
Aber gut zu wissen, dass du auf Männer stehst, dann weiß ich, dass ich es bei dir mit meinem beeindruckenden Plüschhahnauftritt versuchen kann“, brüllte Bene vor Lachen.
Er lachte etwas zu laut für meinen Geschmack. Ich boxte ihm freundschaftlich in den Bauch.
Hm, da habe ich noch gar nicht so drüber nachgedacht, dass ich Jungs keine Signale sende. Sie kommen also erst gar nicht auf die Idee, bei mir zu plüschen. Hätte Bene sonst bei mir geplüscht? Findet er mich hübsch? Ach, totaler Unsinn. Wir waren von Anfang an Megakumpels.
Ich habe aber natürlich auch Freundinnen, ein paar sind ganz easy drauf. Meine beste Freundin ist Franzi. Sie ist allerdings in Anteilen auch ein Mädchen-Mädchen, aber sie ist natürlich nicht affektiert. Franzi ist eher der romantisch-verträumte Mädchentypus, der Pferde liebt und Liebesfilme guckt. Ich kenne sie seit dem Kindergarten. Wir treffen uns, seit ich denken kann, jeden Dienstagnachmittag. Wir gingen mit drei Jahren einmal die Woche zum Kinderturnen, so entstand das mit dem Dienstagnachmittag. Meine Mum und Franzis Mum wechselten sich damals mit dem Fahren ab. Logischerweise ist das mit dem Kinderturnen jetzt vorbei, aber wir treffen uns immer noch jeden Dienstag sowie jeden Tag in der Schule, wir gehen nämlich in die gleiche Klasse. Und jeden Dienstag essen wir zum Mittag Eierpfannkuchen mit Zucker und Zimt und abends Laugenbrezeln mit salziger Butter. Ich liebe Rituale.
Ich weiß nicht, ob Franzi und ich auch dann Freundinnen geworden wären, wenn ich sie jetzt erst kennengelernt hätte, also in der neunten Klasse. Wir sind echt ziemlich unterschiedlich. Sie geht supergerne shoppen, ich nicht. Sie kocht gern und interessiert sich für gesunde Ernährung, ich liebe Fast Food. Franzi joggt und studiert Fitnesszeitschriften, damit sie einen schönen Po bekommt, ich hasse joggen und Fitnesskurse, ich stehe auf Stunts auf dem Board. Sie kennt die neuesten Schminktrends und rennt für meinen Geschmack viel zu oft zum Friseur, ich halte mich mit dem Beautykram eher zurück. Sie guckt jeden Liebesfilm im Kino, steht sogar auf alte Filme mit Audrey Hepburn und Elvis und so, und ich könnte dabei kotzen. Ganz schrecklich! Also echt alles nicht mein Ding. Aber wir kennen uns einfach beide in- und auswendig, wir sind uns total vertraut und das ist so besonders zwischen uns. Wir können einfach voreinander wir selbst sein. Sie ist eben meine allerbeste Freundin. Ich habe sie einfach lieb, genauso, wie sie ist, und umgekehrt. Ich liebe diesen Eierpfannkuchentag mit Franzi. Wir sitzen immer noch in ihrem Kinderzimmer und kichern, wie mit drei Jahren. Es scheint dann so, als würde die Zeit stillstehen und nichts könnte uns etwas anhaben. Kann ich jetzt schon, mit fünfzehn, meine unbeschwerte Kindheit vermissen? Krass!
Bene ist voller Krümel, er klopft seine Hosen ab und trommelt zufrieden auf seinen gesättigten Bauch.
„Das ist echtes Glück: genug Essen, Sonne,
Zeit mit meiner guten Freundin verbringen, ein schöner Tag!“, fasst er den Moment zusammen.
