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Ein Schauspieler spricht für eine Rolle vor. Schon seit längerem ist er arbeitslos. Um nicht vollständig in der Perspektivlosigkeit zu versinken, muss es mit diesem Engagement klappen. Als er erfährt, dass das Stück, für das er vorspricht, in der Türkei der 30er Jahre spielt, erinnert er sich seines Urgroßvaters. Denn genau zu jener Zeit war dieser in Istanbul Chef der deutschen Kolonie – inoffizieller "Ortsgruppenleiter von Istanbul". Prädestiniert ihn diese persönliche Verbindung zum Thema nicht als Spieler in besagtem Stück? Der Autor Carsten Brandau greift für seinen "Ortsgruppenleiter von Istanbul" auf Texte aus den unveröffentlichten Memoiren seines Urgroßvaters Carsten M. zurück, der als Mitglied der NSDAP von 1934 bis 1941 in Istanbul den Posten des Ortsgruppenleiters innehatte. Während die Texte des Autors und seines Urgroßvaters zunächst fast unzusammenhängend nebeneinander zu stehen scheinen, verflechten sie sich im Laufe des Stücks immer mehr zu einer Geschichte, die so nie stattgefunden hat. Gegenseitig greifen sie ineinander ein, überschreiben sich. Und so entsteht ein Stück, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart überlagern: Das Istanbul der 30er Jahre trifft auf die Türkei Erdogans, die Migrationswellen der letzten Jahre auf die Emigration der deutschen Intelligenz unter Adolf Hitler, Karl Mays Türkei-Bild auf syrische Bürgerkriegsflüchtlinge. Das Stück "Ortsgruppenleiter von Istanbul" wirft einen Blick auf das deutsch-türkische Verhältnis, der ungetrübt von "haymatloz"-Klischee und "Nazi"-Vorwurf die Wahrheit erkennen lässt, die es nie gegeben hat – ein bewegendes Gedankenspiel über die Anmaßung der kolonisierenden Vernunft und über das vermeintlich normale Leben in autoritären Strukturen.
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Carsten Brandau
Ortsgruppenführer von Istanbul
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Besetzung:
Ad libitum
„Wie ein Kranker, der im Fieber liegt, alle Worte, die ihm vernehmbar werden, in den jagenden Vorstellungen des Deliriums verarbeitet, so greift der Zeitgeist die Zeugnisse von früheren oder von entlegenen Geisteswelten auf, um sie an sich zu reißen und lieblos in sein selbstbefangenes Phantasieren einzuschließen.“
Walter Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, 1928.
„Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrecht erhalten kannst,
dann ist deine Identität eine Krankheit.“
Hrant Dink, 1954 – 2007.
– 2.
„Normalerweise besteht eine Bevölkerung aus Gruppen mit verschiedenen politischen Überzeugungen. Gesünder ist es aber, diese Gruppen zu einer einzigen, übergeordneten politischen Überzeugung zu bewegen, zu einer einzigen homogenen Gruppe zu machen. Diese Aufgabe kann nur ein charismatischer nationaler Führer meistern. Er, der Chef des Volkes, kann verschiedene Überzeugungen und Meinungen in seiner und durch seine Führerpersönlichkeit integrieren. Verschiedene Ansprüche und Aspekte betrachtend und abwägend, kann er die richtigen Regeln für das ganze Volk bestimmen. Gleichzeitig erzieht er als Vorbild die Bevölkerung. Sie lernt von ihm und durch seine Vorbildhaftigkeit, dass seine Regeln Allgemeingültigkeit besitzen und die richtigen sind.“
Stille.
War das jetzt. Ich meine. Der Text ist. Ich finde ihn ja. Relativ SPERRIG –
Migrationshintergrund?
Bitte?
Hast du Migrationshintergrund!?
Nein.
Deine Eltern?
Wieso meine Eltern –
Eben.
Versteh ich nicht.
Es brennt!
Ja.
Das Publikum lässt sich nicht mehr verarschen.
Nein.
Die sind das leid. Verstehst du? Deine Zuschauer scheißen auf dieses ganze Bla-bla-bla. Das hilft ihnen nicht weiter.
Natürlich nicht.
Dieser ganze Zynismus. Immer DRÜBER stehen und süffisant ins Parkett runter grinsen. Das muss ein Ende haben! Ob du mich verstehst!?
