Ostfriesengier - Klaus-Peter Wolf - E-Book
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Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

So explosiv hatte sich die neue Polizeichefin ihre Amtseinführung nicht vorgestellt. Der 17. Fall für Ann Kathrin Klaasen und ein brutaler Angriff auf die Polizei von Nummer-1-Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf. Die neue Polizeidirektorin Elisabeth Schwarz hatte gerade ihre Antrittsrede begonnen, als auf dem Parkplatz vor der Polizeiinspektion ein Auto explodierte. Nicht irgendein Auto, sondern das Auto von BKA-Mitarbeiter Dirk Klatt. Führt hier jemand Krieg gegen die Polizei?, fragt sich Elisabeth Schwarz. Hat Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen deshalb auf den Posten der Polizeidirektorin verzichtet? Weil sie weiß, wie gefährlich dieser Job in Ostfriesland wirklich ist? Und ist das der wahre Grund, warum Martin Büscher in den Ruhestand versetzt werden will?  Für die neue Polizeidirektorin türmen sich plötzlich Fragen über Fragen. Für Ann Kathrin Klaasen stellen sich nur zwei: Wer legt Bomben unter Polizeifahrzeuge? Und warum?

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Klaus-Peter Wolf

Ostfriesengier

Der neue Fall für Ann Kathrin Klaasen

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

In ihrem siebzehnten Fall wird Ann Kathrin Klaasens Können auf eine harte Probe gestellt, denn die Explosion von Dirk Klatts Auto im Innenhof der Polizeiinspektion hat alle erschüttert. Wer legt in Ostfriesland Bomben unter Polizeifahrzeuge? Und was bezweckt derjenige damit? Bei ihren Ermittlungen können Ann Kathrin und ihre Kollegin Marion Wolters nur knapp dem Tod entrinnen, und für die neue Polizeichefin, Elisabeth Schwarz, wird sofort klar: In Ostfriesland läuft manches anders als im Rest der Republik.

 

»Wer Regional-Krimis liebt, liegt bei Klaus-Peter Wolf, dem König des Nordsee-Reißers, genau richtig. (…) Spannend und maritim stimmungsvoll.« Kester Schlenz/Stern

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, ist freier Schriftsteller und lebt mit seiner Frau, der Kinderbuch-Autorin und Liedermacherin Bettina Göschl, in Norden, in der Stadt, in der auch seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen lebt. Seine erste Geschichte schrieb er mit 8 Jahren und verkaufte sie sofort für zehn Pfennig. Er hat zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, seine Bücher wurden insgesamt über 14 Millionen Mal verkauft und in 26 Sprachen übersetzt, die Verfilmungen der Ann-Kathrin-Klaasen-Romane sind Quotenrenner zur besten Sendezeit. Klaus-Peter Wolfs Romane sind nicht nur spannende Erzählungen, sondern auch Röntgenbilder einer Gesellschaft, oft liegen Gut und Böse sehr nah beieinander und sind nicht immer eindeutig zu trennen. Als Schirmherr für den Förderverein Stationäres Hospiz Norden e.V. engagiert er sich ehrenamtlich. Wenn der Autor nicht am nächsten Roman schreibt, dann kann man ihn in seiner neuen Rolle als Teebotschafter und ehrenamtlicher Tortentester vor Ort in Norden treffen.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Motti]

[Textbeginn]

[Leseprobe Ein mörderisches Paar]

[Leseprobe Ostfriesenhass]

»Vieles, was man sich zu Herzen nimmt, sollte einem besser am Arsch vorbeigehen.«

Hauptkommissar Rupert, Mordkommission Kripo Aurich

 

»Solange mein Dienstherr nur so tut, als würde er mich richtig gut bezahlen, reicht es auch, wenn ich nur so tue, als würde ich richtig gut arbeiten.«

Hauptkommissar Rupert, Mordkommission Kripo Aurich

 

»Die Regeln sind nicht das Spiel. Das Spiel ist das Spiel.«

Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen, Mordkommission Kripo Aurich

Die Amtseinführung der neuen Polizeidirektorin Elisabeth Schwarz ging gründlich schief. Was erstens daran lag, dass Rupert sie als Alice Schwarzer begrüßte und dann noch Wellers Handy während ihrer Grundsatzrede Piraten Ahoi! spielte.

Das alles hätte sie vielleicht noch professionell weggelächelt, aber dann explodierte draußen auf dem Parkplatz am Fischteichweg in Aurich Dirk Klatts Auto. Er saß zum Glück nicht drin, sondern flanierte am ostfriesischen Büffet vorbei und wog ab, was dagegensprach, erst Lamm und dann Fisch zu essen. Vielleicht würde er dafür den Nachtisch weglassen, obwohl die Rote Grütze mit Vanillesoße sehr gut aussah. Er, der Hesse, hatte sich inzwischen sogar an Matjes gewöhnt und in den letzten Monaten fünfzehn Kilo abgenommen.

Seinen Hals zierte eine lange Narbe. Die Stiche, mit denen die Wunde vernäht worden war, wirkten wie Tätowierungen. Für Rupert sah er jetzt noch mehr nach Frankensteins Monster aus, aber das sagte Rupert nicht.

Gleichzeitig mit der Amtseinführung sollte Martin Büschers Verabschiedung in den Ruhestand gefeiert werden. Rupert hatte auf seine ureigene Art versucht, Büscher davon abzuhalten: »Martin«, hatte Rupert gesagt, »überleg dir das mit der Pensionierung noch einmal. Einen gefährlicheren Job als den eines Rentners kenne ich nicht.« Nach einer Pause hatte er hinzugefügt: »Kaum einer überlebt das wirklich.«

Martin Büscher zu Ehren wollte der Polizistinnenchor singen, der es durch seine Eigenkomposition Supi, dupi, Rupi zu ziemlicher Berühmtheit gebracht hatte. Der Song war als Spottlied auf Rupert gedacht gewesen. Ein Spaß – mehr nicht –, doch irgendwer hatte bei den Proben wohl ein Handy mitlaufen lassen. Seitdem geisterte der Song durchs Internet. Inzwischen gab es verschiedene Cover-Fassungen, die von Bands gesungen wurden.

Zum Auftritt des Chors kam es aber nicht mehr. Frau Schwarz, die vierundfünfzig Jahre alt war, nach eigenen Aussagen zwei Ehen und zwei tödliche Krankheiten überlebt hatte, brach ihre Rede kurz nach der Detonation ab. Sie hatte, wie viele der Anwesenden, für einen Moment die Hoffnung gehabt, der Lärm könne etwas mit den Bauarbeiten im Caro zu tun haben. Das Einkaufszentrum lag direkt neben der Polizeiinspektion. Manchmal ließen sie sich von dort asiatisches Essen kommen oder holten sich in den Pausen einen Döner.

Als die Ersten nach draußen strömten, knüllte die neue Polizeidirektorin den Zettel zusammen, auf dem sie die Zahlen für ihren Vortrag festgehalten hatte. Sie wollte eigentlich frei reden, doch bei Zahlen war sie penibel. Sie hatte Respekt vor der hohen Verantwortung, die sie jetzt für die einundzwanzig Dienststellen und die vierhundertzwanzig »Bediensteten« hatte. Sie war jetzt für eine Viertelmillion Einwohner verantwortlich, und wenn die Urlauber kamen, wuchs die Zahl rasant an. Aurich, Wittmund, Esens, Norden, Wiesmoor und die Inseln. All das wollte sie aufzählen, und sie hatte lange darüber nachgedacht, ob sie Polizistinnen und Polizisten sagen sollte oder lieber Polizist:innen. Im Grunde fand sie das Gendern richtig. Aber es sah dämlich aus und hörte sich verkrampft an. Das Wort Kolleg:innen ging ihr nur schwer über die Lippen, darum sagte sie jetzt »Bedienstete der Polizei«. Aber das hörte sich ein bisschen nach Servicekräften an, so als würde hier gekellnert und man könnte bei der Polizei ein Schnitzel mit Pommes bestellen.

Sie wollte so gern alles richtig machen und von allen gemocht werden. Nun stand sie kreidebleich neben Ann Kathrin Klaasen auf dem Innenhof zwischen Glasscherben und Autoschrott. Statt eine feierliche Rede zu halten, blieb ihr nur noch der schlichte Satz: »Jemand führt Krieg gegen uns.«

Ann Kathrin Klaasen sah gar nicht so aus, wie Elisabeth Schwarz sie sich vorgestellt hatte. Sie kam ihr unscheinbar vor. Nicht Lichtgestalt, sondern eher verhuscht. Nicht extrovertiert, auf Wirkung bedacht, sondern nachdenklich. Ruhig. Natürlich kannte sie Fotos der legendären Kommissarin, hatte Ausschnitte von einigen Talkshow-Auftritten gesehen und unzählige Geschichten über sie gehört. Vor allen Dingen wusste sie, dass Ann Kathrin Klaasen ihren Posten abgelehnt hatte. Es war ein seltsames Gefühl, neben der Frau zu stehen, deren Vorgesetzte sie ab jetzt sein würde, nur weil diese keine Leitende Polizeidirektorin werden wollte.

Wahrscheinlich, dachte Elisabeth Schwarz, ahnte Ann Kathrin Klaasen, dass es kein Traum, sondern ein Albtraum werden würde.

»Ein Anschlag auf einen Polizeibeamten ist ein Anschlag auf uns alle. Auf unsere freiheitliche Gesellschaft als Ganzes«, sagte sie zu Ann Kathrin Klaasen so laut, dass alle Umstehenden im Hof sie hören konnten.

»Klasse. Damit kommt man in der Presse bestimmt gut an«, konterte Ann Kathrin Klaasen, »aber leider in der Ermittlungsarbeit nicht wirklich vorwärts. Es wurde nicht irgendein Auto in die Luft gesprengt, sondern das von Dirk Klatt. Es ist das zweite Mal, dass ein Mordanschlag auf ihn verübt wird. Es ist gut, wenn wir uns alle gemeint fühlen. Aber zunächst versucht jemand, ihn umzubringen. Und wir müssen gemeinsam herausfinden, warum.«

Elisabeth Schwarz schwieg betreten. Das war die erste kalte Dusche, dachte sie und musste sich gleichzeitig eingestehen, dass Kommissarin Klaasen recht hatte. Für einen kurzen Moment fragte Elisabeth Schwarz sich, ob hier etwas lief, das man ihr verschwiegen hatte. Ein Gangsterkrieg gegen die Polizei? Wäre sie dann als Chefin die Nächste? Hatte Frau Klaasen deswegen abgelehnt, den Posten zu übernehmen? War Martin Büscher nicht etwa ausgebrannt, sondern einfach nur ängstlich?

