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Die Welt braucht neue Helden. Willkommen in der Welt von Overwatch! In einer nicht allzu weit entfernten Zukunft in der technologisch fortgeschrittenen Stadt Numbani: Menschen leben in Harmonie mit humanoiden Robotern, auch bekannt als Omnics. Doch dieser Friede wird gestört, als Doomfist und sein Gefolge die Stadt angreifen. Nach dem katastrophalen Terroranschlag auf die Security Bots ist Numbani schutzlos den Feinden ausgeliefert. Die Einzige, die Numbani jetzt noch retten kann, ist Efi Oladele. Das junge Robotics-Genie baut intelligente Roboter seit sie denken kann. Während Doomfist Zwietracht und Chaos zwischen Menschen und Maschinen verbreitet, baut Efi einen intelligenten und mächtigen Robotor: Orisa. Wird es Efi und Orisa gelingen, Numbani zu befreien und Doomfist zu besiegen? Ein actiongeladener Abenteuerroman in der Welt von Overwatch, dem weltweit erfolgreichen Team-Shooter von Blizzard Entertainment. Eine offizielle Zusammenarbeit mit Blizzard Entertainment.
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Seitenzahl: 319
Nicky Drayden
Overwatch – Die Heldin von Numbani
Aus dem Englischen von Kerstin Fricke
FISCHER E-Books
Warmes goldfarbenes Licht fiel durch das Fenster in Efis Werkstatt und erfüllte sie mit einem Hoffnungsschimmer … Sie hoffte, dass ihr neuer Roboter diesmal funktionierte und sie nicht vor ihren Freunden blamierte – wie schon so oft.
Efi beobachtete die sechsbeinige Spinne, die über die hölzerne Tischplatte rannte. Sie bestand aus pechschwarzem Metall und verfügte über die fortschrittlichste künstliche Intelligenz, die sich Efi mit ihrem Einfallsreichtum und Taschengeld leisten konnte. Sie hielt den Atem an, als sich der Roboter der Tischkante näherte. Er würde die Welt revolutionieren, davon war Efi überzeugt, aber im Augenblick stand er vor einem großen Problem.
Plopp.
Der Roboter stürzte von der Tischkante und kam auf dem Boden auf. Dann stolperte er wie benommen herum und schwankte mal hierhin und mal dorthin. Endlich machte es den Anschein, als hätte er sich wieder gefangen, und er tat einige zuversichtliche Schritte … nur um direkt gegen den nicht verschnürten Turnschuh von Efis bestem Freund Naade zu prallen.
Naade runzelte die Stirn und hob den Roboter hoch, der wie eine aufgeregte Krabbe mit den Beinen in der Luft herumzappelte. »Ist nicht wirklich clever, was?«, fragte er.
»Noch nicht«, antwortete Efi und nahm ihm den Roboter vorsichtig ab. »Aber bald, und dann werden sich alle darum reißen.«
Die Freeware zur Verarbeitung der Raumwahrnehmung, die sie heruntergeladen hatte, wies einige erhebliche Bugs auf. Selbstverständlich konnte sie diese problemlos beheben, aber das würde einige Zeit dauern, und schon jetzt warteten einhundertfünfzig Kunden auf ihre Bestellungen. In der Ecke ihrer Werkstatt pingte ihr Laptop und verkündete einen weiteren Verkauf. Efi zuckte zusammen.
Jetzt sind es schon einhunderteinundfünfzig Kunden …
Nur um das klarzustellen: Efi war wirklich dankbar, dass ihr Roboterprototyp auf Hollagram derart großes Interesse erregte: 1023 Likes, 850 Claps und 332 Shares. Aber irgendwann zwischen der ersten Bestellannahme und der Herstellung der ersten Einheit war ihr bewusstgeworden, dass ihr die Sache über den Kopf wuchs. Wie immer hatte Efi große Träume und nicht genug Hände, um diese zu schaffen. Sie hatte gehofft, dass Naade und Hassana – die seit dem unglückseligen Zwischenfall auf der Wissenschaftsmesse vor ein paar Jahren ihre besten Freunde waren – ihr freiwillig unter die Arme greifen würden, sobald sie erkannten, wie revolutionär der Roboter sein würde, doch bisher verlief die Demonstration nicht gerade gut.
