Oracle Year. Tödliche Wahrheit - Charles Soule - E-Book

Oracle Year. Tödliche Wahrheit E-Book

Charles Soule

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Beschreibung

Was wäre, wenn du heute schon wüsstest, was morgen passiert?

Will Dando erwacht eines Morgens mit dem Gefühl, vielleicht noch zu träumen – denn ihm schwirren Prophezeiungen durch den Kopf. Totaler Quatsch, denkt er, und widmet sich weiter seiner bescheidenen Karriere als Musiker. Doch als erste Visionen sich bewahrheiten, wird Will die Brisanz und der Wert seiner Gabe bewusst. Zusammen mit seinem besten Freund, einem Investmentbanker, beschließt er, mit den Prophezeiungen Geld zu verdienen. Dafür jedoch müssen sie an die Öffentlichkeit gehen – und die Menschen reagieren zutiefst verunsichert. Als erste Unruhen ausbrechen, beginnt Will zu ahnen, wie gefährlich sein Wissen wirklich ist ...

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Buch

Will Dando weiß nicht recht, was er vom Leben will. Er hält sich als Musiker in New York gerade so über Wasser, der große Durchbruch wird ihm nicht gelingen. Ziellos lässt er sich treiben. Doch eines Morgens ändert sich alles: Als er erwacht, schwirren ihm Prophezeiungen durch den Kopf. Diese reichen von profan (»Eine Frau aus Texas wird sich eine Schokomilch kaufen.«) bis zu katastrophal (»In Milwaukee wird eine Brücke einstürzen.«). Zunächst glaubt Will, dass er noch träumt, und misst den Vorhersagen keine Bedeutung zu. Als sich jedoch erste der 108 Prophezeiungen bewahrheiten, kann er sie nicht mehr ignorieren und vertraut sich seinem besten Freund, dem Investmentbanker Hamza, an. Dieser erkennt, wie wertvoll Wills Gabe ist, und überredet ihn, die Prophezeiungen zu Geld zu machen. Gesagt, getan: Innerhalb kürzester Zeit verdienen sie Unsummen. Mit den Geschäften hat sich Will jedoch aus der Deckung gewagt und die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich gezogen. Bald kippt die anfangs euphorische Stimmung in der Öffentlichkeit, und ehe er es sich versieht, wird Will zum Gejagten. Doch er kann sich nicht verstecken. Denn während die Welt um ihn herum im Chaos versinkt, erkennt Will, dass er der Einzige ist, der sie retten kann …

Autor

Charles Soule hat sich als Autor von Marvel Comics (u. a. Daredevil, Star Wars)einen Namen gemacht und arbeitet außerdem als Musiker und Anwalt. Er lebt in Brooklyn, New York.

Charles Soule

Oracle Year

Tödliche Wahrheit

Thriller

Aus dem Englischen

von Michael Krug

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Oracle Year« bei Harper Perennial, New York.
Deutsche Erstveröffentlichung August 2018 Copyright © der Originalausgabe 2018 by Charles Soule Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: FinePic®, München Redaktion: Heiko Arntz em · Herstellung: ik Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-21417-3V002
www.goldmann-verlag.de
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Für drei Frauen:

Mary

Amy

Rosemary

Teil I

Herbst

Kapitel 1

Alles kann passieren, dachte Will Dando. In den nächsten fünf Sekunden, in den nächsten fünf Jahren. Alles Mögliche.

Er hob sein Bier an und trank die letzten Schlucke aus. Dann versuchte er, Blickkontakt zum Barkeeper aufzunehmen, was sich als nicht so leicht erwies. Bei Wills Ankunft vor ungefähr drei Stunden war es noch nicht besonders voll gewesen, doch mit dem Beginn des Spiels – die Jets gegen die Raiders – hatte sich das Lokal rasch gefüllt.

Die Jets lagen drei Punkte hinten, und das Spiel dauerte nicht mehr lange. Normalerweise interessierte sich Will nicht sonderlich für Sport. Er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er sich je ein Footballspiel von Anfang bis Ende angeschaut hatte.

Aber bei diesem Spiel verhielt es sich anders. Es war wichtig.

Wichtig deshalb, weil das Ergebnis zu den einhundertacht Dingen gehörte, die Will wusste und die sich noch nicht ereignet hatten.

Bei der Bar handelte es sich bloß um eine beliebige Kneipe in der Nähe seiner Wohnung, ohne nennenswerte Vorzüge, oder nur mit dem einen, den jede Bar auf der Welt bot: Trank man dort, trank man – faktisch – nicht allein. Will hatte sich den zweitbesten Platz im Lokal ausgesucht – den so weit wie möglich von der Tür entfernten Hocker. Ungewöhnlich frostige Novemberluft wehte jedes Mal herein, wenn jemand kam oder ging. Die Zugluft fegte durch die Kneipe, kräuselte die kleinen Pfützen verschütteten Biers und brachte Servietten zum Flattern.

Der beste Platz im Lokal – der von der Tür und dem Wind am weitesten entfernte Hocker – befand sich unmittelbar links von Will. Dort saß eine bezaubernde junge Frau mit leicht gewelltem, kastanienbraunem Haar. Sie schien mit dem Barkeeper befreundet zu sein. Jedenfalls wurde sie deutlich schneller bedient als Will, und mindestens zwei von drei Drinks schienen nicht auf der Rechnung zu landen. Aber dafür konnte es eine ganze Reihe von Gründen geben. Allein das umwerfende Haar.

Will hatte ihren Namen aufgeschnappt – Victoria, und er spielte mit dem Gedanken, sie anzusprechen. Tatsächlich spielte er mit dem Gedanken bereits seit den drei Stunden, die er hier war.

Sein Handy summte. Er blickte auf das Gerät hinab – »Jorge« stand auf dem Display, was einen Gig bedeutete –, einen guten. Vermutlich eine Party an irgendeinem coolen Veranstaltungsort in der Innenstadt, und das für gutes Geld. Selbst der absurdeste Job, den Jorge anschleppte, machte in der Regel Spaß, und gelegentlich befand sich ein spektakulärer Auftritt darunter. Er hatte Will schon für Unterwäschemodenschauen engagiert, für After-Show-Partys mit Gästen aus der Industrie, auch als Studiomusiker und als Mitglied für diverse Vorbands. Wenn Will als Berufsbassist in New York irgendeine Chance hatte, dann nur über Jorge Cabrera.

Will tippte auf das Display seines Telefons und wies den Anruf ab, als sich der Barkeeper endlich zu seinem Ende der Theke verirrte.

»Noch eins?«, fragte der Mann und deutete auf Wills leere Bierflasche.

»Ja«, sagte Will. »Noch mal dasselbe.«

Aus einem Impuls heraus drehte er sich nach links und lächelte Victoria an. »Darf ich dich auf einen Drink einladen?«

Aus dem Augenwinkel bekam Will mit, dass der Barkeeper kurz innehielt, als er ins Kühlfach griff. Also waren die beiden vielleicht mehr als befreundet. Na und?

Victoria drehte den Kopf und sah Will an.

»Oh, danke«, sagte sie freundlich genug, um nicht unfreundlich zu wirken. »Aber ich kenne den Barkeeper. Ich trinke gratis.«

»Alles klar, verstehe«, erwiderte Will. »Aber … nur mal laut gedacht … bezahlt schmeckt es besser als gratis, oder?«

Victoria legte den Kopf leicht schief. »Ist schon gut, danke.«

Sie schaute demonstrativ zurück zum Fernseher. Noch deutlicher wäre die Abfuhr nur gewesen, wenn sie sich weggesetzt hätte. Der Barkeeper kam zurück, schob einen Bierdeckel vor Will und stellte die neue Flasche darauf, vielleicht ein wenig energischer als nötig.

Die Oakland Raiders erzielten einen Touchdown samt zusätzlichem Punkt und bauten ihre Führung auf zehn Zähler aus. Vom Großteil der Gäste in der Kneipe erhob sich ein Stöhnen. Victoria stöhnte mit.

Vor Will auf der Theke lag ein spiralgebundenes Notizbuch mit einem schwarzen Deckblatt so knittrig wie eine alte Lederbrieftasche. Verschütteter Kaffee hatte den unteren Rand des Papiers mit einem schimmlig wirkenden Braun befleckt. Will presste Daumen und Zeigefinger auf die untere Ecke und ließ die Seiten durchlaufen. Sein Blick war auf das lange Regal hinter der Theke gerichtet, auf sein eigenes Spiegelbild, das er etliche Male verzerrt in den dort aufgereihten Flaschen sah. Er bog das Notizbuch in seiner Hand und glättete seine Knicke.

Will dachte daran, was er wusste, und überlegte, was er mit dem Wissen anfangen könnte.

Schüsse im Feinkostladen. Im Lucky Corner. Zwei direkt hintereinander, dann eine Pause, dann drei weitere. Dann eine längere Pause. Angehaltener Atem. Entscheidungen wurden getroffen. Wieder Schüsse. Großer Lärm. Dann spritzte etwas gegen das Schaufenster, von innen. Fast schwarz in der Mitte und hellrot an den transparenten Rändern.

Will spielte mit dem Etikett seines halb ausgetrunkenen Biers und überlegte, wie viele er schon gehabt hatte. Er dachte nach, über gute Entscheidungen und schlechte Entscheidungen, und darüber, wie schwierig es war, sie auseinanderzuhalten.

Will drehte sich erneut Victoria zu. »Jets-Fan?«, fragte er.

»Ja«, sagte sie, ohne den Blick vom Fernseher zu lösen.

»Willst du wissen, wer das Spiel gewinnt?«, fragte Will.

