Ostexpress in den Westen - Heinz Zschech - E-Book

Ostexpress in den Westen E-Book

Heinz Zschech

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Beschreibung

Das Jahr 1968 hat nach wie vor eine magische Ausstrahlungskraft. Meist werden damit allerdings nur die Studentenunruhen im Westen gemeint. Aber auch im damaligen Ostblock passierten weitreichende gesellschaftliche Veränderungen, wie vor allem in der Tschechoslowakei. Ähnlich waren in Russland die Bevölkerung und auch hier die Studenten sehr politisiert. Mitten in diese Welt kommt der DDR-Bürger Martin Sarodnick, der in Moskau Film studieren will. Er gerät in eine faszinierende Untergrund-Bewegung aus vielen jungen Leuten mit unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Eigentlich will er dort bleiben, aber schließlich erregt er bei einem Filmfestival einen Skandal. Danach beginnt eine abenteuerliche Odyssee durch den Ostblock mit vielen skurrilen und erotischen Episoden.

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Seitenzahl: 1138

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INHALT

IMPRESSUM 6

VOM KOPF 7

1 7

2 21

3 30

4 37

5 43

6 52

7 58

8 60

9 63

10 71

11 74

12 77

13 82

14 90

15 95

16 100

17 102

VON KOPF BIS FUSS 104

1 104

2 116

3 119

4 135

5 147

6 154

7 180

8 184

9 189

10 193

11 197

12 202

13 207

14 211

15 226

16 229

17 235

18 238

19 244

20 251

21 255

22 264

23 277

24 293

25 319

26 323

27 329

28 332

29 343

30 351

31 356

32 378

33 388

34 397

35 404

36 422

37 428

38 437

39 453

40 458

41 463

42 482

ZU FUSSE 493

1 493

2 501

3 514

4 530

5 536

6 550

7 554

8 567

9 571

10 582

11 586

12 595

13 597

14 604

15 610

16 616

17 630

18 669

19 679

20 683

21 692

22 694

IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-037-3

ISBN e-book: 978-3-99130-038-0

Lektorat: Tobias Keil

Umschlagfoto: Esebene, Taiga, Inara Prusakova, Tevarak11 | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

VOM KOPF

1

Fensterkreuzfäden aus Rost und Beton zielen unter der Sonne auf Mittag, und der Staub tanzt mit den Tränen, die wie Perlen kristallen sich drehen. Verlegen malt der Bahnhof die Stadt ohne Farbe und stellt Girlanden und Fahnen anstelle. Blusen blähen sich auf dem Steig, Gesichter drängen, singen und weinen. Irgendwohin plagt die Musik. Unter den Kindern reißt ein Chor Lieder vom Kai, und sein Führer verschweißt aufgewühlt in der Menge mit dem Blau seines halboffenen Hemds. Auf den Gleisen der Zug – Zug um Zug mit einem Bändchen bespannt:

„Sondertransport Berlin–Moskau–Studentenver…“, und auf der anderen Seite ist das weiter unbeachtet vom Winde verweht. In den Wagons rutschen die Scheiben nieder wie wohlweislich entglittene Brote, und belegte Rufe fliegen zu Eltern, Verwandten, Geliebten geschmiert. Eine Jacke schüttelt sich spannungsgeladen, voll von scheckigen Orden behängt, und ihr Träger redet von Auftrag, Ehre und Pflicht. Das Mikrofon versteuert sich leicht. Eine Fernsehkamera surrt, und der Redakteur stellt sich die Gruppen ins Licht. Die Eltern erzählen von Kindern, die Kinder von sich.

„Freundschaft-Völkerverbund …“ – „Immer bereit!“ –

Gleich einer welken Mauer bröckelt das Echo, und die Getroffenen rühren sich warm. Dann drückt sich ein Offizier in die Einstellung groß. Hände schütteln Hände wie reife geschwollene Früchte, und Blumen fallen ins Bild. Die Musik salutiert wieder Ohrenlauthals. Ihre Fetzen stoßen gegen das Dach aus der Hülle von Stahl und mischen mit dem Lärm von den Zügen, den Lautsprecherhöhen und dem Stöhnen der Karren Gepäcks. Allein der Himmel scheint lautlos verschmiert.

Humpelig schürfen zwei Koffer die Treppe hinauf, und der Junge an ihnen tut sich schwer die Menschen zur Seite zu wühlen. Eire Rotblonde dahinter schiebt ihn weichin den Rücken.

„Los doch, Beeilung!“, kommandiert ihr der Junge.

„Verzeih! – Deine Hand!“ – Der Bahnsteig, die Leute.

„Welcher Waggon?“

„Der dritte!“ Die Rote schaut nach dem Atem.

„Hier! Endlich.“ – Er fächert in den Korridor mit den Koffern, stellt sie breit auf die Plätze und schleppt sich wieder leer auf den Steig. „War knapp“, sagt er, rundet einen Blick über die Menge und Fahnen, über die Köpfe – im Windzug geschmückt –und zwinkert einem Mädchen ins Auge, das sich weit hinauslehnt zur Schau. Aber es macht ihn nicht sicher mit mal Erhaspelt im Wort und verkürzt zu dem Schluss: „Ganz aufgeregt ist man ja schon.“ – Doch die mit dem Farbenhaar Sonne hat nichts gemerkt, bemerkt nur die Tränen um sich, und sie reibt im Gesicht: Die Tusche läuft ihr von den Wimpern und verwischt die Sprossen vom Sommer mit zu. „Ich komme bald wieder …“, heilt sein Trost in dem Lärm. „Vielleicht schon Oktober – oder … Du kommst nach Moskau …“ Er umarmt sie wie alle umarmen: verwandt und bekannt.

„Ach, Liebe …“, fällt ihm Gott sei Dank ein. Dann trennt er sich abrupt von ihr und zieht fix das blaue Hemd über: „Hätte ich beinah vergessen! – Wir müssen doch alle …“ – Das Mädchen hatte es schon vorher gründlich gebügelt.

„Zum Sonderzug … einsteigen! Türen schließen!“

Das letzte Hetzen beginnt, und die Rotblonde heult mit den Rudeln. Der Junge kennt keinen Rat. Was sollte er tun? „In Kürze … Petra,nicht weinen! Ich denke … wir denken …“ Der Zug stößt sich ab, und die Musik stampft mit den Rädern, den Bräuten, den Müttern. Das Schluchzen wird frei. Wagen und Wagen rollen wie ein Film, verschwommen und trüb. Die Hände sind nur noch Zeichen und Schläge. Vergeblich freilich klammern sie sich an dem Bahnsteige dicht, denn sie gehen mit der ersten Biegung unter am Gleis. Es ist Abschied, ist Abstand und Wiedererlangen. So rollt der Zug in die Formen dahin.

„Wozu? Warum das Fort und die Unrast? Warum dieses Rad?“ – Gedanken spalten in Wehe, und die Weite schmilzt sich in Einsamkeit um. Ungewiss wie die Augen, die dunkelgrund Signale vorholen, sind Martin Sarodnicks Fragen. Indes, im Mund bleibt ein Lächeln verspielt. Er wechselt vom Schaden in Freude – der Weg ist gemacht, er ist auf der Strecke. Alles andere ist lange zurück. Ein paar Nachwehen bleiben, wie das Knie, das bepackt ist mit Bändern aus Mull. Darunter ruhen der Schmerz und ein Sommer.

Im Waggon drei schweben Gespräche und Nachsicht. Namen fallen ins Spiel. „Dieses Bohren und Brennen!“ – Er hätte Arzt werden sollen, wie es der Vater gedacht, der bis heut’ noch böse sich gibt und die Absage, den Trotz nicht verzieh. „Der Arzt wüsste Bescheid.“ – So ist das Knie. Und die Schmerzen. Und so waren die Ferien gemischt, die letzten mit Petra: ein Sommer am Meer, ein Zeltsommer auf kieseligem Sand mit Schaum in den Haaren und Wind. „Als ob das Nichts dieses Sommers den Schmerz retten kann!“ – Oder gilt er als letzter Stein in den Fragen? Darf ein Sturz mit dem Krad in den Graben mit überdrehendem Tempo den Abschied nicht abhalten können? „Glück gehabt, es hätte schlimmer sein können!“ – Schlimmer für wen? Für Petra bestimmt nicht, sondern wäre nur ein Verzögern für sie, eine Hoffnung auf Bleiben, gar auf „Zu-Hause-Verblieben“. Hatte sie ihm nicht schon die Ringe in der Auslage in Leipzig gezeigt? Er hatte dazu nur ironisch gelacht: „Wie komisch die aussehen: dickgebogen und Gold!“ – Rot war sie dabei geworden, verstand nicht den Spaß und sprach nie wieder darüber. „Also wird es ein später noch geben.“ Für Petra. Und für Sarodnick auch? –

Monika aber sitzt jetzt jedenfalls neben, wickelt den Jungen ein übers Knie, und ihr Blick ist der eines Sieges von heute – oder wenigstens „wie“, wenigstens„dicht“. „Soll die Zeit ruhig rollen und spielen.“ – Aber noch ist Moskau nicht da, und Rückkehr fädelt Nadeln in Öhre, dringt durch wie gesiebt. Monika ist die Brücke schon einmal gelaufen, nicht fremd und von der Erde – wer weiß schon wohin? – in ihre Augen zurück:

klar, ohne Wolken, blau, deutschblau, mit Wasser am Rand und dem Wissen vom Ich: „Ich sehe mich tief, fleißig und zornmütig gar – vorher und nachher aber gemütlich.“ – Auch Petra hat dieses Reine, ähnelt ihr, und Monika wiederum ähnelt denen, die er gekannt, ist ein wenig heller, fahlgelber bloß und dazu mit einem Polster aus Herz. Sarodnicks Mutter dagegen hat die braunen, die so auch seine Augen geworden. Der Sohn aber sucht in dem Blau, in den Flecken Metall-Spiegel und glatt wie gefallen. Verflacht seine Kindheit darin? „Petra, Monika – sind sie gleich wie zwei Augen?“ – Sein Mund formt sich zur Klage, hat eine Absicht bewirkt, und die Hände des Mädchens binden sich zart, sie lindern Bescheid. –