»Ich möchte auf jeden Fall einen«, sagte Hassana mit breitem Grinsen im Gesicht. »Ein sechsbeiniger Roboter, der richtig gut von Tischen fallen kann, wäre wirklich toll.«
»Ha, ha, sehr witzig«, erwiderte Efi, stellte den Roboter zurück auf die Werkbank und hielt ihn mit den Händen von der Kante fern. Der Roboter mochte unbeholfen sein, doch sie war felsenfest davon überzeugt, ihre Freunde mit dem, was sie ihnen als Nächstes zeigen wollte, beeindrucken zu können. Efi drückte einen silbernen Knopf auf dem Rücken der Spinne, und eine lebensgroße holografische Projektion von Naade im Schneidersitz flackerte über der Tischplatte auf. Sie sah den echten Naade blinzelnd an.
»Wow!«, rief Naade und betrachtete das Hologramm von allen Seiten – von den nicht zueinanderpassenden Socken, die unter den Hosenbeinen der Schuluniform hervorlugten, bis hin zu der Narbe auf der Stirn, die er von dem verlorenen Kampf gegen das Parkverbotsschild vor dem Kọfị Aromo zurückbehalten hatte. »Du hast recht. So einen Roboter wird jeder haben wollen.«
»Vergiss es. Ich will keinen«, widersprach Hassana. »Ein Naade reicht mir völlig. Wenn ich allerdings den einen gegen den anderen austauschen könnte …«
Naade streckte Hassana die Zunge raus, aber sie tat so, als würde sie es nicht bemerken, fuhr stattdessen mit einer Hand durch die Projektion und ließ die Finger hindurchgleiten, als würde es sich um holografische Fingerfarbe handeln. Das Bild löste sich an den Stellen auf, an denen sie es berührte, und danach setzten sich die Pixel wieder zusammen. Das Naade-Hologramm drehte den Kopf und lächelte sie an. Hassana erschauderte.
»Nichts und niemand wird ausgetauscht«, teilte Efi ihren besten Freunden mit. »Und ich baue natürlich keine Armee aus Naades. Der Roboter heißt Junie, was die Kurzform von ›Juniorassistent‹ ist, und er soll in gesellschaftlichen und beruflichen Situationen als Double zum Einsatz kommen. Wenn man beispielsweise nicht zu einer Besprechung erscheinen kann, schickt man seinen Junie, der Videoaufnahmen macht und alles aufzeichnet.«
»Das heißt, ich könnte in Geschichte schlafen, und er würde für mich mitschreiben?«, fragte Naade mit weit aufgerissenen Augen.
Efi runzelte die Stirn. Das war in der Tat möglich, aber Naade schien dieser Gedanke viel zu gut zu gefallen. »Das soll dir nicht dabei helfen, im Unterricht nicht aufpassen zu müssen«, erklärte Efi kopfschüttelnd. »Bitte sag meinem Freund, warum es wichtig ist, immer gut aufzupassen, Naade-Junior.«
Das Holobild nickte und flackerte, als es die Audioaufnahmen des Stimmtests abrief, die Efi zuvor aufgenommen hatte. Dann machte es den Mund auf, um etwas zu sagen, aber es kam nur ein verwirrender Mix aus Englisch, Yoruba, Kauderwelsch, Französisch und möglicherweise Kantonesisch heraus, und das Hologramm wedelte dabei wild mit den Armen.
»Hör auf damit, Naade!«, befahl Efi verzweifelt, aber sobald sie sich ein wenig beruhigt hatte, fiel ihr ein, dass sie mit einer KI und nicht mit ihrem Freund sprach. »Prozess anhalten, Naade-Junior!«
Der Junie beruhigte sich lautlos, ging flackernd aus und hinterließ nichts als einige Staubkörnchen, die in der Luft tanzten.
»Oh ja, das ist eindeutig eine Verbesserung zu Naades üblichem Geschrei«, stellte Hassana fest und lachte.
Naade jedoch entging nicht, wie sehr sich Efi ärgerte, er legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich weiß nicht viel über das Programmieren von Robotern oder über KIs, aber ich weiß, dass keiner beim ersten Versuch alles richtig macht«, sagte er leise.