»Ich glaube, das ist offensichtlich«, sagte sie.

»Du wärst vielleicht überrascht«, meinte Will. »Die Jets gewinnen mit vier Punkten Vorsprung.«

Victoria schnaubte verächtlich, was sich bei ihr trotzdem irgendwie süß anhörte. »Zwei Touchdowns in nur noch zwei Minuten Spielzeit? Jetzt hör aber auf. Sam sollte dir lieber nichts mehr zu trinken geben.«

»Wart’s ab«, sagte Will.

»Und wieso bist du dir so sicher? Weil du das verdammte Orakel bist, oder was?«

Will zögerte. »Genau«, sagte er.

Schließlich löste Victoria die Aufmerksamkeit vom Fernseher. »Hm-hm«, brummte sie. »Hast du eine Ahnung, wie oft ich das in den vergangenen Monaten schon gehört hab? Aber du setzt es falsch ein. Du musst vorhersagen, dass wir morgen früh zusammen in der Kiste aufwachen.«

Will grinste. »Davon weiß ich nichts. Aber die Jets werden dieses Spiel gewinnen.«

»Mit vier Punkten Vorsprung«, fügte Victoria hinzu.

»Richtig.«

»Wenn das passiert, gehöre ich dir. Dann kannst du mich mit nach Hause nehmen und mit mir machen, was du willst.«

Will machte große Augen. »Wow.«

»Freu dich nicht zu früh«, sagte Victoria.

Die Jets waren im Ballbesitz. Beim zweiten Down fing einer der Receiver der New Yorker Heimmannschaft einen Pass über dreißig Yards und rannte mit dem Ball bis in die Endzone. Wilder Jubel brach in der Kneipe aus.

Will schaute zu Victoria. Sie starrte ihn an. »Siehst du?«, sagte Will.

»Ja«, sagte Victoria. »Aber sie haben noch einen weiten Weg vor sich und nicht mehr viel Zeit.«

»Hm-hm«, machte Will.

Die Jets erzielten ihren Extrapunkt, und die Raiders kamen wieder in Ballbesitz.

Fast schwarz in der Mitte und hellrot an den transparenten Rändern.

Will stand auf, griff sich das Notizbuch und klemmte es sich unter den Arm.

»Wo willst du denn hin?«, fragte Victoria.

»Keine Sorge, ich bin gleich wieder da. Immerhin haben wir eine Wette am Laufen, weißt du noch?«

»Und ob.«

Rasch ging Will in den hinteren Bereich der Kneipe. Er betrat die Herrentoilette und verschloss die Tür. Er legte die Hände links und rechts auf das kalte Porzellan des Waschbeckens und blickte in den fleckigen Spiegel.

Ein durch und durch gewöhnliches Spiegelbild blickte zurück: Ende zwanzig, ungepflegt, unterbeschäftigt. Aber natürlich trog der äußere Schein. Seit einer Weile war er nicht mehr gewöhnlich.

Wieder Jubel in der Kneipe. Obwohl Will den Fernseher nicht sah, wusste er haargenau, was sich ereignet hatte. Die Jets hatten einen Fumble erzwungen und für einen weiteren Touchdown genutzt. Die Leute in der Bar rasteten völlig aus, und eine umwerfende junge Frau fing zu glauben an, dass sie an diesem Abend womöglich tatsächlich dem Orakel begegnet war. Er hätte sie und jede andere Frau in dem Schuppen haben können. Will hätte die gesamte Kneipe haben können, wenn er wollte. Es hätte ihn nur ungefähr zehn Worte pro Person gekostet.

Will schloss die Augen. Er rollte das Notizbuch zu einem Zylinder zusammen und quetschte es mit beiden Händen, bis seine Knöchel weiß hervortraten.

Gute Entscheidungen und schlechte Entscheidungen. »Verdammt«, sagte er, als ihm klar wurde, dass er seine Jacke auf dem Barhocker zurückgelassen hatte. Blöd. Er verließ die Toilette und wagte einen Blick zurück in den Raum. Die schöne Victoria starrte auf den Fernseher und klatschte begeistert, als die Jets zum Kick für den Extrapunkt ansetzten. Sie würden ihn bekommen. Und damit vier Punkte vorn liegen.

Das Lokal besaß einen Hinterausgang neben der Küche. Will trat hinaus ins Freie. Die Luft brannte in seiner Lunge, als er tief einatmete. Er ging in die Nacht davon und schaute nicht zurück.

Kapitel 2

Leigh Shore starrte auf ihren Salat. Sie hatte sich ein bisschen was gegönnt. Croutons, Käse, gebratene Hühnerbruststreifen und das gute Dressing – das man ehrlicherweise lieber als Nachtisch bezeichnen sollte. Stimmungsaufheller im Wert von knapp fünfzehn Dollar vom Selbstbedienungsbüffet. Sie hatte gerade mal zwei Bissen geschafft.

Leigh legte die Gabel auf den Teller und wischte sich die Hände an einer Papierserviette ab, die sie anschließend zusammenknüllte und auf das Tablett warf. Reflexartig griff sie zu ihrem Smartphone und wischte über das Display. Ein Reddit-Thread mit einem einzigen Posting erschien auf dem Bildschirm.

Oben auf der Seite zwei kurze Sätze:

Morgen ist heute.

Das sind die Dinge, die passieren werden.

Darunter eine Liste. Zwanzig Ereignisse. Mit wenigen Sätzen knapp beschrieben. Jeweils mit Datum versehen. Insgesamt erstreckten sich die Daten über einen Zeitraum von etwa sechs Monaten. Diese Liste kursierte überall im Internet – jede Feedreader-Website hatte eine eigene Version, jede mit einem begleitenden Thread aus Tausenden Kommentaren darunter. Aber auf Reddit war die Liste ursprünglich aufgetaucht, über ein anonymes Pastebin-System.

Die Site. Jeder wusste, was damit gemeint war, wenn man sie erwähnte.

Leigh scrollte nach unten zum Ende der Liste. In den fünf Minuten, seit sie dasselbe Manöver zuletzt durchgeführt hatte, war keine Änderung eingetreten. Sie schaute von ihrem Telefon auf. Die meisten Leute im Café hatten ihr Handy gezückt. Allein in ihrem Blickfeld konnte sie die Site auf mindestens zwei der Displays ausmachen.

Leigh wischte die App weg und rief stattdessen ihre E-Mails auf. Nichts – zumindest nicht die E-Mail, auf die sie wartete.

Sie zögerte, mit gerunzelter Stirn, dann rief sie ein anderes Dokument auf, einen Artikel, ihren Artikel – ungefähr dreitausend Wörter, ergänzt um Bilder, Links … Alles, was anspruchsvolle Leser von Urbanity.com erwarteten.

In dem Artikel ging es um die Site. Leigh hätte sich alles Mögliche aussuchen können. Aber die Site war … faszinierend. Seit sie aufgetaucht war, schien sie das Einzige zu sein, das wirklich zählte. Das einzige Rätsel, das es wert war, gelöst zu werden.

Leigh hatte in einer Starbucks-Filiale in der Warteschlange gestanden, als ihr Handy mit einer Nachricht vibriert hatte – ein Link, geschickt von ihrer Freundin Kimmy Tong. Als sie dem Link folgte, verstand sie zunächst nicht, wieso Kimmy glaubte, so etwas könne sie interessieren. Sie gab ihre Bestellung auf, googelte, während sie auf ihren Latte wartete, und las. Schließlich begriff sie, was die Site zu sein behauptete. Sie las den Text erneut, wieder und wieder. Sie hörte nicht einmal ihren Namen, als der Barista ihn rief, bis er ihn ihr – ziemlich genervt – fast schon ins Gesicht schrie.

Die Site drang so rasant ins öffentliche Bewusstsein, als wäre ein UFO über Washington erschienen. Von einem Tag auf den anderen wurde sie praktisch zum einzigen Gesprächsthema.

Zwanzig Ereignisse, alle mit einem Datum versehen. Die beiden ersten waren bereits eingetreten, als sich die Site wie ein Virus im Internet verbreitete, aber alle übrigen Ereignisse sollten in der Zukunft stattfinden. Seither waren vier weitere Daten verstrichen, und an jedem war das auf der Site genannte Ereignis eingetreten, haargenau wie beschrieben. Oder präziser ausgedrückt: wie prophezeit – von einer unbekannten Person, einem Wesen, einem Supercomputer oder einem Alien. Von irgendetwas, das als »das Orakel« bekannt geworden war, während die Website selbst schlicht »die Site« genannt wurde.

Leigh überflog weiter den Text des Artikels, überprüfte ihn ein letztes Mal auf Satzbau und Tippfehler. Gerade weil das Thema bereits so erschöpfend abgehandelt worden war, hatte sie entschieden, über das Orakel zu schreiben. Eine strategische Überlegung. Wenn es ihr gelänge, neue Perspektiven, neue Interpretationen einzubringen, wäre das weit beeindruckender als ein Artikel über etwas weniger Bekanntes.

Sie glaubte, es womöglich geschafft zu haben. Sie hatte versucht, sich in den Kopf des Orakels hineinzuversetzen, woran die meisten anderen Artikel gar kein Interesse zu haben schienen. Leighs Ansatz bestand darin, nicht die Auswirkungen der Prophezeiungen der Site auf die Welt zu erörtern, sondern sich darauf zu konzentrieren, wie sie sich auf den Propheten niederschlagen könnten. Zumindest war das der Grundgedanke. Mittlerweile hatte sie den Text zu viele Male gelesen, um sich noch sicher zu sein, worum er sich wirklich drehte – aber ihre Absichten waren gut.