In Halle, um Liebfrauen und Händelaltar, wo Bettina von Arnim zwischen zwei Männern entschied, traf Sarodnick dieses Mädchen zum nächsten Mal wieder. Denn vorher war Leipzig – die gleiche Universität, die Korridore, die um das Gleiche sich wanden. Doch es war damals bloß ein flüchtiges Sehendarüber, ein Fluchtsehen nur. Der schale Kaffee an verschiedenen Tischen, und ein Lächeln war ungezählt nichts – eine nichtgezählte Begegnung. Da in Halle freilich zählte es plötzlich schon, und grundlos fand sich der Anlass: „Du hier?“ Sie hatten den Flirt – ein Dutzend von Tagen. In der Stimmung lag Grund, der Zubereitung beließ: das Studium vor Moskau, das Ausrichten, das Gleichrichten für mehr und mit staatlichen Richtern als Beilage zu, die sich spiegelgleich glichen, das Konzept in der Hand, und mit dem sie Zweifel zerhieben in Bande. Begeisterung und etwas Entgeisterung blieb. Die Halbtausend wachsenden Kinder spürten – wenn sie nicht lange schon ahnten! –, warum sie gerufen, wozu dieser Trab: Man baute die Fronten, gab ein Erlauben in Ehre fanfarig, und das Band sprach bis zum Ostbahnhof Bände, war breitstirnig dort um die Wagen gerollt.

Natürlich war für Monika alles weniger voll und aufregungsgeladen. Sie stand in den Dingen, hatte ihr Studium schon weg und hängte ein Jahr nur hinzu. „Es werden verlängerte Ferien für sie“, dachte Martin und kratzte am Bein: „Fünf Jahre dagegen für mich.“ – Fünf Jahre sprechen und schreiben in einer Sprache, die sich nicht gibt, mit der ihn höchstens Grammatik verband. Es war nicht seine eigene Sache. „Ich sollte mich an Monika halten, am nützlichen Bier.“

Steht sie nicht immer noch unter dem Torbogen im Vorgestern-Halle?

Sarodnick hatte das Gas heulen lassen vom Krad, und die Radspur schabte im Moos, gassengerecht, an den Freistellen fürs Wohnen, fürs Grade-noch-Wohnen, fürs Neuwohnen in der Nichtmöglichkeit.

Monika hielt – die Erfahrung bei sich – , hielt aus bis „unmöglich“, bis zum Sturz ab gegen den Zaun, und sie wusste, dass das Motorrad nicht das erste Mal fiel und noch weitere Male wird werfen – bis zu dem Umsturz mit Petra am Meer.

„Wann wirst du bloß klüger?“, sagte sie und hatte sich das Bein nur gerieben. „Klüger ist Klugscheiß“, antwortete Sarodnick und schlug sich auf seine Knochen. – War sie verliebt? War sie angezogen vom Lärm, von dem Drumherum um die Kunst, die wie ein Brei in ihm wärmte? Wie gern hätte sie auch dort selber gekocht! War sie verliebt in das Fach von dem Jungen? Vielleicht. Auch jetzt. Und später?

In Halle, am letzten Tag tanzten sie auf dem Ball, den Schlusstanz zusammen – einen Tanz ohne Schlüsse: Monika hatte so lange gewartet auf ihn. Gekleidet als Fest, mit einer gefiederten Brosche am Schnitt, das weiße Haar in den Nacken gestrengt, zogen tief ihre Winkel im Mund und liehen ihr Unnähe, Unweiche und Stolz: „Er hatte ihr es versprochen.“ – Der Abend ging ab, und der letzte Tanz sollte doch kerben, sich spitz einzeichnen ins Hirn. Bald würde bald, wäre das notwendige Übel verdaut, und sie könnte sich wegheben von ihrem Kreis, der sie schnürte, der das Theater, die Bücher als Notdurft sah auf die Schnelle. Bietet nicht Sarodnick so ihr eine Chance? „Die Sprache ist Mittel zum Zweck“, – und der Zweck würde nah bei ihm sitzen, wie ein Foto im Klick, wie das Auslösen eines Moments, der die Entscheidung bedeutet.

Fotografiert sie nicht gern? Hatte sie nicht schon als Kind vom Dach andere Dächer gemalt? Ihre Mutter freilich holte sie fort, wies den Vertrieb aus der Zeit und stellte sie auf die richtigen Beine – sie hatte ganz andres zu tun. „Ohne Mann“ – das war ohne Vater, hieß alleine durchbringen das Kind, bedeutete die Knochen sich nässen im Brauwerk und diesem „Kerl“ den Fluch nachschicken für die angedauten Jahre als Braut – brautlos und ohne Beruf. Sie war rum um die Jahre, und in den Tränen hatte sie dazu noch den Hopfen, die Gerste von dem Freibier im Werk. „Das Kind soll im Elend nicht saufen!“ – Das Kind – der Glücksspiegel eh schon verspielt – sollte studieren, ordentlich sein, Leute und fein, mit Geld in der Tasche, das knistert. „Malerei? – Maler malen daneben. – Sie kann nebenbei tun, als würde sie sein: häuslich zu Hause, vom Balkon das Bild auf die See.“

Und Monika wurde begabt für die Sprachen, redete nach dem Munde der Fremden, sprach breiter als die Spitzen im Norden, und es klang ein bisschen wie Ausland dazu. Die Tochter sollte mal die Mutter begleiten rund um die Welt, in ihre Träume und in ihr „Erzähl mir von das!“. Monika ließ ihre Mundwinkel hängen im Winkel und hörte den Rat, wird lange noch hören, gehören, gehorchen – trotz Trotz –, den Trotz nur in die Lippen sich schreiben. Sie wird die Mutter dulden und meiden – geschehen ist Scham, und zweimal kann man nicht in den Topf –, die Entscheidung fällt einmal im Staat. Gewöhnlich nimmt der Vater die Wahl, wenn man nach Grünzeug geradeerst riecht, und er nimmt sich dabei außerordentlich frei: „Du studierst – warte mal! – studierst Medizin!“ – Man wartet – der Vater bewirbt, kommt an, und der Weg des Sohnes ist gemacht und sein Bett: fünf Jahre höhere Schule, der Arbeitsplatz in der Klinik schon vor der „Fünf“ um den Hals und an diesem Platz bis zum Platzen gehalten. Da ist bloß noch für Auftrag, Orden und Lohntüte Raum. „Also die Ausnahme sein?“ – Ausnahmen stinken wie Schweiß oder Urin, den man in der Hose mitträgt als Angst. Sagen wir Normalität, abgesteckter Pfahl in dem Bein, Norm in der Norm: „Ich werde Lehrer. Geschichtenlehrer.“ – Nach vierzig Jahren schichtet man noch, langlebig, zukünftig, sicher auf festen Füßen genagelt. Der Marsch, die Unweil ist der Tugend abhold. „Wir wissen!“ – schon längst. „Seid bereit!“, – im Alter das Kind, der verdiente Feierabend mit dreißig – mit fünfundzwanzig gibt es keinen Studienplatz mehr, allerhöchstens noch fern, zweitgleisig, unwichtig, oder mit wichtigen Leuten im Gleis. Gewisslich wäre das auch zu stark für den Staat: Nach einem Vierteljahrhundert will plötzlich noch einer wissen, dass er nicht weiß, dass er sich irre und anders will sein! Ziele sind Ziele im Auge wie Dorn, und der Staat kann nicht warten, bis Monika sich bequemt zu entschließen. „Nützlichkeitsding.“ – Jedes Ding ist nützlich, solange es läuft.

Und Monika lief wie gedreht in Stralsund inmitten der plattspitzen Schüler, die Stimme im Glas, die sie im Schulchor kristallisierte.„Lehrerin!“, stimmten die Lehrer. „Stimme, Strenge und Stolz.“ Doch Monika leerte den Stolz, gor ihn in sich noch auf: wenn schon nicht malen, wenn schon die Mutter, dann die Erziehung – und die Kinder am Zugzu den Teufeln!

„Schön“, sang sie, „Pädagoge. Aber höher zum Alt, das Philosophische in den Lauten, den Schlag in den Rätseln, höher zum Fremden, in die Magie.“ – Das wäre Kunst fast schon wieder, ein semantischer Trick im Syllabus, die Sprache verworren in anderer Sprache. Vermählt sein mit Zeichen, ohne Ehe zu sein, ein Tor in die Weite – deuten lernen und verstehen in Zeit,lauschen wie Tiere, wie die Natur und begreifen. Begreifenmachen das Bild seinem Betrachter. Indes, Lehrerin also? Ja, aber auf einer oberen Warte: Es bleibt ein Verhüllen, ein Heimlich dazu. Der Lehrer entblößt, entzaubert, zeigt ganz. Der in der Sprache dagegen gibt nur Ergebnisse an, nicht den Weg und erst gar nicht den Ursprung. Das fertige Werk ist ein fertiges Bild – aufgestellt, ausgestellt alles. Es sind die Gedanken, die Umformung, das Vormalige hinter der Wand, und die Kunst ist ins Leben getragen. Vielleicht. Das ist die Farbe. Und Aufgabe. Ein Vermitteln, das nicht fordert, verlangt.