»Das weiß ich auch.« Efi schniefte. Sie hatte in einem Alter mit dem Bau von Robotern angefangen, in dem andere Kinder noch mit Buchstabenwürfeln spielen. Solche Bugs waren völlig normal. Sie rechnete immer mit einem oder zwei Fehlern. Was sie jedoch nicht erwartet hatte, war diese absolute Katastrophe. »Es ist nur so, dass ich schon so viele Bestellungen habe, und alle freuen sich darauf, ihren Junie zu bekommen. Ich habe meine ganze Freizeit in der Werkstatt verbracht und versucht, diesen Roboter zu perfektionieren.«
»Wie können wir dir helfen?«, fragte Hassana und zog sich einen Metallstuhl vor die Werkbank. »Du weißt doch, dass du dich auf uns verlassen kannst.«
Efis Laune besserte sich schlagartig. Sie konnte auf ihre Freunde zählen. Man überstand keine drei Stunden zusammen auf dem Boden der Schulbücherei aufgrund eines Gravitonstrahls mit Fehlfunktion, ohne Freunde fürs Leben zu werden. »Okay. Wenn du dich um die Montage der Beine am Chassis kümmern könntest, wäre das super.« Efi deutete auf zwei Kisten auf der Werkbank, die voller Roboterteile waren. »Du musst ein bisschen löten und die Schaltkreise anpassen, aber ich habe etwas, das dir dabei helfen kann.«
Dann drehte sich Efi zu dem riesigen holografischen Monitor an der Wand um und rief ein Video auf.
»Oh! Ein Film? Spielt Kam Kalu mit?«, fragte Naade und versuchte, die machohafte, lässige Art eines seiner Lieblings-Nollywood-Actionhelden nachzumachen. Was in die Hose ging. Und zwar gewaltig.
»Eigentlich ist es eher eine Art Anleitungsvideo, in dem die Farben und Enden der Kabel beschrieben werden und wie man die Kalibrierung am effizientesten …« Efi schenkte ihren Freunden ein beschämtes Lächeln. »Vermutlich wäre es einfacher, wenn ihr euch das Video einfach anseht. Macht es euch auch wirklich nichts aus, mir zu helfen?«
»Verbringt nicht jeder seinen Freitagabend mit dem Bau von Robotern?«, erwiderte Naade und hielt sich ein gegabeltes Kabel wie einen gezwirbelten Schnurrbart unter die Nase.
»Genau. Wie schwer kann das schon sein?«, meinte Hassana. Dann deutete sie mit einer Lötpistole auf einen Haufen Servomotoren und machte »piu, piu, piu«.
»Ähm …« Efi zuckte zusammen. »Du hältst sie falsch rum.« Sie drehte die Lötpistole und legte den Schalter um, woraufhin ein blassblaues Licht erschien.
Naade musste so heftig lachen, dass er fast vom Stuhl fiel. »Du hättest dir beinahe die Augenbrauen zusammengelötet«, sagte er zu Hassana. »Ha, stell dir nur vor, du hättest Montag in der Schule allen erzählen müssen, dass du den Isaac gemacht hast!«
»Ich hab eben einen Fehler gemacht«, erwiderte Hassana. »Wieso vergleichst du mich deswegen mit Isaac?«
»Weil er sich die Handfläche an die Stirn geklebt hat und so rumlaufen musste! Das war echt legendär!«
Efi hielt das Video an. »Wovon redet ihr beide da eigentlich?«, fragte sie.
»Ach, das war gar nichts«, antwortete Hassana. »Nur ein kleiner Zwischenfall heute im Wissenschaftslabor.«
»Ein kleiner Zwischenfall?«, wiederholte Naade und wedelte wild mit den Armen herum, so wie es Naade-Junior zuvor auch getan hatte. Zumindest diesen Teil hatte Efi richtig hinbekommen. »Das war das unglaublichste, dämlichste, lächerlichste, großartigste Wissenschaftslabordesaster aller …« Naade schnappte nach Luft, weil Hassana ihm einen Ellbogen in die Rippen bohrte. Sie warf ihm einen ernsten Blick zu, und er setzte sich gerade hin. »Ach, das war gar nichts. Du hast überhaupt nichts verpasst.«
Efi biss sich auf die Unterlippe. Wieder einmal hatte sie einen krassen Schul-Insiderwitz verpasst. So sah ihr Leben eben aus. Sie hatte schon gleich nach der Einschulung den Mathe- und Wissenschaftsunterricht der höheren Klassen besucht und war noch während des ersten Grundschuljahrs in den Unterricht für die Mittelstufe versetzt worden. Am Ende des darauffolgenden Jahrs hatte sie sich selbst Algebra und Geometrie beigebracht. Inzwischen besuchte sie nach dem Mittagessen Oberstufenkurse, die ihr großen Spaß machten – wie die Differenzial- und Integralrechnung und Physik für das internationale Abitur –, allerdings verpasste sie aus diesem Grund viel von dem, was Naade und Hassana in der Schule erlebten. Und in der letzten Zeit schien es immer schlimmer zu werden.