„Oh Bene, du bist kitschig.“
Er grinst. „Ja, was soll ich machen? Diese Philosophen-Weisheit strömt nur so aus mir heraus.“
„Na, ein Glück, dass ich mir nicht noch mehr von Benes weisen Worten des Tages anhören muss. Es wird nämlich Zeit, ich muss nach Hause. Mamas Kurs endet um achtzehn Uhr. Mit dem Rad ist sie schnell wieder da. Dann gibt es auch gleich Essen, wenn ich noch was runterbekomme. Ich habe null Lust, sie jetzt zu sehen.“
Ich habe Bene von dem Streit erzählt. Ich erzähle Bene immer alles, er weiß auch von Dad und Caro. Bene ist so gelassen in allem, er hat einfach die Ruhe weg und er hört mir wirklich zu.
Viele Menschen hören nur zu, um etwas von sich zu erwidern, Bene hört um meinetwillen zu.
Er ist ein wahrer Freund.
„Warte doch erst mal ab, bevor du dich weiter aufregst, ihr seid ja mitten im Streit auseinandergegangen. Vielleicht ist sie ja einsichtig“, beruhigt er mich ein wenig.
Unsere Wohnung ist in unmittelbarer Nähe der Hackeschen Höfe. Es ist cool da und ich bin mir sicher, dass Mum diese Wohnung nur deswegen ausgewählt hat, weil ihr Lieblingsyogastudio nur einen Steinwurf entfernt ist. Die Gegend ist echt teuer, deswegen ist unsere Wohnung auch ziemlich klein. Aber jeder hat sein eigenes Zimmer. Ich mag unsere saugemütliche Wohnküche, aber das Bad ist grenzwertig: Wenn ich auf dem Klo sitze, stoße ich fast mit den Knien am Waschbeckenunterschrank an.
Berlin-Mitte ist genau Mums Ding. Hier gibt es alles, was sie braucht, fast rund um die Uhr: abgedrehte Leute, Sojamilchkaffeebars und Yoga.
Bene bringt mich nach Hause. Er ist echt voll in Ordnung, aber das sagte ich ja schon. Mir fällt dabei auf, wie sehr ich ihn mag. Ganz nebenbei: Er liebt Skateboard fahren genauso wie ich. Wir können echt super zusammen trainieren und wir lachen viel miteinander. Franzi und Bene sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Bene kenne ich noch gar nicht so lange, erst zwei Jahre, aber ich mochte ihn von Anfang an, als er neu in unsere Klasse kam. Ich finde, Freunde sind das Allerwichtigste im Leben. Man kann einfach so sein, wie man ist, und hält zusammen, egal, was ist. Freundschaft bleibt immer – nicht wie Liebe, die öfter endet oder sogar in Hass umkippt.
Der unfaire Deal
Ich schließe die Wohnungstür auf und da steht meine Mum, am Kücheneingang. Dann mal auf in die nächste Runde.
Ihre Wangen glühen, sie strahlt mich mit ihrem Happy-Yogaglow-Face an. Ich trete mürrisch in die Küche, sie soll ja nicht denken, dass jetzt alles feinchen ist. Ich bin immer noch stinksauer.
„Hey Schatz, ich bekam beim Yoga diese Eingebung!“, beginnt sie ohne Umschweife das Gespräch.
Ich ahne nichts Gutes. Ich setze mich und frage hoffnungsvoll (man kann es ja versuchen): „Darf ich doch mit Franzi und Tom auf das Konzert?“
Darum ging es nämlich in dem Streit. Ich will unbedingt auf dieses Konzert von E(y)GO. Es ist erst in sechs Monaten, aber ich muss die Karten jetzt bald kaufen, bevor alles ausverkauft ist. Ich habe mein gespartes Taschengeld zusammengekratzt, das passt, aber trotzdem mischt sie sich ein. Sie mischt sich ein, weil ihr der Künstler nicht zusagt: Er würde falsche Werte vermitteln. Hä?
Geht’s noch? Ich will doch nur seine Musik hören.
Damit das deutlich für euch wird: Sie ist also nicht dagegen, wie vielleicht andere Eltern, weil ich generell nicht auf ein überfülltes Konzert mitten in Berlin am späten Abend gehen soll. Diese fürsorglichen Ängste könnte ich minimal verstehen. Aber nein, es ist eine Frage ihres Geschmacks. Sie hat eine Regel: Kein Gangster-Rap! Das ist so dämlich; sie kann mir doch nicht vorschreiben, auf was und wen ich stehe.