Gut zwei Dutzend Einsatzkräfte, die eigentlich zur Feierstunde gekommen waren, befanden sich im Innenhof. Die Fenster standen offen, viele sahen von dort aus herunter. Es war ein einziges Durcheinander und Herumgewusele. Einige Kollegen überprüften ihre Autos.

Frank Weller stand auf Zehenspitzen zwischen den Glassplittern. Er reckte sich und brüllte: »Ja, seid ihr denn alle wahnsinnig geworden? Geht sofort in Deckung! Das war ein Bombenanschlag!«

Seine Worte lösten ohne jeden Widerspruch eine Flucht ins Gebäude aus. In Sekunden war der Parkplatz menschenleer.

Das hätte ich sagen müssen. Das wäre meine Aufgabe gewesen, ärgerte Elisabeth Schwarz sich. Prima Einstand. Ich versage noch während der Begrüßung. Schon beim ersten Problem, das auftaucht.

Rupert erklärte allen laut, ohne von irgendwem gefragt worden zu sein: »Das ist eine alte Terroristentaktik. Sie lassen eine Bombe hochgehen und locken damit Schaulustige und Rettungskräfte an. Dann erst kommt die eigentliche Explosion, die einen noch viel höheren Schaden anrichtet …«

Weller guckte Rupert sauer an. Der wusste nicht, was er falsch gemacht hatte, korrigierte aber vorsichtshalber: »Also, ich meine, der zweite Anschlag kostet noch mehr Menschenleben als der erste, deshalb hat der Kollege Weller völlig zu Recht …«

»Rupert, halt endlich die Fresse! Fordere lieber Sprengstoffexperten an«, zischte Weller. Rupert nickte gelehrig.

»Es wird keine zweite Bombe geben«, sagte Ann Kathrin. »Der Anschlag galt Klatt, und entweder wollten die ihn hier vor aller Augen in unserem Innenhof töten, oder sie wollten uns nur demonstrieren, dass sie es jederzeit tun können.«

Klatt hatte sich auf der Toilette eingeschlossen. Weller klopfte: »Was ist? Durchfall? Kommen Sie raus, Mensch! Wir müssen reden.«

Klatt zitterte, als er Weller gegenübertrat. Sein Anzug schlabberte an seinem Körper.

»D… das … galt mir …«, flüsterte er und betastete die Narbe an seinem Hals. Es fühlte sich an, als sei sie wieder aufgeplatzt.

In den letzten zwei Jahren war Anneliese noch nie zu spät gekommen. Sie war eine äußerst beliebte Servicekraft im Café ten Cate. Ihre Freundlichkeit war nicht aufgesetzt, sondern entsprang ihrem sonnigen Gemüt. Wenn sie Kuchen empfahl, bekam jeder Gast Lust, ihn zu probieren, und sie trug die Bestellung durchs Café, als sei sie stolz darauf, etwas so Leckeres anbieten zu können.

Menschen, die eine Antenne dafür hatten, fühlten sich beschenkt, egal, wie hoch die Rechnung am Ende war. Dementsprechend bekam Anneliese großzügig bemessene Trinkgelder, besonders von den Touristen im Sommer, bei gutem Wetter.

Dies wäre eigentlich ihr Tag gewesen, doch sie kam nicht. Sie meldete sich auch nicht ab. Sie fehlte einfach.

Jörg Tapper versuchte, sie telefonisch zu erreichen, doch bei ihr sprang nur die Mailbox an. Seine Frau Monika machte sich sofort Sorgen und fuhr rasch mit dem Rad vorbei. Es war nicht weit.

Monika klingelte dreimal, doch Anneliese öffnete nicht. Trotzdem beschlich Monika das Gefühl, Anneliese sei zu Hause. Warum reagierte sie nicht? Ihr Fahrrad stand abgeschlossen vor dem Haus unter einer Überdachung.

Sie war eine alleinerziehende Mutter. Vor zwei Jahren war sie aus Dinslaken nach einer schwierigen Scheidung mit ihrer Tochter Mara an die Küste gekommen.

Monika rief im AWO-Kindergarten an. Anneliese hatte die kleine Mara heute nicht vorbeigebracht. Die Erzieherin wunderte sich darüber. Heute sollte eine Kinderliedermacherin aus Norden im Kindergarten auftreten. Mara war ganz aufgeregt gewesen. Sie konnte einige Lieder auswendig und freute sich auf eine Begegnung mit der Künstlerin.

Monika wunderte sich. Hatte Anneliese vergessen, dass sie im Café eingeteilt war? Die anderen Mitarbeiter wussten auch nichts. Anneliese hatte sich bei niemandem abgemeldet.

Jörg baute derweil in der Konditorei zwei dreistöckige Hochzeitstorten, während im Café Hochbetrieb herrschte.

Monika kümmerte sich wieder um ihre Gäste. Sie hatte viel zu tun, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Anneliese zurück.

Irgendetwas stimmte da nicht.

Die Erste Kommissarin Elisabeth Schwarz hatte das Büro vollständig umgestalten lassen. Nichts erinnerte hier mehr an die ehemaligen Chefs Ubbo Heide oder Martin Büscher. Selbst das Bild vom Bundespräsidenten war ausgewechselt worden. An der Stelle hing jetzt ein Foto, das Frau Schwarz mit dem Bundespräsidenten zeigte. Sie strahlte in die Kamera. Er lächelte eher milde.

Die ganze unaufgeräumte Gemütlichkeit von früher war einer organisierten Sachlichkeit gewichen. Hier lagen keine Bücher auf Stühlen herum und keine Zeitungen auf dem Schreibtisch. Kaffeetassen mit eingetrockneten Resten suchte man vergeblich. Keine Essensreste und auch keine herumliegenden Kleidungsstücke.

Der Raum roch auch anders. Ein bisschen nach Desinfektionsmitteln, neu lackierten Möbeln und Hustenbonbons. Die alte Kaffeehausatmosphäre mit ihren Gerüchen nach Mandeln, gerösteten Bohnen und Fischbrötchen mit Zwiebeln war verloren.

An der Fensterseite stand jetzt ein Tisch mit einem Schachbrett. Daneben eine Schachuhr mit zwei Zeitanzeigen. Eine Flasche Mineralwasser und zwei saubere Gläser warteten auf die Eröffnung der Partie.

Ann Kathrin Klaasen sah sich im Raum um und schloss aus der Neueinrichtung auf die Person, die sie vor sich hatte. Was Ann wahrnahm, gefiel ihr nicht. Das Zimmer hatte nichts Vertrauenerweckendes mehr. Die herausgestellte Funktionalität der Büromöbel empfand Ann Kathrin als kalt.

Die Aktenwand existierte nicht mehr. Alles war hinter abschließbaren Rollladenschränken verborgen und sollte, sofern die personellen Kräfte jemals ausreichen würden, irgendwann auf Festplatten gespeichert werden. Die Zylinderschlösser an den Schränken signalisierten Ann, dass hier jemand etwas zu verbergen hatte oder befürchtete, ausspioniert zu werden.

Elisabeth Schwarz registrierte, wie Ann Kathrin mit einem schnellen Rundblick ihr Büro scannte, und sie ahnte, dass Ann Kathrin glaubte, sie nun als Person einschätzen zu können.

Ann Kathrins Satz Ein Buchregal ist wie ein Fingerabdruck der Seele war in Polizeikreisen zur Legende geworden. Hier gab es gar keine Bücher. Auch das erzählte Ann Kathrin etwas.

»Ja, hier hat sich einiges verändert«, gab Frau Schwarz zu. Es klang ein bisschen wie eine Ankündigung oder eine Drohung. Als seien noch ganz andere, größere Veränderungen geplant.

Ann Kathrin zuckte mit den Schultern: »Wem’s gefällt …«

Die Polizeidirektorin zog die Augenbrauen hoch, als hätte sie nicht richtig verstanden.

Ann Kathrin ergänzte: »Jeder soll nach seiner eigenen Fasson glücklich werden. Aber Sie haben mich doch sicherlich nicht zu sich gebeten, um mit mir über Büroeinrichtungen zu diskutieren, oder?«

»Nein«, stellte Elisabeth klar und deutete auf das Schachspiel am Fenster. »Ich würde gerne Schach mit Ihnen spielen.«

Damit hatte Ann Kathrin nicht gerechnet. Sie staunte. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst …«

»Doch.«

»Wir haben gerade eine Bombenexplosion auf unserem Innenhof erleben müssen.«

»Ja, trotzdem, oder gerade deshalb, muss ich diese Dienststelle führen und neu strukturieren.«

»Und dazu spielen Sie Schach?«

Elisabeth lächelte und spielte die Überlegene. »Schach ist wie das Leben. Man lernt viel über seine Gegner beim Spiel.«

Das konnte Ann Kathrin sich sogar gut vorstellen. Sie glaubte nur, es sei in dieser Situation vollkommen unangemessen. »Bin ich die Erste, mit der Sie ein so ungewöhnliches Personalgespräch führen? Darum handelt es sich doch, oder?«, fragte Ann.