Ihr Deutschlehrer war glücklich im Sieg. Für ihn zählten Prozente, und Monika zählte doppelt für ihn. Beim Malen sind Schlangen gestellt – und stehe mal an! –, eine Absage wäre ein Jahr für den Hund und ein Minus für die Zahlen der Schule. Da verzählt man sich schnell. Für die Sprachen ist es nicht leicht, aber ein Wink, eine Beurteilung, die sticht, kann den guten Rat billig machen und frei.

Russisch/Englisch – zwischen Saxonen und Russen, zwischen zwei Welten, auf einem Steg zum Wackeln, zum Todwackeln und Fallen steht ihr jetziges Leben darauf. Und Monika ist nüchtern geworden, der Regenbogen ist weg, das Artifizielle, die Sprachkunst, die Kunst. In das Entwirren wirrt ein wenig nur Langeweile hinein – kein Mehr, keine offenen Fragen, keine Zeilen dazwischen –, und Regeln und kristallene Worte wirken ohne den zufälligen Grad. „Das wäre der Anfang“, könnte man sagen, wenn es nicht das Ende schon wär’. Es ist das Bedrängen der Arbeit, der Vertrag, das Ziel unter dem Glas. Der Alltag sollte beginnen – undenkbar, zum Denken gezwungen –, die alltägliche Arbeit, das Maschinelle mit individuellem Verstrich, wie jede Maschine mal ist.

Dieser Gedanke würgte wie eine Kahlfläche zur Last, und Monika trägt ihn mit sich aus Leipzig in ihrem Gepäck. „Was aber soll’s! Bis dahin und dann.“ – Martin ist hier, der wird sie schon brauchen, und sie braucht es davon. Weit hinter dem Bahnhof ist Petra geblieben, hinter der Grenze, die Frankfurt passiert. Danach kommt mit Sicherheit Brest – die sicherste Grenze der Welt. Wer könnte die schon durchqueren? Wem gibt man den Schein zum „Betreten verboten“? – „Und die Touristen?“, denkt Monika sich. – „Petra hat Geld.“ Aber Zeit ist kein Geld und die Pässe liegen nicht auf der Straße herum. „Ob er sie liebt, diese Petra?“ – Eine Lücke saugt in der Stirn, in die ihre, in die von Sarodnick auch. –

„Wie eilig sind diese zwei Jahre mit Petra vergangen!“ – Sarodnick sieht sie wieder in sich, sieht ihren Blick in der Mensa der Uni von Leipzig. Dort studierte sie Ökonomie, und Martin aß in dem gleichen Saale zu Mittag. „Achtzig Pfennig mit Nachschlag“ – und das nutzte er aus, reichlich und stetig, gleich, was es gab –, er hatte Hunger und viel, und er hatte obendrein auch kaum Geld. Seine Eltern halfen ihm nicht — wegen der Medizin und der verlorenen Aussicht. Der Sohn wollte die Kunst, und er stopfte sich mit Fertigkost voll seine Ohren. Danach ging’s in die Mensa, mit Blutwurst, Sülze, Eintopf, Kartoffeln und Kraut – achtzig Pfennige haben, Pfennige für den Geschmack –, und die Küchendamen kannten ihn schon des Nachschlags wegen. Der indes reichte ihm dick bis zum Abend. Hundert Mark für den Monat, mehr hatte er nicht, hundert von der hundertjährigen Oma, die stand noch zu ihm. Dazu gesellten sich die Kreuzer für die Arbeit zur Nacht – bei der Post, auf der Messe, auf dem Bahnhof als Lasten-Verschlepper. Gut war es ihm mehr in der Kunstakademie, als ein Zeichen zum Zeichnen, als ein Stück außer Papier: rumstehen und Geldverdienen dabei – die Stunde fünf Mark, stehen und denken „Was macht man damit?“ Ein Hintern, ein Fetzen Fleisch auf dem Block und die Konturen panieren, sich Zustellen wie eine aufgerissene Palette, Standgeld bekommen ohne den Stand: „Irgendwie verliert man an Würde dabei.“

Es war Frederike, die ihm das Stehen verdross beim Faschingsball ihrer Schule oder danach – ja, kurz hernach war es wohl eher. Für ihn war es der erste Karneval in der Stadt und noch dazu bei den Künstlern, mit den berüchtigten Saiten, den Matratzen im Raum und den gemischten Getränken.Allein gewiss traute sich Sarodnick nicht, und so fragte er Dieter, den Freund aus der Schule, der in Leipzig studierte wie er. Der aber hatte zu tun, hatte eine Freundin sitzen zu Hause, musste ihr schreiben, wollte sie denken und konnte auch traurig sein bei. Dieter sagte sich ab, und Martin schilderte ihm den Fasching in Farben, nackt und berauschend, als kenne er sich da aus, als hätte er dort jedes beliebige Mädchen verbraten, und er briet seinen Plan: „Ich verspreche dir, was du willst, wen du willst – wenn du nur wölltest!“ – Aber Dieter wollte ja nicht – freilich, wer möchte schon nicht, mochte nicht wenigstens gucken?

„Man lässt uns nicht ein ohne Kostüme“, zerstreute er seine Betrachtung.

„… ohne Kostüm“, wiederholte Martin stur, „ganz ohne – oben und unten wie nichts.“

„Gut, ich nehme es bar“, toppte Dieter faustdick dem lästigen Freundhinter die Ohren. „Du nackt, oder sagen wir, in Unterhosen ‚verkleidet‘. Das wäre für mich womöglich ein Grund …“

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst?“, stöhne Sarodnick und stand da ohne Hose. „Dann eben nicht. Tschüs! Ich muss den Brief weiterschreiben an Ilse.“ – „Hier“ – wieder ging Martin sich an den Gurt: „Ich werd’ es dir zeigen!“ Und kurzbeinig, peinlich – der Gummi war schlaff – watschelte er ohne Schuhe in wollenen Socken, und der Mut sank ihm in den Schnee vor der Tür an der Höheren Schule. Aber dahinter war Fasching, und er zog ihn mächtig hinein.

„Du warst doch schon drin!“, sagte einer noch auf der Straße und stieß ihn zur Tür, ohne zu fragen, ohne Billett.

Frederike malte im letzten Studienjahr Träume. Sie war groß und begabt und nahm Martin zu sich erfahren nach Haus. Ihr geliehener Mantel schlotterte ihm als bloße Stafette ums Knie. Sie aber gab den Stab an ihn weiter. Er fummelte dran, fand nichts dabei, fand überhaupt nichts bei sich und war drüber erstaunt: Frederike war seine erste richtige Frau, und er hatte nicht einmal richtig geschlafen mit ihr. Die Angst schlief mit ihm, er wusste nicht wie, nicht wohin, und das Mädchen wusste nicht mehr oder wusste, dass Männer nicht unbedingt sind, undnahm den Jungen wie Sahne. Der leckte es ab, machte sich nass, und die Frau schlief unter dem Mantel in Ruhe. Weit war der Weg zu den Mädchen, und große Worte gehörten nicht zu. Die Furcht saß bei Martin dazwischen, Kompromisse im Satz, das Abstreifen der eigenen Grenze.

„Ihren Pass bitte!“ – Sarodnick zeigt seinen Vermerk „Gültig für alle Staaten“. Und der erste Stempel drückt sich im Pass, und ein Gruß des Soldaten – gültig in jeder Armee – klappt hinter ihm zu: „Gute Reise für Sie!“

„Elende Fahrt!“ Zuhause jetzt hätte er Ferien, wie Petra, mit Petra im schönen August, im Zelt an der See, hätte ihren Mund in dem seinen – ihren, der schmal war und schnittig. Lange hatte es gedauert, bis der Kuss ihnen „saß“, und sie hatten sich festgeklammert im Glück. Am Morgen dann waren ihre Lippen geschwollen, und sie schämten sich beide darüber. Ihre Zärtlichkeit war ohne Lippen viel mehr, war ein vorsichtendes Grüßen, ein Ausweichen vor Zittern, vor Schmerz, warBruder und Schwester, war eher Spiel als Berührung und Schmelzfluss im Sinn.

„Monika küsste sehr gut, unsinnig besser – o nein! nicht besser, nur voller – nach dem Festball in Halle vor ihrer Tür.“ – Vielleicht war sie zu offen mit ihm, war ein Mund bloß als Rand – sicher ein Schwungrand, aber doch Rand. Und Martin riss die Lippen mit auf, wie bei Linda, der Germanistin aus der Deutschen Bücherei in der Stadt, in der er fast jeden Tag saß und die Philosophie verschlang wie den Nachschlag zum offiziellen Gericht: Er hatte von Linda eine Sondergenehmigung für Nietzsche, C. G. Jung, Stephan George … bekommen. Es war wie ein Geheimnis für ihn, und er wühlte darin, war eine Einführung in okkulte Bereiche, ein trotzdem zum Leben, zum Wertlosen, das wertlich beschrieben, und die Schwermut nahm sich darin schwer und sehr ernst.