Okay, die Songtexte sind manchmal echt assi. Aber meine Güte, man muss das doch nicht so eng sehen. Der Beat ist super und junge Leute hören so etwas heutzutage eben. Da hat meine Mum einfach keine Ahnung, sie ist echt eine andere Generation. Ich achte ja auch gar nicht so auf den Text. Der Typ hat einfach eine lässige Stimme, wenn er singt, und gut is’. „Halt die Fresse, du Frau, kriegst hundert Dollar, sei Sau!“ Na und? Das ist doch nur so dahingesagt, eben irgendein Songtext, der zum Beat passt und der sich reimt. Er will eben provozieren – und bei meiner Mum hat er das geschafft. E(y)GO ist einfach krass geil und sein Konzert ist sicher bald ausverkauft.
Mums Vortrag beginnt: „Süße, du weißt, wie sehr ich gegen diese aggressiven, zudem auch noch frauenfeindlichen Energien bin, gleichzeitig möchte ich dich aber auch nicht in deiner Freiheit einschränken. Das ist alles sehr schwer für mich. Ich möchte dich so gern aus deinem Anti-Loch herausholen, aber ich sehe ein, dass das nicht meine Aufgabe ist. Ich kann nur für dich da sein, aber du musst deinen Weg alleine gehen.
Aber ich darf dir als Mutter Wege aufzeigen, und hier kommt mein Angebot:
Wenn du drei Monate lang einmal in der Woche in einen Yogakurs gehst und mir danach fest in die Augen sehen kannst und immer noch meinst, dass du auf das Konzert gehen willst, dann sei es so. Wenn du mir direkt ins Gesicht sagen kannst, dass du Yoga und die damit verbundenen Werte schrecklich findest, dann werde ich dich zukünftig nicht mehr bezüglich Gangster-Rap belästigen.“
„Hä? Was, bitte schön, hat das denn damit zu tun?“, brülle ich lauter als laut. Ich bin entsetzt! Was ist das denn für ein Schwachsinn?! Und das von einer vernünftigen Erwachsenen, die immer fair erziehen will? Das ist reine Erpressung und Yoga hat doch gar nichts damit zu tun!
„Nix!“, sagt sie knapp, fast fröhlich.
„Spinnst du jetzt, oder was? Und was für ein Anti-Loch?“
Meine Mum schließt die Augen und atmet mehrmals tief ein und aus. Ich finde das lächerlich. Sie macht das oft, wenn wir uns streiten, ich hasse es. Ihr Geatme macht mich noch wütender, sie sieht dann aus wie eine Irre. Warum sie das tut? Sie erklärte mir, sie könne sich durch den tief geführten Atem besser sammeln, um sich so in ihrer Mitte zu verankern. Sich in der Mitte verankern, das ist so eine Art Yogaslang. Was das genau heißt, weiß ich auch nicht. In der Mitte zu sein, damit meint sie sicher: nicht auszuflippen. Aber das mit dem Ankerkram, das ist mir nicht klar. Ich frage sie aber auch erst gar nicht, sonst folgt wieder so ein geistreicher Finde-dich-selbst-Hobbypsycho-Vortrag. Sie behauptet, der Atem sei ihr Transportfahrzeug zu sich selbst. Geil, oder? Ich meine, da kann man doch nur noch lachen und den Kopf schütteln.
Meine Mum gibt zu: „Ja, ich weiß, der Vorschlag wirkt komisch und das ist er zugegebenermaßen auch. Manche Dinge kann ich nicht erklären. Ich hatte diese Eingebung beim Yoga und es fühlt sich richtig für mich an.“
„Für dich vielleicht. Ich hab da null Lust drauf und ob sich das für dich richtig anfühlt oder nicht, ist mir Jucke. Es ist Erpressung und sonst nix! Ist Erpressung in deiner Happy-Hippie-Welt erlaubt?“ Ich gucke sie mit einem echt bösen Blick an, aber sie bleibt ganz ruhig.
