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Die NATURGEWALTEN in OSTFRIESLAND kann sie nicht besiegen. Doch wenn Hauptkommissarin ANN KATHRIN KLAASEN vor Wut schäumt, ist höchste Vorsicht geboten. "Ostfriesenwut" – der neunte Band der "Ostfriesen-Serie". ***Du glaubst, dass du mich jagst, dachte er. Aber das ist ein Irrtum, meine Liebe. Ich bin der Jäger, und du bist das Wild. Du hast mir einmal zuviel ins Handwerk gepfuscht. Ich bin dir noch etwas schuldig für die zerschossene Kniescheibe. Diesmal wirst du es nicht überleben. Wenn das hier vorbei ist, werde ich in der Karibik am Strand kühle Drinks schlürfen, während du, liebe Ann Kathrin, längst in ostfriesischer Erde begraben sein wirst.*** In Leer wird eine junge Frau tot aus dem Hafenbecken gefischt. Erste Spuren führen Ann Kathrin Klaasen zum Freund der Toten. Doch merkwürdig: In der Wohnung des Mannes gibt es keinen einzigen Hinweis auf dessen Identität. Könnte es sein, dass hier einer im Verborgenen lebt und agiert? Als Ann Kathrin ihre Recherchen aufnimmt, ahnt sie nicht, in welches Wespennest sie sticht. Die Aufklärung könnte sie nicht nur ihre Existenz, sondern auch ihr Leben kosten. Denn das Schicksal einer ganzen Region hängt nur noch an einem seidenen Faden.
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Klaus-Peter Wolf
Ostfriesenwut
Der neunte Fall für Ann Kathrin Klaasen
FISCHER E-Books
»Es ist besser, die Deiche zu erhöhen, als auf die Vernunft der Sturmflut zu hoffen.«
Ubbo Heide, ehemaliger Chef der ostfriesischen Kriminalpolizei
»Ann Kathrin leidet nicht an Wirklichkeitsverlust. Sie genießt ihn.«
Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich
»Sage keiner, man könne von Pflanzen nichts lernen! Ich finde zum Beispiel Gänseblümchen toll! Sie werden oft achtlos plattgetreten, aber danach richten sie sich einfach in voller Schönheit wieder auf …«
Ann Kathrin Klaasen, Hauptkommissarin Kripo Aurich
Ann Kathrin Klaasen liebte diese Novembertage am Meer, wenn kaum Menschen an der Küste waren und der Wind blies, als hätte er vor, die Deiche weiter nach hinten ins Festland zu verschieben. Selbst die Möwen hatten Mühe, sich gegen die Böen zu behaupten. Und dann riss plötzlich der graue Himmel auf, und die Sonnenstrahlen suchten das Land nach freundlichen Gesichtern ab.
Ann Kathrin spürte die Wärme wie ein Streicheln auf der windkalten Haut. Sie hörte das Flattern ihrer Haare und war glücklich, jetzt hier sein zu können.
Wenn sie geahnt hätte, dass der Mörder ihres Vaters gerade eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank fischte, um mit einer süßen Blondine anzustoßen, die gut und gerne seine Tochter hätte sein können, wäre sie bestimmt nicht in Greetsiel zum Captains Dinner am Sielgatt gegangen, um sich mit einer Erbsensuppe zu stärken. Sie hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn wieder hinter Gitter zu bringen. Aber noch hatte sie keine Ahnung.
Sie schaffte nicht mal die Hälfte der Suppe. Sie dachte darüber nach, heute Abend ein Geschenk für Ubbo Heide mitzubringen. Nein, kein Marzipan. Das würden wohl die meisten besorgen. Sie ging jede Wette ein, dass es heute Abend vom Marzipan-Seehund bis zum Marzipan-Polizeiauto alles geben würde, was nur aus Marzipan herstellbar war.
Sie hatte beim Ausräumen von Ubbo Heides Büro geholfen und dabei vier Buddelschiffe gefunden. Allerdings sehr kleine Fläschchen, mit Dreimastern. Ob er heimlich so etwas sammelte?, fragte sie sich und beschloss, in der Alten Müllerei nachzusehen, ob es dort originelle Buddelschiffe zu kaufen gab.
Als Ann Kathrin mit ihrem Geschenk für Ubbo auf dem Beifahrersitz nach Leer fuhr, klingelte es beim Mörder ihres Vaters. Er nannte sich inzwischen Wolfgang Steinhausen.
Doktor Wolfgang Steinhausen!
Seine neuen Papiere sahen verdammt echt aus, was man von den Brüsten seiner neuen Freundin nicht sagen konnte. Er hatte die OP zwar bezahlt, durfte die Prachtexemplare aber noch nicht berühren, sondern nur bestaunen, weil die Haut darüber noch zu sehr spannte.
Die Champagnerflasche stand jetzt neben dem Wasserbett, auf dem sie gerade gemeinsam erstaunliche gymnastische Übungen hinter sich gebracht hatten.
Steinhausen schlüpfte in seinen Bademantel und ging zur Tür.
»Och, nö, Wolfi!«, schmollte sie. »Jetzt bitte nicht! Wimmel den doch ab!«
»Es dauert nicht lange«, sagte er, aber so, wie er aussah, klangen seine Worte wenig glaubwürdig für sie.
Auf dem Weg zur Tür steckte er sich eine Schusswaffe ein. Eine Marotte von ihm, über die sie inzwischen nur noch grinste. Er war wohl vor zig Jahren mal in seinem eigenen Haus überfallen worden. Seitdem öffnete er die Tür immer mit seiner Beretta in der Tasche. Er trug die Waffe auch, wenn sie mal ausgingen, was selten genug vorkam.
Am Anfang hatte sie geglaubt, er wolle damit vor ihr angeben. Inzwischen wusste sie, dass er sich echt bedroht fühlte.
Ann Kathrin blieb nichts anderes übrig, als den Wagen im Parkverbot abzustellen, so viele Menschen waren zur Eröffnung der Krimitage zum Kulturspeicher gekommen. Der Schriftsteller Peter Gerdes begrüßte die Gäste schon an der Tür und stellte humorig fest, dass: »Ihnen, liebe Gäste, heute hier wohl kaum etwas Böses geschehen wird, denn so viele Polizisten wie jetzt sind selten im Kulturspeicher zugegen. Hier hat sich die Speerspitze der ostfriesischen Kriminalpolizei versammelt.«
Und tatsächlich waren alle gekommen, um Ubbo Heide, den ehemaligen Chef der ostfriesischen Polizei, bei seiner ersten Krimilesung zu sehen: in der ersten Reihe Frank Weller. Neben ihm Ann Kathrin Klaasen und Sylvia Hoppe. Holger Bloem vom Ostfriesland-Magazin fotografierte den sichtlich nervösen Ubbo Heide, der im Rollstuhl saß, links neben sich eine Leselampe, die warmes Licht spendete, und einen kleinen Tisch mit einem Wasserglas. Rechts neben ihm war ein Standmikrophon aufgebaut worden, was allein schon ausreichte, um Ubbo zu ständigem Räuspern zu motivieren.
Seine Tochter Insa schob ihm ein Hustenbonbon in den Mund. Das war lieb gemeint, doch Ubbo hasste den Geschmack. Aber weil er seine Tochter liebte und nicht kränken wollte, lutschte er es.
Sie versicherte ihm, er könne gerne noch mehr haben, sie hätte genug davon dabei. Er lächelte dankbar.
Rupert glaubte, dass es kaum etwas Langweiligeres als Lesungen geben könnte: »Wieso liest der uns was vor, und wir kommen alle und sollen lauschen? Denkt der, wir könnten nicht selber lesen?«
Aber seine Ehefrau Beate fand die Idee, zu einer Krimipremiere zu gehen, großartig. Und jetzt waren sie beide da, was Rupert eigentlich auch schon wieder blöd fand, denn im Kulturspeicher sah er ein paar Frauen, die zu der Sorte zählten, die er gern als »scharfe Schnitten« bezeichnete, obwohl Frauen, die gerne ihre Nasen in Bücher steckten, ihm prinzipiell nicht gefielen. Die belesenen machten meist mehr Probleme als Spaß, wollten immer alles hinterfragen und diskutieren. Das ging ihm auf den Keks. Trotzdem waren da mindestens zwei, na, eigentlich drei, im Grunde, wenn er genau hinsah, sogar vier, die er am liebsten noch heute Nacht vernascht hätte.
Er hatte beim Baumtest versagt. Das Ergebnis machte ihn so sauer, dass er noch gar nicht darüber sprechen konnte. Polizeioberrätin Diekmann, die dusselige Kuh, hatte darauf bestanden, dass dieser Test zur Optimierung der Leistungsfähigkeit der Polizeikräfte, mit dem in Köln bereits so erfolgreich gearbeitet wurde, jetzt auch in Ostfriesland angewendet werden müsste.
Dieser Auswertungsbrief war eine einzige Beleidigung, fand Rupert.
Und da kam sie auch schon: Polizeioberrätin Diekmann. Ihr gekünsteltes, falsches Grinsen war kamera-, aber nicht gesellschaftstauglich. Ihre schrille Lache hatte etwas Nervtötendes an sich, wie Fingernägelkratzen auf einer Schiefertafel oder abgefahrene Bremsen, wenn Metall auf Metall knirschte.
Ann Kathrin Klaasen sah sich um. Hinter ihr saß der Literaturkritiker Lars Schafft. Er winkte einer Clique von Krimiautoren zu. Manfred C. Schmidt, Micha Krämer und Christiane Franke standen bei Peter Gerdes, der noch mal seinen Spickzettel durchging, weil er Gäste begrüßen musste und keinen vergessen wollte.
Ubbo Heide blätterte in seinem ersten Buch. Plötzlich war er unsicher, ob er wirklich die richtigen Stellen zum Vorlesen ausgesucht hatte. Überhaupt – vielleicht war auch der Titel des Buches falsch gewählt: Meine ungelösten Fälle.