Leighs aktuelles Aufgabengebiet bei Urbanity.com hieß »Stadtkultur« – eine Umschreibung für Klickbaits im Listenformat. Es ging um New Yorker Clubs und Shows, um Promi-Geplänkel und die besten Bagels in Brooklyn. Urbanity.com brachte auch richtige Reportagen – nicht viele, aber immerhin einige, unter anderen Rubriken, und ihr Artikel über das Orakel war so etwas wie ein Bewerbungsschreiben, um in den inneren Kreis aufgenommen zu werden.

Leigh wechselte zurück zu ihrem E-Mail-Konto – immer noch nichts. Frustriert runzelte sie die Stirn, dann tippte sie mehrmals auf ihr Handy, und der Artikel ging online, frei zugänglich für jeden der Millionen Leser der Website. Damit waren die Würfel gefallen.

Sie stand auf, leerte ihr Tablett in den Mülleimer und verspürte instinktiv den Anflug eines schlechten Gewissens wegen der Verschwendung. Mit rumorendem Magen ging sie die zwei Blocks zu ihrem Büro zurück.

Urbanity.com war in zwei Geschossen eines unscheinbaren Gebäudes an der Ecke Fünfzigste und Dritte Straße untergebracht. Ein von Besprechungsräumen gesäumtes Großraumbüro im fünften Stock, die Büros der Führungsriege im zehnten.

Leigh nahm an ihrem Schreibtisch Platz und blickte in den kleinen Spiegel an der Trennwand ihrer Nische. Ihre Beziehung zu ihrem Spiegelbild entwickelte sich in eine frustrierende Richtung, je deutlicher sie auf die dreißig zuging. Jeden Blick begleitete ein angehaltener Atemzug. Dabei wusste sie gar nicht, was sie zu sehen erwartete. Vielleicht das Gesicht ihrer Mutter – weiße Strähnen im Haar oder fächerförmig ausstrahlende Fältchen in der dunklen Haut um die Augen.

Warum hast du das gemacht?, fragte sie sich.

Immerhin hatte sie einen Job in New York, verdiente ihren Lebensunterhalt mit Schreiben und konnte sogar ihren Abschluss in Journalismus nutzen. Mehr oder weniger. Sie konnte ihre Rechnungen bezahlen, kam – abgesehen von gelegentlichen Engpässen am Monatsende – zurecht. Das konnten nicht alle ihrer Freunde von sich behaupten.

Warum hast du es also gemacht?, wiederholte sie die Frage in Gedanken.

Ein Kopf tauchte über der Trennwand auf – Eddie, einer der hauseigenen Fotografen und zugleich Kameramann. Er hatte die dreißig längst überschritten, schien damit aber keine Probleme zu haben, und war sehr gut in seinem Job. Eddie hatte einige der Fotos für ihren Artikel über die Site geschossen und ihr beim Layout geholfen.

Er lächelte. »Hab gerade gesehen, dass dein Artikel online gegangen ist, Leigh. Freut mich für dich. Ich hab dir ja gesagt, der hat Hand und Fuß. Ist geplant, dich in die Nachrichtenabteilung zu versetzen, oder bleibt das eine einmalige Sache? So oder so, die nehmen sonst fast nie Arbeiten von Leuten an anderen Schreibtischen. Kannst stolz auf dich sein, dass du grünes Licht bekommen hast.«

Leigh sah ihn an und erwiderte nichts. Eddies Augen verengten sich.

»Du hast kein grünes Licht bekommen«, sagte er.

Es gab da ein Problem in ihrem Leben – das wusste sie nicht erst seit heute, aber sie konnte es anscheinend nicht ändern, ganz gleich, ob sie sich damit schadete oder nicht – aber es interessierte sie nun einmal nichts weniger als das, was sie bereits hatte. Und nichts fand sie interessanter als das, was man ihr vorenthielt.

»Ich hatte das Warten satt, Eddie. Ich habe ihnen den Artikel vor über einer Woche per E-Mail geschickt, und sie haben noch nicht mal geantwortet. Du weißt doch, was ich draufhabe. Du hast es selbst gesagt. Ich musste ihnen etwas zeigen. Ich bitte seit bald zwei Jahren um ein anderes Ressort, und sie schicken mich trotzdem immer wieder zu dämlichen Lokaleröffnungen oder so. Wenn die Rückmeldungen zu diesem Artikel kommen, wird er für sich selbst sprechen. Klar, es ist vielleicht ein bisschen gewagt, aber …«

Eddie atmete laut aus, mehr ein Grunzen als ein Seufzen. »Diese Website gehört einem multinationalen Unterhaltungskonzern, ist dir das eigentlich klar? Du kannst nicht einfach … irgendwelche Dinge veröffentlichen. Das ist nicht dein persönliches Tumblr-Konto. Wegen so etwas kann man verklagt werden, Leigh, und ganz sicher kann man dafür gefeuert werden.«

Eddie wandte sich ab. »Ich seh mir jetzt deinen gottverdammten Artikel genauer an und bete, dass du mich nirgends erwähnt hast.«

Leigh öffnete den Mund, um zu sprechen. Sie wollte anbieten, den Text von der Website zu nehmen. Aber was würde das schon bringen? Er war bereits draußen im Netz.

Die erste Vorhersage, die sich erfüllte, als die Menschen bereits darauf achteten, war die Behauptung, dass am 8. Oktober im Northside General Hospital in Houston vierzehn Babys zur Welt kommen würden, sechs Jungen und acht Mädchen. Stimmte haargenau. Und das, obwohl das letzte Kind zwei Minuten vor Mitternacht geboren wurde und die Mutter erst ungefähr eine halbe Stunde davor im Krankenhaus aufgetaucht war. Sie stammte nicht einmal aus der Gegend, sondern war mit ihrem Ehemann auf der Durchreise gewesen.

Nicht einfach zu inszenieren, aber Skeptiker ließen sich in Blogs und Foren alle möglichen Szenarien einfallen, wie man es hätte bewerkstelligen können. Am populärsten war die These, dass die CIA die Site betrieb und bei mehreren Frauen in einer geheimen Einrichtung in der Nähe des Krankenhauses die Wehen eingeleitet hatte, sie dort wie Zuchtstuten gehalten hatte, um sicherzustellen, dass alles nach Plan verlaufen würde. Und kurz vor Mitternacht hatte man dann die glückliche Auserwählte ins Krankenhaus geschickt.

Völlig außer Acht ließ man dabei, dass die CIA ausschließlich außerhalb der Vereinigten Staaten agierte und das Einleiten von Wehen alles andere als eine exakte Wissenschaft war und sich nicht auf die Minute genau planen ließ. Und warum sollte eine Frau überhaupt einwilligen, sich so etwas zu unterziehen? Und, und, und.

Das Datum der nächsten Vorhersage lag ungefähr zwei Wochen nach dem der Geburten:

Pacific-Airlines-Flug 256 verliert beim Landeanflug auf Kuala Lumpur Kabinendruck. Obwohl die Maschine sicher landet, werden siebzehn Personen verletzt. Es gibt keine Todesfälle.

Wieder traf die Site damit ins Schwarze. Ein Vogel knallte gegen ein Fenster, das ohnehin schon unter Materialermüdung litt, und es bekam gerade genug Sprünge, um einen Luftaustritt zu verursachen. Exakt siebzehn Personen wurden verletzt, nicht mehr, nicht weniger. Und selbst das hätte inszeniert werden können, wurde behauptet, doch in dem Fall war die Welt weit weniger bereit, die Verschwörungstheoretiker ernst zu nehmen, weil das Ereignis auf Video festgehalten worden war.

Eine Gruppe unternehmungslustiger Indonesier war nämlich mit einer Kamera am Flughafen erschienen und filmte Flug 256 beim Landeanflug. Wenige Stunden später ging das Video online, und man konnte sehr deutlich erkennen, wie der Vogelschwarm ins Bild geriet. Die meisten Tiere drehten im letzten Moment ab. Ein paar nicht. Wenn man von den Leuten zu glauben verlangte, die CIA hätte die Fähigkeit entwickelt, Vögel fernzusteuern, und das Flugzeug irgendwie so manipuliert, dass nur siebzehn Personen verletzt werden würden, musste man sich nicht wundern, wenn die Leute lieber glaubten, dass die Site echt war.

Irgendjemand da draußen konnte die Zukunft vorhersagen. Das Orakel.

Die meisten religiösen Vereinigungen prangerten die Site entweder an oder ignorierten sie demonstrativ. Einige wenige begrüßten sie. Politiker und Fachgelehrte bauten die Site wie selbstverständlich in ihre Rhetorik ein. Das Orakel wurde zu den exklusivsten Veranstaltungen eingeladen, sexuelle Freuden, Zahlungen und Jobs wurden in Aussicht gestellt – Angebote, auf die das Orakel, soweit man wusste, nie einging.

Es kam zu neuen Modetrends. Schokomilch wurde zum angesagten Getränk sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Und zwar wegen folgender Prophezeiung:

24. April: Mrs Luisa Alvarez aus El Paso, Texas, kauft sich Schokomilch, was sie seit zwanzig Jahren nicht mehr getan hat, um herauszufinden, ob sie ihr noch genauso gut schmeckt wie damals als Kind.

Barkeeper im ganzen Land hatten gelernt, wie man »Brownouts« mixte: Schokomilch, Amaretto und Wodka.