»Nein, ich habe bereits gegen einige Ihrer Kollegen gespielt.«

Ann Kathrin staunte. »Davon hat mir bisher niemand etwas erzählt.«

Die Aussage gefiel Frau Schwarz. Es gab also schon Geheimnisse zwischen ihr und einigen Kollegen der Polizeiinspektion, von denen Ann Kathrin Klaasen nichts wusste. Sie trumpfte auf: »Zum Beispiel gegen Ihren Kollegen Rupert. Matt in neun Zügen.«

Ann Kathrin nahm eine Holzfigur vom Brett und sah sie sich an. Es war ein filigran geschnitztes Pferd. »Und, was wissen Sie jetzt über Rupert?«

Elisabeth setzte sich ans Brett und lud Ann Kathrin ein, auf dem anderen Stuhl Platz zu nehmen. »Eine Menge. Er hat spanisch eröffnet, aber ich glaube kaum, dass ihm das bewusst war. Er spielt selbstbewusst, ganz auf Angriff. Dabei vernachlässigt er die Deckung seiner Offiziere. Er macht von Anfang an Druck, verrennt sich aber und muss herbe Verluste hinnehmen. Er manövriert sich rasch in ausweglose Situationen und ist dann kopf- und planlos. Niederlagen steckt er aber leicht weg, als hätte er nur mal Pech gehabt, mitten in einer Glückssträhne. Er hat öfter auf meinen Busen geschaut als aufs Schachbrett. Wenn eine Frau geschickt mit ihren Reizen spielt, kann sie ihn verunsichern, ja manipulieren.«

Die neue Chefin lehnte sich im Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Ann Kathrin auffordernd an.

»Ja«, gab Ann zu, »das ist ein Volltreffer. Jeder hier könnte dieser Beschreibung seiner Person zustimmen. Sie haben nur zwei Dinge vergessen.«

»So? Welche?« Sie goss sich Wasser ein.

Ann Kathrin zögerte einen Moment, dann sagte sie: »Er ist ein absolut loyaler Freund, und er ist ein unbestechlicher Polizist. Er glaubt noch daran, dass wir hier für das Gute und gegen das Böse kämpfen.«

Elisabeth Schwarz beugte sich vor und sah Ann Kathrin in die Augen: »Und steht er mit dieser Meinung alleine da?«

Ann Kathrin hielt dem Blick stand. »Nein, alleine sicherlich nicht, aber einige zweifeln schon an unserem Tun.«

»Gibt es eine Sinnkrise in dieser Polizeiinspektion?«, wollte die neue Chefin wissen.

Ann Kathrin machte eine raumgreifende Geste: »Gibt es nicht auf der ganzen Welt eine große Sinnkrise?«

Elisabeth Schwarz nahm einen schwarzen Bauern in die rechte Hand und einen weißen in die linke. Sie ließ beide Figuren hinter ihrem Rücken verschwinden und lächelte geheimnisvoll. Dann hielt sie Ann Kathrin wortlos über dem Schachbrett ihre geschlossenen Fäuste hin.

Ann tippte mit dem Zeigefinger auf die rechte Hand.

»Sie glauben also«, erklärte Elisabeth, »dass ich die Figuren hinter meinem Rücken vertauscht habe …« Sie öffnete die Hand, und Ann sah den schwarzen Bauern.

»Nein«, schmunzelte Ann, »ich spiele lieber mit Schwarz.«

Die Chefin glaubte ihr nicht. »Aber wer eröffnet, gibt den Takt vor und ist klar im Vorteil.«

Ann schüttelte den Kopf: »Wer eröffnet, zeigt sich und seinen Plan. Ich kontere gern, wenn ich weiß, wohin der andere will. Wir Polizisten spielen im Leben immer schwarz.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Ann Kathrin stellte den Bauern wieder in die Linie und nahm sich auch ein Glas Wasser. »Zuerst geschieht ein Verbrechen, dann reagieren wir. Unser Zug ist immer der zweite.«

»Nie etwas von Prävention gehört? Delinquenzprophylaxe?«

»Ja, das ist etwas für Psychologinnen, Sozialarbeiter und Lehrerinnen. Ich bin aber bei der Mordkommission. Und wir kommen in der Realität immer erst, wenn das Verbrechen bereits geschehen ist.« Ann Kathrin zeigte aufs Brett: »Sie eröffnen, Frau Schwarz.«

Die Partie begann.

Niemand nannte in dieser Situation den Computerspezialisten Kevin Janssen Lisbeth Salander. Spitznamen passten nicht in die aufgeladene Stimmung.

Eine Überwachungskamera war durch die Explosion zerstört worden, aber Kevin hatte die Daten auf einer externen Festplatte gespeichert. So konnten sie sämtliche Aufzeichnungen aller Kameras gleichzeitig sehen.

Marion Wolters stand hinter Kevin und stützte sich auf die Lehne seines Bürostuhls, als sei er ein Rollator. Sie atmete schwer.

Weller drängelte sich neben sie, um einen guten Platz zu bekommen, ohne ihr zu nahe kommen zu wollen. Sie legte burschikos einen Arm um ihn und zog ihn näher zu sich: »Stell dich nicht so an.«

Rupert fühlte sich ausgeschlossen. Er suchte ein gutes Sichtfeld. Es war ihm hier unten einfach zu eng. »Ja, kuschelt ihr nur«, griente er. Gleichzeitig wollte er nicht wirklich von Marion in den Arm genommen werden.

Nick Hering, Dezernatsleiter aus Osnabrück, suchte auch einen Platz. Er hatte das blöde Gefühl, nicht willkommen zu sein. Sein Handy brummte. Er sah auf dem Display, dass es ein Anruf von seiner Frau Michaela war, und ging vorsichtshalber nicht ran. Es lief seit einiger Zeit nicht mehr wirklich gut zwischen ihnen.

Am Tag der offiziellen Amtseinführung gab es natürlich zahlreiche Gäste. Es fuhren mehr Autos auf den Innenhof als normalerweise. Auch Fahrzeuge aus Osnabrück, Emden, Oldenburg und Wiesbaden. Sie konnten jede Person aussteigen sehen und klar einer Einladung zuordnen. Die meisten näherten sich nicht einmal Klatts Wagen, sondern gingen direkt zum Eingang weiter, wo sie von Jessi Jaminski begrüßt wurden.

Klatt war bereits sehr früh gekommen. Sein Audi stand ab 7 Uhr 14 auf dem Parkplatz. Nur vier Personen hatten sich dem Wagen so sehr genähert, dass sie überhaupt die Möglichkeit gehabt hätten, eine Bombe zu platzieren.

Links und rechts daneben parkten zwei jetzt schwer beschädigte Polizeifahrzeuge. Mit dem einen war Marion Wolters gekommen, das andere stand schon da, als Klatt einparkte.

Zwei Polizisten aus Osnabrück hatten eine Weile am Heck gestanden und ihre E-Zigaretten gepafft. Heinz Jelinek und Jan Block.

Kevin Janssen spulte die Szene zum dritten Mal zurück. Block bückte sich und tat so, als würde er etwas suchen. Jelinek sah sich im Innenhof um.

»Sie wirken ein bisschen wie kleine Jungs, die Angst haben, beim Rauchen auf dem Schulhof erwischt zu werden«, kommentierte Marion. »Oder checkt der eine, ob sie beobachtet werden?«, fragte sie dann kritisch nach.

Weller konnte es kaum glauben. Er hielt immer noch nach einer Person Ausschau, die hier nicht hingehörte.

Die Journalisten Holger Bloem und Lasse Deppe kamen erst kurz vor Beginn der Feierlichkeiten. Schon wenig später ging die Bombe hoch.

Holger Bloem schlenderte nah an Dirk Klatts Fahrzeug vorbei in die Inspektion. Er bückte sich nicht, aber er hätte die Chance gehabt, eine Sprengladung an der Tür anzubringen. Marion Wolters, Weller und Rupert schlossen diese Möglichkeit aber gleich aus. Für Dezernatsleiter Hering sah das sofort nach Vetternwirtschaft und Mauschelei aus. Kritisch merkte er an, dass hier ohne Ansehen der Person ermittelt werden müsse.

In Weller kochte der alte Autoritätskonflikt hoch. Er bremste Hering scharf aus: »Ich weiß ja nicht, wie ihr das bei euch macht, aber wir sehen uns die Personen eben ganz genau an. Und der da ist ein bekannter Journalist, mit dem wir seit vielen Jahren freundschaftlich zusammenarbeiten.«

Hering hatte Mühe, freundlich zu bleiben. Er war in seiner Dienststelle nicht viel Widerspruch gewohnt. »Dann sollten Sie sich selbst für befangen erklären und sofort aus dem Fall zurückziehen.«

Weller erschrak.

Rupert wandte ein: »Wir haben doch noch gar nicht angefangen, zu ermitteln. Und der Bloem ist völlig harmlos. Ein Spinner – ja klar –, aber der sprengt doch keine Autos in die Luft.«

Hering zeigte erst auf Weller, dann auf Rupert und zischte: »Es erwartet natürlich niemand, dass Sie gegen einen Freund ermitteln. Habe ich mich klar ausgedrückt? Frau Schwarz wird das sicherlich genauso sehen.«

Er verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. Er hörte aber hinter sich noch Ruperts Satz: »Der heißt zwar Hering, sieht aber mehr wie ein Schweinswal aus.«

Ann Kathrin fiel es schwer, sich auf das Schachspiel zu konzentrieren. Sie fand es auch einen Irrsinn, in dieser Situation ein solch verrücktes Personalgespräch zu führen. Sie ahnte, dass die neue Chefin einen sehr eigenen Führungsstil hatte. Etwas an der unkonventionellen Art gefiel Ann Kathrin sogar.

Sie hatte ihr bereits zwei Bauern genommen, aber dabei einen Läufer verloren. Das schwarze Pferd stand jetzt am Rand, und Elisabeth kommentierte: »Reiter am Rand, des Spielers Schand.«

Unbeirrt fuhr Ann Kathrin mit einer kleinen Rochade fort. Offensichtlich hatte ihre Gegnerin aber genau damit gerechnet.

»Warum«, fragte Elisabeth Schwarz, »sollte jemand Ihrer Meinung nach einen Anschlag auf den Kollegen Klatt verüben? Sie kennen ihn doch gut.«

»Gut ist übertrieben, aber es gab schon einmal einen Mordversuch, bei der Verhaftung eines Profikillers. Wir können nicht ausschließen, dass der Killer sogar auf ihn angesetzt war.«

»Daher die Narbe an seinem Hals?«

»Ja.«

»Sie haben ihn gerettet.«

Ann Kathrin wehrte ab: »Das war Frank, mit einen finalen Rettungsschuss.«

Elisabeth lächelte und bedrohte Ann Kathrins Dame. Nach jedem Zug stoppten die Spielerinnen die Uhr.