Sie konnten stolz sein auf ihre Aufklärungsquote in Ostfriesland. Sie lag weit über dem Bundesdurchschnitt, aber es gab auch ein paar Verbrechen, die waren im Laufe seiner Dienstzeit ein Rätsel geblieben. Ungelöst. Ungesühnt. Diese Taten ließen ihm keine Ruhe, deshalb hatte er das Buch geschrieben. Ein Rückblick auf die Niederlagen.
Er musste über sich selbst grinsen. Andere stellten am Ende ihrer Laufbahn alle Erfolge groß heraus, aber das war nicht sein Ding. Er wollte den Staffelstab an die nächsten Läufer weiterreichen. Vielleicht würde es eines Tages neue Ermittlungsmethoden geben, mit deren Hilfe auch die Täter überführt werden konnten, die ihm noch entwischt waren.
Er hustete. Sein Hals kratzte. Dieses grässliche Bonbon klebte am Gaumen fest. Er zerkrachte es jetzt mit den Zähnen und spülte es mit einem Schluck Wasser runter.
Es war verdammt voll hier im Kulturspeicher, und ihm wurde heiß und kalt, wenn er daran dachte, dass er gleich siebzig, vielleicht neunzig Minuten lang vorlesen sollte. Mit Betonung, wie seine Frau Carola verlangt hatte. Sie konnte die Stellen inzwischen auswendig, so oft hatte er mit ihr geprobt.
Carola Heide hatte Ubbos Lieblingsband, Die fabelhaften 3, engagiert. Sie sollten zum Auftakt für Ubbo spielen. Eigentlich war es eine norddeutsche Studioband, aber mit viel Überredungskunst war es Carola gelungen, die drei für Ubbo auf die Bühne zu holen.
Im Krankenhaus hatte er ständig ihre CDs gehört, und er behauptete, sie hätten ihm die Lebensfreude zurückgebracht. Jetzt eröffneten die drei den Abend mit seinem Lieblingslied: Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere. Und Ubbo, das alte Schlachtschiff der ostfriesischen Polizei, hatte tatsächlich Tränen in den Augen.
Eske Tammena hieß wie ihre ostfriesische Großmutter, was sie selbst spießig fand. Es klang ein bisschen wie der Name einer neugezüchteten Rose oder einer Tiefseefischart, die längst ausgestorben war, deshalb nannte sie sich lieber Eschi.
Jetzt kniete sie auf dem Wasserbett und hörte, wie Wolfgang, den sie herzig »Wolfi« nannte, sich fürchterlich mit dem Besucher stritt. Es war so laut und heftig, dass sie den Glauben daran verlor, ihr Liebesspiel könne gleich weitergehen. Auch den netten Abend zu zweit vor dem Kamin konnte sie endgültig vergessen.
Sie zog sich an. Die knatschenge schwarze Jeans und die pistazienfarbene Strickjacke mit pinkfarbenem Satinband. Dazu die immer noch nicht richtig eingelaufenen hochhackigen Schuhe.
Sie war gekränkt. Warum schickte Wolfi den lästigen Typen nicht einfach weg? Sie sahen sich nur einmal pro Woche, da konnte er doch wohl mal seine Geschäfte Geschäfte sein lassen. Sie hatte sich schließlich auch eine Babysitterin für den Abend genommen, um frei für ihren Wolfi zu sein. Auf keinen Fall wollte sie sich diesen Abend verderben lassen.
Sie hatte ohnehin vorgehabt, zur Eröffnung der Krimitage in den Kulturspeicher zu gehen. Sie hatte zwei von den begehrten Karten besorgt, und er hatte nur angewidert geguckt, als sei so eine Lesung das Allerletzte. Jetzt würde sie eben alleine hingehen. Es war nicht weit, und sie wollte ihm gern zeigen, dass sie eine unabhängige Frau war, mit einem eigenen Willen. Auch wenn er ihren Golf bezahlt hatte, sie gehörte ihm nicht!
Stolz ging sie an den Männern vorbei zur Haustür.
»Lasst euch nicht stören. Ich höre mir diesen Kripochef an, der ein Buch geschrieben hat.«
Manchmal, dachte sie, muss eine Frau den Typen einfach zeigen, dass sie einen eigenen Wert hat und man sich um sie bemühen muss.
Die Veranstaltung hatte schon begonnen. Sie betrat den Raum als Letzte, und weil die Tür quietschte, sahen sich viele Menschen zu ihr um. Selbst Ubbo Heide unterbrach auf der Bühne seine Lesung kurz und blickte zu ihr. Sie wäre am liebsten im Erdboden versunken oder wieder unter Wolfis Bettdecke gehuscht.
Ubbo Heide sprach ruhig: »Nicht aufgeklärte Verbrechen belasten jeden Polizisten. Mich verfolgen sie bis in meine Träume hinein. Wurde jemand aus Mangel an Beweisen freigesprochen und ich weiß, dass er der Mörder ist, dann habe ich schlecht gearbeitet. Das ist es, was mich fertiggemacht hat. Das Gefühl, versagt zu haben, und nur wegen meiner Fehler läuft einer frei rum und hat sich vielleicht schon das nächste Opfer ausgeguckt … Serientäter, meine Damen und Herren, sind nicht, wie alle glauben, die Ausnahme. Nein! Sie sind die Regel. Der brave Bürger, der immer seine Steuern zahlt und irgendwann mal durchdreht und seinen Nachbarn beim Würstchengrillen erwürgt, der ist die Ausnahme. Fast alle Täter, die wir wegen Kapitalverbrechen verhaften mussten, waren bereits vorher auffällig geworden. Deswegen ist es auch sehr sinnvoll, dass wir im K1 nicht einfach nur eine Mordkommission haben, sondern alle Verbrechen gegen den menschlichen Körper bearbeiten. Wer seine Frau umbringt, hat sie vorher meistens schon mehrfach verhauen.«
Er hatte drei Buddelschiffe geschenkt bekommen, einen selbstgebackenen Honigkuchen von Weller und einen achthundert Gramm schweren Pilsumer Leuchtturm aus Marzipan. Alles stand zu seinen Füßen.
Der Mörder von Eske Tammena wartete bereits vor dem Kulturspeicher. Er fühlte sich mit so vielen Polizisten nicht wohl, deshalb ging er nicht rein. Er spielte mit der Stahlschlinge in seiner Tasche. Damit wollte er sie erwürgen. Es war eine einfache, lautlose und sehr effektive Mordwaffe. Man kam damit mühelos durch jede Polizeikontrolle.
Der Gedanke, dass dort im Speicher so viel kriminelle Energie versammelt war, amüsierte ihn. All diese Kriminalschriftsteller und ihre Leser, dazu die vielen Polizisten … Es fehlt eigentlich nur ein richtiger Krimineller, dachte er. Einer wie ich.
Er ging vor dem Kulturspeicher auf und ab. Es reizte ihn schon, sich dazuzugesellen und in der Menge zu schwimmen wie ein Fisch im Wasser. Er tat es nicht.
In der Pause traten ein paar Raucher vor die Tür. Sie hatten Weingläser in den Händen und hörten Peter Gerdes zu, der über seinen nächsten Kriminalroman sprach und geheimnisvolle Andeutungen machte.
Rupert, der keinen Wein wollte, hatte endlich ein Bier ergattert und kam raus zu Weller und Ann Kathrin, weil es ihm drinnen zu warm war. Dieser Novemberabend hätte jedem September gut zu Gesicht gestanden.
Für einen winzigen Moment blickte Ann Kathrin in die Augen des wartenden Killers, und sie registrierte dieses Getriebensein, das sie von Rauschgiftsüchtigen kannte, von Fanatikern und von Menschen, die unter großem Druck standen.
Wie ein Blitzeinschlag in ihrem Kopf, der einen Kurzschluss auslöst und alle Sicherungen raushaut, sah Ann Kathrin plötzlich die Bilder vor sich, wie sie ihre Handflächen auf die Herdplatte drückte, und der Schmerz von damals jagte wieder durch ihren Körper, als würde es genau jetzt geschehen.
Weller hielt sie, weil er glaubte, sie würde stürzen.
»Geht’s dir nicht gut, Ann? Soll ich dich nach Hause bringen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Alles okay. Geht schon.«
Sie rieb sich die juckenden Handflächen. Wie lange hatte sie nicht mehr an den Kampf mit dem Mörder ihres Vaters gedacht? Was passierte hier? Lag es an der Stimme von Ubbo Heide? Woher plötzlich diese emotionale Attacke?
Am liebsten wäre sie nach Hause gefahren. Ihr war zum Heulen zumute. Aber weil sie Ubbo verehrte, ging sie wieder in den Saal und blieb bis zum Schlussapplaus. Während sie Ubbo Heide lauschte, verblassten die Erinnerungsbilder. Ihr Kopf kam ihr vor wie eine riesige Bibliothek, und es gab darin ein paar Bücher und Fotoalben, in denen sie besser nicht blätterte.
Holger Bloem fing noch die Meinung einiger Gäste ein. Polizeioberrätin Jutta Diekmann stand ein bisschen pikiert herum und hörte Weller zu, als der sagte: »Wenn es mehr solcher Chefs gäbe, sähe die Welt besser aus. Ubbo Heide hat eine natürliche Autorität, die nicht aus dem Dienstgrad erfolgt, sondern aus Lebenserfahrung, ja, Weisheit, wenn man so will. Ich habe oft gedacht, einen wie dich, Ubbo, hätte ich gerne zum Vater gehabt.«
POR Diekmann räusperte sich: »Die moderne Polizeiarbeit von heute hat kaum noch etwas mit dem Schutzmann von nebenan zu tun, an den wir uns alle so gern erinnern. Die Polizeiführungsakademie wurde in die Deutsche Hochschule für Polizei umgewandelt. Die Studienabschlüsse wurden dem universitären Studium angepasst. Es geht heutzutage um Sicherheitsmanagement …«
Zu ihrer Verärgerung und zur Erleichterung vieler anderer spielten Die fabelhaften 3 jetzt Piraten, Ahoi! Den Song hatte Weller als Klingelton auf seinem Handy, so dass er unwillkürlich hingriff, als die Musik ertönte.