Und wenn sich das Orakel selbst schon nicht zu erkennen gab, dann begnügte sich die Öffentlichkeit eben mit den in den Prophezeiungen genannten Personen. Die Hershey Company engagierte Luisa Alvarez als Werbeträgerin für ihre Produkte. Sie schien das Rampenlicht zu genießen, bis irgendein Fanatiker bei einer Presseveranstaltung einen Anschlag auf sie verübte. Das Motiv des verhinderten Mörders: vereiteln, dass sich die Prophezeiung des Orakels bewahrheitete. Um »die Welt vor dem verderblichen Einfluss dieses falschen Propheten zu retten«.

Danach wurde Luisa unter strengen Personenschutz gestellt, und ihre öffentlichen Auftritte wurden drastisch eingeschränkt. Die Hershey Company wollte nicht, dass irgendetwas sie daran hinderte, besagte Schokomilch zu kaufen, wenn der große Tag käme.

Laut Anonymous und verschiedenen mit ihnen verbündeten Hacker-Vereinigungen war die Site mit einfachen, bestehenden Tools zur Anonymisierung eingerichtet worden, die so gut wie völlig sicherstellten, dass niemand herausfinden konnte, wer das Orakel war, und dass niemand außer dem Orakel neue Vorhersagen auf der Site veröffentlichen konnte. Das aktuelle Urteil der Hacker lautete: Wer immer die Site für das Orakel erstellt hatte, kannte sich extrem gut mit den Besonderheiten moderner Datensicherheit aus. Darüber hinaus wussten sie nicht viel zu sagen.

Die Weltmärkte legten wahre Achterbahnfahrten hin. Auf massive Kursanstiege folgten rasante Talfahrten. Die anstehende Wiederwahl des Präsidenten drohte zur Zitterpartie zu werden, nachdem Daniel Green, der aktuelle Amtsinhaber, es verpasst hatte, sich klipp und klar dazu zu äußern, was das Auftreten der Site für das Land bedeutete.

Es gab keine Antworten – bisher jedenfalls nicht. Nur die Hoffnung, dass irgendwann alles einen Sinn ergeben würde. Es musste sich um irgendeinen Plan handeln, doch niemand kannte das Wann, Wie, Wo … und vor allem nicht das Warum. Noch nicht.

Leigh lehnte sich auf dem Stuhl zurück, als sie die letzten Zeilen ihres Artikels las. Sie fand ihn besser, als sie ihn in Erinnerung hatte. Nicht perfekt, aber nicht schlechter als das meiste, was Urbanity unter der Rubrik »Nachrichten« sonst so veröffentlichte. Eddie sollte sich mal entspannen.

Ein Ping-Ton erklang. Eine E-Mail auf ihrem Firmen-Konto. Leigh rief sie auf.

Von: [email protected]

Nach oben bitte.

– Reimer

Leigh starrte ungefähr zehn Sekunden lang auf den Monitor. Langsam streckte sie die Hand aus und klickte mit der Maus, reduzierte die Fenstergröße. Zum Vorschein kam das Browser-Fenster, das zuvor hinter dem anderen verborgen war. Es zeigte die Site. Natürlich.

Instinktiv bewegte sich Leighs Hand. Sie klickte auf Aktualisieren, obwohl sie wusste, dass es überflüssig war. Die Site änderte sich nie.

Und doch hatte sie sich verändert.

Unten auf der Seite war nach der letzten Prophezeiung ein neuer Satz erschienen:

Das ist nicht alles, was ich weiß.

Und darunter eine E-Mail-Adresse.

Kapitel 3

»Bitte sag mir, wann mein Vater zurückkommt.«

»Gott wird dich bestrafen, Dämon. Reverend Branson sagt …«

»Combien d’années jusqu’à ce que la France gagne la Coupe du monde?«

Will legte das Blatt Papier zurück auf den Stapel, der sich an der Wand seines Apartments türmte. Einer von drei, jeder ungefähr anderthalb Meter hoch. Insgesamt Tausende Seiten. Jedes Blatt beidseitig in kleiner Schrift dicht bedruckt. Überwiegend Fragen – an das Orakel. Seit die E-Mail-Adresse auf der Site stand, waren Millionen Nachrichten eingetroffen, die im Wesentlichen auf drei Grundfragen hinausliefen:

Werde ich bekommen, was ich will?

Wie bekomme ich, was ich will?

Warum bekomme ich nicht, was ich will?

Ungefähr die ersten Hunderttausend waren ausgedruckt worden und türmten sich nun zwischen einigen von Wills Instrumentenkoffern – aufrecht stehende Bässe und Gitarren, von denen die Fragen wie von Aufpassern bewacht wurden.

»Du solltest aufhören, sie zu lesen, Will«, ließ sich hinter ihm eine Stimme vernehmen.

»Ich weiß, ich weiß. Das ist aber nicht so einfach«, sagte Will.

Er öffnete einen der Koffer und holte daraus einen abgewetzten Fender-P-Bass hervor. Er schlang sich den Gurt um und wandte sich dann dem Raum zu. Er ließ den Blick über seine Habe schweifen. Viel war es nicht. Zwischen einigen gebraucht erworbenen Wohnzimmermöbeln stand ein vom Sperrmüll geretteter Couchtisch, dessen Oberfläche wie eine Spirograph-Zeichnung anmutete – übersät von sich überlappenden Glasrändern und langen, spiralförmigen Kratzern. Den übrigen Platz nahm das Equipment eines Musikers ein: Instrumente, Notenständer, ordentlich aufgewickelte Kabel, Effektpedale, ein kleines Set für digitale Musikproduktion – mehr ein Lagerraum als ein Wohnzimmer.

Auf dem einzigen Lehnsessel saß Hamza Sheikh. Fröhliche Augen, kurz gestutztes Haar, extrem weiße Zähne.

»Keine dieser Fragen spielt noch eine Rolle«, sagte Hamza. »Wir haben von ihnen bekommen, was wir haben wollten. Alles Übrige ist nur weißes Rauschen.«

»Für die Leute spielen die Fragen eine Rolle«, sagte Will.

»Und, kannst du irgendwelche davon beantworten?«

»Nicht wirklich.«

»Dann brauchst du dich auch nicht schuldig zu fühlen. Diese Fragen sind immer unbeantwortbar gewesen. Du musst dich nicht schlecht fühlen, weil die Menschen irgendwas wissen wollen.«

»Es hat nichts mit Logik zu tun«, sagte Will. »Ich … ich habe einfach ein schlechtes Gewissen. Wir machen den Menschen falsche Hoffnungen.«

Hamza senkte den Blick wieder auf den Laptop, der aufgeklappt auf dem niedrigen Couchtisch stand. Daneben befanden sich wüste Papierstapel – Tabellen und Ordner mit Informationen, die er über die Leute gesammelt hatte, mit denen sie gleich kommunizieren würden.

»Jetzt sei vernünftig.« Hamza tippte aktualisierte Zahlen in eine der Tabellen auf dem Bildschirm. »Das ist für uns beide der wichtigste Tag unseres Lebens. Wenn wir das durchgezogen haben, kannst du helfen, soviel du willst, Bruder.«

Will begann, auf dem Bass einen Riff zu spielen – vier Noten in Endlosschleife.

»Das kenne ich«, sagte Hamza, ohne von den Tasten aufzublicken. »Was ist das?«

»The O’Jays«, sagte Will. »›For the Love of Money‹.«

»Ja, richtig«, sagte Hamza. »Mein Lieblingssong. Jetzt komm her. Ich bin fast so weit.«

Will ging zur Couch und setzte sich. Er löste den Gurt und lehnte den Bass gegen die Kissen. Er verschob einen der Papierstöße auf dem Couchtisch. Zum Vorschein kamen sein eigener Laptop – fast so ramponiert wie der Tisch selbst – und das Orakel-Notizbuch.

Will öffnete den Computer, dann nahm er das Notizbuch. Er hielt es hoch und präsentierte es Hamza wie ein Priester seiner Gemeinde die Bibel.

»Bevor wir es tun«, sagte Will, »lass es uns durchgehen. Ein letztes Mal.« Er ließ das Notizbuch sinken, knetete das Deckblatt. »Glaubst du wirklich … das ist es?«, fuhr er fort. »Der Grund, warum mir diese Prophezeiungen geschickt worden sind? Bloß … Geld?«

Hamza löste die Hände von der Tastatur und seufzte. »Na schön, Will. Ein letztes Mal.« Er schaute auf, sah Will direkt in die Augen. »Wir haben das ganz große Los gezogen. So groß, dass ich meinen Job gekündigt habe, um dir zu helfen – einen Job bei einer Investmentbank, der mir in einem schlechten Jahr mit Prämien eine Viertelmillion eingebracht hat. So groß, dass ich meine Frau darüber belüge, warum ich gekündigt habe. Und ich lass mal beiseite, dass wir seit über zehn Jahren beste Freunde sind und ich ein bisschen mehr Vertrauen erwartet hätte.«

»Hamza, darum geht’s doch nicht, ich …«, begann Will. Hamza hob die Hand, und Will verstummte mitten im Satz.

»Ich werde auch nicht erwähnen, dass du es wesentlich dringender brauchst als ich. All das sage ich nicht, denn als Freund wäre so etwas schäbig. Allerdings …«

Hamza streckte die Hand nach dem Notizbuch aus, und Will zuckte unwillkürlich zurück. Eine Pause entstand, als beide diesen speziellen Reflex verarbeiteten. Langsam ließ Hamza die Hand sinken und sah Will an.

»Pass auf«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Du hast die Prophezeiungen. Du hast mich ins Vertrauen gezogen und mir davon erzählt. Wir haben lange darüber geredet, um zu entscheiden, was zu tun sei. Letztlich sind wir auf das hier gekommen, und es wird unser beider Leben für immer verändern. Für immer. Du hast keine Anweisungen erhalten. Keine Regeln. Wenn du eine Zwanzigdollarnote auf dem Bürgersteig findest, ist sie dir dann aus einem bestimmten Grund zugeflogen? Bist du verpflichtet, etwas Bestimmtes mit dem Zwanziger anzustellen? Scheiße, nein. Er gehört dir. Mach damit, was du willst.«

»Du beziehst immer alles auf Geld«, klagte Will.