»Erzählt ihr mir mehr darüber?«, flehte Efi. »Bitte.«
»Du hättest es sehen sollen, Efi«, sagte Naade. »Entschuldige, dass ich überhaupt davon angefangen habe. Nächstes Mal passe ich besser auf.«
»Nein, ich möchte es ja hören. Das muss wirklich lustig gewesen sein!« Efi setzte ein möglichst breites Lächeln auf. Sie wollte nicht, dass ihre Freunde Mitleid mit ihr hatten. Sie wollte dazugehören.
»Okay …« Naade gab widerstrebend nach. »Tja, du weißt ja, wie Isaac ständig versucht, alle zu beeindrucken, oder?«
Efi lachte laut auf. »Er will auf jeden Fall immer im Mittelpunkt stehen.«
Naade zog eine Augenbraue hoch. »Das ist eigentlich eher traurig als witzig. Er versucht es auf Teufel komm raus, meint es jedoch nur gut. Jedenfalls hat Isaac für unsere Diskussion über halbdurchlässige Objekte heute eine für militärische Zwecke zugelassene Barriere mit ins Wissenschaftslabor gebracht. Ich habe keine Ahnung, woher er diese fortschrittliche Technologie hatte, aber die Anleitung war offenbar in Omnicode geschrieben, und Isaac hat behauptet, er könnte das lesen.«
Efi musste abermals lachen, da sie davon ausging, dass dies der witzige Teil der Geschichte war. Ein nicht verbesserter Mensch, der etwas derart Komplexes wie Omnicode lesen konnte? Efi hatte die geschriebene Sprache der Omnics fast drei Jahre lang studiert und konnte nur hier und da einzelne Worte verstehen. Und wenn sie Omnicode nicht lesen konnte, dann war Isaac ganz bestimmt nicht dazu in der Lage. Efi ließ ihr Lachen in einem gekünstelten Hüsteln ausklingen, aber Naade starrte sie trotzdem mit leerem Blick an. Rasch setzte sie eine nachdenkliche Miene auf und nickte. »Okay, red weiter.«
Naade fuhr fort. »Jedenfalls hat Isaac letzten Endes die Barriere um seinen Kopf und eine Hand aktiviert, wodurch es so aussah, als würden sie sich in einem Fischglas befinden. Zum Glück drückte er die Nase zu einer Seite, so dass noch genug Luft reinkam …«
Efi biss sich auf die Unterlippe, um nicht erneut loszulachen. War das die lustige Stelle? Hatte Isaac schon ›den Isaac gemacht‹? Sie wartete so lange mit ihrer Reaktion, dass Naade schließlich die Achseln zuckte.
»Man muss es einfach gesehen haben«, erklärte er schließlich. »Na los, gucken wir uns dieses Anleitungsvideo an. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Kam Kalu doch mitspielt. Er könnte jede Rolle übernehmen.«
»Den Zahn kann ich dir ziehen: Er spielt nicht mit. Aber ich kann im Hintergrund ein bisschen Musik laufen lassen, während wir arbeiten. ›Wir bewegen uns im Einklang‹?«, schlug Efi vor und tanzte bereits im Takt ihres Lieblingslieds von Lúcio, um das Gefühl, etwas verpasst zu haben, wieder abzuschütteln.
»Super Idee!«, rief Hassana begeistert.
Efi und Hassana wetteiferten immerzu darum, wer von ihnen der größere Lúcio-Fan war. Dabei versuchten sie vor allem, einander darin zu übertreffen, jedes noch so kleine Detail und sämtliche Informationen über ihren Lieblings-Aktivisten/-DJ/-Helden auswendig zu lernen. Beispielsweise wusste Efi, dass er Skates in Größe zweiundvierzig trug. Sie wusste, dass er mit seinem Schallverstärker ein Ziel in bis zu acht Metern Entfernung treffen konnte. Und sie kannte sogar den Song, den Lúcio beim Volksaufstand gespielt hatte, mit dem die gewalttätige Vishkar Corporation aus der ersten Favela vertrieben worden war – »Rejuvenescência«, ein Lied der Heilung und des Wachsens. Efi war schon immer der Ansicht gewesen, dieser Song wäre überaus passend, denn die Wunden, die die Corporation in der Gemeinde hinterlassen hatte, waren zwar tief und zahlreich, doch Lúcio hatte gewusst, dass sie mit der Zeit heilen würden.