Eske Tammena schlenderte am Leeraner Hafen entlang und dachte über sich und ihr Leben nach. Die Babysitterin würde noch zwei Stunden bleiben. Warum also sollte sie jetzt schon nach Hause zurück?
Es gab eine Stimme in ihr, die sagte: Wenn du jetzt zu Wolfi gehst, gibt es Streit, und dieser Abend, von dem du dir eigentlich so viel Schönes versprochen hast, könnte mit dem Aus eurer Beziehung enden.
In der Tat war sie sich nicht mehr sicher, wie die Geschichte mit Wolfi weitergehen könnte. Er war so ganz und gar kein Vater.
Sie rauchte. Wenn sie über unangenehme Dinge nachdenken musste, ging sie gern dabei am Wasser spazieren und rauchte. Je tiefer sie inhalierte und je fester sie auftrat, umso näher kam sie einer Entscheidung.
Ja, es war Zeit, die Sache mit Wolfi zu beenden. Sie brauchte nicht einfach nur einen Lover oder einen großzügigen Verehrer. Sie brauchte einen Mann, der bereit war, ein fester Bezugspunkt für Focko, ihren fünfjährigen Sohn, zu sein. Der nächste Mann, den sie ihm präsentieren würde, musste der richtige sein.
Wolfi hatte er erst gar nicht kennengelernt. Die Affäre mit Wolfi war irgendwie von Anfang an ein Geheimnis gewesen. Zunächst hatte sie vermutet, er sei selbst noch verheiratet, aber so scharf, wie er Grenzen zog, war er gar nicht der Typ Ehemann, der es nicht schaffte, sich scheiden zu lassen, und deswegen seine Geliebte verheimlichen musste.
Sie hatte den Mann hinter sich nicht bemerkt. Sie warf ihre Kippe auf den Boden und wollte sie gerade austreten, als der Angriff erfolgte.
Sie wusste sofort, dass es um ihr Leben ging.
Die Stahlschnur schnitt in ihren Hals wie eine Rasierklinge und nahm ihr die Luft.
Der Mann drückte ihr sein Knie in den Rücken und bog sie nach hinten.
Einen Selbstverteidigungskurs hatte sie zwar lange schon vor Fockos Geburt gemacht, doch jetzt war alles schlagartig wieder da. Sie ging mit der Kraft ihres Gegners, wie ihr Trainer es ihr immer empfohlen hatte. Sie griff über ihre Schultern, bekam seine Haare zu fassen und zerrte daran. Dann warf sie ihren Kopf und ihren Körper, so weit es ging, zurück in seine Richtung.
Ihr Hinterkopf knallte gegen seine Nase. Er jaulte auf.
Ein paar Krimiautoren, die noch einen Absacker im Jameson’s Pub nehmen wollten, diskutierten die Situation auf dem E-Book-Markt.
Peter Gerdes sah das kämpfende Pärchen zuerst. Er und Manfred C. Schmidt rannten sofort los, während die anderen noch beratschlagten, ob es nicht besser sei, die Polizei zu rufen, statt hier Selbstjustiz zu üben.
»Quatsch, Selbstjustiz!«, keuchte der rennende Manfred, »wir hauen dem einfach nur was aufs Maul!«
Der Mann floh. Von einer alleinerziehenden Mutter und ein paar Krimiautoren verhauen zu werden erschien ihm wenig verlockend.
Eske Tammenas Hals sah schlimm aus, aber sie lebte. Gegen jeden Rat wollte sie nicht zur Polizei und auch nicht ins Krankenhaus. Sie zitterte plötzlich so sehr, dass sie kaum noch sprechen konnte.
Ihr Freund wohne in der Nähe, sagte sie, und zu dem wolle sie jetzt gehen.
Die Krimiautoren begleiteten sie noch ein Stück. Micha Krämer versuchte gar, sie zu überreden, noch ein Guinness mit ihnen zu trinken, aber sie wollte jetzt zu ihrem Wolfi, um ihm von dem Vorfall zu erzählen und sich bei ihm frisch zu machen. So, wie sie aussah, wollte sie weder der Babysitterin noch ihrem kleinen Sohn begegnen.
Christiane Franke diskutierte später an der Theke leidenschaftlich die Frage, ob sie nicht doch die Polizei rufen müssten, unabhängig davon, was die verwirrte Frau wolle oder nicht. Das sei ein Angriff mit einer Stahlschlinge auf ihr Leben gewesen. Da könne man nicht einfach so drüber hinweggehen.
Peter Gerdes glaubte auf dem Heimweg, den Mann wiederzuerkennen, der Eske Tammena angegriffen hatte. Er fuhr auf dem Fahrrad in Richtung Museumshafen. Aber Peter Gerdes war sich nicht sicher, ob er dort wirklich den Täter auf dem Rad sah oder nur einen Mann vergleichbarer Statur oder ob seine Kriminalschriftstellerphantasie ihm gerade einen Streich spielte.
Zu dem Zeitpunkt schwamm der leblose Körper von Eske Tammena bereits im Leeraner Hafen.
Ein paar kleine Barsche wurden von ihrem Blutgeruch angezogen und zupften an ihrer Haut herum, als seien ihre kleinen Härchen Würmer.
Kirstin de Boek hatte jetzt ein echtes Problem. Sie war sauer auf Eschi. So ging es einfach nicht weiter. So nicht!
Sie kam jedes Mal zu spät. Jedes Mal!
Früher war auf sie Verlass gewesen, da waren die beiden wie Freundinnen. Aber seit sie in diesen Wolfi verknallt war, fühlte sich Kirstin immer mehr wie eine Angestellte behandelt. Wenn sie sich beschwerte, dann wechselte Eschi rasch die Rolle, von der Arbeitgeberin zur Freundin und umgekehrt.
Entweder sagte sie: »Aber wir sind doch Freundinnen!« oder: »Immerhin bezahle ich dich dafür«.
Aber jetzt war endgültig Schluss. So dringend brauchte sie das Geld nun auch nicht. Dreißig Euro für einen Abend war nun wirklich nicht sehr viel. Aber sie hatten ausgemacht bis vierundzwanzig Uhr, und jetzt war es kurz vor zwei, und Eschi ging natürlich nicht ans Handy und beantwortete auch keine SMS.
Vor Wut setzte Kirstin sich hin und schrieb ihrer Freundin einen Brief. Es wurde eine Abrechnung. Vier Seiten lang. Der letzte Satz lautete: Auf eine Freundin, die sich nur bei mir meldet, wenn sie mich braucht, kann ich verzichten.
Kirstin las den handgeschriebenen Brief noch einmal. Das tat gut.
Inzwischen war es zehn nach drei. Sie wollte den Brief hier auf dem Tisch für Eschi liegen lassen. Sie schwankte zwischen dem Impuls, einfach zu gehen, und dem Pflichtbewusstsein, den kleinen Focko jetzt nicht einfach allein lassen zu können. Dem Jungen konnte sie das einfach nicht antun. Was, wenn er wach wurde, weil er zur Toilette musste?
Nein, Eschi wollte sie nur zu gern eins auswischen, aber der Kleine sollte darunter nicht leiden.
Kirstin legte sich mit einer dünnen Wolldecke aufs Sofa. Sie konnte nicht einschlafen. Sie war viel zu sauer.
Sie stand wieder auf und postete auf Facebook: Es reicht, Eschi! Ich bin nicht dein Fußabtreter! Bei allem Verständnis für deine Liebesbedürftigkeit, ich habe auch ein Leben! Deine Exfreundin Kirstin.
Erik Haag konnte es nicht lassen. Er hatte keinen Angelschein. Er war durch die Fischerprüfung gefallen, weil er bei der Frage:
Was muss ein Angler mit zum Gewässer nehmen?
A: einen Hakenlöser
B: ein Kofferradio
C: einen Kasten Bier
C angekreuzt hatte. Natürlich wusste er, dass er, um hier angeln zu können, zwei Scheine brauchte. Einen Fischereierlaubnisschein und den Fischereischein. Aber ohne Fischereischein – also ohne bestandene Prüfung – verkaufte ihm auch kein Fischereipächter einen Fischereierlaubnisschein.
Vieles in seinem Leben war an der Bürokratie gescheitert. Der Papier-, Paragraphen- und Verordnungswut verdankte er auch die Pleite seiner Kneipe. Erst durfte er kein Essen ausgeben, dann wurde das Rauchen verboten, und schließlich, nach einem eigentlich trotz aller Regeln und Strafgelder recht erfolgreichen Jahr, kam auch noch das Finanzamt und wollte Steuern. Immer wenn er Post von Stadt, Land oder Bund bekam, stand da mit vielen Worten zackig ausgedrückt eigentlich nur eine einzige Botschaft: Erik Haag, gib auf!
Ja, so empfand er es. Als reine Schikane.
Wir werden dir nie verzeihen, dass du mit deiner eigenen Hände Arbeit dein Geld verdienen willst. Wir legen dir so lange Schwierigkeiten in den Weg, bis du endlich aufgibst.
Jetzt war er eben auf Hartz IV. Aber der Papierkram nahm trotzdem kein Ende. Nun wurde er gefördert und gefordert. Das hörte er praktisch täglich, falls er Radio oder Fernsehen einschaltete.
Aber jetzt wollte er Ruhe haben, und die Aussicht auf einen guten Zander oder einen dicken Aal war nicht schlecht.