„Ich verstehe deine Reaktion und an sich ist Erpressung ganz bestimmt nicht das Mittel meiner Wahl. Objektiv gesehen ist das nicht richtig von mir. Ich will versuchen, deinen Horizont zu erweitern, und manchmal muss man als Mama sein Kind schubsen. Mein Angebot steht, so wie ich es formuliert habe! Ich kann es dir gleich verbieten oder du gehst auf meinen Deal ein. Punkt!“, entgegnet sie mit klarer, fester Stimme.
Jetzt bin ich richtig sauer!
Ich koche vor Wut, mir wird ganz heiß. Ich könnte etwas durch die Küche werfen und so laut schreien, dass ich den Straßenverkehr übertöne! Das ist sooo ungerecht!
„Hä? Alter, wo ist denn da der Sinn? Ich mache Yoga und finde es kacke und darf zum Konzert? Das kannst du gleich haben, ohne rausgeworfene Kohle. Oder lass uns mal komplett wahnsinnig, im Sinne von allen guten Geistern verlassen, denken: Wenn ich dir dann nach drei Monaten sage, ich finde Yoga toll und gehöre jetzt auch zu den Happy Hippos, dann werde ich trotzdem zu dem Konzert wollen und gehen, das wird sich nie ändern, das wirst du mit keiner Maßnahme verhindern. Wozu der Schwachsinn? Für ein bisschen Reinschnuppern meinerseits in den Happy-Hippo-Scheiß? Ich kapiere gar nichts! Dein Angebot ist doch voll unlogisch!“
Meine Mum sieht mich einfach nur an. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Autsch, das hat gesessen, wahrscheinlich zu sehr. Ich wollte ihr nicht wehtun. Es rutschte mir so raus, das mit den Hippos. Ich blicke hinunter auf die schwarz-weißen Fliesen unseres Küchenbodens und weiß gerade nicht, was ich machen soll. Diesmal geht sie aus der Küche in ihr Zimmer. Die Türen knallen nicht und vorher sagt sie leise und sehr traurig: „Wenn dir Yoga gefällt und du es verstehst, dann wirst du sicher gar nicht mehr zu diesem Gangster-Rapper hingehen wollen, der mit seinen Texten Frauen erniedrigt und Drogen feiert! Vielleicht spürst du dann was, was du gerade fest verschlossen hast. Ich kann nur hoffen, dass du so jemanden nicht unterstützen magst und das erkennst. Ein Künstler hat einen sehr wichtigen Auftrag vom Universum bekommen und er missbraucht diesen mit solchen Texten. Aber am Ende kann ich das nicht für dich spüren, den Weg musst du dir allein erschließen. Vielleicht ist Yoga ein Anfang.“
Ich wollte laut erwidern, dass sie ein Moralapostel sei. Sie sei irre, das Universum beauftrage niemanden und ob sie auch noch an den Weihnachtsmann glaube und an den lieben Gott mit seinen Engelchen im Himmel.
Mein Gott, die Welt ist, wie sie ist, und es geht um Fun bei dem Konzert, nicht um Unterstützung eines Bösewichts. Das ist doch nur Show und man muss ja nicht gleich jedes Wort auf die Goldwaage legen.
Ich sage aber gar nichts.
All das stockt in meiner Kehle, ich kann sie nicht weiter angreifen, weil ich sie schon genug verletzt habe.