»Ihr Mann Frank Weller, ich weiß. Dirk Klatt verdankt Ihnen beiden also sein Leben.«

Ann Kathrin atmete tief durch. Die neue Chefin kannte demnach die Akten. Sie spielte nicht nur Schach, um Leute kennenzulernen.

»Erzählen Sie mir etwas Neues, Frau Klaasen.«

»Was wollen Sie wissen?«

»Was tut ein so hochkarätiger Mann vom BKA wie Dirk Klatt hier bei Ihnen – verzeihen Sie mir den Ausdruck – in der Provinz?«

»Das«, schlug Ann Kathrin vor, »sollten Sie ihn besser selbst fragen.«

»Er macht auf mich keinen gesprächigen Eindruck«, konterte Elisabeth.

»Auf mich auch nicht«, sagte Ann Kathrin.

Jemand klopfte. »Nein, jetzt nicht«, rief die neue Chefin streng.

Rupert öffnete die Tür. »Es waren keine Fremden da. Nur Mitarbeiter der Firma. Die Bürgermeister aus Norden und Aurich und zwei geladene Journalisten.«

Pikiert seufzte die Kommissarin: »Sind Sie schwerhörig? Ich hatte gesagt, jetzt nicht.«

Rupert bestätigte grinsend: »Ja, ich dachte, das sei ein Scherz. War es doch auch, oder?« Er guckte Ann Kathrin an, als könne er Frau Schwarz ohnehin nicht trauen.

»Lassen Sie uns bitte alleine, Neun«, empörte die Chefin sich.

Rupert griff sich in den Schritt und maulte: »Was ist denn hier los? Zickenkrieg, oder was?«

Sie schickte ihn mit einer unwirschen Handbewegung weg. Er drehte sich im Türrahmen noch einmal um und öffnete die Tür weiter als vorher. »Wieso nennen Sie mich Neun? Ich heiße Rupert.« Mit einem Blick, als wisse er alles über sie, verabschiedete er sich.

Elisabeth Schwarz räusperte sich und nahm einen Schluck Wasser.

»Wenn Ihr impertinenter Kollege recht hat, dann würde das also bedeuten, dass die Bombe von einem unserer Leute angebracht worden ist, den Journalisten oder von einem der Bürgermeister.«

Ann Kathrin nahm sich mit der Antwort Zeit und analysierte die Situation auf dem Schachbrett. Sie würde ihre Dame wohl verlieren. »Ich kann Ihrer Schlussfolgerung nicht zustimmen«, sagte sie betont freundlich.

»Ach nein?«

Wieder ließ Ann sich Zeit. »Wer sagt denn«, fragte sie ruhig, »dass die Bombe hier auf dem Innenhof an seinem Auto angebracht wurde? Er kann doch bereits damit gekommen sein.«

Ein Hauch von Röte schoss in Elisabeths Gesicht. Sie war nur dezent geschminkt und sah jetzt fast aus, als würde sie sich schämen. »Interessanter Gedanke, Frau Klaasen. Dann nutzen uns die Überwachungskameras also nichts.«

Ann wiegte den Kopf hin und her. »Nicht in dieser Frage.«

Elisabeth deutete auf die Schachuhr: »Ihre Zeit läuft ab, Frau Klaasen.«

»Ich spiele nicht gern gegen die Uhr«, stellte Ann klar.

»Ja, aber so ist das Leben. Wir haben für das, was wir tun, nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung. Zeit ist auch eine solche Ressource. Wenn andere schlechter sind als wir, aber eben schneller, dann verlieren wir. Es gewinnen auch nicht die Klügsten und Besten, sondern einfach die Schnellsten.«

Ann Kathrin erhob sich. Sie sah müde aus, erschöpft, aber doch voller Tatendrang.

»Sie geben auf?«, fragte Elisabeth und tat, als habe sie damit gerechnet.

»Nein«, sagte Ann Kathrin, »ich habe nur etwas Wichtigeres zu tun, als jetzt mit Ihnen Schach zu spielen.«

»Erwarten Sie, dass ich Ihnen ein Remis anbiete?«

Ann lächelte milde. »Keineswegs.«

Elisabeth zeigte aufs Brett: »Ja, wollen Sie das etwa noch gewinnen?«

»Nein.«

»Was wollen Sie dann?«

Ann schoss ihre Worte wie Pfeile ab: »Ich will Sie gern ermitteln sehen, Frau Schwarz.«

Elisabeth stand auf. Sie prägte sich die Stellung der Figuren ein und kündigte an: »Matt in drei Zügen.«

Ann hielt schon die Türklinke in der Hand. Sie drehte sich aber noch mal zu ihrer neuen Chefin um: »Ich werde mir jetzt den Kollegen Klatt vorknöpfen.«

»Der steht bestimmt noch unter Schock«, wandte Elisabeth ein.

»Ja«, stimmte Ann zu. »Aber vielleicht ist er dann offener. Ich fürchte, er verschweigt uns einiges. Wollen Sie dabei sein?«

»Warum fragen Sie?«

Ann sagte es frei heraus: »Vielleicht fühlt er sich Ihnen gegenüber verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.«

»Ach«, lächelte Elisabeth gespielt erstaunt, »befürchten Sie, von ihm nicht ernst genommen zu werden?«

Die Spitze saß.

»Ich bezweifle, dass er Frauen in der Mordkommission überhaupt ernst nimmt. Wir sollten uns aus seiner Sicht mit anderen Dingen beschäftigen.«

»Nämlich?«

Ann verdrehte die Augen. »Mode. Kochen. Reisen. Und wie man einen Hemdkragen richtig bügelt.«

Elisabeth lästerte: »Er ist halt ein moderner Mann …«

Ann Kathrin gab ihr lächelnd recht.: »Ja, allerdings aus der Spätromantik.«

Über Männer herzuziehen war vielleicht ein guter Kitt für eine brüchige, nicht ganz einfache Beziehung unter Frauen, dachte Ann. »Rupert«, behauptete sie, »ist schon viel weiter als Klatt. Der verehrt uns Frauen wenigstens.« Ann Kathrin machte eine Atempause und fügte dann ironisch hinzu: »Zumindest als Sexualpartnerinnen.«

Dirk Klatt wurde nicht im Verhörraum befragt. Das hätte jeder komisch gefunden. Er saß stattdessen am runden Tisch in dem Zimmer, wo sonst die Dienstbesprechungen stattfanden. Er knabberte trockene Sanddornkekse, die von der letzten Sitzung übrig geblieben waren.

Bei Stress bekam er immer Hunger. Er musste dann alles in sich hineinstopfen, von Frikadellen über Bratwürstchen bis hin zu Schokoriegeln. Jetzt hätte er am liebsten einen Burger mit doppelt Käse gegessen. Nichts half ihm besser gegen die Angst als heißes Hackfleisch mit geschmolzenem Käse obendrauf. Auch Ketchup und ein paar Gewürzgurken durften nicht fehlen.

Verglichen damit waren diese Kekse für ihn ein Hohn. Er bekam einen trockenen Hals davon und Hustenreiz.

Die Polizeipsychologin Elke Sommer kümmerte sich um ihn. Er hatte bei Psychologinnen immer das ungute Gefühl, sie könnten ihm tief in die Seele gucken und aus Gesten und Worten Erkenntnisse über ihn ableiten. Das nervte ihn. Schon nach wenigen Minuten mit Elke Sommer erwischte er sich bei dem Gedanken, die Frau könne mehr über ihn wissen als er über sich selbst. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Als jetzt auch noch Ann Kathrin Klaasen den Raum betrat, presste er seine Lippen fest aufeinander.

Die Polizeipsychologin und Ann Kathrin kannten sich gut. Sie schätzten sich trotz mancher Konflikte, die sie im Laufe der Jahre ausgetragen hatten. Sie verständigten sich mit Blicken.

Er ist zwar verstockt, aber klar zu Zeit und Raum orientiert, sagte Elke wortlos.

»Herr Klatt, ich finde, es wird Zeit, höchste Zeit, dass wir offen miteinander reden«, verlangte Ann Kathrin.

Er guckte an den Frauen vorbei zum Fenster.

Ann beugte sich auf den Tisch gestützt zu ihm vor: »Herr Klatt, jemand hat es auf Sie abgesehen. Warum?«

Er schob sich einen Keks in den Mund und kaute trotzig.

Ann Kathrin zog den Teller weg. Sie wollte keine Ablenkung zulassen. Das gefiel Elke Sommer nicht. Sie bemühte sich immer darum, für die Klienten eine angenehme, entspannte Atmosphäre zu schaffen. Ann dagegen stand unter Druck und war ungeduldig. Sie zeigte auf Klatt: »Sie sitzen da wie eine verschlossene Auster, die sich nicht knacken lassen will.«

Es war eine klare Situationsbeschreibung, klang Elke Sommer aber zu vorwurfsvoll. Sie versuchte, Verständnis für Klatt zu wecken: »Eine Auster verschließt sich aus Angst.«

Ann Kathrin sagte nichts. Sie suchte nur Blickkontakt zu Klatt, doch der wich ihr aus.

Elke Sommer hielt die angespannte Situation kaum aus. Während draußen Sprengstoffspezialisten das Autowrack untersuchten, sagte sie: »Die Auster hat Angst, zu sterben. Sie will nicht gegessen werden.«

Ann Kathrin streckte sich und bog ihren Rücken durch. »Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob Austern ein Bewusstsein haben, aber Herr Klatt, ich vermute doch mal, Sie sind intelligenter als eine Auster. Der nächste Mordversuch könnte erfolgreich sein.«

Klatt stöhnte. Er schielte demonstrativ zu Frau Sommer und fragte dann Ann Kathrin: »Also, was wollen Sie wissen?«

Ann Kathrin bat die Psychologin, sie mit Klatt allein zu lassen. Elke Sommer ging, fast ein bisschen erleichtert. Das Ganze hier ging doch mehr in Richtung Zeugenverhör und unterschied sich deutlich von einem therapeutischen Gespräch mit dem Opfer eines Verbrechens.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, zog Ann Kathrin einen Stuhl heran und setzte sich sehr nah zu Klatt. Sie sprach ihn streng an: »Also? Ich höre!«

Klatt breitete die Arme aus, als ob er vorhätte, sie zu umarmen. Seine Stimme war leicht zittrig, seine Augen geweitet. Für Ann Kathrin deutliche Zeichen, dass er nicht vorhatte, die Wahrheit zu sagen.