Wenn er noch sein Auto gehabt hätte, wäre er weiter rauf zu Leda, Jümme und Ems gefahren, um dort Meeresfische zu fangen. In diesen Gezeitenflüssen, nahe an der Nordsee, waren Ebbe und Flut noch zu spüren. Flussaufwärts konnte Butt gefangen werden. Bei auflaufendem Wasser hatte er hier mit einem Freund einen ein Meter vierzig großen Wels gefangen. In ihrer großen Freude ließen sie sich stolz fotografieren. Ja, er war mit dem Fisch in der Zeitung lobend erwähnt worden. Nur hatte er leider keinen gültigen Fischereischein, und der Ärger wurde groß. Seitdem wollte er auch mit Zeitungsfritzen, wie er Journalisten nannte, nichts mehr zu tun haben.
Jetzt, um diese Zeit, war es ruhig hier an der Hafenpromenade. Noch hatte der Lärm nicht begonnen. Die Geschäfte waren geschlossen, auf dem Wasser hing weißer Nebel, es war kühl, und er hatte keinen Hakenlöser dabei, zwar auch keinen Kasten Bier, wohl aber ein Sixpack. Was war so ein Anglermorgen ohne Bier?
Erik Haag hatte zwei Ruten dabei. Mit einer wollte er auf Aal gehen. Ein Matjesfetzen am Haken, tiefgelegt auf Grund. Er wusste, wo sich hier ein Aalloch befand, und er legte seinen Köder direkt davor aus und befestigte ein Glöckchen an der Angelspitze.
Mit dem Blinker wollte er einen Zander fangen, ganz nah an der Uferpromenade. Dort hielten sich die Räuber im Schatten auf. All die Fußgänger, die hier flanierten und ihre Eiswaffeln achtlos wegwarfen, ja selbst die Rentner, die hier Enten fütterten, lockten mit ihren Krümeln die kleinen Fischchen an. Und wo viele kleine Fische schwammen, da waren auch die großen Räuber nicht weit, dachte er.
Erik Haag zog den Blinker zum zweiten Mal durchs Wasser. Dann sah er die Frau.
Im ersten Moment glaubte er, eine Betrunkene sei ins Wasser gestürzt. Ja, komischerweise ging er davon aus, sie müsse betrunken sein. Aber ihre Gliedmaßen waren so unnatürlich verrenkt.
Als er ihr helfen wollte, wurde er selbst ganz nass, und sein finnisches Fischmesser fiel ins Wasser. Er sah es sinken. Fast hätte er die Frau wieder losgelassen und nach dem Messer gegriffen, aber dann siegte der Retter in ihm.
Er zog sie ein Stück hoch. Ihr Kopf fiel auf seinen Oberschenkel. Jetzt klebte Blut an seiner Hose, und er sah ihren Hals.
Er riss die Arme hoch und ließ die Frau fallen. Er wurde sofort panisch.
Er sah sich schon in Handschellen. Ihm fehlten zwei Erlaubnisscheine zum Fischen. Sein Messer war hier versunken. Die Frau hatte einen tiefen Schnitt im Hals. Er hatte hier im Grunde nichts zu suchen, und jetzt war auch noch Blut an der Hose.
Erik Haag wollte einfach nur noch abhauen, aber dann bimmelte sein Aalglöckchen wie verrückt. Es war wie ein Weckruf.
Er hatte einen Biss, und was für einen! Die Angelspitze bog sich, und der Aal nahm sich mächtig Schnur. Sie surrte nur so von der Rolle.
War das überhaupt ein Aal? Oder hatte sich ein Hecht den Köder geholt?
Er wusste jetzt nicht, was er zuerst erledigen sollte. Die Tote aus dem Wasser ziehen? Die Angelschnur einholen? Die Polizei rufen? Abhauen?
Wie so oft im Leben, wenn er zwischen mehreren unschönen Herausforderungen stand, machte er sich erst mal ein Bier auf und nahm einen tiefen Schluck. Dann zerrte er die Leiche auf die Holzbefestigung und rannte zu seiner Aalangel.
Das Glöckchengebimmel würde ihn noch Jahre später in seinen Albträumen verfolgen.
Er setzte einen lausig schlechten Anschlag und wollte den Aal reindrehen, aber der hatte sich inzwischen so viel Schnur genommen, dass es kein leichtes Spiel für Erik Haag wurde.
Er saß irgendwo fest. Der Aal hatte die Schnur um einen Stein gewickelt oder einen Ast. Jedenfalls spannte sich die Schnur und drohte zu reißen.
Dann schwamm der Aal plötzlich auf Erik Haag zu. Er drehte an der surrenden Rolle. Er sah den Aal im Wasser. Er war gut sechzig, vielleicht achtzig Zentimeter lang.
Erik Haag zog ihn aus dem Wasser. Der Aal schlängelte sich auf dem Boden und versuchte, ins Wasser zurückzukommen. Aber Erik Haag hielt das glitschige Tier mit der linken Hand fest und suchte instinktiv mit der rechten nach seinem Messer. Wie sollte er so einen großen Aal ohne sein finnisches Fischmesser erledigen? Und wie ihn von der Schnur bekommen?
An diesem kalten Novembermorgen schwitzte Erik Haag mehr als im Hochsommer. Ja, einen Zander, einen Hecht oder einen Barsch hätte er wie üblich mit einem kurzen, heftigen Schlag auf den Kopf betäubt. Er benutzte dazu einfach seine Bierflasche, nicht so einen Holzknüppel wie die Snobs vom Angelverein. Aber dieser Aal mit seinem spitzen Kopf war unempfindlich gegen Schläge auf sein Gehirn.
Vielleicht, dachte Erik Haag, war er nicht zu betäuben, weil dieses Urzeitvieh gar kein Gehirn hatte.
Der Aal verwickelte sich jetzt in der Schnur und Erik Haag versuchte, sie einfach mit den Händen zu zerreißen, um Angel und Aal zu trennen, aber die Tragkraft und Abriebsfestigkeit der aus acht Fäden geflochtenen Schnur war nicht nur ein Werbegag, sondern schlichte Wirklichkeit. Das spürte er, als sie in seine Finger schnitt.
Er blutete und hatte in seinem Angelutensilien-Eimer kein Verbandszeug mit. Er kippte den Eimer aus, hob den Aal an der Schnur hoch und ließ ihn einfach in den Eimer fallen. Dort drehte der Aal sich wild im Kreis und erinnerte Erik Haag an einen Hamster im Rad.
Erik Haag nahm noch einen Schluck aus der Flasche und überlegte, wie er am schnellsten die Polizei informieren konnte. Er hatte beim Angeln nie ein Handy dabei. Welcher Idiot vertreibt mit seinem Klingelton die Fische? Außerdem, wer sollte ihn um diese Zeit anrufen? Aber wo, verdammt, gab es hier eine Telefonzelle?
Der Aal lärmte im Eimer, und Erik Haag entschied sich, statt nach einem öffentlichen Telefon zu suchen, einfach loszubrüllen.
Er schrie, so laut er konnte: »Hier liegt eine tote Frau!«
Er war schon fast heiser und wollte seine Sachen zusammenpacken und abhauen, als er endlich eine Reaktion bekam. Ein Fenster wurde geöffnet, und ein Mann rief: »Halt die Fresse, du blöder Penner! Andere Leute müssen arbeiten und brauchen ihren Schlaf!«
Als er mit zwei Angeln, einem Eimer und einem angebrochenen Sixpack Bier in Richtung Bahnhof verschwinden wollte, kam ihm ein Polizeifahrzeug entgegen. Sie wollten seine Papiere sehen und seine Fischereigenehmigung.
Einer, offensichtlich ein Hobbyangler, reagierte gereizt, weil der Aal nicht waidgerecht vom Haken gelöst worden war und bezeichnete diese Art, mit dem Aal umzugehen, schlicht als Tierquälerei. Er müsse das gefangene Tier töten, und zwar sofort.
»Ja, wie denn?«, klagte Erik Haag. Er habe sein Fischmesser doch beim Bergen der Leiche verloren.
»Beim Bergen der Leiche?«
»Ja, genau, deshalb schreie ich ja so.«
»Wer schreit denn hier?«
»Ich. Zumindest bis gerade.«
Ann Kathrin Klaasen hatte das Gefühl, sich gerade erst hingelegt zu haben, als ihr Seehund jaulte und Wellers Handy Piraten Ahoi spielte. Sie hatten fast gleichzeitig ihre Geräte am Ohr.
Weller meldete sich mit: »Herzlich willkommen bei der Sparkasse Aurich-Norden. Sie rufen außerhalb unserer Geschäftszeiten an. Falls Sie Ihre EC-Karte verloren haben, sagen Sie bitte Eins. Falls Sie einen Kundenbetreuer sprechen wollen, Zwei.«
Ann Kathrin stieß ihn an. »Mensch, sei doch mal leise!«
Sie saß schon auf der Bettkante und walkte sich das Gesicht durch.
»Ja, falsch verbunden«, sagte Weller und drückte das Gespräch weg.
Ann Kathrin stand auf und reckte sich. »Wir kommen«, versprach sie.
»Och, nö«, stöhnte Weller. »Ich will weiterträumen!«
Ann Kathrin zog sich schon an. Sie nahm einfach die Wäsche, die sie vor einigen Stunden ausgezogen hatte. Alles hing noch auf der Stuhllehne.
»Wovon hast du denn geträumt?«, fragte Ann Kathrin ihren Mann.