Hassana schien hingegen eher an banaleren Dingen interessiert zu sein … wie an der Tiefe von Lúcios Bauchnabel, der Zahnseide, die er benutzte, und was er am liebsten aß: pão de queijo – kleine runde Käsebrötchen, die Hassana gern backte, wenn sich der Tag jährte, an dem sie Lúcios Musik zum ersten Mal gehört hatte. Naade war zwar ein genauso großer Fan, doch er achtete darauf, sich nach Möglichkeit aus dem erbitterten Wettkampf der beiden Freundinnen herauszuhalten.
Naade und Hassana hatten sich das ganze Anleitungsvideo angesehen und machten sich an die Arbeit. Da die beiden schnell lernten, war Efi zuversichtlich, dass sie wenigstens zwei Dutzend Junies zusammenbauen würden, wodurch sie Zeit bekam, die Fehler im Code auszumerzen. Sie vertiefte sich in ihr Programmier-Interface, hatte eine Schüssel mit Lúcio-Oh’s-Cornflakes bereitstehen und ließ sich vom stetigen Takt der Musik in eine Art Trance versetzen. Zeile um Zeile korrigierte sie die Logiklöcher und ließ dann die Junie-Bewegungssimulatoren auf ihrem Computer durchlaufen.
Die Prozessoren heulten so laut auf, dass das schrille Jaulen sogar die Musik übertönte. Efis Computer hätte längst ein Upgrade bekommen müssen, aber sie konnte es sich momentan nicht leisten, dafür Zeit oder Geld zu investieren, wo es doch so viel anderes zu tun gab. Daher wartete sie geduldig, während die Simulationen langsam durchliefen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber endlich huschten kleine Gittermodelle des Roboters über den Bildschirm und wichen Hindernissen aus. Den simulierten Spinnen gelang es, die Tischkanten zu umgehen. Nun war es Zeit, die Firmware des Junies auf den neuesten Stand zu bringen und herauszufinden, ob in der wirklichen Welt auch alles funktionierte.
Efi blickte von ihrem Monitor auf und stellte fest, dass es im Raum viel dunkler geworden war. Inzwischen war es bereits Abend. Auf der Werkbank standen gerade mal vier Junies unter einer umgedrehten Kiste. Naade saß an seinem Arbeitsplatz und hatte vor sich einen umgedrehten Roboter in einer Schraubzwinge befestigt. Er tippte immer wieder gegen die Servos, die die hydraulischen Beine steuerten, damit sie sich im Takt des Lieds bewegten, das gerade lief.
»Naade!«, schimpfte Efi. »Bitte versuch, dich zu konzentrieren. Mir ist klar, dass das nicht gerade die aufregendste Art ist, das Wochenende zu verbringen, aber unsere Arbeit ist wichtig.«
»Entschuldige, Boss«, erwiderte er und flüsterte Hassana etwas zu, das Efi nicht verstehen konnte, woraufhin die beiden abermals lachten.
Während der Arbeit wurde Efis Lächeln immer verkrampfter, doch sie zwang sich, es weiter aufrechtzuerhalten und sich ihre wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen. Zwar waren Efi, Hassana und Naade beste Freunde, aber sie hatte stets das Gefühl gehabt, dass Naade und Hassana Efis beste Freunde waren, einander aber nur notgedrungen ertrugen. Normalerweise neckten sie einander und machten sich über den anderen lustig, und in den schlimmsten Fällen hatten sie sich übelst gestritten.
Aber in letzter Zeit schien die Distanz zwischen ihnen zu schwinden, und jeder Insiderwitz, den Efi nicht verstand, bewirkte, dass sie sich zunehmend einsamer fühlte. Zwischen den Welten gefangen. Die Teenager in ihren Highschool-Kursen hatten eigene Insiderwitze, die komplett an ihr vorbeigingen und die sie nicht einmal im Ansatz begreifen konnte.
»Efi?« Die Stimme ihrer Mutter drang durch die Werkstatttür herein. Dann spähte Efis Mutter auch schon um die Ecke und entdeckte Naade und Hassana. »Ach herrje. Hallo! Ich wusste nicht, dass ihr alle hier seid.«
»Guten Abend, Tante Fola«, sagten Hassana und Naade gleichzeitig und im selben Singsang, als hätten sie das unzählige Male geübt.