»Ich weiß nicht, was ich Ihnen erzählen soll. Mein Gott, ich bin schon länger bei der Firma als Sie alle. Wenn ich wüsste, wer es auf mich abgesehen hat, glauben Sie mir, Frau Klaasen, dann stünde der Typ längst vor seinem Richter.«

Sie konfrontierte ihn hart: »Warum belügen Sie mich, Herr Klatt? Wie soll sich Ihre Situation denn noch verschlechtern? Was macht Ihnen noch mehr Angst, als umgebracht zu werden?«

Er zuckte mit den Schultern und machte ein Gesicht wie ein schmollendes Kind, das sich missverstanden fühlt.

Er spielt geschickt damit, die Mutter in mir anzusprechen, dachte Ann. Auf so billige Tricks fiel sie nicht rein.

Elisabeth Schwarz betrat das Zimmer. Sie blieb an der Tür stehen und deutete gestisch an, Ann Kathrin solle ruhig fortfahren und sich nicht stören lassen.

Ann blieb konkret: »Wo war Ihr Wagen geparkt, bevor Sie hierhergekommen sind?«

Die Frage verblüffte ihn.

Ann Kathrin fuhr fort: »Vielleicht gibt es dort Kameras in der Nähe. Es muss ja jemand die Bombe an Ihrem Auto angebracht haben.«

»Wie – ist das nicht hier auf dem Hof geschehen?«, staunte er.

»Nein. Was irritiert Sie daran so sehr?«

»Ich war gestern allein. Der Wagen stand im offenen Carport. Das heißt, der Täter hätte die Sprengladung genauso gut an meiner Tür anbringen können …«

»Ja. Oder sie im Schlaf erschießen können. Hat er aber nicht, sondern diese Feierstunde hier auserkoren. Die Amtseinführung unserer neuen Chefin. Es sollte Aufsehen erregen und nicht nach einer privaten Abrechnung aussehen, sondern nach mehr …« Sie überlegte, ob sie es sagen sollte. »Mehr offiziell …«

Die neue Chefin löste sich von der Tür. Sie konnte den sauren Geruch von Angstschweiß nicht länger ertragen. Sie öffnete zwei Fenster. Mit dem Wind im Rücken sagte sie: »Vielleicht hoffte er auch, ein paar von uns mit in die Luft zu jagen. Er wollte einfach großen Schaden anrichten. Das ist eine Sache für den Staatsschutz. Ein Anschlag auf uns alle. Auf unser Land und unsere Gesellschaft. Allein der gewählte Ort zeigt das überdeutlich.«

Ihre Aussage machte Klatt noch nervöser. Er knackte mit den Fingern und reckte die Arme, als sei er am Stuhl gefesselt und wolle sich aus der unbequemen Lage befreien.

Ann Kathrin fragte: »Heißt das, Frau Schwarz, der Fall soll uns entzogen werden?«

»Darauf können Sie sich verlassen, Frau Klaasen. Das ist für unsere Möglichkeiten ein paar Nummern zu groß.«

Ann Kathrin verschränkte die Arme vor der Brust und stellte klar: »Im letzten Jahr gab es im Bereich der Polizeidirektion Osnabrück zweiundsechzig Straftaten gegen das Leben.« Sie zählte zu Elisabeth Schwarz’ und Klatts Verblüffung auf, was das bedeutete, als hätte sie es nicht mit Profis, sondern mit Laien zu tun: »Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen. Auch fahrlässige Tötung. Sechs Taten in Emden, zwei im Landkreis Wittmund, vier in Leer …«

Elisabeth Schwarz unterbrach Ann Kathrin: »Was soll das? Wollen Sie uns hier jetzt eine Unterrichtsstunde erteilen? Ich kenne die Zahlen.«

»Dann wissen Sie sicherlich auch, dass sämtliche Tötungsdelikte, die in unseren Zuständigkeitsbereich fielen, aufgeklärt wurden. Von daher fällt es mir schwer zu glauben«, Ann Kathrin zitierte ihre neue Chefin, »dass der Fall für unsere Möglichkeiten ein paar Nummern zu groß ist.«

Der Dezernatsleiter aus Osnabrück, Nick Hering, war kurzatmig zurückgekommen. Er hatte sich Verstärkung geholt. Einen Hauptkommissar und eine Hauptkommissarin, die sich beide nicht vorstellten und links und rechts neben ihm wie Zeugen oder Bodyguards Aufstellung nahmen. Ihre Anzüge rochen nach Qualm und Fruchtbonbons.

Er kratzte sich ständig am Hals. Zum fünften Mal ließ er die Aufnahmen von Holger Bloem und Lasse Deppe vergrößern und in Zeitlupe vorführen. »Hier! Da! Bloem hat etwas in der Hand! Er geht am Audi vorbei, und danach ist seine Hand leer.«

Seine Sätze klangen mehr nach Anklage als nach einem Verdacht.

Weller erklärte zum dritten Mal: »Das ist sein Handy, Himmelherrgott! Und er steckt es sich in die Jackentasche.«

Hering ließ das nicht gelten: »Oder er pappt eine Sprengladung an die Tür … Und da! Sehen Sie das nicht? Dieser andere Journalist …«

»Lasse Deppe«, ergänzte Weller.

»Ja, wie auch immer. Der checkt nervös die Gegend. Die sind Komplizen, sieht man ganz deutlich.«

»Nein«, widersprach Weller. »Die beiden sind Kollegen. Sie stehen sogar in Konkurrenz zueinander. Also ihre Blätter zumindest. Aber der …«, Weller äffte Hering nach, »checkt nicht nervös die Gegend, der ist Journalist. Neugierig. Müssen die sein. Ist sozusagen Teil ihrer DNA.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Kevin Janssen und verrenkte seinen Hals, um sich nach Weller umzudrehen. Er hoffte, dass der ihn als unterstützend wahrnahm, denn es nervte Kevin, wie Weller unter Druck gesetzt wurde.

Auch Rupert sprang Weller bei: »Das macht uns aus. Dieser Deppe guckt sich um. Es interessiert ihn, wer so alles kommt. Der ist auf der Suche nach Interviewpartnern und woher die Autos kommen … Insgeheim hatten ja einige sogar den Ministerpräsidenten erwartet, den Innenminister oder wenigstens einen Landrat. Im Grunde sind gute Journalisten wie wir: Spürhunde. Trüffelschweine.« Rupert sah sich um: »Stimmt doch, oder?«

Hering wurde heftig: »Entweder sind Sie blind oder voreingenommen. Wir werden beide Typen jetzt festsetzen und vernehmen.«

Wenn Frank Weller nervös wurde, brauchte er Schokolade oder Marzipan. Das hatte er vom alten Kripochef Ubbo Heide übernommen, den er immer noch verehrte.

Weller zog eine halbe Tafel weiße Schokolade mit rotem Pfeffer aus der Tasche. Eine neue Kreation von Jörg Tapper. Er brach ein Stück ab und zerkrachte es laut zwischen den Zähnen. Er hielt Rupert die Schokolade hin, der sofort zugriff und sie an Kevin weiterreichte.

»Geil«, stöhnte Rupert genüsslich. Die Schärfe gefiel ihm. Er versuchte, Jörg immer dazu zu bewegen, eine Schokolade zu schaffen, die nach Currywurst schmeckte. Diese hier war für Rupert ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Offen provokativ gegen Dezernatsleiter Hering fragte er Weller: »Also, ich hab für so einen Scheiß keine Zeit. Du, Frank?«

Herings Leute zeigten sich empört und schnauften wütend. Die eigentliche Antwort überließen sie aber ihrem Chef. Der fuhr Rupert an: »Keine Sorge, Herr Kollege, es wird Ihre kostbare Zeit nicht kosten. Wir haben für so etwas Verhörspezialisten.«

Die Leute, die er mitgebracht hatte, nickten schon. Rupert ermutigte sie ironisch: »Ich würde an eurer Stelle vorher noch zum Friseur gehen. Und zieht euch etwas Anständiges an. Oder wollt ihr so in die Zeitung? Und glaubt mir, in die Zeitung werdet ihr kommen. Vielleicht schafft ihr es ja auf die Titelseite.«

Sogar Marion Wolters grinste klammheimlich, obwohl sie Ruperts Witze noch nie gemocht hatte. Er nannte sie Bratarsch und sie ihn im Gegenzug Stummelschwänzchen.

Sauer öffnete Hering die Tür und sagte barsch zu seinen Leuten: »Block, Jelinek, wir gehen.«

»Tschüs«, grinste Rupert und winkte ihnen hinterher.

Nach einem kurzen Telefonat mit Oberstaatsanwältin Meta Jessen ordnete Elisabeth Schwarz die sofortige Verhaftung von Holger Bloem und Lasse Deppe an. Bloem befand sich zu dem Zeitpunkt noch im Gebäude der Polizeiinspektion. Er saß in der Cafeteria und befragte Zeugen nach ihren Eindrücken. Seine Jacke hing über der Stuhllehne.

Lasse Deppe war schon wieder unterwegs in die Redaktion nach Oldenburg.

Der Norder Bürgermeister Florian Eiben zeigte sich erleichtert darüber, dass es weder Tote noch Verletzte gegeben hatte. Holger versprach gerade, ihn mit nach Norden zurückzunehmen, denn Eibens Auto war durch die herumfliegenden Teile beschädigt worden.

In dem Moment tauchte Jessi Jaminski, die junge Kommissarin, auf, die aussah wie eine sehr sportliche Gymnasiastin kurz vor dem Abitur, und bat höflich um Verzeihung: »Ich störe ja nur ungern Ihr Gespräch, aber ich muss Sie leider verhaften.«

»Mich?«, fragte der Bürgermeister.