Sarodnick lag in seinem gemieteten Bett, im gemieteten Zimmer für dreißig Mark in der Vorstadt von Leipzig und wog seinen Mut: Konnte er leben mit hundert Mark unter dem Kissen, mit Unvermögen sich Wege zerstreuen, mit abgerissen von gestern, von Eltern, von Freunden und mit keiner Richtung in Sicht? Er klang sich in Reue, im Schatten, under wärmte darin, klammerte an den Büchern, um die Triebe in Nachsicht zu setzen, die Analyse zum Reif in die Leere – sein eigenes Ich.

Die Bänke im Saal waren schwer von den Köpfen, und Martin las in Märchen und Typen, die in Archen verpackt waren und ruhten. Er fand den Mann in der Schwüle der Endproduktion, den Hauch der Bürgerentsammlung, die Hochzeit im Beinhaus. Er spürte überall künstliches Licht, und das zog ihm über das Herz, diese Sprache im Tritt, die Krankheit verschmierte in Ordnung, die vor dem Meer einen Breitstrom, ein Delta abgab. „Drei Noten im Tristan“ und der Klang von gekippten Betten darin, das hohe Fieber mit Ironie – wer könnte da lachen im Krampf?

Drei Bänke weiter saß Linda, drei Straßen weiter von ihm in dreißig Mark Miete. Sie schied sich in Psychologie, schied sich die Geister, scheute bescheiden den Lärm und kannte Bescheid: Saß sie doch schon Jahre einige Reihen weiter im Saal. So kam für beide die Trauer gemeinsam, der Zweifel, der Einsang zu fragen und die Harmonie im einfachen Schweigen. Stumm hatte Martin siezu küssen versucht, und sie staunte darin: Ihr Mund war weit vor der Antwort, klappte nicht zu, war ein Wochen- und Monatestaunen. Später dann nahm Martin die Hand mit zur Hilfe, und er öffnete zum Mund ihr die Bluse. Ein Knopf rollte ab, und Linda schlug die Empörung an ihn: „Wie konntest du nur?!“ – Fortab saß sie wieder ferner drei Bänke und suchte in ihren Büchern allein. Sarodnick aber war zum Fasching gegangen, lag Frederike selber Modell und stellte sich nie mehr für fünf Mark splitternackt aus: Er hatte seinen eigenen Preis. Oder ging er nur Gefahren zur Seite? –

„Clever wie sie“, sagte er sich und sah auf Monika seitlich. Sie hatte gewartet, bis der Zug den Bahnhof verließ, bis Martin abklang in sich, sacht und entschieden. Alsdann schickte sie ihre Freundin voraus mit dem Gruß: „In unserem Abteil ist ein Platz über.“ – Wie hätte er abschlagen, nicht überschlagen sollen – einen Platz zwischen den Mädchen? Er reute es nicht – gesorgt und gehegt von den Formen, geboten in Wahl und in Reihen – und Selbstruhe lag in dem, einGrund in der Sache: „Ein Mädchen ist verteilt keine Frau.“ – Sarodnick muss sich nicht zeigen, vermag nicht und muss nicht vermögen; er kriecht in die Streuung und macht allen den Hof. Aber er schlief doch mit Petra? – Eben. Das einzige „Richtig“, das einzige Mal, die einzige Frau. Darum die Bindung, die Trauer, die Furcht. – Der Zug geht durch Fremde, durch Gebiete, die Sarodnick nur aus dem Schulunterricht kennt: wohlige Namen, die einstmals anders geheißen – deutsch-endig und -stämmig. Sie sind polnisch geworden, neulich und wieder, sind vom Leide gelöst, von dem Tod, den sie gaben, und sie sind Ausland, ausladend für die, die sie nahmen.

Noch niemals war Martin im Ausland gewesen – das eine Mal als Kind kann er nicht zählen, im Lager, als er sich verlief in den Bergen und nach dem Weg einen Bauern fragte, der ihn in einer fremden Sprache erschreckte. Und der Junge weinte damals davor. Tschechisch war es, und Polnisch ist dem verwandt, wie Russisch, wie alle slawischen Sprachen. Zehn Jahre hat er Russisch gelernt – und wie! –, mit Zensuren, die stimmten wie die anderen auch, und mit nichts, fast gar nichts, das hängengeblieben wäre davon. Monika indes hat zwei Sprachen in ihrem Hals, das ist wie eine Kette, ein Schmuck. Und er bittet: „Sag etwas in Russisch, ein Wort!“ – Dampf, Schienen und Müdigkeit schlagen auf Schwellen. Nacht zieht hinter die Fenster, und ungewohnt breitet der Schlaf sich in Fahrt. „Unter dem Weg, auf dem Wege, wegig, unterwegs – Kilometer im Leben, rollendes Leben …“ Im Sinken, im Eintauchen legt sich Vergessen, legen sich Träume zum bald, und Martin greift in die Tiefe, klammert die Hände daran. Allein in den Welten, Gleiten im Sein, mitten von löschenden Sinnen – nichts tun, ein Flackern, ein Blasen, ein Scheitholz im Feuer des Wagens, ein Silberton im Gesicht. Nacht. Endlich. Räder laufen im Atem. Eine Hand drückt die seine – gleichviel von wem. Man ist noch. Zählt. Und man hält in den Händen und sinkt. –

Als der Tag in den Wagen sich gießt, ist man in der Sowjetunion schon, in Weiß-Russland, und die Waggons laufen jetzt breit, auf breitbeinigen Schienen, anders genormt.

„Die könnten sie bei uns auch installieren“, meint jemand. „Unmöglich“, erwidert sein Gegenüber. „Der Westen macht da aber keineswegs mit, und wir sind leider immer noch abhängig von ihm.“ – Breitspurig erklärt er die Lage, und die Lage wird klar: Sarodnick ist in dem Land mit den anderen Normen. Schicksale gehen die Runde, und an die Türen klopfen Studenten in Uniformen und verteilen Broschüren, formen, was noch nicht ist geformt, Abteil an Abteil. In jedem Kopf stecken Plaketten, man fährt in die Sonne, und Martin bangt in der Frage nach Ankunft.

Berlin–Leipzig war klar. Er studierte hier, dort wohnte Petra. Martin nahm den Koffer, kam an, „zuhause“ bei ihr. In Berlin war seine Wohnung, in einem Gartenhaus bei einer vergessenden Dame, in einem Haus außer Häuschen, mit Musik und Festen darin. Dahinter lag Berlin als Hinterhalt, als Hauptstadt, als Zwilling vom verlorenen Sohn, mit Kultur und aufgeputzten Ruinen. Sarodnick spielte mit ihnen, zeichnete sich aus und steckte die Delegierung nach Moskau sich an den Hut: „Als Einziger! Einzig!“ Er klapperte sich die Fanfaren herunter, die Zirkel, die schönen Worte der Straße als Bühne. „Ein Theater würgt ab“, und Martin blähte gelähmt, flimmerte den Schein und den Spott in den Kegeln. „Das ist schon das Größte, weiter geht es nicht mehr – Kerzen in Schlössern und Sphären!“ – Er schlucktedie Masken – Leipziger oder Berliner – die Drachen, die Bärte, den Sommernachtstraum, und er fiel über die Steine, die man ihm absichtlich stellte: Bert Brecht, die Zweifel im Hoch, die Krise als Zucht und die Maßnahme als Regel – das elfte Plenum als Spiel. Für Sarodnick waren es ausgelegte Karten zum Greifen, und er griff nicht daneben, noch nicht. „Glatt wie ein Scheit“, – und glatt rollten die Gespräche mit Monika über die Bühne. „Wir haben in der Oper herzlich gelacht.“

„Zum Kotzen, der ‚Faust‘! Der zweite Teil ist zum Vergessen.“ – Monika schaute die Könige alle in Leipzig, und Sarodnick hinkte voraus. „Über das Leipziger Ballett kann ich wohl richten“, spürte er und kannte ihre Tänzer sehr gut, ihr FF, ihre wie Faltern schwebenden Finger, ihr Freifeist und -geist, ihr fahrendes Fisteln, und er lockte sich mit in dem Spiel an den Hoden und ließ sich austanzen am Schweif. Ein Ausguss lief über die tanzenden Körper, lief über und goss manche Male aus Martin heraus. Es war ein Ringeltanz zum Anfassen unter dem Bauch. Petra freilich zog ihn vom Buhlen in ihren Sommer, und sie blitzte im Zimmer mit Teppich und Blumen. Da konnte Martin nicht anders, kroch in ihr Sofa und stellte die Schuhe auf ihre Löcher. Geborgenes Nest, eine Schwalbe im Herbst, Schwesterngeliebte – so nahm sie ihn auf. Sein Vater undseine Mutter waren entschuldigt mit ihr und ihre Flüche vergessen gemacht.

Der erste Geliebte. Die Erste geliebt. Zweiseitig klebte die Angst, es zu nehmen, und erst nach langen Monaten hemmte sie aus: Sie gruben sich ein – vorsichtig, rücksichtig, den anderen nicht störend im Tun. Es war Liebe ohne Schreie und Schmerzen, ein Dahinschaukeln, ein Interruptus – man unterbrach sich mitten im Wort: „Was wolltest du eigentlich sagen?“ – „Ach, nichts.“ – Zu hoch mutete die Erziehung im Fleisch, war eine Not nur verrichtend: „Nichts. Mache nur weiter“ – es war der Schreck vor dem Später, und weil es nun einmal anders nicht ging, war eine Bindung, die bindet und löscht – gleichgerichtet auf Flammen zu Glut: „Das Feuer schüren, solange es löscht.“ – Jetzt ist es in Sehnsucht verstellt, ist „nicht wichtig“, und Petra ist eine Fiktion – Petra ist Liebe. Wie soll er da raus? –

„Wir sind angekommen!“, erinnert ihn Monika unversehens an Moskau. „Was? Schon?“ Ein Wischen auf Scheiben, ein Tuscheln, und das Stechen im Hirn. Wieder Musik und wieder Plakate und Fahnen und Menschen.