»Das ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil, es …« Hamza brach ab, schüttelte den Kopf. Er klappte schwungvoll seinen Laptop zu, brachte den Kaffeetisch zum Wackeln. »Weißt du was?« Er stand auf. »Vergiss es. Nehmen wir die Site vom Netz. Lass uns einfach … Ach!«

Will beobachtete, wie Hamza auf und ab lief. Viel Platz hatte er dafür nicht – sein Weg beschränkte sich auf den Abstand zwischen dem Eingang zur telefonzellengroßen Küche und der Badezimmertür, ungefähr vier Schritte in jede Richtung.

»Du bekommst ausgerechnet jetzt kalte Füße, wo wir in …« Hamza holte sein Handy hervor, überprüfte die Uhrzeit auf dem Display und hielt es dann Will hin. »… sieben Minuten in Händen haben werden, worauf wir so lange hingearbeitet haben?«

Hamza steckte das Telefon zurück in die Tasche.

»Du hast – entschuldige, wenn ich das so sage – null Zukunft. Und dann wird dir eine Zukunft buchstäblich geschenkt. Aber die Chancen, die sich dir damit bieten, scheinen dir eine Heidenangst einzujagen«, sagte Hamza. »Ich meine … schon klar, es ist überwältigend. Aber bedeutet das, dass du all diese Informationen einfach so herumliegen lässt? Sie ignorierst? Willst du so tun, als wüsstest du diese Dinge nicht? Ich meine … verdammt, Mann!«

Will beobachtete seinen hin- und herlaufenden Freund. »Du bist genauso nervös wie ich, oder?«, fragte er.

Hamza blieb stehen. Dann ließ er sich wieder auf den Sessel sinken. Er rieb sich mit einer Hand übers Gesicht. »Pah«, machte er.

»Du bist nicht beim Lucky Corner gewesen«, sagte Will. »Das ist passiert, bevor ich dir verraten habe, dass ich das Orakel bin. Du weißt nicht, wie sehr diese ganze Scheiße aus dem Ruder laufen kann. Ich schon. Wenn man diese Informationen erst mal auf die Welt loslässt … wenn wir das lostreten … dann können wir nur noch dasitzen und abwarten, was passiert. Und dann sind wir verantwortlich. Alles, was als Nächstes passiert, ist unsere Schuld.«

Hamza seufzte. »Ich weiß, Bruder. Pass auf. Wir können das Schiff immer noch wenden. Aber wir müssen es jetzt tun. In ungefähr zwanzig Minuten ist das keine Option mehr. Die Prophezeiungen sind dir in den Schoß gefallen, nicht mir. Ich werde dich nicht drängen. Wenn du aufhören willst, dann hören wir auf. Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich finde einen anderen Job. Und du …« Hamza deutete auf Wills schäbiges, enges Apartment. »Du hast dann immer noch das hier.«

Will legte die Hand flach auf das Notizbuch, spürte das zerknitterte Deckblatt unter den Fingern. Das Notizbuch fühlte sich nicht warm an. Es fühlte sich nicht lebendig an – aber natürlich war es das auf seine Weise.

Er saß da und grübelte – lange, wie es ihm schien. Er versuchte, in Gedanken noch einmal alles durchzugehen, wie er schon tausendmal versucht hatte, alles in Gedanken durchzugehen, und wieder stellte er fest, dass die Sache schlicht zu groß für ihn war.

Will verdrängte alle Gedanken aus dem Kopf. Dann öffnete er den Mund, selbst neugierig, was er sagen würde.

»Gut. Ziehen wir’s durch«, sagte er. »Sag mir noch mal, mit wem ich mich unterhalten werde.«

»Alles klar.« Hamza klappte seinen Laptop wieder auf. »Es ist ein Hedgefonds. Starrer, Wern, Bigby und Greenborough. Die verwalten ein Vermögen in der Größenordnung von fünfunddreißig Milliarden Dollar und investieren in eine breite Palette von Unternehmen – von Pharmazeutika über Landwirtschaft bis hin zu Nanotechnologie. Das bedeutet, wir wissen nicht, was genau SWBG dich fragen werden. Aber wir wissen, dass dabei ein großes Thema im Mittelpunkt stehen wird.«

»Geld«, sagte Will.

»Ja. Und sie werden knallhart sein. Geh davon aus, dass sie versuchen werden, dich einzuschüchtern. So machen die Geschäfte. Aber vergiss nicht, dass sie dir nicht das Geringste anhaben können. An irgendeinem Punkt werden sie damit drohen, dich zu verklagen. Egal. Sie haben keinen Schimmer, wer oder wo du bist. Sie werden sich mit dem Orakel unterhalten. Von Will Dando haben sie nie etwas gehört, und das werden sie auch nie.« Hamza runzelte die Stirn. »Vorausgesetzt, die Ladys in Florida haben keinen Mist gebaut, was die Sicherheit des Chat-Programms angeht.«

»Haben sie nicht«, beteuerte Will. »Die Ladys wissen, was sie tun. Abgesehen davon: Bei dem, was diese Hedgefonds-Typen dafür zahlen, sich mit mir zu unterhalten, werden sie kaum riskieren, mich zu verscheuchen, indem sie uns hacken.«

»Richtig, richtig«, sagte Hamza und hob eine Hand, um seine Zustimmung zu signalisieren.

Will klappte seinen Laptop auf. Das Chat-Programm war bereits geöffnet. Keine große Sache. Es ging nur um nicht-zurückverfolgbare Kommunikation. Es lief in einem textbasierten Tor-Browser über irgendeinen anonymisierten Kanal im Deep Web.

»Okay, alles bereit, aber wir haben noch ein paar Minuten«, sagte er. »Kannst du nach der Kohle sehen? Sicherstellen, dass sie keinen Rückzieher gemacht haben?«

Hamza tippte rasant auf seinem Rechner, bevor sich ein Grinsen über seine Züge ausbreitete. Er drehte den Laptop so herum, dass Will den Bildschirm sehen konnte, der den Kontoauszug einer Bank auf den Cayman-Inseln zeigte.

Konto-Nr. 52IJ8549UIP000-LF8

Hinterlegte Summe: US$ 10.000.000,00

»Immer noch da«, sagte Will. »Mann.«

»Immer noch da«, sagte Hamza. »In ungefähr drei Minuten gibt die Bank die Kohle an uns frei.«

»Es sei denn, es läuft etwas schief.«

»Nichts läuft schief. Sobald die Gewährleistungsfrist abgelaufen ist, gehört es uns, ganz gleich, was passiert.«

Will lächelte. »Kinderspiel«, sagte er.

Hamza nickte.

Wills Computer gab einen Signalton von sich, und sein Grinsen verschwand.

»Scheiße, das sind sie«, sagte er.

»Okay, okay«, sagte Hamza. »Bist du bereit?«

Will blickte auf seinen Bildschirm. Er knackte mit den Knöcheln und legte die Hände auf die Tastatur.

»Bereit«, bestätigte er.

Wörter erschienen auf dem Monitor:

SWBG: Ist da das Orakel?

Orakel: Ja.

SWBG: Wir brauchen einen Beweis, bevor wir die Freigabe der Mittel aus der Hinterlegung genehmigen.

Orakel: Sie geben die Mittel sofort frei, oder wir sind weg. Sie haben dreißig Sekunden.

Er schaute zu Hamza. »Hab ihnen das Ultimatum gestellt«, sagte er. »Dreißig Sekunden. Gib Bescheid.«

Hamza starrte auf den Bildschirm. Er kaute auf seinem Daumennagel. Sekunden verstrichen.

Will streckte die Finger nach der Tastatur aus, zögerte und zog sie zurück. Wenn die Sache schiefging … Er konnte sich nicht vorstellen, dass er den Mut für einen weiteren Versuch aufbringen könnte, egal, was Hamza sagen würde.

»Sie haben bezahlt«, sagte Hamza. »Überweisung abgeschlossen.«

Wills gesamter Körper schien zu vibrieren wie ein kräftig angeschlagener Akkord. Sein Anteil betrug fünf Millionen Dollar, unabhängig davon, was als Nächstes geschehen würde.

»Also gut.« Er legte die Hände auf die Tastatur. »Zeit, sich das Geld zu verdienen.«

Der Hedgefonds meldete sich zuerst:

SWBG: Sie haben zehn Millionen Dollar von uns erhalten. Wir möchten, dass Sie wissen, dass wir umgehend rechtliche Schritte gegen Sie einleiten, falls Sie nicht im Rahmen des vereinbarten Zeitfensters von zehn Minuten antworten.

»Diese Arschlöcher«, sagte Will.

»Was gibt’s?« Hamza machte Anstalten aufzustehen, um es sich selbst anzusehen.

Will winkte ihn zurück auf den Sessel. »Sie drohen, mich zu verklagen. Arschlöcher. Ich les die Fragen laut vor, wenn die sie stellen.«

Hamza nickte und brachte die Finger über der eigenen Tastatur in Position.

»Sie sprechen mit dem Orakel. Das Interview beginnt jetzt«, tippte Will.

Hamza aktivierte auf seinem Bildschirm einen Timer, der die zehn Minuten runterzählte. Umgehend erschien die erste Frage.

SWBG: Werden die in H. R. 2258 formulierten Medicare-Reformen vom Kongress und vom Präsidenten abgesegnet?