Es war Jessi peinlich, sich so missverständlich ausgedrückt zu haben. Sie entschuldigte sich erneut und antwortete mit hochrotem Gesicht: »Nein, Sie natürlich nicht, Herr Eiben, sondern Herrn Bloem.«

Links und rechts hinter Holger, für ihn nicht sichtbar, wohl aber für den Bürgermeister, nahmen zwei Kollegen Aufstellung, die als geladene Gäste aus Osnabrück zur Feier gekommen waren. Heinz Jelinek und Jan Block. Kritisch beobachteten sie jede Bewegung, die Bloem machte. Sie waren bereit, ihn sofort zu packen.

»Das ist jetzt aber ein Scherz, oder?«, fragte Holger.

»Nein«, sagte Jessi, »leider nicht.«

Holger Bloem stand auf und wollte seine Jacke vom Stuhl nehmen, um sie anzuziehen. Florian Eiben deutete noch mit einem Blick an, er solle sich vorsichtshalber mal umdrehen, doch dazu kam Holger schon nicht mehr. Er wurde von hinten gepackt. Jelinek schlug ihm die Beine weg, und schon lag er bäuchlings auf dem Boden. Ein Knie drückte sich in seinen Rücken, und Handschellen schlossen sich um seine Gelenke. Er sah in dieser Haltung nur noch Füße und Waden. Nicht weit von seinem Kopf entfernt lag ein heruntergefallener Teelöffel mit dem Wappen des Landes Niedersachsen darauf. Ein springendes weißes Pferd auf rotem Grund. Es kam ihm so vor, als sei das Sachsenross lebendig und könne sich jeden Moment vom Löffel lösen und auf ihn zu galoppieren.

Holger spürte Hände, die ihn abtasteten.

»Ist das wirklich nötig?«, fragte Florian Eiben.

Jessi konnte nicht aufhören, sich zu entschuldigen. Sie trat dabei von einem Fuß auf den anderen und drückte ihre Knie zusammen. Sie stand jetzt da, als müsse sie ganz dringend zur Toilette.

»Er ist unbewaffnet«, schnarrte eine raue Stimme. Es klang, als wäre dem Polizisten das Gegenteil lieber gewesen.

Holger sagte zynisch: »Ja, meine Kalaschnikow habe ich heute ausnahmsweise mal zu Hause gelassen.« Er blies aus, weil ihm das Knie im Rücken Schmerzen bereitete. Sein Atem wirbelte Staub auf dem Boden auf.

Florian Eiben machte sich wohl Sorgen, dass Holgers Aussage missverstanden werden könnte und erklärte: »Das war ein Scherz! Er hat nur einen Scherz gemacht!«

»Und warum lacht dann keiner?«, fauchte Jelinek, während er auf Holger kniete.

Jessi glaubte das Richtige zu tun, als sie es aussprach wie ein fast religiöses Bekenntnis: »Bitte, Kollegen, mäßigt euch. Ich würde für diesen Mann hier meine Hände ins Feuer legen.«

Der Norder Bürgermeister stimmte ihr zu: »Ich auch.«

»Dann passt mal auf, dass ihr zwei euch nicht die Pfoten verbrennt«, schnauzte Jelinek und erhob sich drohend. Er riss Holger an den Handschellen unsanft hoch. Doch der Journalist wollte sich nicht einfach so abführen lassen. Er wies deutlich darauf hin, dass er alleine gehen könne und nicht angefasst werden wolle.

»Außerdem«, rief er, »liegt da auf dem Tisch meine Kamera, die hätte ich gerne bei mir.«

Florian wollte sie schon an sich nehmen und für Holger verwahren, doch Hauptkommissar Block war schneller. »Die Kamera ist sowieso beschlagnahmt«, behauptete er.

»Das wird ja immer schöner«, stöhnte Holger und fragte: »Wie heißt ihr Clowns eigentlich? Ich kenne euch ja gar nicht.«

Holger wurde vorwärtsgestoßen. »Na, dann freu dich drauf. Du wirst uns gleich schon kennenlernen.«

Lasse Deppe wurde kurz vor Westerstede von einem Polizeiwagen überholt und dann mit roter Kelle gestoppt. Er hatte eigentlich ein gutes, ja entspanntes Verhältnis zur Polizei. Als Gerichtsreporter waren ihm die Abläufe bei einer Verhaftung nicht fremd. Er hatte nur nicht damit gerechnet, selbst in so eine Lage zu geraten.

Er zeigte seine Papiere vor und wurde gebeten, auszusteigen. Er sah die Nervosität in den Augen der Beamten blitzen. Einer hielt seine Waffe schussbereit, zielte allerdings nicht auf den Journalisten, ja, sah ihn nicht einmal an, als sei ihm das peinlich.

Schon wurde Lasse gegen sein Auto gedrückt, musste die Hände aufs Dach legen und die Beine schulterbreit stellen. Er wurde nach Waffen durchsucht.

»Ich bin Mitglied der Chefredaktion. Das ist keineswegs eine terroristische Vereinigung«, stellte Lasse klar, weil der Verdacht irgendwie spürbar durch die Luft waberte.

»Kennen Sie einen gewissen Holger Bloem?«, brüllte jemand in Lasses Ohr, der sich ein bisschen anhörte wie Herbert Grönemeyer mit Sommergrippe.

»Ja klar, den kennt doch jeder.«

»Sie leugnen also nicht, ihn zu kennen?«

»Nein, natürlich nicht. Was soll der Quatsch?« Lasse blickte sich um. War das hier ein Spaß von Vorsicht, Kamera?

Der Polizist mit der Grönemeyer-Stimme verleugnete seine Bochumer Herkunft nicht, sondern stellte in breitem Ruhrpott-Singsang fest: »Dat leuchnet der nich ma mehr.«

»Wat?«, entgegnete Lasse Deppe provozierend.

»’n Sympathisant zu sein«, knurrte Gröni.

»Sympathisant«, spottete Deppe. »So ein Blödsinn. Das ist ein Wort aus dem letzten Jahrtausend, aus der Zeit der RAF. Willkommen im Hier und Jetzt, Jungs.«

Der Journalist wurde unsanft angefasst und fühlte sich rüpelhaft behandelt. Er sah sich die Beamten genau an, um sie später sicher wiedererkennen zu können. Er war nicht bereit, sich das gefallen zu lassen.

Die zwei Polizisten bemerkten das wohl. Der Grönemeyer-Typ belehrte Deppe: »Wenn man versucht, einen Polizisten umzubringen oder ein ganzes Präsidium in die Luft zu jagen, dann muss man sich nicht wundern, wenn der Rest der Truppe sauer auf einen wird. Ab jetzt gilt: Kein Pardon mehr! Null Toleranz! Klaro?«

»Wenn das bedeutet, dass ich verhaftet bin, dann würde ich jetzt gerne meinen Anwalt anrufen«, konterte Deppe.

Der ruhige Polizist, der ein bisschen dicklich, unsportlich, ja plump, wirkte, hatte aber diese wachen Augen, die oft Menschen zu eigen sind, die viele Interessen haben und die Dinge in der Tiefe durchdringen wollen, nickte wissend. Er beschäftigte sich mit Deppes Handy.

»Die Gesichtserkennung bemerkt vermutlich, dass Sie nicht ich sind«, grinste Deppe. »Dazu ist sie ja im Prinzip auch da.«

»Mit dem Ding«, orakelte Grönemeyer, »kann man auch eine Zündung auslösen.«

Lasse Deppe stöhnte: »Das ist ein ganz normales Handy. So etwas hat heutzutage jeder. Und ich habe selbstverständlich damit keine Zündung ausgelöst.«

»Hätte er aber machen können«, behauptete der Bochumer.

Der Pummelige sagte: »So, wir machen jetzt kurzen Prozess.«

Deppe zuckte zusammen.

Ruhig fuhr der Polizist fort: »Und bringen den nach Aurich. Sollen die sich doch mit dem rumärgern.«

Holger Bloem hockte trotzig im Verhörraum. Er hoffte, dass gleich die anerkannte Verhörspezialistin Ann Kathrin Klaasen hereinkäme. Allein ihr Erscheinen würde ausreichen, um das Missverständnis aufzuklären. Aber stattdessen kam die neue Chefin, Frau Schwarz, persönlich. Sie wurde von Nick Hering begleitet, der es sich nicht nehmen ließ, seine Kollegin in dieser schweren Situation zu unterstützen.

Er stellte ein tragbares Detektionsgerät mit der Selbstverständlichkeit, mit der er früher bei Dienstbesprechungen seine Filterzigarettenpackung griffbereit vor sich gelegt hatte, auf den Tisch.

Frau Schwarz eröffnete das Gespräch kalt: »Ihr Name ist Holger Bloem, und Sie sind angeblich der Chefredakteur des Ostfriesland Magazins und vielen hier bekannt?«

»Nein«, widersprach Holger, »mein Name ist Earl of Greystoke.«

Hering vermutete ein Geständnis. Ein falscher Journalist, der sich so Zugang zur Feier erschlichen hatte, um den Anschlag zu inszenieren.

»Earl of Greystoke«, hakte er nach. Der Name kam ihm bekannt vor. »Dann ist Bloem also Ihr Pseudonym?«

Holger beugte sich vor und erklärte lachend: »Ja, Greystoke ist mein Familienname. Mein Vater war ein Silberrücken. Sie dürfen aber ruhig Tarzan zu mir sagen. So nennen mich die meisten.«

Elisabeth Schwarz spürte, dass sie es mit einem harten Brocken zu tun hatte. Er war auf eine lässige Art selbstsicher, die sie rasend machte. Sie wusste, dass es gefährlich war, sich mit der Presse anzulegen. Die Zeitungen konnten ihr das Leben schwermachen, zum Beispiel mit Überschriften wie: Kripo tappt im Dunkeln oder Polizei hat immer noch keine Spur.

Obwohl sie Schwierigkeiten befürchtete, wollte sie von vornherein klarstellen, dass es bei ihr keine Sonderbehandlung gab. Für niemanden.