Der Junge irrt, stößt sanft gegen die Leute und Rufe, gegen Wartende mit Schildern unter der Brust. Um jeden beschriftenden Bauch scharren die Neuen, die angekommenen Deutschen und ordnen sich zu. Für Sarodnick dagegen warten kein Schild, kein Institut und kein Ruf – er steht den Namen im Rücken. „Wo ist Monika nur?“ – Ordner treiben ihn weiter, ins Gitter, zu neugierigen Augen, die nach etwas ihn fragen. „Ich …“, steckt er bloß ein. „Wenigstens die Koffer irgendwo stellen!“ –

Der Bahnhof ist wie eine ausgetretene Wiese. „Farbiger“, denkt er, „Farbe vergossen für Jahre.“ – Eine Frau aus der Botschaft verzagt: „Auf meiner Liste finde ich nicht ihren Namen. Aber temporär … Ich kann telefonieren.“

Man geht „vorübergehend“ zur Universität – zu einer fremden. „Da sind Betten. Und später regeln wir alles von selbst.“

2

Kunstleder im Arm rollt Sarodnick auf der Treppe für Götter, für die Gestürzten, in marmorne Schächte: Die Moskauer Metro gibt ihr Karussell. In Steinen setzen schwingende Fäuste, und Mosaike sind in die Flechten der Haare geschnitzt. Halbwärts auf Flitter beugen sich brustfest Ritter vom Amt zu dem hastenden Volk – Mitfahrervolk –, zu den schwankenden Netzen und Taschen. Nichts ist zu schade hierfür. Die Wände sind mit Edelsteinen besetzt, undLenin liest sich in georgischen Lettern. Im Überlicht steuern die Scheinwerfer aus, Kathedralen wanken unter der Erde Öffentlichkeit, Burgen und Schlösser steigen aus der Legende, und mit ihrer Freizeit im Schoße sitzen die Mädchen mitten darin. Ihre Zimmer aber schlafen auf Erden. Hier jedoch sind ihre Stunden, das Buch, der Freund und der Kuss. Unterstellen, um zärtlich zu sein, anonym sein, schön in dem Zelt. Die Sackgasse wird zur offenen Tür – allein und gemeinsam, riesig und klein – zu einem Tempel für unheiligeZeiten, zu einem Satzzeichen in einer wörtlichen Rede. – Sarodnick lädt sich selbst in die eisernen Betten des Internats, irgendwo weit im Moskauer Süden. Die Nächte sind heiß, und herbergig ist die Hoffnung nach Klärung – von Botschaft aus Botschaft – das Hoffen auf das eigene Bett. Er streift die Vertikalen zum Himmel, verdreht die Lomonossow-Universität sich von den Seiten, die wolkenhoch sozialisiert. Der Wunsch ist verhangen, das Wider zu den Kratzern im Westen: Kaukasische Berge, gedrechselte Wertarbeit unter dem Tisch, und eine Höhe ist „um Gottes willen“ erreicht. Für die Besten der Besten ist es gemacht, sind Volkshäuser für die Verdienten des Volkes. Man gab ein Exempel, das Exempel genügte: ein Vorzeigestück. –

Die geplante Versammlung am Morgen fiel aus, wie alle Versammlungen ausfielen, und man traf sich nur kurz, wie geniert, im Hofe der Uni, war gepresst von dem Mittag der Hitze. Ein Vertreter der Botschaft teilt sich mit – knapp, blitzknapp und leise:

„In dieser Nacht haben unsere gemeinsamen Streitkräfte des Warschauer Paktes die Grenzen zur Tschechoslowakischen Volksrepublik überschritten und haben damit den Weltfrieden gerettet.“ – Was für schreckliche Hitze! Irgendjemand ruft: „Bravo!“ Der Botschafter packt zusammen, verschwindet. Zweihundert Jungen und Mädchen sind wieder allein.„Das muss ausdiskutiert werden“, sagt einer. Keiner.

„Später! Ihr bekommt Direktiven.“

„Diskretion und Disziplin wahren!“

„Die Unterkunftsfrage wäre zu klären.“

„Die Essensmarken bitte bei mir!“ –

Warten und Teetrinken – russischer Tee mit viel Zucker.

„Das schlafft deine Nerven“, hatte Sarodnicks Großmutter gemeint und ihm den Topf mit selbstgemachtem Kandis heimlich gereicht. Heimlich musste es sein, die Eltern waren dagegen: „Das Unkraut! Der schmutzige Zucker.“ – Heimlichkeit war eine Zier in dem Haus, heimlich schmeckte es besser, heimlich sündigte es sich, heimlich hörte man westliche Sender, heimlich kam eine krumme Frau, um in der Zukunft zu lesen, derweil der Vater auf Versammlungen einstimmig wählte. Probleme lösten sich hinter vorgehaltenen Händen, und die Hand schob sich schnell in den Mund und manchmal auch tiefer – zum Kotzen war es.

Sarodnick hielt sich daran und hält die Hand gegen die Sonne, um von den Leninbergen zu schauen. Moskau ist dort, der Horizont seine Heimat und Petra und die Panzer, die fahren. Er nimmt die eigene Faust mit zu Hilfe und sucht die Zeitungen ab. Doch die deutschensind gestern und hinken, nur die sowjetischen winken und strahlen:

Kinder und Mütter schmücken Soldaten. Martin kann die Buchstaben lesen, die aber geben ihm keinen Text: „Frieden“ und „Freundschaft“ – und Flechtwerk zu Prag. „Verdammt, diese Sprache! Es hat keinen Sinn.“ – Monika müsste er finden. Gleich an der Lubjanka, am KGB, hat sie ein Zimmer, in einem Haus mit viel Glas und aufgelockerten Mauern, mit Flügeln, Balkons und gestaffelten Fronten, mit krummen Winkeln und Winkeln, die tolldreist sich bilden, mit Treppenhäusern aus Licht: ein Wohnheim-Konstruktivismus. Und Martin erbaut sich darin.

In dem Haus teilt sich Monika den Raum mit einer Jüdin und einem georgischen Mädchen. Sie sind freundlich, und beide gewöhnt als Dreiheit zu leben. Die Jüdin ist rund um den Tisch, dunkel, untergestellt, mit offenen Augen wie Grauputz und Seide. Die Georgierin dagegen ist groß, gliedrig, mit olivenem Kopf, schwarzen Zopfhaaren über den Schultern und einem sehr lang gekrümmten Hals. Sie ist eine Frau aus den Epen, eine Unwahre, Ungefasste, mit schiefem winzigen Mund und hängenden Augen voll Ernst. Aus Suchumi stammt sie, und Suchumi hat Wasser und Berge und Honig. Martin lässt die Finger dran kleben und trinkt grusinischen Wein. „So tanzt Europa“, zeigt er den Mädchen, ist weit weg von denKörpern und sucht mit Gesten verständlich zu sein. Sie lachen: „Überhaupt nichts verstanden …“ – Er geht. Monika bringt ihn zur Treppe. „Ich hab’ dich gesucht.“ – Sie lässt ihren Mund ihm wie damals in Halle am Bogen, und es hat etwas an sich, etwas Wohliges, Sanftes, hat etwas von der Treppe dazu. Wie das Eisen stützt es, gibt den kühlen Kopf wieder, die Hilfe, die er jetzt braucht. Eine verschlüsselte Liebeserklärung murmelt er über die Diele, ein verhangener Nebel, der die Banalitäten verhüllt. Doch die mag sie erst recht nicht, mag sie ihn auch.

Monika ritzt und formt seine Sprache – eine Sprachführerin – und führt durch die Stadt.

„Entschuldigen Sie bitte, die Filmhochschule …?“ – Es ist am anderen Ende der Stadt, Nord weit und weg.

„Wie viele sind Sie aus Ihrem Staate?“, fragt der Direktor, und Monika springt in die Lücke, sagt:

„Einer. – Oh, der Martin, Herr Sarodnick kann alles verstehen, nur sprechen ist fürihn noch zu schwer, wegen der Scham …“ – und sie tritt ihm auf die Füße, so dass Martin zustimmend nickt. „Ein Vorbereitungskurs ist nicht nötig.“ – Der Direktor ist verführt von dem Charme: „Dokumentar- oder Spielfilmregie?“

„Spielfilm natürlich.“

„Das wird sicherlich schwer“, spricht der Mann und meint es so gut wie versprochen. Monika ist ins Institut aufgenommen, und der Direktor gibt ihr die Hand.

„Herr Sarodnick, hier!“

„Natürlich, Frau, Fräulein … bloß ‚Spielfilm‘, ich weiß nicht …“

„Es steht im Vertrag.“ – Wer hat Verträge gelesen?