Will lachte.

Orakel: Keine Ahnung.

SWBG: Wann und wie werden die folgenden Personen sterben: James Starrer, Joseph Wern, Eduard Bigby und Ira Greenborough?

»Hmm«, machte Will. »Gruselig.«

»Was?«, fragte Hamza.

»Die wollen wissen, wann sie sterben werden.«

»Aha. Und weißt du es?«

Will zögerte, konnte spüren, dass Hamza ihn anstarrte, und zwang sich, nicht zum Notizbuch zu spähen.

»Nein«, sagte er schließlich.

SWBG: An welchem Datum und um welche Uhrzeit wird der Dow-Jones-Index zwanzigtausend Punkte übersteigen?

Orakel: Das weiß ich nicht.

Will tippte diese Antwort nach jeder neuen Frage, die auf dem Bildschirm erschien, wieder und wieder. Er überlegte, den Satz zu kopieren, um ihn jedes Mal einzufügen.

»Die müssen stinksauer sein«, sagte er zu Hamza. »Zehn Millionen Mäuse für einen Haufen Nichts. Kannst du was mit den Fragen anfragen, die sie stellen?«

»Jede Menge«, antwortete Hamza. Er machte sich wie wild Notizen auf einem Zettel und blätterte durch seine Unterlagen. »Sie lassen sich voll in die Karten schauen. Sie verraten mir, wo sie vorhaben zu investieren. Allein die Medicare-Frage kann ich verwenden, um unsere zehn Mille in hundert zu verwandeln.«

»Erklär mir das später«, sagte Will. »Mir tun sie schon fast l …« Er verstummte und starrte auf den Bildschirm.

SWBG: Haben Sie Informationen über die Ernte von Zitrusfrüchten in Florida für die diesjährige Anbausaison?

»Oha, halt, das kann ich beantworten. Glückstreffer«, sagte Will. »Wie lange haben sie noch? Ein, zwei Minuten?«

»Exakt fünfundvierzig Sekunden«, sagte Hamza.

»Okay. Ich beeil mich«, sagte Will.

Wenn sich Will an eine Prophezeiung erinnerte, hatte er jedes Wort so klar und deutlich vor sich, als läge das Notizbuch aufgeschlagen vor ihm. Er begann zu tippen.

Orakel: Eine ungewöhnliche Wetterlage wird sehr späten Frost verursachen, der einen Großteil des Südostens der Vereinigten Staaten erfassen wird. Der Kälteeinbruch wird schwerwiegende Auswirkungen auf die Ernte in Florida haben. Der Frosteinbruch erfolgt am …

»Halt!«, rief Hamza.

Will schaute auf. »Das war’s?«

»Auf die Sekunde genau zehn Minuten.«

»Wow.« Will nahm die Hände von der Tastatur und sah Hamza an. »Ich konnte nur eine ihrer Fragen beantworten, und nicht mal die zu Ende. Schade eigentlich.«

Hamza grinste ihn an.

»Nein, mein Freund, nicht schade! Diese Leute haben gewusst, worauf sie sich einlassen. Wir haben keine Versprechungen gemacht. Abgesehen davon streichen die ungefähr zehn Millionen pro Tag ein. Wen juckt’s also? Und wenn sie mehr Zeit haben wollen, können sie welche nachkaufen. Für weitere zehn Mille gibt’s weitere zehn Minuten.«

Will schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Würdest du das nach diesem Verlauf tun?«

»Wer weiß? Diese Leute denken nicht so wie wir.«

»Bist du nicht auch einer von denen?«, fragte Will. »Der große, mächtige Bankertyp?«

»Nicht mehr. Ich hab gekündigt, schon vergessen? Jetzt bin ich ein unabhängiger Geschäftsmann. Teil der berühmten Säule dieser großartigen Nation.«

SWBG: Wir möchten weitere zehn Minuten kaufen. Die Summe wird gerade auf Ihr Konto überwiesen. Bitte vervollständigen Sie Ihre Antwort auf die Frage zur Ernte von Zitrusfrüchten in Florida.

Will starrte auf den Bildschirm. Er streckte die Hände aus und tippte.

Orakel: Der Frosteinbruch erfolgt am 23. Mai. Die unterdurchschnittlichen Temperaturen werden ungefähr eine Woche lang anhalten. Die Ernte in Florida wird 40 % unter dem Vorjahresergebnis liegen.

SWBG: Sind das alle Informationen, die Sie über dieses Ereignis haben?

Orakel: Ja.

Will wartete. Zum ersten Mal seit Beginn des Chats blieb eine sofortige Folgefrage aus. Er schaute zu Hamza hinüber, der ihn mit einem eigenartigen Blick bedachte.

»Das hast du vorhergesehen? Wie das Wetter im Mai in Florida wird? Und wie sich das auf die Menge der Orangen in den Supermärkten auswirkt?«, fragte Hamza.

Will nickte.

»Und diese Typen stellen nicht nur zufällig eine Frage, die man nur mit diesem speziellen Wissen beantworten kann, sie stellen sie zudem haargenau im richtigen Moment, sodass sie ein weiteres Zeitkontingent von uns kaufen mussten?«

Will zuckte mit den Schultern. »Solche Fragen beschäftigen mich, seit ich den Traum hatte, Hamza. Mittlerweile überrascht mich irgendwie nichts mehr.«

Neuer Text auf dem Bildschirm.

»Okay, es geht weiter!«, rief Will. »Du bist dran, Ham.«

»Bereit.« Hamza blickte konzentriert auf seinen Computer.

SWBG: Besteht die Möglichkeit, dass wir diese Informationen exklusiv erhalten?

Orakel: Ja.

SWBG: Unter welchen Bedingungen?

Hamza hechtete los, um sich einen der Ordner vom Couchtisch zu schnappen. Dabei stieß er mit dem Knie gegen die Kante, und der Tisch brach endgültig in sich zusammen. Tabellenblätter, Ausdrucke und Laptops breiteten sich großflächig auf Wills Fußboden aus.

»Scheiße«, sagte Hamza gedehnt.

Will schenkte ihm keine Beachtung und tippte.

Orakel: Machen Sie ein Angebot. Die Zeit für den Rest der Befragung wird für die Dauer dieser Verhandlungen angehalten.

SWBG: Welche Garantie haben wir, dass wir die Informationen wirklich exklusiv bekommen?

Will hatte mit der Frage gerechnet.

Orakel: Mein Wort. Und die Zusicherung, dass ich, wenn Sie auf den Deal nicht eingehen, diese Information definitiv weiterverkaufen werde, wenn ein anderer Käufer auftaucht.

Will hob die Hände von den Tasten, bevor ihm eine weitere Idee kam.

Orakel: Ich könnte die Vorhersage auch auf der Site veröffentlichen. Bislang haben Sie nur für die Information über den Frosteinbruch bezahlt. Sie besitzen sie nicht. Wenn Sie exklusiv darüber verfügen wollen, sagen Sie, was Sie bereit sind, dafür zu bezahlen.

Am anderen Ende der Verbindung entstand eine längere Pause. Will stellte sich einen noblen Besprechungsraum irgendwo hoch über der Stadt vor, vollgestopft mit alten Männern in teuren Anzügen, die wilde Berechnungen vornahmen. Hinter sich hörte er, wie Hamza die über den Boden verstreuten Ausdrucke durchwühlte und leise vor sich hin fluchte.

SWBG: Wir zahlen Ihnen weitere zehn Millionen Dollar für die Exklusivrechte an dieser Information.

»Zehn Millionen«, rief Will zu Hamza hinüber. »Ist das ein gutes Angebot?«

»Scheiße, nein«, antwortete Hamza. Er saß auf dem Boden und hielt in beiden Händen ausgedruckte Tabellen hoch. »Ich bin noch nicht fertig, aber ich kann dir schon jetzt sagen, dass die Typen dick in die kalifornische Landwirtschaft investiert haben. Was meinst du wohl, was dort angebaut wird?«

»Orangen?«

»Orangen, Grapefruits, Minneolas, alles Mögliche. Und wenn Florida dieses Jahr ausfällt, bedeutet das ein fettes Plus für Kalifornien. Also werden sie mit den dortigen Firmen in ihrem Portfolio eine Menge Schotter machen.« Hamza zückte einen weiteren Zettel, bevor er fortfuhr. »Außerdem wird gemunkelt, dass dieser Fonds vorhat, auch in Betriebe in Florida zu investieren. Eine Menge Betriebe werden unter dem Frost leiden und gezwungen sein, unter Wert Anteile zu verkaufen. Also werden sie sich sehr billig in den Markt in Florida einkaufen können.«

»Okay«, sagte Will, »heißt zusammengefasst?«

»Heißt zusammengefasst, SWBG wird wahrscheinlich rund eine Milliarde damit verdienen, vorzeitig von dem Frosteinbruch in Florida zu wissen«, antwortete Hamza. »Also werden sie dafür eine ganze Ecke mehr als zehn Millionen löhnen müssen.«

Hamza griff sich einen Stift und begann, auf dem nächstbesten Zettel zu kritzeln. Dabei murmelte er vor sich hin. Er zog seinen Laptop über den Boden zu sich ran. Will beobachtete, wie er Statistiken über Agrarmärkte, historische Vergleichsdaten über die Auswirkungen untypischer Wetterlagen und alle möglichen esoterischen Finanzinformationen aufrief. Reine Alchemie.

»Hast du’s bald?«

»Moment, Moment. Das ist kompliziert. Ich will es richtig hinbekommen. Wenn wir zu billig anbieten, verlieren wir unter Umständen Millionen Dollar.«

Wills Herz hämmerte. Es hatte gerade mal zwanzig Minuten gedauert, um zu einem jener Menschen zu werden, die anderen Leuten Autos zum Geburtstag schenkten.