Doch-doch. Ich hab ja nur. Ein erster Versuch war das. Vielleicht –
Was glaubst du denn, wer du bist!?
Bitte?
Hier geboren, sagtest du.
Ich. Ja. Das stimmt. Ich bin hier –
Abitur und so weiter?
Ja.
Klar.
SO KLAR ist das nun auch wieder nicht.
Eltern geschieden?
Nein.
Verwaist?
Ich?
Entehrt und verstoßen?
Was?!
Vergewaltigt und versklavt? Hat dich der Teufel?! Wenn du wenigstens krank wärest.
Weil ich kein Scheidungskind bin? Weil ich ohne Sitzenbleiben mein Abitur? Deshalb soll ich KRANK sein?!
Psychisch, meine ich. Der räudige Köter da in dir drinnen. Wenn du zum Beispiel schizophren wärest. Psychotisch.
Nicht dass ich wüsste.
Und woher nimmst du dir dann bitte das Recht? Dass ausgerechnet du eine Rolle spielen solltest? Wer BIST du denn!?
Na ja. Ich –
Eben. Na ja. Das ist es. Dass du völlig NA-JA bist! Was willst du den Leuten denn erzählen? Na ja?!
Entschuldigen Sie bitte –
(nachäffend) Na ja.
Ich glaube, Sie kriegen da was durcheinander. Ist schließlich keine Rolle. Die sie mir hier. Irgend so eine faschistische Parteitagslyrik ist das!
Guck sie dir an.
Hab ich doch.
Die LEUTE! Du sollst dir diese Menschen hier angucken!
Sie tun mir weh!
Da! Unser Publikum. Sieh hin!
Ja. Ich – (zum Publikum) Guten Abend.
Guck sie dir genau an. Wie sie da sitzen. Die sind genauso na-ja wie du. Kein Migrationshintergrund, vielleicht mal sitzengeblieben, Ehrenrunde, aber dann doch Abitur und so weiter. Trotzdem. Deswegen! Heute Abend sind sie ins Theater gekommen. Sind nicht vor dem Fernseher hängen geblieben und auch nicht um die Ecke ins Sonstwo. Nein. Diese Gaffer da unten, die sind das Bildungsbürgertum, das dem Theater geblieben ist. Weil es ANGST bekommen hat. Verstehst du? Draußen brennt es. Und wenn nicht bald was passiert, werden diese Menschen verbrennen. (sich immer wieder direkt ans Publikum wendend) Nicht wahr? Davor haben Sie Angst! Dass Sie morgen nicht mehr dazugehören. Und deshalb haben Sie im Gegensatz zu meinen Kollegen ein Recht! Hochverehrtes Publikum! Sie haben ein Recht darauf, dass Sie vom Theater nicht mit Banalitäten und zynischen Besserwissereien abgefrühstückt werden. Denn deshalb sind Sie heute Abend ja hier. Weil Sie sich vom Theater Lösungen erhoffen. Obwohl. Nein. LÖSUNGEN können wir Ihnen natürlich auch nicht. Aber Ansätze. Ja. Wir können Ihnen Ihre Welt einmal kräftig durcheinander schütteln. Und das erhoffen Sie sich vom Theater. Zu Recht! Weil DAS nämlich Theater ausmacht. Dass wir Sprengsätze ins Parkett werfen. Dass Ihnen Ihre Seele explodiert. Dass Sie sich häuten. Auf dass Sie aus Ihren vertrockneten Körpern heraussteigen. Darum geht es im Theater. Und deshalb haben Sie ein Recht darauf, dass wir Sie ernst nehmen. Ihre Hoffnungen. Dass wir die Verantwortung übernehmen. Und so weiter. Und diese Verantwortung übernehmen wir! Verstehst du? SO wird das gemacht. Immer schön lächeln. Ob du mich verstanden hast!?
Verstanden. Ja.
DAS ist Theater.
War aber auch ein ganz anderer Text.
Der ist egal! Scheiß Text. Es geht um deine Figur. Um ihre Gefühle. Liebe, Hass. Dass du dich deiner Sehnsucht stellst! Erträgt doch keiner mehr! Überall nur Verachtung.
Mh.
Oh mein Gott!
Was denn?
DA!
Ich seh nichts.