„Gut. Kommen Sie in drei Wochen!“

„So lange wartet der Herr?“

„Das ist seine eigene Sache.“

Das Internat ist ein Steinklotz an der Jausa, ein nebenseitiger Arm von der Moskwa, am Bahnort nach Norden Sagorsk. Die Tataren hatte man nah von hier aufgehalten im Mittelalter am Fluss, der jetzt fast gänzlich weggetrocknet und bald nur noch die Erinnerung lässt. Hinter den Schienen ist ein Wald bis zum Sakolniki Park ausgeworfen, mit Birken, wie es in Büchern oft steht. Der Lärm der Zügeweht in die Etagen des Heimes und zieht den Geruch der Bäume nach sich hinein. Die Fenster schmücken den Rest. Der Bau duldet den Zweck, die Unterbringung von Menschen. Er ist ein Zelt für den Winter, übereinander gestockt in fünf Reihen. Die erste ist für die Aspiranten gezogen, die zweite für die Ökonomen und Kameraleute, die dritte für Maler und Szenaristen, die vierte für Schauspieler und Regisseure, die fünfte für Mädchen. Vier Stöcke – vier Leute im Zimmer, drei Leute – wenn man drei Jahre schon wohnt. Jede Zeile fließt in die Küche, in die Toilette, in die Waschräume aus. Im Keller wärmt eine Dusche, darüber liegt eine Kantine, darüber das Leben, darunter aber die Erde und das Gewässer der Jausa von eins.

Ein Junge, zwei Koffer, zwei Taschen, zwei Zettel mit Stempeln würgen sich in das Zimmer im dritten Stock. „Tag Martin!“

„Ach ja, Fritz!“, sagt der eine von den Zimmerbewohnern.

„Martin. Sarodnick, Martin.“ – Die anderen lachen. Martin ist es ganz schnuppe, wo er seine Nächte verbringt.

„Willst du teilen mit uns?“ – Wladimir, Samwel, Wasili. Russe, Armenier, Bulgare. Im Schrank hängt ein Mantel, eine Jacke, zwei Hemden – Sarodnick richtet sich ein.

„Die Koffer wohin?“ – Ein Tisch, zwei Tag- und Nachtschränkchen, vier eiserne Betten, ein Schrank und ein mickriger Lautsprecher daneben geschraubt. „Ich brauche etwas Privates. Mit Schloss! Ich werde mit dem Internatsleiter reden. – Passt auf, dass niemand inzwischen was klaut!“ – Sarodnick geht.

„Deine Mutter hab ich gefickt!“, schleudert der Armenier gegen die Tür. Er kommt aus Tbilissi, wuchs auf unter Georgiern, lebte mit seiner Großmutter allein, denn die Eltern waren im VaterländischenKriege gefallen. Jura hat er studiert, als Advokat kurz praktiziert und beginnt „Regie“ heuer zu lernen. „Diesen Fritz, verdammten Scheißkerl, erschlage ich noch!“, schreit er undgeht an die Luft, den blauen Schlips knotend, die Kunstlederschuhe sorgfältig hoch über die Knöchel geschnürt und die grau schlendernde Hose knapp unter das verwaschene Sakko geknöpft. Zeitlos sind sie gewaschen – die Jacke, das Hemd und der Binder –, zeitlebens sind die Schuhe gezeitigt, und bloß die Turnhosen wechseln von Jahr zu Jahr, wenn sie mal völlig verschlissen.

Am nächsten Tag ist Samwel mit den anderen schon aus dem Häuschen: Der erste Kurs fährt zum Ernteeinsatz – Kartoffel lesen und packen. Sarodnick dagegen hat inzwischen Zeit sich einzuleben, zu gewöhnen, einzurichten, Vokabeln zu lernen. „Wie gut, dass Monika ist!“ – Bis zum Abend büffelt, ächzt er sich durch und lässt Monika da, wo sie ist – es stehen ausreichend Betten.

„Frierst du nicht?“, fragt er, im Halse das Herz hörend, „unter der anderen Decke allein?“ – Und er streichelt sich ein, fängt das Gesicht undden Mund. Sie liegt wie die Ruhe daneben: „Geschieht es, gescheh!“, erwidert den Kuss, entkleidet von ihm sich die Haut. Martin tastet die Hand in sein Bein und spürt die Gleichgültigkeit bei: ein Mädchen, ein Junge – nah, lustig, lustzagen, lästig. Er hat nichts in den Händen, und Monika wartet aufs Ziel. Er hört seine Brust schlagen, lauter als sonst, und der Schlag wird zum Selbstschlag, schlägt die Lust nieder mit einem, und die Regung regt sich als Schmerz in dem Magen wie ein „Kann nicht“, ein „Ich kann nicht“, wie ein „Breit in dem Mädchen versagt.“ Brutal aber schmälert der Junge es nieder, und gewinnt mählich seine Macht über den Bauch: „Ich dachte, du hättest noch nie … mit einem Mann … – Mit jeder kann ich nun nicht“, beanstandet er und tröstet sich somit erleichtert. Monika weint:

„Einen. Einzigen. Einmal geschlafen.“

„Und doch!“

„Es war eigentlich nichts.“

„Und doch.“ – Sarodnick ist enttäuscht, sitzt auf der Kante vom Bett und wischt ihr die Tränen, wischt große Worte ins Dunkel: „Liebe ist rein. Not opfert den Geist. Verfrüht ist Finden vor Suchen, die Prüfung istLeid zur Veredlung, die Zeit ekelt in Schnelle – schnelllebig, spannungsverladen –,es ist nur im Bett und ohne Sagen danach. Man schläft Langeweile verborgen … ich verzeihe es dir. Aber wisse es wohl! – Und dann ist noch Petra. Nicht einfach das Stück. Ich kann nicht wechseln wie Hemden; Treue vertrocknet nicht an der Leine so schnell. Alles ist mit dem Wind.“ – Seine Sprüche sind flattrig, gelesen, ohne Bezug in dem Bett, und der Körper des Mädchens entflieht verschämt in die Kleidung zurück. –

Nicht das erste Mal trifft Martin da auf den Kopf. Er kennt die Szenen, die Schlappen, aus denen er das Beste stets macht. Mit sechszehn fror es ihn schon, kroch er unter die Decke von einer Frau, und die Lust ging ihm fix in die Binsen. Nur der Schweiß stand gepanscht auf der Stirn, und er wollte rasch sich verziehen.

„Hast du ein Gummi bei dir?“, fragte plötzlich die Frau, und Sarodnickfiel es wie ein Stein in das Bett: Er fand Gott sei Dank wieder das Wort:

„Nein.“

„Dann lassen wir’s lieber.“

„Ja“ und „hurra“ – ein Jubel ohne Ekstase, aber Jubel trotzdem, ein Motiv für die ungeschehene Tat, für die Nichtfähigkeit.

Später traf er Ilona. Er kannte sie schon aus der Schule, kannte ihren Busen für zwei offene Hände, die Küsse vor ihrer Haustür, die ihn verschlangen, und seine Finger spielten gefurcht mit ihren Beinen daneben. In Leipzig war er ihr wieder begegnet, und ihr Körper stand vor ihm in den Tag, und er nahm sie ins Kino, spürte die Gier neben sich, die sich mit den Bildern der Leinwand synchronisierte, spürte das Bild nicht zu Ende und lockte daher zu sich.

Sie saßen in der Kneipe zur Ecke bei Brause, und Martin beobachtete das Licht im zweiten Stock gegenüber vom Haus. Seine Wirtin brannte noch wach, und erregt stierte er an Ilona vorbei zu den Fenstern: „Verflucht, die Alte findet nicht Schlaf!“ – Nach der fünften Limonade flackerte es endlich und löschte, und die beiden schlichen ins verbotene Zimmer hinauf. Martin nahm einen Likör aus dem Schrank und reichte den Trunk genau unter der Lampe dem Mädchen.Der Plan spannte sich auf, und Sarodnick drehte schnell an der Birne. Im Dunkel suchte er Schutz und versteckte Ilona ins Bett.

„Und weiter? – Diese Brause! – Ach, küssen, streicheln die Lust.“ – Er fühlte die Patsche in ihr, setzte sich zu, kramte im Handeln – schnell musste es gehen! –, tat so, als täte er ob, und die Kälte lief ihm über den Rücken. Ilona ließ sich gewähren, eine Erfahrung bediente sich ihr: „Dieser Kerl hat mit vielen geschlafen.“ Doch der Kerl stand nicht da wie ein Kerl, überlegte zu viel und verhedderte sich weiter im Stecken. Plötzlich warf er verzweifelt den Schuh, lauschte sich eine Frist: „Die Wirtin ist wach!“ – Einen Moment verharrte sie heiß, schmiegte sich schnell dann wieder an ihn und suchte die Form in der Hand. Wieder schleuderte er den Filz gegen die Tür:

„Die Alte!“ – und er zog sich was drüber. Ilona verstand nicht, schüttelte den faulen Trick von sich ab, fand sich zerknittert, erniedrigt. Die Wirtin trat ein.

„Eine Kommilitonin“‚ stellte Martin sie vor. „Sie kam ein Buch holen, mehr nicht. Indes, sie wollte dann bleiben – wegen der letzten Straßenbahn…

die ist nun schon weg.“

Die Hausherrin drohte mit Polizei, und ihr Nachthemd wehte beklemmend: „Besoffene Weiber bei mir! Ich kündige ihnen … unmittelbar … auf.“ – Verbraucht, ungebraucht heulte Ilona in ihrer Wohnung und schrieb zehn Seiten Abschied an Martin. Er hatte sie nicht mehr gesehen.