Weller griff sich das Hemd von gestern. »Glaub mir, das willst du gar nicht wissen, Ann.«
»Von anderen Frauen?«
Weller lachte und begann zu schwärmen: »Nein, du hast im Traum mitgespielt. Wir hatten eine Fischbude in Norddeich am Hafen, mit Blick auf die Nordsee, auf Juist und auf Norderney. Reines Stoßgeschäft. Immer, wenn die Fähren kommen und fahren. Dazwischen diese unendliche Ruhe und höchstens mal Möwengeschrei. Keine Scheißkriminellen. Keine Falschaussagen. Keine Verrückten mit guten Anwälten. Nur Krabbenbrötchen, Matjes und natürlich Bratheringe.«
»Keine Pommes?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nix da. Nur Fischbrötchen. Keine Pommes, keine Wurst, keine Hamburger.«
»Im wirklichen Leben«, sagte sie, »müsstest du dich deinen Kunden anpassen und genau das führen, um nicht pleitezugehen.«
Er stieg in seine Jeans, und weil er seine Socken so schnell nicht fand, schlüpfte er barfuß in die Schuhe. Er ließ sich nicht desillusionieren. »Nee«, sagte er, »nicht an meiner Fischbude!«
»Unserer. Ich dachte, ich stand mit dir hinter der Theke …«
Schon im Flur bekam Weller, vielleicht wegen des Gesprächs über die Fischbude, richtig Hunger. Er hatte nachmittags einen Honigkuchen für Ubbo Heide gebacken. Der erste war verunglückt – zu lange im Backofen –, den zweiten, den gelungenen, hatte er an Ubbo verschenkt. Das Rezept war aus Tini Peters: Meine traditionelle ostfriesische Küche. Er liebte dieses Buch und die Back- und Kochideen. Im Kripoalltag oder wenn er vor dem Fernseher saß, ergriff ihn manchmal eine tiefe Hoffnungslosigkeit, als stünde die Welt am Rande des Abgrunds und würde uns alle bald verschlingen. Wenn er aber am Herd stand, Teig knetete, Gemüse putzte oder Zwiebeln würfelte, hatte er das Gefühl, alles könnte vielleicht doch noch gut ausgehen.
Weller lief in die Küche zurück und schnitt zwei dicke Stücke aus dem Honigkuchen. Die Nüsse darauf waren angebrannt, aber das störte ihn jetzt nicht.
Ann Kathrin fuhr. Er saß neben ihr und aß. Es ging ihm gleich besser. Leider hatte er vergessen, sich etwas zu trinken mitzunehmen.
»Sie haben eine Tote auf der Hafenpromenade«, sagte Ann Kathrin.
Weller flogen beim Sprechen Kuchenkrümel aus dem Mund. »Geiles Rezept«, hustete er. »Willst du mal probieren?«
»Nein, danke, ich nehme gerade ab.«
»Wieder so eine Scheißdiät?«
»Nein, diesmal eine, die funktioniert.«
»Mein Gott, Ann Kathrin! Du siehst toll aus! Du hast keine Gewichtsprobleme! Du hast, wenn überhaupt, ein Wahrnehmungsproblem! Genieß das Leben. Du bist toll so, wie du bist!«
»Ja, dann bin ich mit fünf Kilo weniger aber auch noch toll.«
»Okay«, sagte Weller mampfend, »dann esse ich den Kuchen eben alleine.«
Das war ihm im Grunde auch lieber.
Rupert war bereits vor Ort. Der Tatort war mit weißroten Bändern abgesperrt. Zwei Kriminaltechniker arbeiteten schon. Die Spurensicherung lief.
Ann Kathrin ließ sich von Rupert, der kein bisschen müde aussah, auf den neuesten Stand bringen.
»Im Grunde hättet ihr gar nicht kommen müssen. Der Fall ist praktisch aufgeklärt. Wir haben die Leiche und den Täter.«
Weller wollte schon wieder zum Auto zurück, aber Ann Kathrin fragte: »Hat er gestanden?«
»Nein«, raunte Rupert, »das nicht. Aber die Frau wurde mit einer Schlinge erwürgt. Tiefe Schnitte im Hals.« Rupert demonstrierte es ihr, als könne es sein, dass Ann Kathrin keine Ahnung hatte, wo beim Menschen der Hals sitzt.
Rupert fuhr fort: »Er hat die gleichen Schnitte in den Fingern an beiden Händen. Er muss sie mit der Angelschnur erwürgt haben. Blut klebt an seiner Kleidung. Das Ganze wird ein Freudenfest für die Spusi.«
»Zeugen?«, fragte Ann Kathrin.
»Keine.«
Dann wollte sie wissen, wer die Polizei gerufen hatte.
»Meinst du, man kriegt hier irgendwo schon einen guten Kaffee?«, fragte Weller.
»Glaub ich nicht«, sagte Rupert.
Weller sah enttäuscht aus und gab sich gleich mit weniger zufrieden. »Er muss ja nicht gut sein, aber heiß und mit Koffein. Ich hab hier im Bahnhof mal einen guten Kaffee getrunken. Weißt du, wann die da aufmachen?«
Ann Kathrin warf Weller einen tadelnden Blick zu und winkte ab.
»Ja, schon gut, schon gut. Dann eben nicht«, brummte er.
Ann Kathrin wiederholte ihre Frage: »Wer hat die Polizei gerufen?«
»Es gab eine Beschwerde wegen ruhestörenden Lärms, weil einer so rumgeschrien hat«, erklärte Rupert, bemüht, dienstlich zu bleiben.
»Die Frau?«, fragte Ann Kathrin.
»Nein, ich glaube, er hat selber so laut geschrien.«
»Er hat uns praktisch auf sich aufmerksam gemacht?«, wunderte sich Ann Kathrin.
Rupert bestätigte: »Ja.«
»Wurde sie vergewaltigt?«, fragte Ann Kathrin.
»Sieht nicht so aus. Sie ist vollständig bekleidet. Ich denke, es ist eine Beziehungstat. Sie wollte Schluss mit ihm machen, er hat es nicht ausgehalten. Der übliche triviale Mist, wie so etwas eben täglich geschieht.«
»Hatten sie denn eine Beziehung miteinander?«
»Warum«, konterte Rupert, »soll er sie denn sonst umgebracht haben? Ein Raubmord war es nicht. Sie hat noch über hundert Euro in der Tasche.«
Weller mischte sich nicht ein. Er sah aufs Wasser. Er mochte diese morgendlichen Nebelschwaden, die sich wie Geisterschiffe bewegten. Hier, dachte er, könnte man auch eine Fischbude hinstellen. Am besten eine mit einer guten Espressomaschine.
Ann Kathrin sah sich die Tote an und winkte Weller herbei. »Die kennen wir doch. Die war auf Ubbos Premierenlesung.«
Weller gab ihr sofort recht. »Stimmt. Sie kam zu spät und hat im Grunde gestört. Ubbo hat sogar wegen ihr kurz unterbrochen.«
Ann Kathrin betrachtete die tiefen Schnitte am Hals. Dann wollte sie den mutmaßlichen Täter sehen, aber der war bereits in eine kleine, gut beheizte Zelle gebracht worden.
Weller flüsterte Ann Kathrin zu, das könne alles auch noch morgen erledigt werden. Hier sei ja im Grunde jetzt alles klar. Aber sie bestand darauf, mit dem Verdächtigen zu sprechen.
Weller stöhnte: »O Mensch, es gibt wichtigere Dinge im Leben als solchen kranken Scheiß.«
Erik Haag saß zusammengekauert am Tisch. Er schien die Atmung eingestellt zu haben, aber seine Augenbrauen zuckten.
Ann Kathrin ging zweimal um ihn herum. Sie sog die Luft tief ein.
Rupert nannte das spöttisch: Sie beschnüffelt den Verdächtigen.
Sie roch Bier, Aalblut und Urin. Hatte der Mann sich in die Hose gemacht? War er inkontinent und trug irgend so eine Windel für Erwachsene?
Erik Haag reagierte nicht auf ihre Fragen. Sie stellte ihm einen Becher Kaffee hin, aber er rührte ihn nicht an.
»Wenn Sie schweigen, wird es nicht besser«, sagte sie. »Wir können gerne einen Anwalt hinzuziehen, wenn Ihnen das lieber ist …«
Jetzt wurde er zappelig. »Nein, keinen Anwalt. Keinen Anwalt. Ich bin in keiner Rechtsschutzversicherung. Ich kann mir keinen Anwalt leisten.«
»Ihnen steht ein Pflichtverteidiger zu.«
»Ich gestehe alles, und ich werde es auch echt nicht wieder tun!«
»Na, da bin ich aber beruhigt. Sie wollen also ein Geständnis ablegen?«
Er nickte. »Ich habe das noch nicht oft gemacht.«
Ann Kathrin folgerte daraus, dass er schon mehrere Frauen umgebracht hatte.
Weller stand hinter der Glasscheibe. Seine Kinnlade klappte runter.
Weller verstand, warum der Mann den Kaffee nicht anrührte. Er schmeckte einfach grässlich.
Warum haben wir keine so guten Kaffeeautomaten wie unsere Schweizer Kollegen?, dachte er.
Ann Kathrin stellte ein Aufnahmegerät auf den Tisch und sagte: »Jetzt bin ich aber mal gespannt.«
»Das ist doch alles nur passiert, weil ich durch die Scheiß-Angelprüfung gefallen bin. Das ist so ungerecht! Ich fische schon seit meiner Kindheit! Wir haben doch alle als Schwarzangler angefangen. Wie denn sonst? Wenn man an der Nordsee aufwächst, hat man so was im Blut. Früher haben wir Wattwürmer ausgegraben und angeködert, um Plattfische zu fangen. Da gab’s noch solche Schollen!«
Er deutete mit den Armen eine klobrillengroße Form an. Er sah jetzt Ann Kathrin groß an und wartete auf eine Reaktion. Wahrscheinlich hoffte er, sie mit seinem Anglerlatein beeindruckt zu haben. Doch sie fragte: »Eske Tammena musste sterben, weil Sie die Angelprüfung nicht bestanden haben?«
»Nein, Quatsch! Wieso? Damit hab ich nichts zu tun. Ich bin nur ein Schwarzangler, kein Mörder! Ich hab die Frau gefunden und aus dem Wasser gezogen. Ich dachte, ich könnte sie retten, und dann bimmelte plötzlich mein Aalglöckchen, und mein Messer ist dort ins Wasser gefallen und …«
Er schwieg.