– 1.
„Der häufige Wechsel an der Spitze des Volkes beschädigt die Autorität der Partei. Noch dazu darf nicht alle paar Jahre die Person und das Werk eines Menschen, der ja ein nationaler Führer ist, in Frage gestellt werden. Eine Diskussion in dieser Richtung schadet dem Ansehen der Person. Deshalb muss ein nationaler Führer ein unabänderlicher, ewiger, lebenslanger Führer sein. Die Politik, die der Nationale Führer vorgibt, ist die einzig Richtige und den Interessen des Volkes dienende. Mit seiner Stellung steht er aber zugleich außerhalb jeder Verantwortung und kann nicht belangt werden. Es wird nur dann ein neuer Nationaler Führer gewählt, wenn der bisherige stirbt oder so krank wird, dass er die Nation nicht führen kann oder selbst zurücktritt.“ Mein Urgroßvater war. Also. In der Partei.
Welcher Opa war das nicht.
Ur-Opa. Er war Nazi.
Reichsjugendführer war er ja wohl nicht.
Bitte?
Stinknormaler Nazi-Opa ist keine Leiche im Keller. Wen interessiert das denn noch!?
Könnte das nicht meine Verbindung zu diesen Texten hier sein?
Als wenn das Nazi-Texte wären.
Natürlich sind das –
Das ist die Satzung der CHP.
CH was?
P. Türkische Regierungspartei. Ende der Dreißiger. So kommen wir nicht zusammen.
Das Stück spielt kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in der Türkei?
Darum geht es doch gar nicht.
Wenn das kein Zufall!
Lass es mich SO formulieren. Ich werde mich nicht bei dir melden.
Genau zu der Zeit hat mein Urgroßvater in Istanbul gelebt!
Also doch Migrationshintergrund?
Gewissermaßen.
Eben war dein Opa noch Nazi.
UR-OPA. Der räudige Hund. Hier. Tief in mir drinnen. Da.
Gibt es etwas, was du für diesen Job nicht machen würdest?
Er war dort Gauleiter.
Bitte?
GAULEITER.
Dein Opa war dort Gauleiter?
Mein Ur-Opa. Ja. Er war der Gauleiter von Istanbul. Hab ich die Rolle?
Der Nächste bitte!
Ich brauche den Job!
Du sollst dich verpissen!
Ich flehe sie an!
Als wenn die Türkei ein deutscher Gau –
Mein Urgroßvater war der Gauleiter von Istanbul!
Du bist dir wirklich für nichts zu schade.
Wenn es doch die Wahrheit ist!? Sie müssen mir diesen Job geben!
Erzähl mir von ihm.
Von wem?
Von deinem Gauleiter!
0.
1.
Darf ich dich mal was fragen?
Ist da was?
Woher nimmst du dir eigentlich das Recht? Dass es immer um DICH gehen muss!? Die ganze Zeit stehst DU im Zentrum! Wann bin ICH dran?!
Sei mal kurz still.
Da ist nichts!
Ich hab doch was gehört.
Du bist ja paranoid.
Psst!
Rhythmisches Brummen.
Hörst du das nicht?
Höchste Zeit, dass du mal wieder einen Job kriegst.
Als wenn es MEINE Schuld.
Hört ein arbeitsloser Schauspieler sein Publikum husten.
Meinst du das eigentlich ernst?
Ich bin AUCH nur ein Mensch!
Glaubst du das wirklich? Dass ich paranoid bin!?
Guck dich doch an.
Weißt du, was das heißen würde?
Wie lange soll das eigentlich noch so weitergehen?!
Das wäre meine Rettung!
Du kannst doch nicht dein Leben lang abtauchen!
Dafür gibt es Gründe.
Nur EINEN! Und der ist deine scheiß Paranoia.
Davon rede ich doch die ganze Zeit! Wie wunderbar das wäre! Wäre ich wirklich krank.
Bist du.
Und warum bin ich dann immer noch arbeitslos?
Dein Selbstmitleid kotzt mich an.
Du willst es einfach nicht wahrhaben.
Weil es nicht stimmt. Die Geschichte wiederholt sich nicht.
Hab ich das jemals behauptet?
Und wovor versteckst du dich dann?
Es gibt Parallelen!
Du bist nicht nur paranoid. Du bist völlig gestört.