»Efi lässt uns schuften«, erklärte Naade und hob einen halb zusammengebauten Junie in die Luft.
»Ach ja?«, fragte ihre Mutter. Sie trug eine fröhliche hellblaue Buba – eine lockere Bluse mit weiten Ärmeln – und dazu Halsketten mit hellrosa Perlen. Efis Mutter mochte leuchtende Farben, und sie hatte die runden Wangen und gütigen Augen, die man durch viele Jahre sozialer Arbeit innerhalb der Gemeinde bekam. Auf diese Arbeit war Efi sehr stolz, auch wenn es bedeutete, dass ihre Mutter ständig versuchte, Efi bei Problemen zu helfen, die diese eigentlich gar nicht lösen wollte. »Efi, Schatz. Können wir uns mal kurz unterhalten?«
Efi sackte in sich zusammen. Gleich würde sie wieder was zu hören bekommen, aber sie folgte ihrer Mutter trotzdem gehorsam in den Flur.
»Als ich dich gebeten habe, mehr mit deinen Freunden zu unternehmen, hatte ich eigentlich etwas anderes im Sinn.«
»Sie haben sich bereitwillig angeboten!«, verteidigte sich Efi.
»Das weiß ich. Sie sind gute Freunde. Aber in deinem Leben kann sich nicht alles um Roboter drehen. Warum geht ihr nicht raus und unternehmt etwas Tolles? Geht Gokart fahren. Spielt ein paar Videospiele. Oder Minigolf!«
»Minigolf, Mama?«
»Ach, was weiß ich denn, wie ihr Kids euch heutzutage amüsiert!«
Da fühlte sich Efi sogar noch schlechter. Sie hatte nämlich auch keine Ahnung, wie man sich amüsierte. Wenn sie nicht in ihrer Werkstatt war, saß sie über ihrem Lernstoff oder in der Schule. Auch wenn sie es nur ungern zugab, hatte sie nicht besonders viel Zeit für Spaß … jedenfalls nicht für das, was man im traditionellen Sinne als Spaß bezeichnete. Efi machte ihre Arbeit Spaß. Sie liebte es, Dinge zu erfinden, auch wenn es für die meisten Leute – darunter auch ihre Mutter – so aussah, als würde sie sich die Finger wund arbeiten.
Aus Efis Werkstatt war erneut Gelächter zu hören, und Efis Miene verfinsterte sich noch mehr.
»Was hast du, Schatz?«, erkundigte sich ihre Mutter. »Du scheinst besorgt.«
Efi seufzte. »Es ist wegen Naade und Hassana.«
»Haben sie sich wieder gestritten?«
»Nein. Es ist schlimmer. Sie kommen gut miteinander aus.«
»Aber das ist doch super, oder etwa nicht? Normalerweise gehen sie sich doch ständig an die Gurgel.«
Efi zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich wünsche ich mir einfach, dass alles wieder so wäre wie früher, als wir noch dieselben Kurse besucht haben.«
»Beziehungen können manchmal sehr kompliziert werden, aber das bedeutet nur, dass du reifer wirst. Du wirst erwachsen …« Sie zog das Wort »erwachsen« in die Länge, als wäre sie bei einer feinen Teegesellschaft. Als wäre das ein kleiner Witz und als ginge es nicht etwa darum, dass Efis Sozialleben in sich zusammenfiel.
Efi wusste, dass sie nicht zurück in die einfachen Mathekurse konnte, aber möglicherweise gelang es ihr ja, ihre Freunde auf ihr Level zu bringen. Sie konnte den beiden einen Roboter als Tutor bauen, der darauf programmiert war, ihnen in jeder wachen Minute etwas beizubringen. Vielleicht schaffte sie es ja auch, sie dazu zu überreden, sich kybernetische Gehirn-Upgrades anzuschaffen – so wie Sojourn, eine von Efis Lieblingsheldinnen aus den alten Overwatch-Cartoons, die auf dem wahren Leben des ehemaligen Overwatch-Captains basierten.
»Schon gut, Mama. Ich werde selbst eine Lösung finden«, versicherte Efi ihrer Mutter.