Ann Kathrin zeigte auf seinen Mullverband. »Und wie haben Sie das gemacht?«
»Ich hatte keinen Hakenlöser mit, und ich wollte den Aal von der Schnur holen. Dabei hab ich mir dann in die Finger geschnitten.«
»Mit der Angelschnur?«
Er nickte. »Ja, wie denn sonst?«
»Kennen Sie Eske Tammena?«
»Nein. Woher denn?«
Ann Kathrin verließ wortlos den Verhörraum und nahm das Aufnahmegerät mit.
Weller grinste sie an. »Das hätte doch wirklich Zeit bis morgen gehabt, oder?«
»Die Angelschnur soll ins Labor«, sagte Ann Kathrin. »Ich glaube nicht, dass sich das Blut von Eske Tammena daran befindet, sondern nur sein eigenes.«
»Du glaubst ihm also die Geschichte?«
Sie nickte. »O ja.«
»Kann es nicht auch sein«, fragte Weller, »dass der da angelte, die gute Frau vorbeikam, die beiden in einen Streit gerieten und er sie schließlich umgebracht hat? Vielleicht war es nicht geplant, sondern …«
Ann Kathrin musterte Weller: »Klar. Und dann hat er die Nachbarschaft zusammengeschrien, und anschließend ist er mit dem Aal im Eimer auf unseren Polizeiwagen zugelaufen …«
»Manche Täter verhalten sich so behämmert«, konterte Weller. »Aber jetzt lass uns nach Hause fahren, Ann. Ich bin müde. Das können die Kollegen hier in Leer auch ohne uns.«
»Ja«, sagte Ann Kathrin, »wir können ihnen ja Rupert so lange als Verstärkung dalassen.«
Weller ahnte, dass dieser Satz nicht ernst gemeint war. Ann Kathrin beschleunigte im Flur ihre Schritte, und er hatte Mühe, mitzuhalten.
»Fahren wir jetzt nach Hause oder nicht, Ann?«
»Wir suchen die Wohnung von Eske Tammena auf. Dir muss ich doch nicht erzählen, dass mit jeder Stunde, die vergeht, die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass man einen Mordfall löst, oder?«
Weller stöhnte. »Nein, das habe ich schon gelernt, bevor ich bei der Polizei war.«
»Von wem?«
»Das steht in jedem guten Kriminalroman …«
Rupert hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt, rührte in seinem Schwarztee herum und war zufrieden mit sich und der Welt, weil er den Fall so schnell gelöst hatte. Er hatte eigentlich vorgehabt, hier in Leer die ruhigen Morgenstunden zu genießen und dann Feierabend zu machen. Der Job vom K1 war aus seiner Sicht erledigt, und er konnte zurück nach Aurich.
Gerade wollte er in sein Mettbrötchen beißen, da stand plötzlich dieser Zeuge vor ihm. Rupert schätzte Peter Gerdes auf Ende fünfzig, und Rupert fand, dass Männer in diesem Alter nicht solche Frisuren tragen sollten. Er machte zwar einen gepflegten Eindruck, aber ein Langhaariger mit Bart blieb eben ein Langhaariger mit Bart.
»Sie waren doch gestern auch auf der Veranstaltung im Kulturspeicher«, sagte Peter Gerdes.
Mürrisch nahm Rupert die Füße vom Schreibtisch und legte sein Mettbrötchen auf einem Aktendeckel ab.
»Erinnern Sie sich nicht mehr an mich, Herr Kommissar? Ich habe ein paar einführende Worte gesprochen.«
Rupert verzog das Gesicht. Er konnte sich an ein paar scharfe Schnitten erinnern, die er am liebsten abgeschleppt hätte, und dann noch an diese Band. Aber Schriftsteller, die einführende Reden hielten, hatten ihn noch nie interessiert.
Er war eigentlich auch nicht bereit, sich von Peter Gerdes diesen schönen Morgen verderben zu lassen, und ärgerte sich schon, dass er nicht längst zurück nach Aurich gefahren war, aber nun kam er wohl nicht drumherum, eine Aussage aufzunehmen.
Peter Gerdes setzte sich ungefragt und begann, ruhig zu erzählen, was er nach dem Krimiabend mit Ubbo Heide erlebt hatte. Dabei schielte er immer wieder zu Ruperts Teetasse. Er war zwar nicht der Meinung, dass man Ostfriesentee mit einem Beutel in einem Becher machen sollte, aber das wäre ihm jetzt lieber, als gar nichts zu trinken.
Rupert bemerkte die Blicke wohl, ignorierte sie aber kühl. Das hier war eine Polizeiinspektion und kein Café mit hausgemachtem Kuchen und Frühstücksbüfett.
Rupert schrieb erst einmal gar nichts mit, sondern hörte nur zu. Dann tat er, als ob er sich Notizen machen würde, in Wirklichkeit malte er aber nur Wellen aufs Papier und träumte vom Urlaub.
»Sie haben also gesehen, wie die junge Frau angegriffen wurde? Sie sind ihr zu Hilfe geeilt, und der Täter ist geflohen?«, fragte Rupert gereizt.
»Ja. Manfred C Punkt wollte unbedingt hinterher, um ihm was auf die Fresse zu hauen. Er war kaum zu bremsen.«
»Und, hat dieser Herr Punkt ihn denn noch erwischt? Ich brauche dann seine Adresse.«
»Der heißt nicht Punkt.«
»Sie haben doch gesagt, Manfred C Punkt.«
»Ja, so nennen wir ihn. In Wirklichkeit heißt er Manfred C. Schmidt.«
»Und er ist auch ein Kriminalschriftsteller, genau wie Sie, stimmt’s?«
Gerdes nickte.
Rupert fragte sich, wie viele ostfriesische Kriminalschriftsteller es eigentlich gab. Schrieb hier jetzt jeder Krimis? Sogar Ubbo Heide hatte damit angefangen.
Plötzlich schlug Rupert mit der flachen Hand auf den Tisch. Es knallte laut, und zwei Papierblätter flogen hoch. Das Mettbrötchen rutschte vom Aktendeckel und landete mit der Mettseite auf dem Boden.
Warum, dachte Rupert, warum, verdammt nochmal, kann ich nicht hier sitzen und in Ruhe mein Mettbrötchen essen und einen geklärten Fall genießen? Warum muss jetzt dieser Typ hier rumnerven?
Dann fuhr er ihn an: »Wenn ihr Helden alles gesehen habt und den Mörder vertrieben habt, warum haben wir Eske Tammena dann tot an der Uferpromenade gefunden?«
Peter Gerdes reagierte gelassen. Sein knorziger Kommissar Stahnke kam ihm wesentlich freundlicher und kompetenter vor als dieser Rupert. Aber den hatte er schließlich auch nur erfunden, während Rupert wirklich vor ihm saß.
»Ich vermute«, sagte Peter Gerdes, »sie wird dahin zurückgegangen sein.«
Rupert stieß sich vom Schreibtisch ab und rollte mit dem Bürostuhl rückwärts in Richtung Kopiergerät.
»Klar«, spottete er, »sie hat dann gewartet, bis eure Schriftstellertruppe weg war, um sich dann in Ruhe umbringen zu lassen.«
Peter Gerdes gefiel der Ton nicht, aber er blieb auf der sachlichen Ebene. »Nein, das denke ich nicht. Sie wollte zu ihrem Freund oder zu ihrem Mann, so genau weiß ich das nicht mehr. Der muss wohl in der Nähe wohnen … Vielleicht hat sie sich dann mit dem gestritten und ist wieder zurück, oder sie wollte einfach nur spazieren gehen, um den ganzen Vorfall zu verarbeiten.«
Rupert stand vom Stuhl auf, hob das Mettbrötchen hoch, wog ab, was dagegen sprechen könnte, eine obere Schicht abzutragen, um den Rest doch noch zu essen, entschied sich dann aber dafür, das ganze Brötchen im Papierkorb zu entsorgen.
»Das entspringt aber jetzt nur Ihrer schriftstellerischen Phantasie und ist keine Beobachtung«, giftete er.
»Man könnte es auch«, sagte Peter Gerdes, »eine Schlussfolgerung nennen. Oder einfach gesunden Menschenverstand.«
Als Kirstin de Boek durch den Spion in Eske Tammenas Tür Weller und Ann Kathrin sah, wusste sie gleich, dass etwas Schlimmes geschehen war. Sie löste die Kette und den Riegel, dann öffnete sie.
Sie hoffte, dass das Klingeln den kleinen Focko nicht geweckt hatte.
»Was ist mit Eschi?«, fragte sie und schämte sich schon jetzt, weil sie so einen wütenden Brief geschrieben hatte.
»Mein Name ist Ann Kathrin Klaasen, ich bin Hauptkommissarin bei der Mordkommission Ostfriesland. Das ist mein Kollege Frank Weller. Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«
»Ja, klar. Ich, also, ich bin die Babysitterin. Also, eigentlich die Freundin. Im Grunde, also, ja … ich passe auf den kleinen Focko auf. Was ist denn jetzt mit Eschi?«
»Es tut uns leid, aber Ihre Freundin wurde ermordet.«
Für Kirstin de Boek war es, als würde das Haus einstürzen. Die Welt implodierte, alles fiel in sich selbst zusammen. Etwas in ihrem Bauch wurde ganz schwer. Sie spürte ihre Beine nicht mehr. Dann war es für einen Moment, als würde sie schweben, und sie sah nur noch über sich die Decke. Schließlich konnte sie durch die Decke hochschauen bis in den Himmel.
Sie wusste nicht, wie lange sie so gelegen hatte. Der kleine Focko war jetzt bei ihr und rief immer: »Kirstin? Kirstin?«
Weller stand in der Küche und versuchte, telefonisch jemanden beim psychologischen Notdienst zu erreichen.
»Ist was mit meiner Mama?«, fragte Focko Ann Kathrin. Sie sah das Kind an und hätte den Jungen am liebsten an ihr Herz gedrückt. Aber sie war nicht in der Lage, ihm zu antworten.