Ich kann nicht schlafen, ich hole mein Tagebuch, mein Psst, aus dem Schrank. Ich weiß, Psst ist ein dämlicher Name, aber ich schreibe in mein Tagebuch, seitdem ich denken kann. Ich war drei Jahre alt und da nannte ich es eben so. Na ja, mit drei malte ich eher hochgeheime Zeichnungen in mein Psst, vor allem über die doofe, damals wahrscheinlich kurz vor dem Burn-out stehende Erzieherin Roberta, die war echt ungerecht. Psst ist ganz hinten versteckt, unter meinen Pullis. In letzter Zeit schreibe ich oft rein, irgendwie tut es mir gut, warum auch immer. Ich weiß, dass ich das Tagebuch nicht verstecken muss. Meine Mum ist vielleicht durchgeknallt, aber fair. Sie würde nie in privaten Sachen von mir rumschnüffeln. Sie lebt nach irgendwelchen yogischen Regeln und da glaubt sie fest dran. Sie liebt mich echt und würde mir das nie antun, in meinem Tagebuch lesen und so. Ich habe sie ja auch lieb. Es ist nur so schwer, sie zu verstehen, sie tickt so anders. Sie redet immer abgedrehtes Zeug. Sie ist so anders als andere Mütter. Ich meine, welche Mutter lässt schon ihre Achselhaare wachsen, weil das energetisch besser ist? Igitt, oder?
Und welche Mutter benutzt Kokosöl als Zahnpasta? Welche Mutter hat Lachflashs wie ein sechzehnjähriges Mädchen und tanzt mit ihren Freundinnen die Nächte durch, weil sie ihr inneres Kind ausleben muss? Welche Mutter hat einen Freund, der drei Jahre jünger ist und sich Seine nennt, obwohl das sicher nicht sein richtiger Name ist? Wahrscheinlich heißt er Peter Müller oder so. Er spielt in einer Band, besitzt ganze zwei Jeans sowie eine E-Gitarre, weil er dem Materialismus den Kampf angesagt hat. Hiiilfe, ich bin die Tochter einer Verrückten! Und trotzdem, eine normale Mutter kann ich mir auch nicht vorstellen. Aber was echt cool an ihr ist: Sie macht ihr Ding. Das ist mutig, irgendwie. Kennt ihr Udo Lindenberg? Das ist so ein verschrobener alter Rocker. Es gibt einen Song von ihm, der heißt Mein Ding. Der lief neulich bei Dad im Auto. Und als ich den Songtext hörte, musste ich an meine Mum denken und grinsen.
Franzi hat dagegen so eine typische Mama aus der Angepassten-Kategorie, so eine Was-sollen-die-Leute-von-uns-denken- und Man-macht-das-eben-so-Mama: Man geht Weihnachten in die Kirche, man spielt ein Instrument, man trägt immer gut gebügelte Kleidung, man benimmt sich immer einwandfrei, man macht die Hausaufgaben, studiert und heiratet einen Akademiker. Wenn ein Gedanke mit „man macht …“ anfängt, dann ist der Inhalt meist unreflektierter Mist, finde ich. Franzi hat neulich eine Fünf in Mathe geschrieben, und die größte Sorge ihrer Mutter war, dass sich das bei den anderen Müttern im Tennisclub rumsprechen könnte. Ist das zu fassen?
Meine Mum mit ihrem indischen Look hat sich definitiv an meiner Schule rumgesprochen. Mum ist’s egal, was die anderen Mütter von mir denken, und das finde ich schon cool. Sie ist der Auffassung, dass jeder mit sich selbst zufrieden sein und sich mögen müsse. Das zähle und das sei schwer genug. Es muss sich leicht anfühlen, wenn man nicht ständig überlegt, was andere Leute über einen denken. Ich kriege das aber nicht hin, denn es ist mir nicht egal. Ich will cool sein, einfach für alle – na ja, für fast alle. Wäre doch geil, wenn alle auf mich stehen würden, auf die tolle, schöne, witzige Felicy. Wer will nicht total beliebt und angesagt sein?
Und dann ist es eben nicht egal, was man sagt, tut und macht, wie man aussieht und rumläuft. Ehrlich gesagt finde ich das ganz schön stressig, wenn man sich darauf ständig bewusst einlässt. Es ist ein Gefühl, als lebte man unter einer Lupe, die das Haar in der Suppe sucht und natürlich auch findet. Wer ist schon perfekt? Ich versuche erst gar nicht, mich von der Masse abzuheben und irgendwie positiv ins Auge zu stechen. Ich probiere eher, nicht durch was Uncooles aufzufallen, das ist schon aufwendig genug. Ich muss nicht unbedingt fame sein.