Linda, Frederike, Elke – die noch unberührt war und weinte ganz nackt: „Ich habe so Angst“, – und Sarodnick weinte mit ihr: „Dann lieber nicht.“ – Zufrieden teilte er ihren Dank. Petra, Monika … Sie rauchte. Martin strich ihr über die Haare, balancierte über die Sprache und setzte sich hart in die russischen Sätze, die anders sich setzen als seine, die weniger kalt, die verschiedene Worte für gleiche Begriffe sich nehmen und nach den Gefühlen klar unterscheiden. Eine Sprache, die nicht verallgemeinert, sondern verstreut, die sich in Räumen bewegt und wenig im Transzendenten, die Blutwärme hat, Traufe, ein Nest. „Sie klingt wie die Sinne.“ – Es ist eine Sinnlichkeit tief, reifend, beschreibend, und die Träger sagen mehr, was sie empfinden und weniger, was sie gedacht, sagen es geradeheraus, direktweg zum Du, wie ein Hinüber ins andere, über andere, Äußere, ohne Vermittler und Eigen. Die Gefühle genieren nicht mehr, schämen nicht Worte zu machendaraus, die für Sarodnicks Sprache abgenutzt schienen, abgegriffen, unsagbar, nicht wiederzuholen, banal. Und mit Genuss lernt er diese neue Sprache, den Ursprung, von klein sozusagen, wo alles frisch, neuwertig, fremd, wo man vorbeigeht und fragt: „Was ist das?“, und man antwortet nur: „Ein Garten“ –, und das Wort ist hier noch sehr rein, festgewachsen im Beet, ganz konkret „so und nicht anders“, das Wort schaut aus dem Gegenstand raus. Wenn alsdann jemand ein anderes Haus, einen anderen Garten ihm zeigt und sagt: „Das ist ‚Garten‘“, ist er verblüfft, ist es wie ein Missgriff für ihn, ein Ausrutscher, eine zweite Liebe, die kurz war und nur so heißt, um irgendetwas erklären zu müssen oder um eben gar nichts klären zu müssen. Leicht sind die Phrasen, die Schemen, die Schilder; man passt sich hinein und stopft Fragen mit falschem Bewusstsein. Indes war jedes Wort doch ein Ding, jedes Ding war ein Zeichen und jedes Zeichen ein Graufleck auf Karten. Sarodnick hat in seiner Sprache über Gefühle wie in einer Geschichte gelesen, als Bezugüber Gedanken, weislich gehütet, und im Leben fand er sie fad, wertlos, unoriginell. Oder lag es nicht dort? Hat er bloß nicht sprachlos und sprachlich gefühlt? „Ich liebe“ war abgerückt und verloren. „Liebe“ in der neuen Sprache hingegen ist neu, nicht wirklich, noch nicht erfasst wie ein Haus oder Garten. Sie wächst nicht und schmeckt, sie ist kein Schulfach für Martin.

Dafür lernt er die Flüche, die mütterlichen, die Gesten, die unanständigen, nicht vernünftigen Worte, die die Launen nachzeichnen, die Stimmungen, welche weichstimmen, welche Lücken füllen und das Nichtweitergewusst, die Schmus sind für Ohren und für empfindliche Augen ohne Geschmack, schmutzig, ein „So-etwas-sagt-man-doch-nicht“! Erinnerungen sind sie von gestern, dass wider Erziehung noch strotzte oder vielleicht auch hauchende Nachwehen von Kindheit, von Kindheit-an-sich. Das wäre dann Freisinn, zwanglos, ohne Gepäck, ohne Kleider. – Zuerst wurde Sarodnick rot von den Fladen, unsicher, und er lenkte vorüber, sprach„schlafen“ und „mögen“, und der Anstand stand ihm dabei ganz gut. Er reckte in Sprachdisziplin und bog sich weg vom „Beim-Namen-Genannt“. – „So biegt sich das Deutsche ins Licht“‚ pflegte er es persönlich zu nennen. „Die Sprache ist voll von Dingen im Kopf, zeigt Denken im Namen, Hirnstriche, Reflexionen. Was aber spielt sich darunter? Wozu ist der Körper gesetzt? – Wir haben lateinische Formeln anstelle.“ Ein paar kluge, zensurfreundliche, für niemanden bissig. Wie drückt man Zärtlichkeit aus? Schon Niedlichkeiten sind träge, Verkleinerungsformen werden gemieden. Jeder spricht gleich. Sarodnick hört in die Graduierungen hinein, in das Beleben der toten Welt, der Natur. Und der Mensch tritt mit seiner Beziehung dazu. Ein Bund wird mit der Schöpfung gesiegelt, und das Wort gibt dem Menschen sein Bild.

Als Sarodnick gehen lernt sprachlich, und Samwel – Semjon, Sjoma, Samweltschik, Sjomotschka – ihn in das Fluchen einweiht, wird er nicht fahrig, wechselt nicht weg, sondern scheint Gefallen daran. Es ist ein Jenseits vom Wert, von klassischer Bildung und Klassen, geschöpft aus Vorkrieg und Vorrevolution, wo es Aborte und Fleckenwasser nicht gab.

3

Sie ist Turkmenin vom Kaspischen Meer, andererseits, jenseitig, zu Asien kaum oder gerade noch zugehörig und an Europa allenfalls grenzend. Ihr Volk ist eine Wurzel der Steppe, eine ziehende Horde mit Legendenauf Pferden, ein See zu den Bergen und mit Mädchen im Schlaf. Zu diesem noch aber hängt sich Europa und ein wenig Zivilisation, die Sippe versprengend, die Armut, die Wehr.

Sie hat noch nicht die klaren asiatischen Formen, diese Bewegung, das Lächeln, das Nicht-Ausdruckgenaue. Maja ist groß, aus weichem Ton farben, aus Früchten und Brüsten, aus Augen wie Kirschen im nachweiligen Sommer, dunkel und fallend: „Berührt sind sie noch nicht.“ Etwas Nachtschönes geht in sie ein, ein Lösen im Dunkel, zudem ihre Haare den Hals als Schatten bedecken, dessen Haut vom Meere entstieg, sonnengetrunken im Bad. Sie ist inmitten von Pferden gekommen, vom Zelt auf der Weide, dann sesshaft gemacht, den Schleier zerrissen, das Messer der Freier verworfen. Manchmal aber keimt es noch auf, fiebrig, kristallen wie Schnee und geblendet – ein Sturm, eine Braut, die wirbt und nicht gibt, nur den Zorn und die Klage. Maja ist da, schön, diamanten – ein Rohdiamant ohne Fassung am Ring, ein Preis in den Bergen, zur Erde gefallen und tot. Jedoch Maja möchte die Haltung, will den Schliff und die Stellung. Sie wünscht Europazu sich, möchte die Freiheit, hat aber noch keine Übung darin. Die Männer begehren sie, fachen sie an wie das Feuer, sie aber will nur die Flamme, die Glut, die nicht löscht, ist rechtlos im Geben, im Wunsch, in ihren Gefühlen, und es verfliegt diese Gier vorschnell, vergebens.

Kennengelernt hat Sarodnick sie über Peter – ein Sohn der DDR-Nomenklatura – welcher Russisch beherrscht wie sein Vater das Amt, das seinen Sohn rettet vor Rettung, die freilich unsinnig ist. Denn Peter ist hier nicht am Platze, ist fehltrittig, hingeschoben nur von dem Vater. Es juckt wie auf Zwecken in ihm. Er ist ohne Ruder und Willen: Zehn Jahre Moskau haben in ihm ein Leck eingefressen. Nach jeder durchgefallenen Prüfung kommt eine Mitarbeiterin seines Vaters aus der Botschaft zur Schule und spricht – vier Augen – hinter Türen zur Traute. Man traut ihm über den Weg über den gestandenen Vater, der eine Seele von Mensch und unmenschlich, wie es das Regime so verlangt. Peters Freundin wohnt mit Maja zusammen, und Sarodnick verliebte sich allda, wie Blitze es tun: unangemeldet und heftig. Gemüter reißen Spalten auf in Lawinen, und man heilt, was gut ist, was jedermanns Sache, gut für tausend Jahre und mehr. Maja zerrt sich von der Innenwelt ab, die aus den Fugen geraten – Sippe, Eigentum, Patriarchat. Sie zerbricht an diesem danach, dem Epilog in dem Märchen, trägt sich selbst fort zu den Kindern, zu den Buchstaben und geschriebenen Bildern. Sie wird zum Leser gedruckt, schmilzt zu einfachen Zeilen und schweigt. Manchmal noch blättert sie von der Literaturgeschichte ins Leben zurück, aber ihre Siegel sind bar. Maja vergisst. Sie kann sich nicht mehr erinnern. Das Gestern ist vormals und weit und gelb wie abgestandene Molke. Ihre eigene Sprache hat sie lange verlernt, spricht Russisch, gibt sich europäisch, will frei sein, und kann es bloß nicht. Der Sprung geht in Jahre, und die sind zu viel.