Der Kleine spürte natürlich genau, dass etwas Schlimmes geschehen war, und ging jetzt mit Fäusten auf Ann Kathrin los, als sei sie hier die Böse.
Sie versuchte, ihn zu bändigen, ohne ihm wehzutun. Dann weinte er nur noch und lag in ihren Armen.
Kirstin de Boek atmete wieder regelmäßig, hob den Kopf hoch und stützte sich mit den Ellbogen auf.
»Wissen Sie«, fragte Ann Kathrin, »wo Ihre Freundin den Abend verbringen wollte? Gibt es einen Namen? Eine Adresse?«
»Ja, klar. Sie ist zu Wolfi gegangen.«
»Wolfi?«
»Dr. Wolfgang Steinhausen.«
»Waren die beiden ein Paar?«
Kirstin de Boek nickte, und Focko zog an Ann Kathrins Haaren und begann zu kreischen.
Rupert hätte diesen Beweis nicht gebraucht. Er wusste auch so, dass Männer nicht zur Hausarbeit geeignet waren. Konnte sich jemand Humphrey Bogart mit einem Putzlappen vorstellen? John Wayne mit Staubsauger oder James Bond beim Gardinenaufhängen?
Aber in dieser aus den Fugen geratenen Welt, in der er nun einmal lebte, blieb es ihm nicht erspart, die Spülmaschine auszuräumen, und das war gar nicht gut für seinen Rücken.
Es machte Knacks, und Rupert hatte den aufrechten Gang verloren.
Ausgerechnet jetzt, da er bei diesem Baumtest so schlecht abgeschnitten hatte. Er fürchtete, dass die Kollegen hinter seinem Rücken über ihn grinsen würden, weil er nicht schnell genug aus dem Wagen kam oder aus dem Bürosessel.
Es tat schweineweh, und er warf zwei Ibuprofen 600 ein, was dazu führte, dass er jetzt auch noch Magenschmerzen bekam, und wenn er zu der halb ausgeräumten Spülmaschine sah, begann diese zu wachsen und schien ihn dabei frech anzugrinsen. Er wollte sie zuklappen, aber er kam nicht weit genug runter. Er konnte sich einfach nicht tief genug bücken. Um der verdammten Spülmaschine zu zeigen, wer hier der Herr im Haus war, kickte er sie mit einem Fußtritt zu. Das Geschirr darin klapperte, als würde es ihn auslachen.
Ein rasender Schmerz fuhr seine Wirbelsäule rauf und runter und strahlte bis in seine Leisten aus. Es war ein Gefühl, als würden gleich seine Eier platzen. So, in diesem Zustand sollte er Zeugen vernehmen? Und dann ausgerechnet diesen Kriminalschriftsteller aus Esens, diesen C Punkt.
Rupert fuhr erst mal zur Ubbo-Emmius-Klinik in die Notambulanz. Mit seinem Ausweis und den Worten »Mordkommission Ostfriesland. Ich muss den Doktor sprechen«, versuchte er, sich vorzudrängeln, und vielleicht hätte es ja auch geklappt, wenn er sich dabei nicht mit schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken gehalten hätte. Aber so fragte ihn die Rezeptionsmitarbeiterin am Eingang nach seinem Hausarzt und ob er schon beim Orthopäden in Behandlung sei.
Sie wollte wissen, seit wann er die Schmerzen hatte, und Rupert musste sich schwer beherrschen, sonst hätte er sie angebrüllt: »Seit ich diese Scheißspülmaschine ausgeräumt habe!«
Dr. Niemeyer hatte Zeit für ihn. Rupert musste sich hinlegen und das rechte Bein anheben. Es wäre ihm leichter gefallen, einen Stiefel Bier in einem Zug zu leeren.
Der Arzt interessierte sich dafür, wie das passiert war, und weil genau in dem Moment eine äußerst attraktive Krankenschwester das Zimmer betrat, log Rupert: »Ich habe einen Schwerkriminellen verfolgt. Er ist aus dem Fenster gesprungen. Ich hinterher!«
Die junge Frau sah Rupert bedauernd an. Dr. Niemeyer klopfte mit seinem Reflexhammer gegen einen Nerv unterhalb von Ruperts Kniescheibe. Sein Fuß federte hoch.
»Meinem Freund«, sagte die Krankenschwester und bückte sich nach einem Mullverband, der runtergefallen war, »ist das mal beim Ausräumen der Spülmaschine passiert. Der hat Wochen gebraucht, bis er wieder fit war.«
»Ja«, stöhnte Rupert, »Sachen gibt’s …«
Dr. Niemeyer war sich sicher. »Das ist eine Fehlstellung im Ileosakralgelenk.«
Noch bis vor wenigen Sekunden hatte Rupert keine Ahnung gehabt, so etwas überhaupt zu besitzen.
»ISG«, nannte Dr. Niemeyer es und schlug Krankengymnastik vor.
Rupert lachte und schielte zur Krankenschwester. »Ich bin doch keine achtzig!«
Dann sollte er sich auf den Bauch drehen, was ihm unter heftigen Anstrengungen gelang.
Dr. Niemeyer fragte, ob Rupert denn auch schon das Buch seines Kollegen Ubbo Heide gelesen habe. Der Doktor outete sich als Krimileser, und Rupert wollte nicht zugeben, dass er das letzte Buch in der Schule gelesen hatte, und zwar unfreiwillig.
Dr. Niemeyer drückte auf eine Stelle und fragte, ob das wehtue.
Rupert jaulte. Als er aber aufstehen sollte, kam er sich schon viel gelenkiger vor. Gut, ein Stepptanz wäre sicherlich noch nicht sein Ding, aber der aufrechte Gang funktionierte schon wieder einigermaßen.
Er hätte den Arzt am liebsten umarmt. Aber der riet ihm noch einmal dringend zur Krankengymnastik und wollte wissen, ob Rupert den Fall mit der Leiche im Leeraner Hafen bearbeite.
»Ja«, sagte Rupert stolz, »der Fall ist so gut wie gelöst, aber …«, er zwinkerte der Krankenschwester zu, »dazu darf ich leider noch nichts sagen. Schweigepflicht!«
Die vietnamesische Putzfrau öffnete, und als Ann Kathrin und Weller ihre Ausweise vorgezeigt hatten, beteuerte sie, erst ganz kurz bei Herrn Dr. Steinhausen zu arbeiten, und er hätte ihr versprochen, sie bald richtig anzumelden, mit Steuernummer und allem Drum und Dran.
Ann Kathrin hatte nicht geahnt, dass es solche Wohnungen in Leer überhaupt gab. Ein unverbaubarer Blick über den Hafen. Ein offener Kamin. Gut zweihundertfünfzig, wenn nicht sogar dreihundert Quadratmeter Wohnfläche.
Ann Kathrin staunte über das große Gemälde. Es ging von der Decke fast bis zum Boden und war gut drei Meter lang. Es zeigte die wild tobende Nordsee und in der Mitte einen Krabbenkutter. Die Mannschaft konnte einem leidtun. Es sah aus, als würden sie gleich in den Wellen verschwinden.
Das Bild gefiel Ann Kathrin nicht. Sie fand es zu dramatisch, die Nordsee zu lebensfeindlich. Sie wandte sich ab.
Es gab eine geräumige Sauna mit einem fußballgroßen Kristall als meditativem Mittelpunkt. Daneben ein mit modernen Geräten eingerichtetes Fitnessstudio. Laufband. Fahrrad. Latissimusmaschine. Hantelbank.
Wer immer hier zuletzt trainiert hatte, nötigte Weller Respekt ab. Er zählte achtzig Kilo an der Langhantel.
Das hier sah nach einem Innenarchitekten aus, der viel Geld hatte ausgeben dürfen. Edle Möbel. Dicke Teppiche.
»Wer wohnt so?«, fragte Weller.
Ann Kathrin antwortete: »Dr. Wolfgang Steinhausen.«
»Und womit verdient so einer sein Geld?«
»Keine Ahnung. Aber wir werden ihn fragen, Frank. Verlass dich drauf.«
Dang Thanh Bian wusste nicht viel, nur, dass Dr. Steinhausen oft nicht da war. Sie hatte deshalb einen Wohnungsschlüssel. Das heißt, einen richtigen Schlüssel gab es nicht, sondern nur einen Sicherheitscode, den man eintippen musste und der sich ständig änderte.
Nein, eine Handynummer von Herrn Dr. Steinhausen hatte sie nicht.
Ein paar Dinge fielen Ann Kathrin auf. Diese Wohnung war teuer eingerichtet worden, aber es fehlte jeder Hinweis auf den Besitzer. Kein Foto. Kein Computer.
Es gab eine Art Büro mit Schreibtisch und Aktenschränkchen, alles aus Kirschholz. Die Aktenschränke waren verschließbar, aber nicht verschlossen. Darin befanden sich ein paar dekorative, aber leere Aktenordner.
Auf dem Kirschholzschreibtisch hatte zweifellos mal ein Rechner gestanden. In der grünen Lederunterlage hatte er seine genauen Abdrücke hinterlassen. Die Stelle, wo die Maus platziert war, sah abgeschabt aus, aber nicht zu sehr.
Es gab eine Ablage für Schreibgeräte und sogar ein Tintenfässchen, aber keinen Füller.
Ann Kathrin öffnete die Schreibtischschublade.
»Bräuchten wir dazu nicht eigentlich einen Hausdurchsuchungsbeschluss?«, fragte Weller.
»Er benutzt einen Kolbenfüller«, sagte Ann Kathrin, als sei das eine Antwort. »Kennst du noch Menschen, die so etwas tun?«
»Ich kenne nicht mal Leute, die mit Patronenfüller schreiben«, erwiderte Weller und fügte hinzu: »Ubbo vielleicht ausgenommen.«
Ann Kathrin stellte sich Dr. Steinhausen als älteren Herrn vor, auf eine liebenswürdige Weise altmodisch, aber durchaus in der Lage, mit Computern umzugehen.