»Vierhundertfünfzig«, verkündete Hamza. Er warf seinen Stift auf die Tischplatte. »Vier fünf null. Das ist meine beste Schätzung. Ich kann dir sagen, es gibt nicht viele Leute, die das für dich so schnell hätten modellieren können. Ich glaube, mir läuft gleich das Hirn aus der Nase.«

Einen Moment lang brachte Will keinen Ton hervor. Er setzte die Hände über der Tastatur an. Sie zitterten.

»Ist das unser Eröffnungsangebot?«, brachte er schließlich heraus.

»Nein, das ist endgültig. Das müssen sie hinblättern, wenn sie die Information exklusiv wollen. Damit bleibt ihnen immer noch ein satter Profit, ein unglaublich satter Profit. Ich habe den Betrag sogar etwas abgerundet, weil sie mir einen Tick zögerlich vorkamen und weil … na ja, weil das alles hier so verflucht bizarr ist.«

Will schüttelte den Kopf. »Wie kannst du dir so sicher sein? Was, wenn wir den Bogen überspannen.«

»Keine Sorge. Die haben dieselben Informationen wie ich und werden dieselben Hochrechnungen anstellen. Wenn man weiß, wie es geht, ist es kein Raten. Das sind Fakten.« Er schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr. »Allerdings mussten die wahrscheinlich dreißig Leute darauf ansetzen, um auf dasselbe Ergebnis zu kommen.«

Will zwang seine Hände auf der Tastatur zur Ruhe.

Orakel: $ 450 Millionen. Weitere Verhandlungen darüber gibt es nicht. Das ist der endgültige und einzige Preis, den ich akzeptiere.

Wieder eine Pause, diesmal länger. Sie mutete wie ein verblüfftes Schweigen an.

SWBG: Das ist eine beträchtliche Summe. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, diesen Betrag aufzutreiben.

»Heilige Scheiße«, sagte Will. »Sie steigen darauf ein.«

»Natürlich steigen sie darauf ein«, gab Hamza zurück. »Und jetzt wissen sie auch, dass wir Ahnung von dem haben, was wir tun.«

»Sie sagen, sie brauchen Zeit, um so viel Kohle aufzutreiben. Wie viel gebe ich ihnen?«

Hamza überlegte einige Sekunden lang. »Zweiundsiebzig Stunden. Notfalls müssen sie ein paar Aktiva zu Geld machen, aber aus ihrem neuesten Fondsprospekt geht hervor, dass sie die Summe über die Anlagekonten leicht flüssigmachen können. Allerdings werden sie ein paar Genehmigungen und dergleichen brauchen. Ist wahrscheinlich eine berechtigte Forderung.«

Orakel: Die Mittel müssen innerhalb von 72 Stunden bei mir eingehen.

SWBG: Einverstanden. Auf dasselbe Konto?

Orakel: Ja. Sollen wir den Rest Ihrer Befragungszeit noch nützen?

SWBG: Ja, und noch etwas. Falls Sie uns hintergehen, sollen Sie wissen, dass wir jede uns zur Verfügung stehende Ressource einsetzen werden, um unser Geld zurückzubekommen und Sie zu vernichten.

Will runzelte die Stirn. Sein finsterer Blick schien ein Loch in den Bildschirm des Laptops bohren zu wollen. Dann wurden seine Hände sehr ruhig.

Orakel: Mich vernichten? Zehn Worte auf der Site. Mehr brauche ich nicht. Merkt euch das, Arschlöcher.

Will hatte das Gefühl, dass die Fondsleute danach ein wenig gedämpft wirkten. Die Antworten auf ihre restlichen Fragen kannte er nicht, und das war auch gut so. Einen weiteren Treffer und den damit verbundenen Stress hätte er nicht überlebt.

Als die Zeit abgelaufen war, schloss er das Chat-Programm. Er schaute zu Hamza, der sich mit dem Computer vor sich wieder auf den Sessel gesetzt hatte und fasziniert auf den Saldo ihres Bankkontos starrte. Er wirkte wie high.

Will lehnte sich auf der Couch zurück und schloss die Augen.

Orangen, dachte er. Obst, um Himmels willen. Wie viel Schaden kann das schon anrichten?

Kapitel 4

Reverend Hosiah Branson blinzelte sich den Schweiß aus den Augen und konzentrierte sich auf die junge Frau vor ihm. Sie lächelte zu ihm hoch, ihre Augen glänzten verzückt. Als schön konnte man sie nicht bezeichnen, aber sie besaß Leidenschaft und Hingabe, was die Schlichtheit ihrer Züge aufwog.

Branson spürte, wie die Woge ihn erfasste. Er warf den Kopf in den Nacken und schloss die Lider. Ekstatische Laute entrangen sich seiner Kehle, seine Zunge bewegte sich, als besäße sie einen eigenen Willen. Branson spannte den ganzen Körper an, dann legte er beide Hände auf das Gesicht der Frau. Ihre Lider schlossen sich mit kleinen Zuckungen flatternd unter seinen Handflächen.

Ein letztes Schnappen nach Luft, dann stieß er das Gesicht der jungen Frau von sich. Im selben Moment endete das unartikulierte Lallen, das er von sich gab. Branson holte weit mit den Armen aus, um die Hände vor der Brust zu falten. Dann schlug er die Augen auf.

Seine Diakone hatten die junge Frau aufgefangen. Sie lag in ihren Armen wie ein Neugeborenes, die dünnen, blassen Gliedmaßen schlaff verrenkt. Mit einem breiten, beruhigenden Lächeln streckte Branson einen Arm in ihre Richtung aus.

Die junge Frau ergriff seine Hand. Der Druck ihrer Finger fühlte sich schwach an, und er konnte spüren, dass sie zitterte. Hosiah zog sie auf die Beine.

»Geh jetzt und wandle in Gottes Licht«, sagte er. Das Mikrofon in seinem Revers verstärkte seine Stimme hundertfach.

Das gerötete Gesicht der jungen Frau fiel in sich zusammen, als sie von Tränen und einem atemlosen Schnaufen überwältigt wurde. Spots an der hohen Decke erwachten zum Leben und erhellten einen Weg für sie zurück ins Publikum. Eine der Schwestern tauchte auf und ergriff den Arm der jungen Frau, führte sie behutsam weg.

Branson war müde. Er tat ein gutes Werk, aber es zehrte an seinen Kräften. Die junge Frau war für diesen Tag die Letzte.

Er wandte sich seinem Publikum zu: Tausende und Abertausende Menschen in losen Reihen auf dem Boden der Kathedrale unter ihm. In seinem Sichtfeld herrschte unablässig Bewegung – tanzende und sich wiegende Gläubige, die in die Hände klatschten, alle überwältigt von der ewigen Wahrheit des Herrn.

Das Geräusch der Menge und der Gesang des Chors auf der linken Empore ergänzten sich irgendwie perfekt, ein Brausen, das seine Kathedrale erfüllte, seinen wunderschönen Palast mit den Buntglasfenstern.

Branson hob die Hände, und der Chor hielt mit einem langen Akkord inne, bevor der Gesang schließlich verstummte. Rasch wurde auch die Menge still. Die Menschen wussten, was als Nächstes folgen würde, und sie erwarteten es sehnlich: die abschließende Predigt.

»Das Orakel«, begann Hosiah mit leiser Stimme, die erneut vom Mikrofon in seinem Revers erfasst wurde und durch Lautsprecher verstärkt durch das Gotteshaus hallte.

Vereinzelte Unmutsbekundungen aus der Menge, vorwiegend jedoch erwartungsvolle Stille.

»Das Orakel ist ein Gift«, fuhr Hosiah fort. »Dieses abscheuliche Wesen verbreitet über seine Site nichts als Lügen, und es stimmt mich unsagbar und aus tiefster Seele traurig, dass so viele Kleingläubige auf seinen Schwindel hereinfallen.«

Er verstummte, zog ein Tuch aus der Brusttasche und tupfte sich die Stirn ab. Nach einem tiefen Atemzug setzte er erneut an … und begann mit der leidenschaftlichen, kraftvollen Strafpredigt, die sein Publikum von ihm erwartete.

»Exodus, Kapitel 20, Vers 5. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen, denn Gott duldet keine Hingabe für andere Götter! Hört ihr das? Gott wird Vergeltung an jenen üben, die Heuchler anbeten. Er ist ein eifersüchtiger Gott! Und zu Recht, denn er ist der einzige wahre Gott, und wehe … ich sage wehe … denen, die ihn herausfordern!

Exodus, Kapitel 20, Vers 6. Aber wenn ihr dem Herrn huldigt und ihm gehorcht, schenkt er euch Liebe, Anteilnahme und Wohlergehen an all euren Tagen! Das Orakel ist ein Werkzeug des Teufels. Wer weiß, vielleicht ist es sogar der Teufel, der sich auf verführerische, neuartige Weise in unser tägliches Leben einmischt. Die Site … präsentiert uns Lügen bunt verpackt wie herrliche Geschenke. Ist es denn ein Wunder, dass in diesen gottlosen Zeiten so viele törichte Menschen auf das Spiel des Teufels hereinfallen?