Ausgelassen feiert sie sich, liebt die Abende mit der Musik, die Dämmerung, den Wein und die Tänze, sie liebt neue Gesichter, neue Gedanken, neue Kulturen. Dahinter aber birgt sich die Furcht vor Bewährung und Bleiben. – So ein neues Gesicht ist allenfalls Sarodnick auch –, sitzt ihr in den Augen und traut sich nicht, nicht seinen Augen. Fesseln möchte er sie, zielen, seine Spielregeln geltend machen für sie. – Maja kocht Reis, Hammel mit vielen Gewürzen. Die Becher klingen mit Wein zu der Musik, und man richtet sich ein in dem Zimmer mit den drei Betten. Martin tastet sich vor, befühlt Taten, sucht Gedanken zu setzen, ungesagt bislang in der Sprache. Doch die Ideen versumpfen, verwischen, wirren und treffen sie nicht. Wer kennt schon seine aufgezählten Namen, die Sprüche, die geklopften Zitate? „Novalis schrieb Lasker-Schüler und Conrad Ferdinand Meyer …“

„Bitte? Ich verstehe dich nicht. Geht man von Achmatowa aus, schließt der Ring um Block mit der Zwetajewa ab.“ – Die reden vorbei. Sarodnick kann es nicht nennen, sein Bedürfnis sticht nicht und verleitet, er ist an eine Mauer gestoßen, ein Inkommensurabel, eine Unlänge, die nicht ausdrückt genug. Wörterbücher nur brechen den Rhythmus, kalten, lassen schal, und Peter setzt ein wie ein Mittler, als Überbringer von Botschaften, die keine mehr sind. Man spricht aus seinem Graben heraus. Peter ist mühsam, schön und gut, aber ihm fehlt die Deutung, die eigene Soße, der Faden, der ködert. Man redet und redet – verschieden, verschiedene Welten – und ohne Händel dabei. Goethe ist ihnen nicht heilig, Kant nicht unbedingt Ausgangspunkt. Wo könnte Sarodnick ansetzen, Bezugspunkte gleiten?

„Fische, die liegen zu lange und riechen“, sagt er und lässt sich selbst im Trockenen stehen.

„Sandburgen!“, lacht Maja, „auf Sandkuchen gebaut.“

„Nehmen wir Hegel …“

„Nehmen wir die Bylinen“, schäkert sie.

„Und wenn Hölderlin in den Oden an Gott nebenging von der Erde …“

„Hast du Puschkin gelesen?“, stört sie ihn, und Martin weiß weiße Stellen, zeigt auf freie Rhythmen beim Schreiben.

„Das ‚weiße‘ Gedicht heißt freilich nicht reimen“, ist sie sich sicher dabei. „In Russland galt es lange verpönt solchermaßen zu dichten.“

„Die Deutschen schrieben derweil schon in Prosa.“

„Na und?“ – Ausgequetscht, saftarm, Unbeweise im Schwindel. Holt Martin einfach zu viel? Ihn stört das Atemholen in Sätzen, das Mischen mit Hammel und Wein:

„Zwischen zwei Bissen kann man nicht Kierkegaard klären.“

„Tanzt du mit mir?“ – Sie drückt seine Unzufriedenheit fest in den Griff und gibt ihren Mund: „Entschuldige bitte.“

Peter derweil lächelt betrunken: „Das alte Lied.“ – Seine Freundin holt ihre abgedroschene Platte aus dem Regal. Allein, Martin glaubt an sein Glück. Köpfe drehen und wenden, unwichtig ist das andere jetzt, lächerlich, laut.

„Küss mich und leg meine Haare um deinen Mund.“

„Um die Finger.“ – Wie leicht sagt man, was man gar nicht gelernt. Tausend und eines Gedicht.

„Die Lippen …“ Er fängt sich darin, lauscht auf den Atem.

„Ich möchte allein sein mit dir“, flüstert er kühn, sagt es ohne Gewissen, denn er ahnt, dass sie nie käme: Zu sehr liebt sie das Spiel, liebt den Flirt mehr als den Flirter.

„Ich verbrenne mich nicht“, flüstert sie und tanzt in die Nacht.

„Ich habe Verlangen nach dir.“

„Vor meiner eigenen Schwäche habe ich Angst.“ – Sie haben beide gelogen. Eine Katze. Man tut, als würde man sein.

„Wir sind an Oberflächen gewöhnt.“ – Sie können nicht lieben. „Du schläfst nicht mit mir.“

„Woher willst du das wissen?“

„Beide wissen wir es.“ – Die beiden küssen, ohne zu fragen, ohne Herzklopfen, küssen die Hülle ohne den Kern.

„Wir treiben sie aus.“

„Was?“

„Triebe.“ – Beide könnten es sagen.

„Zutreiben über die Schwelle.“

„Ungetrieben davon.“ – Wie schön zu sagen: „Ich möchte dich haben“, nach dem Verzicht.

„Wir sind sicher im Gehen.“

„Wir tun, als wäre das Gegenteil von.“

„Wovon?“

„Von dem Zauber.“ – Sie bezaubern sich roh, und sie lässt ihren Körper verwundern, befühlen: „Wie schön bin ich so.“

„Du bist ein Wunder für sich.“ – Ein glückliches Paar, ein Plakat, buchstabenlos scheinbar, aber gekonnt. Sie verstreichen den Abend, und Sarodnick legt sich beruhigt ungestillt hin. Er hat sich verliebt, hat Maja in den Schlaf eingewiegt und ihr etwas von Glück, von Freude erzählt. Ungewichtig ist er und gleich, und er schreibt einen Brief sich nach Hause, schreibt von Sehnsucht, die sich gut sieht auf dem Papier, von den Tagen, die kommen, die sich begegnen, und schreibt an Petra in Leipzig.

Gern liest Petra die Briefe, die Tränen, den Wink aus dem Zug, den Brunnen der Zeit. Sie sitzt in der Mensa alsdann, daselbst, wo er einmal gesessen, gegessen ohne Gabel und Messer – und in der Rechten ständig ein abgegriffenes Buch. In sich fraß er hinein, haarstrebend aß er Seiten und Töpfe. „Ein Tier!“, hätte ihr Vater bemerkt oder „so einen“ gar nicht gemerkt. Aber Sarodnick war dies egal, ein langer Weg stand bevor, ein Hunger für sich. Das Mädchen dawider ist Tochter, ist an Wochenenden daheim bei den Lieben, beim Vater, bei sich. Alther stammte das Geschlecht und die Sippschaft, hatte nach allen Kriegen gewonnen und in die vollen Hände gefüllt. Sie überleben, leben lang, und der Staat ist auch nur ein Lied mit einigen Strophen. Alsdann ist der Alltag, und für Habenichtse gibt es nur noch Akkorde – im Tempo bremst sich die Zeit.

Petra gefiel dieser Junge dort zehn Meter weiter. Das Fremde stach sie, zündete sie, das, was sie zu Hause immer verachten, das sie einfach nicht sahen. Zu „erzogen“ war sie jedoch, um ihm dies zu beweisen, um eine Deutung ihm zu gewähren, und nur über „Ecken“ erfuhr Sarodnick es, aus einer halbseidigen Quelle im „Tempel“ von Nerus, der ihm unter dem Dach zuflüsterte: „Unter einer Bedingung!“ Er hatte das doppelte Alter vom Jungen, und er stieg von seiner Zinne über die Straßen, in die Cafés, in die Toiletten vom Park. Seine Haare waren wie Atlas gekämmt, und er puderte sich rosa, zog seine Brauen zum Strich. Hochauf balancierte er dann, fuhr von dem Bahnhof zur Großen Oper und strich die Bedingungen ein. Dies gefiel Sarodnick gut – wie er selbst gerne gefiel –, und er duldete gern sich zu einem Becher zu laden, zu einem Schmaus, ließ unterhalten, ließ es befühlen. Nerus verehrte die Seide, schenkte mit offenem Arm, und reichte Wäsche zum Kleiden, zum Anziehen, aber „sofort!“ – Sarodnick zog in die Hose, über das Hemd und zeigte, was frei war an ihm. „Wenn der mich anfasst, haue ich drauf!“, hielt er sich offen und stand nur in Mode, ging auf den Steg, den Körper vom Dache geneigt.

„Du bist sehr schön“, sagte ihm Nerus, rieb an den Fingern von Martin und ließ sich dann hinter dem Vorhang ins Bett, in dem ein anderer Junge einlag. Sarodnick hörte sie kichern, sah die Schatten kippen im Stoff und packte sich zu, sagte: „Danke. Glückauf!“

„Einen schönen Gruß auch von Petra“, hielt ihm die Stimme vom Jungen hinter dem Store auf, „ich studiere mit ihr.“ – Und dann quiekten sie wieder. Mit Petra in dem Salut ging Sarodnick fort. Er wägte, er zirkelte ab: „Sollte er den beiden da glauben?“ Und er entschied sich für den Versuch.

Sarodnick steigt in die Kantine, nimmt sich die ranzige Butter vom Brot und gießt den Joghurt in die Gedanken. Dann streckt er alle vier zufrieden ins Glas, kauft eine dicke Zigarre und schenkt sie dem alten Wächter am Eingang: „Wenn Monika kommt, lass sie passieren. Das ist diese Blonde mit dem Zeisiggesicht?“

„Wie sieht ein Zeisig denn aus?“

„Sehr fein und sehr blass.“ Der Alte pafft den Qualm durch die Nase: „Ein wenig dick ist sie schon.“

„Kannst du durch die Ohren ausrauchen?“

„Kann ich, aber das Kraut ist zu schwer, es bleibt hängen im Schädel.“

„Das nächste Mal schenk ich dir eine aus Kuba.“

„Oh, Kuba! Das ist eine saubere Sache.“

„Mit Schleife am Bauch.“

„Schleifen sind nicht mehr in Mode.“

„Wieso?“

„So.“

„Ich wollte mich eigentlich baden.“

„Das solltest du öfters noch tun. Die Dusche ist unten im Keller.“ – Sarodnick schlägt das Handtuch gegen den Rauch und bläst seinen Atem gegen die Treppe zum Keller. Leichtherzig verliert er das Hemd und die Hose und hüpft singend und pfeifend aus dem Käfig ins Bad. Dampfwolken stehen im Wege, und er sieht sein Nacktes nicht vor den Augen. Aus dem Brodem steigen Gekicher. Sarodnick nimmt den Nebel als Nebel und zwitschert aufs Horn – er sucht eine freie Kabine.