Ich habe tolle Freunde. Aber cool wäre es schon, so richtig angesagt zu sein.
Ich bin kein Loser oder so. Ich gehöre zur großen Clique der neunten Klassen, mich mögen viele, aber ich bin auch kein Star der Schule, so wie Linda einer ist. Muss sich toll anfühlen, wenn sich alle nach einem umdrehen oder mit einem befreundet sein wollen, eben fame zu sein. Wie wird man eigentlich fame? Hat das nur was mit dem Aussehen zu tun?
Puh, mein Kopf brummt. Er ist so voll, als würden Millionen Gedankenschnipsel in meinem Gehirn rumschwirren. Alles fühlt sich gerade chaotisch an in meinem Kopf. Ich würde gern da drinnen aufräumen, um endlich mal Ruhe zu haben. Ich weiß aber nicht wie. Die Gedanken hüpfen in mir los wie ein wilder Affe im Urwald und dann gibt es kein Halten mehr. Ich springe von Gedanke zu Gedanke und plötzlich bin ich tief im Dschungel meiner eigenen Hirnwindungen. Kennt ihr das, wenn man Sachen denkt, die man gar nicht denken will? Und ich, ich bin eine richtige Denkerin.
Oh Shit, ich schreibe ja morgen einen Vokabeltest, das habe ich ganz vergessen.
Oh nein! Schlafen oder Vokabeln lernen? Ich entscheide mich für schlafen. Ich bin platt, da geht eh nix mehr rein. Kein tolles Gefühl, aber ich kann jetzt echt nicht mehr lernen. Ich schaue mir die Vokabeln morgen im Bus an, das wird schon irgendwie werden.
Ist doch alles nervig gerade, Schule und so, einfach alles. Das Leben ist voll anstrengend! Man kann nicht mal ohne schlechtes Gewissen gemütlich einschlafen.
Weiterer Psst-Eintrag – alles nervt
Montag ist immer doof, aber heute ist es eine Katastrophe. Ich bin voll müde. Ich fühle mich nicht so richtig wohl in meiner Haut. Es gibt Tage, da ist das einfach so, warum auch immer, und dann ist Schule echt schwer zu ertragen. Mal ist man super drauf und alles läuft, und manchmal steht man auf und weiß:
Dieser Tag wird scheiße.
Zuerst der Vokabeltest, den ich voll versiebt habe. Anschließend Mathe, bei diesem Oberarsch Konrad. Der unbeliebte Konrad ist schon in seiner Erscheinung unangenehm. Er trägt immer die gleiche ausgebeulte braune Cordhose, ein vergilbtes Oberhemd und dazu ausgetretene Lederschuhe, die eher wie Hausschuhe aussehen. Er hat nur noch wenige Haare, die sorgsam über seine drohende Glatze gekämmt sind.
Der Unterricht beginnt jede Stunde gleich: Er zückt aus seiner Hosentasche ein kleines schwarzes Notizbuch, fährt mit seinem Finger dramatisch langsam über die Namensliste und in der gesamten Klasse ist es gebannt still. Es fehlt nur noch der Trommelwirbel.
Dann ruft er einen Namen auf und sein Opfer ist gewählt.
Und ausgerechnet heute traf es mich. Ich musste an die Tafel und eine detaillierte Stundenwiederholung überstehen. Ich versagte kläglich und kassierte dafür eine fette Vier minus, obwohl ich eigentlich in Mathe ganz gut bin. Heute konnte ich aber einfach nicht denken. Ich hasse es, da vorne an der Tafel zu stehen! Alle glotzen einen erwartungsvoll an. Manche Blicke sind voller Mitleid, manche voller Panik, weil jeder weiß, es hätte auch ihn treffen können. Jeder Stundenbeginn bei Konrad ist damit Stress pur.