»Davon bin ich überzeugt. Aber vergiss nicht, dass die Logik dir in dieser Sache nur bedingt weiterhelfen kann. Naade und Hassana sind echte Menschen mit echten Emotionen und echten Bedürfnissen.«
»Ja, Mama«, erwiderte Efi. Sie wandte sich um und erblickte die ganzen Junie-Teile, die sich auf dem Tisch türmten, und da hatte sie eine Idee, wie sie den ganzen Tag über mit ihren Freunden in Kontakt bleiben konnte, ohne dass sich alle bionische Neuronen ins Gehirn einsetzen lassen mussten.
Ihre Mutter schnaufte, sie spürte vermutlich, dass Efi längst wieder in ihrer eigenen Gedankenwelt versunken war. »Und entgegen der allgemeinen Auffassung kann man auch nicht seine ganzen Probleme mit Robotern lösen.«
»Ja, Mama«, wiederholte Efi laut, dachte dabei aber: Wart’s nur ab.
Als Efi zu ihren Freunden in die Werkstatt kam, war sie vor Aufregung ganz zappelig. Sie holte tief Luft und nahm die positive Energie, die an ihrem Lieblingsort herrschte, in sich auf. Dieser Raum hatte ihr schon als Kleinkind als Spielzimmer gedient. Damals war er in den Primärfarben gestrichen und voller plüschiger Cartoonmonster mit großen, freundlichen Augen gewesen, doch im Laufe der Zeit hatte sie ihre Spielzeuge auseinandergenommen und ihre sprechenden Puppen und leuchtenden Elektronikgeräte in Haufen aus Schaltkreisen, Antriebselementen und Sensoren zerlegt. Und sobald sie herausgefunden hatte, wie alles funktionierte, hatte sie damit angefangen, eigene Erfindungen zu bauen. Anfangs waren Efis Eltern nicht gerade erfreut darüber gewesen, weil all diese teuren Spielzeuge viel zu früh dahingeschieden waren, bis sie ihrer neugierigen Tochter eines Tages einen Roboterbaukasten schenkten, der alles ins Rollen brachte.
»Na gut«, meinte Efi zu ihren Freunden. »Versuchen wir’s noch mal.« Ihr Optimismus war ansteckend, und kurz darauf standen sie um den Werktisch und jubelten dem kleinen Junie zu, der Zentimeter um Zentimeter auf den Rand zumarschierte und erst im letzten Augenblick stehen blieb, sich umdrehte und an der Tischkante entlanglief. Das war nur ein kleiner Erfolg, aber Efi platzte beinahe vor Stolz, und nachdem sie noch einige weitere Tests durchgeführt hatte, lud sie die neue Firmware in alle bereits zusammengebauten Roboter hoch. Hassana und Naade verpackten sie in Kisten, damit sie verschickt werden konnten.
»Ein Dutzend an einem Tag«, stellte Naade mit einer Geste zu dem Stapel Junie-Schachteln fest. »Zwölf Kunden, die bald sehr zufrieden sein werden.«
»Wohl eher zehn«, korrigierte Efi ihn.
Hassana blickte ruckartig auf. »Was? Wurden Bestellungen storniert?«
»Nein«, antwortete Efi und nahm zwei Schachteln vom Stapel. »Aber ich möchte, dass ihr beide einen bekommt und mit zur Schule nehmt.«
»Super!« Naade reckte eine Faust in die Luft. »Jetzt muss ich nur noch ein kleines Kissen in meinem Rucksack verstecken und …«
»Im Unterricht wird nicht geschlafen, Naade«, fiel Efi ihm ins Wort. »Ich hatte mir das eher so gedacht, dass die Roboter euch folgen, sehen, was ihr seht … und mir Bericht erstatten. Auf diese Weise verpasse ich wenigstens nichts mehr, wenn ich nach dem Mittagessen zu meinen Highschool-Kursen gehe.«
Hassanas Lächeln verblasste langsam, und Naade schüttelte den Kopf und erinnerte sich wahrscheinlich an jenen schicksalhaften Tag in der Schulbücherei, an dem Efi um zwei Freiwillige gebeten hatte, die ihr bei der Vorführung ihres Projekts für die Wissenschaftsmesse halfen. Da übertreibt man es ein Mal ein bisschen beim Verstärken des Gravitationsfelds und bekommt das bis in alle Ewigkeit vorgehalten, dachte Efi. Seitdem waren ihr Dutzende von Erfindungen gelungen, und niemand war mehr verletzt worden.