Die Küche genügte hohen Standards. Ein Induktionsherd. Ein Backofen, groß genug für einen Zwanzig-Kilo-Truthahn, aber keine Mikrowelle.
Weller fand einen begehbaren Humidor, aber darin nur drei leere Cohiba-Kisten und vier Zigarren Montecristo Nr. 5.
Nebenan gab es Regale mit gut fünfzig Flaschen Wein und einem Dutzend Champagnerflaschen.
»Er hat einen Weinkeller in der Wohnung«, staunte Weller. »Aber ich glaube, er hat aufgehört zu rauchen. Der Humidor ist praktisch leer.«
Ann Kathrin fragte die Putzfrau, ob es hier immer so aussähe. Sie nahm das als Kritik. Erst als sie verstanden hatte, dass Ann Kathrin wissen wollte, ob die Aktenordner in dem Schrank immer schon leer waren, zuckte Frau Dang mit den Schultern. In dieses Zimmer habe sie nie gedurft.
Das Wasserbett gefiel Weller und die schwarze Seide darauf auch. Den Spiegel an der Decke fand er bemerkenswert, aber Ann Kathrin fragte ihn: »Fällt dir etwas auf?«
Der Satz: Ja, der Kerl führt ein aktives Sexualleben lag ihm auf der Zunge, aber er wollte dieses Fass jetzt nicht aufmachen und zuckte stattdessen nur mit den Schultern.
Ann Kathrin beantwortete ihre Frage selbst: »Schlafzimmer sind sehr intime Orte, vergleichbar mit Arbeitszimmern. Dort bewahren Menschen sehr persönliche Dinge auf.«
Er fand den Vergleich schräg und passend zugleich und sah sie an. Sie fuhr fort: »Die einen haben ein Bild ihrer Liebsten auf dem Schreibtisch, die anderen neben ihrem Bett. Der hier hat nichts.«
»Vielleicht«, orakelte Weller, »hat der keine Kinder.«
»Eine Freundin hatte er jedenfalls.«
Weller konnte nicht anders, er berührte die schwarze Bettwäsche. »Und die liegt jetzt in der Pathologie.«
Ann Kathrin stand kerzengerade und blickte zum Spiegel hoch. »Ich will alles über diesen Mann wissen. Alles«, sagte sie.
Rupert wusste gleich, dass er sich in einem Künstlerhaus befand. Die vielen Bilder an den Wänden forderten Aufmerksamkeit von ihm. Rupert fühlte sich in so einer Umgebung meist unbegabt und irgendwie außen vor. Er wollte nicht als Kunstbanause dastehen, und er wusste, dass Ann Kathrin einen Bochumer Holzschneider toll fand. Horst-Dieter Gölzenleuchter.
Also spielte Rupert jetzt den Kenner: »Oh, sind das Holzschnitte von Gölzenleuchter?«
Manfred C. Schmidt sah ihn groß an. »Das sind keine Holzschnitte von Gölzenleuchter, sondern Kaltnadelradierungen von meiner Frau.«
»Ach so. Selbstgemacht?«
Schmidt grinste. »Ja, aber nicht von mir. Fast alle sind von meiner Frau. Die hier zum Beispiel.«
»Sie malt kaputte Schuhe?«
»Jeder sieht, was er sehen möchte, Herr Kommissar. Womit kann ich Ihnen dienen?«
Die beiden nahmen in der Küche Platz. Auf dem Tisch lagen zwei Bücher. Der neue Roman von Manfred C. Schmidt und Ubbo Heides Meine ungelösten Fälle.
Schmidt tippte darauf: »Ich hab es mir von Ihrem Chef signieren lassen.«
»Das ist nicht mehr mein Chef«, konterte Rupert und fragte sich, ob Bücher im Wert stiegen, wenn sie signiert waren.
Manfred C. Schmidt bestätigte die Angaben, die Peter Gerdes gemacht hatte, im Detail.
Rupert zeigte ihm jetzt ein Foto des Anglers. »Erkennen Sie den Mann? Ist das der Angreifer gewesen?«
Schmidt schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Außerdem habe ich dem Täter nicht ins Gesicht sehen können. Hätte ich aber gerne …«
»Um ihm eine reinzuhauen?«
»Genau! Aber er war leider zu schnell weg«, ergänzte Manfred C. Schmidt.
»Wenn Sie ihn nicht richtig gesehen haben, wieso schließen Sie dann aus, dass es dieser Mann war?«, wollte Rupert wissen. Er wirkte gereizt.
Schmidt nahm das Foto in die Hand. »Ich schätze, dieser Mann ist fünfzig. Eher sogar Mitte fünfzig. Er macht einen, sagen wir mal, behäbigen Eindruck. Der Täter war von seinen Bewegungen her jünger, höchstens dreißig, und sehr flink. Durchtrainiert.«
Rupert zweifelte die Beobachtung an: »Das haben Sie gesehen? Im Dunkeln? Nachts? Auf die Entfernung?«
»Nein«, erklärte Schmidt, »wir sind ihm doch nachgerannt, und er ist uns entkommen.«
Da Rupert noch wenig überzeugt aussah, sich aber mit links den Rücken massierte und merklich verkrampft dasaß, grinste Schmidt: »Laufen Ihnen normalerweise Typen weg, die gleichaltrig oder älter sind?«
Rupert antwortete nicht, sondern drückte nun auch seine Rechte in den Rücken und bog sich nach hinten.
»Ich meine«, fuhr Schmidt fort, »wenn Sie fit sind und keine Probleme mit den Bandscheiben haben …«
»Ich bin fit!«, stöhnte Rupert.
»Klar. Sieht man.«
Schmidt stand auf, ging zum Schrank und legte eine Tube mit einem Schmerzgel auf den Tisch. »Das hilft«, versprach er.
Rupert lehnte ab.
»Sie folgern also aus der Tatsache, dass der Täter Ihnen entkommen ist, dass er jünger ist als Sie?«
Schmidt lobte Ruperts rasche Auffassungsgabe, und Rupert hörte den ironischen Unterton nicht heraus.
Als Rupert aufstehen wollte, ging plötzlich nichts mehr. Er war stocksteif.
Schmidt half ihm. »So können Sie nicht Auto fahren. Soll ich Sie zur Polizeiinspektion zurückbringen?«
So weit kommt es noch, dachte Rupert. Der Krimiautor fährt den Kripomann im Polizeiwagen spazieren. Das wäre die Geschichte für Holger Bloem. Ich hab keine Lust, mich von dieser schreibenden Bande an der Nase durch den Ring führen zu lassen. Dann kann ich ihm ja gleich meine Ergebnisse vom Baumtest zeigen.
Rupert dachte jetzt an den Trainingsvorschlag, der ihm gemacht worden war, und die Rückenschmerzen wurden gleich noch viel heftiger.
»Wenn ich vielleicht doch etwas von dem Schmerzgel haben könnte …«
Leider kam Rupert nicht mehr selbst an die entscheidenden Stellen, und so wuchtete Schmidt ihn mit dem Oberkörper auf den Tisch, zog Ruperts Hose tiefer, schob das Hemd höher und cremte Rupert ein.
Zur gleichen Zeit kam Schmidts Frau vom Markt zurück. Sie staunte zunächst über den Polizeiwagen vor der Tür, aber was sie dann sah, verschlug ihr für einen Moment die Sprache. Sie schaute ihren Mann nur fragend an, und der sagte: »Der Kommissar verhört mich gerade wegen der Mordsache in Leer.«
»Klar«, antwortete sie. »Das dachte ich mir schon.« Dann schloss sie die Tür.
Sie waren mit dem Tidebus von Sande zum Anleger in Harlesiel gefahren.
Es gab im Schaltergebäude am Hafen ein behindertengerechtes WC. Solche Sachen, denen er früher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, waren plötzlich sehr wichtig für Ubbo Heide geworden.
Er war zigmal durch das Drehkreuz zur Fähre gegangen. Jetzt war er froh, dass auch ein Handzugang für Rollstuhlfahrer existierte.
Ubbo Heide hatte sich fünf Bücher von seinen neuen Krimikollegen eingepackt, die er auf Wangerooge lesen wollte. Den Rest würde er sich in der Inselbuchhandlung besorgen.
Als sie in Harlesiel auf die Fähre warteten, klingelte sein Handy zweimal. Vielleicht wäre er drangegangen, wenn seine Frau Carola ihm keine vorwurfsvollen Blicke zugeworfen hätte. Sie brauchte keine Worte, um ihn zu ermahnen. Ihre Augen sagten: Du bist nicht mehr im Dienst! Das ist nicht dein Fall. Lass die anderen weitermurksen.
Okay, er saß im Rollstuhl. Okay, er war pensioniert. Aber es gab eine Stelle in ihm, da fühlte es sich an, als sei er noch immer der Chef der ostfriesischen Kripo. Dieser Mord an seinem ersten Abend als Schriftsteller oder, wie seine Frau so gern sagte, als Privatier, beschäftigte ihn sehr. Es war wie eine Botschaft an ihn. Eine Frau, die seine Veranstaltung besucht hatte, war kurz danach nur ein paar hundert Meter weiter ermordet worden.
Ubbo Heide hatte trotz vieler Zweifel den Glauben an Gott nie verloren. Jetzt fragte er sich, ob der Mord ein Zeichen des Himmels gewesen war, dass er doch noch nicht aufhören sollte. Dass seine Aufgabe auf Erden noch nicht erfüllt war.
Solche Dinge konnte er mit seiner Frau besprechen. Das wusste er. Sie würde ihn nicht auslachen. Sie sahen gemeinsam aufs Meer. Ein Nieselregen erfrischte den Küstenstreifen.
Carola stand hinter ihm, beide Hände auf den Rollstuhl gestützt. Sie suchten keinen Schutz vor dem Regen, sie reckten ihm ihre Gesichter entgegen. Ubbo teilte Carola seine Gedanken mit.