Sie nickte Hering zu. Der schnaufte und spielte Bloem die Szene auf dem Tablet vor. »Da, sehen Sie, Herr Greystoke, die Kamera hat Sie genau erwischt. Hier holen Sie etwas aus Ihrer Tasche und gehen ganz nah am Audi vorbei. Hier hinterm Audi haben Sie nichts mehr in der Hand.«

Holger seufzte und rieb sich die Schulter: »Deswegen haben Ihre Leute mir den Arm verrenkt? Das da ist mein Handy. Ich hab’s mir in die Tasche gesteckt. Das ist alles.«

»Das kann man aber hier nicht erkennen. Sie könnten auch eine Sprengladung an die Tür gepappt haben.«

»Das ist doch lächerlich«, protestierte Holger und tippte sich gegen die Stirn.

»Sie haben sicherlich nichts dagegen, wenn wir Ihre Hände jetzt auf Schmauchspuren untersuchen?«, fragte Elisabeth Schwarz.

Holger, der über viele Ermittlungen und Prozesse geschrieben hatte, kannte sich mit Polizeiarbeit recht gut aus und kommentierte: »Also, ein Schuss wurde doch gar nicht abgegeben. Wie sollen dann Schmauchspuren an meinen Händen sein?«

Sie lächelte überlegen: »Wir können heutzutage auch feinste Spuren von TNT oder Nitroglyzerin nachweisen.«

Holger Bloem tat, als würde er sich freuen. »Wie schön für Sie … Ich bin bereit, und danach würde ich gerne Kommissarin Ann Kathrin Klaasen sprechen oder wenigstens meinen Anwalt.«

Sie hatte die Probestreifen schon in der Hand. Sie bestand darauf, es selbst zu machen. Elisabeth Schwarz wollte allen zeigen, dass sie mehr war als eine Verwaltungschefin, die Urlaubspläne absegnete.

Holger ließ alles gespielt gelangweilt über sich ergehen. In Wirklichkeit passte er mit journalistischer Neugier auf. Er witterte längst eine gute Geschichte: Wie fühlt sich ein unschuldig Verdächtigter?

Elisabeth Schwarz bedankte sich übertrieben höflich und reichte Hering die Streifen, der sie in den Detektionskasten schob.

Holger wusste von Kontrollen an Flughäfen, dass das Ergebnis in Sekunden vorliegen würde. Trotz seiner Unschuld wurde er nervös. Was, wenn irgendwelche Stoffpartikel durch die Explosion an seine Finger geraten waren?

Hering kam mit dem Gerät nicht gut klar. Er brauchte länger als nötig. Der neuen Chefin war das dem Journalisten gegenüber peinlich, und sie betonte noch einmal: »Danke, Herr Bloem, für Ihre Kooperationsbereitschaft.«

»Den Dank, Dame, begehr ich nicht«, sagte Holger Bloem.

Sie erkannte das Schiller-Zitat sofort. Hering konnte damit zunächst nichts anfangen, wurde nur an den Deutschunterricht erinnert. Er hatte damals keine Lust darauf gehabt, die Klassiker zu lesen. Naturwissenschaften lagen ihm mehr.

Er atmete heftig und verkündete es wie eine große Überraschung, mit der er nicht gerechnet hatte: »Negativ!!!«

Holger grinste die beiden unverschämt an.

»Das heißt aber noch gar nichts«, führte Hering aus. »Vielleicht ist das Gerät ja kaputt, oder er hat sich die Hände gründlich gewaschen. Zeit genug hatte er ja.«

»Klar«, sagte Holger, »aber wenn das Ding etwas Verdächtiges gefunden hätte, dann wäre der Kasten in Ordnung und ich überführt, oder was?« Da keiner der beiden dazu Stellung nahm, fuhr Holger fort: »Erkenntnistheoretisch ist das ein Rückfall in Zeiten vor der Aufklärung.«

Hering hatte das Gefühl, das ginge gegen ihn. Er giftete den Journalisten an: »Nun spielen Sie sich hier mal nicht so auf!«

»Ach, mache ich das?«, fragte Holger.

»Ja, glauben Sie, dass hier viele Verdächtige beim Verhör Goethe zitieren?«

»Hab ich nicht«, verteidigte Holger sich. »Das war Schiller. Der Handschuh. Mein Lieblingsgedicht, als ich in der Pubertät war.«

Die Polizeichefin räusperte sich und zupfte an ihrer Kleidung herum. Da waren Flusen, und sie wusste nicht, woher. »Meine Herren«, sagte sie streng, »wir haben Wichtigeres zu tun.«

Hering streckte sich und sah auf den sitzenden Journalisten herab. »Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Dirk Klatt bezeichnen?«

Holger zuckte mit den Schultern.

»Darf ich Ihre Antwort so deuten, dass Sie ihn nicht leiden können?«, hakte Hering nach.

Holger reagierte nicht.

Hering insistierte: »Wie ist Ihr Verhältnis zur Polizei und zum Staat überhaupt?« Als sei die Frage nur schwer zu verstehen, erläuterte er: »Ich meine, zur Obrigkeit an sich.«

Der Begriff gefiel Elisabeth Schwarz nicht. Sie verzog tadelnd den Mund.

Holger echote süffisant: »Mein Verhältnis zur Obrigkeit?«

Hering griff direkt an: »Besser tot als ein Sklave, das ist doch euer ostfriesischer Wahlspruch, oder?«

Holger wiederholte den Satz auf Platt: »Lever dood as Slaav. Ja, so zogen wir einst in die Schlacht. Heute steht das auf T-Shirts und Mützen. Die Leute, die das tragen, gehören aber keiner terroristischen Gruppierung an.«

Annelieses unentschuldigtes Fehlen ließ Jörg und Monika Tapper keine Ruhe. Inzwischen hatte Jörg mehrfach versucht, jemanden bei der Polizei zu erreichen. Er konnte es kaum glauben: Nicht mal der Notruf 110 funktionierte. Zweimal war besetzt gewesen, und Jörg fand, so etwas dürfe es überhaupt nicht geben. Dann wieder war die Leitung tot, als sei das Netz völlig zusammengebrochen.

Okay, es hatte eine Explosion bei der Amtseinführung der neuen Polizeichefin in Aurich gegeben, aber das konnte nicht der Grund sein, warum niemand mehr zu erreichen war. Nicht einmal in Norden oder Wittmund.

Das Café war voll, und auch draußen waren alle Stühle besetzt. Nach der langen Zeit der Pandemie hatten die Menschen eine irre Sehnsucht danach, sich zu treffen, gemeinsam Tee zu trinken, Kuchen zu essen und miteinander zu reden. Man wollte sich wieder in die Augen sehen. Cafés und Eisdielen waren dafür tagsüber wunderbare Orte.

Sie hatten gerade jetzt zu wenig Personal, aber Monika Tapper hielt es trotzdem nicht länger aus. Sie lief einfach quer über den Markt zur Polizeiinspektion, um dort persönlich vorzusprechen. Schon am Eingang gab sie auf. Zwei Polizeifahrzeuge standen quer vor dem Gebäude. An der Tür herrschte Gedrängel, und laute Stimmen waren zu hören.

Monika entschied sich, ihre Freundin Ann Kathrin Klaasen jetzt einfach über die private Handynummer anzurufen. Eigentlich galt es zwischen ihnen als abgesprochen, nicht während der Dienstzeit zu telefonieren, aber dies war nun mal eine Notsituation.

Ann Kathrin ging nach dem dritten Heulen des Seehunds ran. Es war ein anschwellender Klingelton, der mit jedem Mal lauter wurde. Sie sah Monikas Namen auf dem Display und glaubte irgendein Treffen vergessen zu haben, eine Verabredung zum Spaziergang oder zum Kaffeetrinken.

Ann Kathrin meldete sich mit: »Oh, meine Süße, ich bin gerade mächtig unter Druck.«

Monika sprudelte gleich los. Ann Kathrin erkannte schon an der Stimme, dass ihre Freundin sich wirklich Sorgen machte. Sie versuchte, sie zu beruhigen: »Ach, du Gute, ich kenne Anneliese ja auch. Sie ist eine Seele von Mensch.«

»Gewissenhaft und zuverlässig«, fügte Monika hinzu.

»Trotzdem. Vielleicht hat sie es einfach vergessen und ist zu ihrer Mutter, weil sie krank ist oder Geburtstag hat oder was weiß ich. Die Mutter lebt doch im Ruhrgebiet, wenn ich mich recht erinnere.«

»Ja, in Dinslaken. Sie hat bei ihr gewohnt, bevor sie nach Ostfriesland kam.«

»Na, siehst du. Hast du da mal angerufen?«, wollte Ann Kathrin wissen.

»Nein. Ich kenne die ja gar nicht. Meinst du, ich könnte da einfach mal …«

»Na klar.«

Monika war während des Gesprächs auf dem Rückweg zum Café. Sie wartete gegenüber der Schwanen-Apotheke an der Ampel auf Grün. Sie war aber so aufs Gespräch konzentriert, dass sie das Umspringen der Ampel verpasst hatte, und jetzt war wieder Rot.

Heinz Edzards, der früher die Buchhandlung neben dem Café geführt hatte, grüßte sie. Sie nickte ihm zu. Er wartete neben ihr und machte sie beim nächsten Grün darauf aufmerksam, dass sie nun losgehen könnte.

Monika lauschte, was ihre Freundin ihr zu sagen hatte.

»Eine Vermisstenmeldung kannst du natürlich als Arbeitgeberin aufgeben. Aber grundsätzlich dürfen erwachsene Personen ihren Aufenthaltsort selbständig bestimmen und müssen sich weder Freunden noch Verwandten gegenüber dazu äußern. Wir suchen sie nur, wenn Gefahr für Leib und Leben im Verzug ist beziehungsweise vermutet werden kann. Zum Beispiel bei suizidgefährdeten Menschen. Aber so ein Verdacht liegt doch bei ihr nicht vor, oder?«

Monika schämte sich fast ein bisschen dafür, überhaupt angerufen und so viel Wind gemacht zu haben. »Nein«, sagte sie, »suizidgefährdet ist Anneliese ganz bestimmt nicht. Ich kenne sie nur als Frohnatur.«

»Grüner wird es nicht mehr«, behauptete Heinz Edzards und motivierte Monika, mit ihm die Straße zu überqueren.