Aber trotz allem bin ich hoffnungsvoll, meine Freunde. Ich habe Hoffnung, denn ich weiß, dass ihr, die Streiter Gottes … dafür gerüstet seid, diesem hinterhältigen Betrüger den Kampf anzusagen. Ihr besitzt bereits die einzige Waffe, die ihr dazu brauchen werdet.«

Hosiah wandte sich um und streckte die Arme aus. Einer der Diakone legte ihm mit einem satten Klatschen ein ledergebundenes Buch in die Hände. Hosiah hob das Buch der Menge entgegen. Die Bühnenbeleuchtung ließ die goldgeprägten Lettern des Einbands erglänzen.

»Dies ist eure Waffe! Das Wort des Herrn und des Herrn allein! Die Heilige Schrift!«

Von der Menge erhob sich volltönender Jubel mit allerlei Amen- und Halleluja-Rufen. Hosiah sah, wie seine Messdiener mit der Kollekte durch die Gänge streiften.

»Prangert die Site an. Prangert das Orakel an, wo immer und wann immer ihr könnt. Und denkt daran, dass ich bei diesem Kampf hinter euch stehe, ebenso wie unsere Brüder und Schwestern überall auf der Welt. Gott segne euch, und wir sehen uns bald wieder!«

Hosiah nickte einem seiner Diakone zu, einem großen Mann namens Henry, der zusammen mit dem Rest rasch hinter ihn trat. Sie bildeten eine keilförmige Formation mit Hosiah an der Spitze. Fernsehkameras zu beiden Seiten der Bühne schwenkten in neue Positionen und erfassten die Szene aus verschiedenen Blickwinkeln.

Hosiah streckte die Arme himmelwärts, und die Diakone hinter ihm taten es ihm gleich. Die Diakone trugen blaue Anzugjacken und rote Hosen – wie ein Zug französischer Zuaven. Seine kleine Armee. Er selbst stand vor ihnen in einem makellos weißen Anzug, der noch heller strahlte als die Spots an der Decke. Er war der General, der unbestreitbare Mittelpunkt des prächtigen Spektakels.

Dann gingen die Lichter aus, und Hosiah eilte durch eine Tür unmittelbar links hinter der Bühne, gefolgt von seinen Diakonen. Er betrat einen langen, dezent erhellten Gang. Der dicke Teppichboden war cremefarben und korrespondierte mit der Farbe der Wände. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen – die Diakone blieben zurück, zur Sicherheit –, war der Lärm der Menschenmenge wie abgeschnitten. Der Korridor besaß eine gründliche Schallisolierung. Nach der Hektik auf der Bühne war das Betreten des Ganges, als steige man in ein Bad aus warmer Milch.

Branson lief den Flur hinab, ging durch eine weitere Tür und betrat sein Büro. Mit einem tiefen Seufzen sank er auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Er schob die Brille auf die Stirn und rieb sich den Nasenrücken. Dann ließ er sie zurück auf die Nase gleiten und fuhr sich mit der Hand über das kahle Haupt. Er verzog das Gesicht – sein Schädel war schweißnass.

Hosiah sah auf die Armbanduhr – ein billiges Modell, wie man es in jedem Drogeriemarkt kaufen konnte. Er wollte nicht, dass die Fernsehkameras Prunk an ihm entdeckten. Er beugte sich vor, streckte einen Arm über den Schreibtisch mit der weißen Platte – schmucklos und ausladend wie eine Eisscholle. Mit dem Zeigefinger berührte er eine bündig darin eingelassene Taste. Doch er zögerte, sie zu drücken.

Mach schon, Hosiah, dachte er. Kurz und schmerzlos.

Dann drückte er die Taste. Mit einem leisen Klicken bewegte sie sich nach unten. Sie war noch kaum in ihre ursprüngliche Position zurückgekehrt, als ein Klopfen an der Wand gegenüber dem Schreibtisch ertönte.

»Herein«, rief Hosiah.

Eine zuvor unsichtbare Naht erschien in der Wand und weitete sich zu einer Tür. Ein junger, ausgesprochen schlanker Mann trat ein – Bruder Jonas Block, Bransons persönlicher Assistent. Mit seiner verkniffenen, stirnrunzelnden Miene, dem schwarzen Anzug samt weißem Hemd und Krawatte wäre er als Bestattungsunternehmer durchgegangen. »Womit kann ich Ihnen dienen, Reverend?«

Bruder Jonas’ Teint sah nie besonders gesund aus, doch im Augenblick wirkte er entschieden wie eine wandelnde Leiche, als wäre er aus Kerzenwachs gemacht. Seine Augen huschten rastlos hin und her – er konnte Branson nicht direkt in die Augen sehen. Kein vielversprechendes Zeichen.

»Dann ist es also geschehen, richtig?«, fragte Hosiah.

»Ja, Sir«, bestätigte sein Assistent. Sein Mund zuckte. Er warf Branson einen kurzen Blick zu, bevor er wieder wegsah. »Die Prophezeiung der Site über den Lotteriegewinn der Frau in Boulder – vor wenigen Minuten als wahr bestätigt. Aber das ist nicht …«

Branson ließ die flache Hand auf die Tischfläche niederfahren. Fast zwanzigtausend Dollar hatte er es sich kosten lassen, sein Büro zu einem akustik-neutralen Raum zu machen – dennoch peitschte ein lauter Knall durch die Luft, als seine Hand auf dem Schreibtisch landete.

Er drehte sich mit dem Stuhl weg von Jonas und hielt sich das Handgelenk. Branson ließ den Blick durch sein Büro wandern, in dem gedämpfte Farbtöne vorherrschten, abgesehen von einigen geschmackvollen, kräftigeren Tupfern hie und da. Eine blaue Lampe, eine Couch mit meergrünem Seidenbezug. Ein großes Gemälde an der Wand unmittelbar hinter seinem Schreibtisch.

Ein Zufluchtsort.

Bransons Handgelenk schmerzte von dem Schlag. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er das Gemälde an der Wand. Es handelte sich um ein Werk eines Künstlers von den Philippinen, das mit dick aufgetragenen Ölfarben eine Prozession von Büßern zeigte, die am Ostersonntag durch die Straßen von Manila getragen wurden. Jedes Jahr entschlossen sich Menschen dazu, ihre große Glaubensstärke unter Beweis zu stellen, indem sie sich kreuzigen ließen. Einige von ihnen ließen sich sogar Nägel durch die Handgelenke treiben und Dornenkronen auf die Köpfe setzen.

»Sir …«, sagte Jonas mit verhaltener Stimme. »Das ist noch nicht alles.«

»Was denn noch?« Bransons Stimme klang müde.

»Sie wissen, dass gelegentlich neue Prophezeiungen auf der Site erscheinen – immer ein paar gleichzeitig?«

»Ja, natürlich.«

»Unmittelbar, nachdem sich die Vorhersage über die Lotterie in Colorado bewahrheitet hat, sind neue Prophezeiungen veröffentlicht worden. Nur drei, aber eine davon …«

Jonas ließ den Satz unvollendet.

Hosiah wirbelte mit seinem Stuhl herum. Ungeduldig drückte er einen weiteren Knopf auf seinem Schreibtisch, woraufhin geräuschlos ein Monitor ausgefahren wurde, gefolgt von einer Tastatur, die unmittelbar darunter hervorglitt. Branson rückte näher heran, tippte auf der Tastatur, um die Homepage von CNN aufzurufen.

Er starrte auf den Bildschirm. Ein langer Augenblick verstrich.

»Sir, eine davon …«, sagte Jonas.

Er schluckte mit einem froschähnlichen Laut, der in dem stillen Büro überdeutlich zu hören war, dann sprach er zu Ende.

»… betrifft Sie.«

Und so war es. Kürzer als die meisten anderen Prophezeiungen. Nur ein einziger, unverfänglicher Satz:

23. August: Reverend Hosiah Branson pfeffert sein Steak.

»Es tut mir so leid, Reverend«, sagte Jonas.

Keine zehn Wörter, und doch veränderten sie alles.

Alles.

Kapitel 5

Der Kellner – ein älterer Mann mit Schürze – stellte behutsam einen großen weißen Servierteller mitten auf den Tisch. Auf dem Teller lag ein einziges, riesiges Porterhouse-Steak – eine Insel in einem See aus dampfendem, würzig riechendem Bratensaft.

»Sehr, sehr heiß«, sagte der Kellner mit einem unverkennbar deutschen Akzent und stellte Blickkontakt zu Will und dann zu Hamza her. »Nicht anfassen, nicht verbrennen.«

»Ich weiß«, erwiderte Hamza. »Ich bin schon mal hier gewesen.«

Der Kellner nahm ein Tranchierbesteck zur Hand und bearbeitete das Steak, indem er es in mundgerechte Stücke schnitt. Bevor er das Fleisch auf ihren Tellern anrichtete, zog er es durch eine Pfütze aus geschmolzener Butter. Er fügte ein wenig Rahmspinat und Kartoffelpüree als Beilagen hinzu, füllte ihre Weingläser und zog sich dann mit einem letzten warnenden Fingerzeig auf den heißen Servierteller zurück.

Will ergriff seine Gabel und spießte ein Stück Fleisch auf. Er starrte es an.

»Ich versteh schon«, sagte Hamza. »Genieß es einfach. Ab sofort wird dein Leben in die Zeit vor diesem Bissen und dem danach unterteilt sein. Das Peter Luger’s ist nicht zu toppen. Hier in Williamsburg werden seit 1887 nachweislich die besten Steaks der Welt serviert. Also, genieß es.«

»Es ist nicht deswegen«, sagte Will. »Ich bin bloß … Es fällt mir schwer, das alles zu verarbeiten. Das Steak kostet neunzig Dollar. Alles in allem wird uns das hier um die dreihundert Mäuse kosten. Das ist mein Lebensmittelbudget für einen Monat, Mann. Das kommt mir alles so …«

Will legte die Gabel beiseite.