»Vielleicht«, orakelte Ann Kathrin, »erscheint sie morgen früh wieder zum Dienst wie immer und sagt: Ach, hatte ich vergessen, euch das zu sagen? Meine Mama hat doch gestern ihren Sechzigsten gefeiert, da wollte ich unbedingt dabei sein.«

»Dafür«, sagte Monika, »hätten wir ihr gerne eine Torte spendiert.«

Hinter Ann Kathrin war eine lauter werdende Geräuschkulisse zu hören. Sie rief: »Ja, ich komme gleich!«

»Ich will dich jetzt auch nicht länger nerven«, beteuerte Monika rücksichtsvoll.

»Du nervst nicht. Die Typen hier nerven«, stellte Ann Kathrin laut klar, damit nicht nur Monika sie hörte, sondern auch die Menschen ihrer Umgebung.

Dirk Klatt behauptete, für heute endgültig genug zu haben. Er wollte nach Hause fahren, und da sein Auto dafür nicht mehr zur Verfügung stand, benötigte er entweder einen Streifenwagen oder ein Taxi.

Ann Kathrin Klaasen war dagegen. Sie protestierte energisch und wollte ihn auf keinen Fall einfach so in seine Wohnung lassen. Er sollte Polizeischutz bekommen, und sie bestand darauf, dass sein Haus von Suchhunden nach Sprengstoff abgeschnüffelt werden sollte, wie sie es ausdrückte. Sie vertraute den Hunden mehr als den Detektoren. Maschinen versagten für sie deutlich öfter als Hunde. Statistisch ließ sich das kaum beweisen, aber sie glaubte ohnehin nicht an Statistiken, sondern schätzte ihre eigene Erfahrung höher ein. Für sie zählte immer nur der Einzelfall. Verallgemeinerungen gefielen ihr nicht.

Klatt fand das lächerlich, aber kein Mensch lachte. Ann Kathrin schlug vor, Klatt solle in eine der angemieteten Schutzwohnungen. Sie forderte sein Handy von ihm und verbot ihm jegliche Außenkontakte.

Er sah sie an, als sei sie irre geworden, und stemmte sich mit aller Kraft gegen ihre Anweisungen. Vielen wurde jetzt erst deutlich, dass er tatsächlich sehr abgenommen hatte. Ihm fehlte die wuchtige körperliche Präsenz, die er noch vor ein paar Monaten gehabt hatte. Die Narbe an seinem Hals schien zu glühen. Er bekam Glubschaugen, wenn er sich so aufregte.

»Sie werden nicht über mich bestimmen, Frau Klaasen. Ich bin nicht Ihr pubertierender Sohnemann!«, brüllte er.

In Ann Kathrin keimte der Verdacht auf, er könne etwas in seinem Haus zu verbergen haben. Wollte er vielleicht deswegen wieder hin? Gab es etwas zu beseitigen oder in Sicherheit zu bringen?

»Mein Sohn ist nicht mehr in der Pubertät«, konterte sie, »und er wäre in diesem Fall auch mit Sicherheit wesentlich vernünftiger als Sie, werter Kollege.«

Die neue Polizeichefin betrat gemeinsam mit dem Osnabrücker Dezernatsleiter Nick Hering den Raum. Mit dem Handrücken wischte sie über ihre Lippen, wodurch ihr Lippenstift anders, als es die Werbung versprochen hatte, verschmierte. Sie sah jetzt aus, als hätte sie gerade heftig geknutscht.

Sie versuchte zu vermitteln: »Ich glaube, Frau Klaasen, wir sollten dem Kollegen Klatt zubilligen, dass er selbst entscheiden kann …«

Hering wollte auch einen Beitrag leisten und triumphierte: »Außerdem haben wir zwei dringend Tatverdächtige dingfest gemacht. Der Earl of Greystoke ist im Verhörraum, und dieser Lasse Deppe wurde auch schon festgenommen.«

Ann Kathrin sah sich in der Runde um. Sie blickte in ratlose Gesichter. Jessi Jaminski starrte auf ihre Schuhe.

»Der Earl of Greystoke«, wiederholte Ann Kathrin.

»Er nennt sich auch Bloem. Oder Tarzan«, erläuterte Hering.

Jessi raunte zu Ann Kathrin: »Ich wollte es dir ja gerade sagen …«

Marion Wolters griff sich an den Kopf.

»Ihr habt«, erkundigte Ann Kathrin sich und machte ein Gesicht, als könne sie sich nur verhört haben, »Holger Bloem verhaftet?«

Hering bejahte das stolz: »Jawoll. Und diesen Lasse Deppe.«

»Seid ihr nicht mehr ganz dicht?«, fragte Ann Kathrin. Sie drängte sich zwischen allen anderen durch zur Tür und lief die Treppe runter.

Hering bedauerte Elisabeth Schwarz und sprach das auch laut aus: »Es wird nicht leicht, diesen ostfriesischen Sauhaufen zu ordnen und wieder klare Strukturen in die Dienststelle zu bringen. Mein erster Eindruck ist: Das hier ist ein Saftladen, und jeder macht, was er will.«

»So ist es«, bestätigte Elisabeth Schwarz, »so wird es aber nicht bleiben.«

Rupert telefonierte zum dritten Mal mit seiner Frau Beate. Sie machte sich Sorgen. In ihrer Phantasie wurde die Polizeiinspektion angegriffen, beschossen und aus der Luft bombardiert.

Rupert hatte sich in die Toilettenräume zurückgezogen, um in Ruhe mit Beate reden zu können. Wie sah das denn vor den Kollegen aus, wenn er ständig Privatgespräche führte? Aber manchmal brauchte seine Beate eben viel Aufmerksamkeit und Fürsorge. Jetzt zum Beispiel, denn sie hatte Angst um ihren Mann. Das hatte auch noch mit einer eigenartigen Sternenkonstellation zu tun, wenn er sie richtig verstanden hatte, und mit Shiva, einer hinduistischen Hauptgottheit. Shiva war, so kapierte Rupert, ein Gott der Zerstörung. Das hatte irgendetwas mit schlechtem Karma zu tun.

Rupert hatte nichts gegen hinduistische Götter, solange sie als Figuren auf seiner Gartenterrasse standen und sich nicht in sein Leben einmischten. Auch der dicke Buddha war ihm als Gartenzwerg bei den Rosen gerade recht. Er hörte Beate sogar gern zu, wenn sie ihm Märchen dieser Gottheiten erzählte. Aber er glaubte nicht, dass Shiva Bomben in Aurich legte. Die Sterne waren ihm sowieso schnuppe. Wenn man anhand der Sterne in die Zukunft gucken konnte, wieso, verdammt nochmal, fragte er sich, war dann keiner dieser hochverehrten Astrologen in der Lage, die Lottozahlen vorauszusagen?

Das alles sagte er nicht, denn er liebte seine Beate und wollte nicht mit ihr streiten. Er nahm die Dinge, die ihr wichtig waren, ernst. Zumindest tat er so.

»Wir sind in Sicherheit, Süße«, behauptete er. »Guck nicht ins Internet. In den asozialen Medien erzählen sie Mist. Die machen aus jedem Matjesbrötchen ein gegrilltes Nilpferd. Wir haben das hier alles voll im Griff.«

»Komm nach Hause«, bat sie. »Ich habe Angst um dich.«

Die Tür ging auf. Rupert hörte Atmen. Dann ratschten zwei Reißverschlüsse fast gleichzeitig.

Rupert drückte den Ton weg. Er verhielt sich ruhig, denn er wollte nicht, dass sich herumsprach, er würde auf der Toilette mit seiner Frau telefonieren.

Ein Strahl rauschte ins Keramikbecken, dann ein zweiter.

Eine Stimme grummelte: »Wie ich diese ganze ostfriesische Mischpoke hasse! Die arme Elli glaubt, das sei eine Beförderung. In Wirklichkeit ist das doch ein Himmelfahrtskommando. Sie kann ja nur scheitern.«

»Ich würde lieber in Hannover verstaubte Akten ordnen, als hier meinen Hintern im Chefsessel wärmen. Das ist ein Schleudersitz. Ein Karrierekiller. Du kennst doch den Spruch: In Aurich ist’s schaurig, in Leer noch mehr.«

Beide fuhren gleichzeitig miteinander fort: »Und in Norden ist noch keiner was geworden.«

Sie lachten viehisch. Rupert hörte einen Reißverschluss.

Die Männer verließen die Toilette gemeinsam. Sie flüsterten.

Rupert blieb noch und versuchte weiter, Beate zu beruhigen.

Sie versprach, vegane Apfelpfannkuchen für ihn zu machen, mit Äpfeln aus dem eigenen Garten. Eine Currywurst von Gittis Grill wäre ihm lieber gewesen, aber er gab vor, sich schon riesig darauf zu freuen.

Wenn ich mich nicht getäuscht habe, dachte Rupert, dann hat nur einer seinen Reißverschluss wieder hochgezogen. Da rennt also draußen einer mit offenem Hosenschlitz herum. Er hätte nur zu gern gewusst, wer von den geladenen Gästen so über ihn und seine Kollegen gesprochen hatte. Sie mussten für diese Typen ja eine wahre Albtraumtruppe sein.

Wieder bei den anderen, sah er sich um. Eine kleine Gruppe, alles Leute, die er nicht kannte, standen beim Kaffeeautomaten und produzierten Verschwörungstheorien. Sie gingen von internationalen Drogenkartellen über islamistische Gotteskrieger bis zu Klatts Ehefrau, die ihn leid sei und nun die Lebensversicherung kassieren wolle.

In dem Stimmengewirr konnte er nicht heraushören, ob einer von ihnen mit auf der Toilette gewesen war. Er sah die Raucher im Hof. Ann Kathrin rannte an ihm vorbei in Richtung Verhörraum.

Rupert suchte jemanden mit offenem Hosenschlitz, wurde aber nicht fündig.