»Bitte!«, flehte Efi. »Probiert es doch einfach aus. Seht es als Testlauf. Vielleicht lassen sich so auch die Verkaufszahlen steigern! Was kann dabei denn schon schiefgehen?«
Automatisch generiert von TranscriptMinder XL Version 5.317
Junie-Backer-Update #4
Ich habe jede freie Minute in der Werkstatt verbracht und kann nun hocherfreut bekannt geben, dass HEUTE die ersten Junies verschickt werden!!! Vielen Dank für die Geduld. Und die Unterstützung. Ohne euch hätte ich das nie geschafft.
Ruft eure Nachrichten ab, um zu erfahren, wann euer Juniorassistent bei euch eintrifft, und vergesst nicht, Holovids von euch und eurem neuen Roboter in den Kommentaren zu posten!
REAKTIONEN
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KOMMENTARE (23)
BackwardsSalamander Super! Kann’s kaum erwarten!
RealDealDuckBill Ich wünschte, meiner wäre schon da!
NaadeForPrez Ich hab meinen schon! Wenn ihr nächste Woche jemanden in Geschichte schnarchen hört, bin ich das!
Weiterlesen …
Miss Okorie kritzelte energisch auf dem holografischen Monitor im Klassenzimmer herum, und die mathematische Formel löste sich Zahl um Buchstabe um Zeichen vom Bildschirm und schwebte im Abstand von fünf Zentimetern davor. Auf Efi wirkte die Lehrerin wie eine Art DJ, wie sie da vor der Klasse herumfuchtelte, nur dass es hier um Gleichungen und nicht um Beats ging. Sie bearbeitete das Problem, bewegte sich durch Koordinaten, Konstanten und Ableitungen, während Tangentenmodelle in 3-D neben ihr wie Backuptänzerinnen herumwirbelten. Im Normalfall hätte Efi eifrig genickt und die Gleichung auf dem Tablet gelöst, das vor ihr auf dem Tisch lag, aber heute konnte sie sich einfach nicht konzentrieren.
Efi behielt den mit »Live-Feed« beschrifteten Button im Auge, der auf ihrem Bildschirm blinkte. Sie war mit Hassanas und Naades Junie-Robotern verbunden, hatte es bisher jedoch vermieden, den Feed aufzurufen, weil Miss Okorie zwar eine ganz angenehme Lehrerin war, man es sich mit ihr aber nicht verscherzen durfte. Dennoch war die Versuchung groß, und Efi fragte sich die ganze Zeit, was ihre Freunde wohl in diesem Augenblick machten. Hatte im Wissenschaftslabor heute schon jemand ›den Isaac gemacht‹?
Vielleicht sollte sie mal einen kurzen Blick riskieren.
Sie drückte auf den Knopf und hatte im nächsten Moment Naade auf dem Bildschirm, der leise beatboxend durch einen Flur ging. Dank der Kameras des Junies hatte sie einen 360-Grad-Blickwinkel, so dass Efi alles mitbekommen würde, sobald etwas geschah. Naade bog nach links ab, kam am Kunstraum vorbei, und Efi konnte einen Blick ins Innere werfen. In diesem Sekundenbruchteil glaubte sie, gesehen zu haben, wie Stevie Igwe Sibe Oye eine Notiz zuschob.
Auf Papier. Was immer darauf geschrieben stand, musste so wichtig, derart privat sein, dass er es nicht riskieren wollte, von den digitalen Filtern der Schule abgefangen zu werden. An sich war das schon skandalös genug, doch dazu kam noch die allseits bekannte Tatsache, dass sich Stevie und Sibe auf den Tod nicht leiden konnten. Sibe war die Präsidentin des Schulrats und Stevie der Leiter des Debattierklubs und zugleich allzeit darauf bedacht, jedem zu jeder sich bietenden Gelegenheit Kontra zu geben. Stevie hatte Sibe während ihres ganzen Wahlkampfs genervt und ihr vor allem wegen ihrer Vorschläge, einen besonderen Dankbarkeitstag für die Omnic-Angestellten der Schule einzuführen, in den Ohren gelegen. Er konnte dieser Idee nichts abgewinnen und behauptete, die Omnics wären schon jetzt eine Gefahr, man könne ihnen nicht trauen, und an der Schule könnte jederzeit eine Omnic-Krise im Miniaturformat ausbrechen.
Efi rümpfte die Nase. Sie mochte Stevie nicht besonders, und es gab in Numbani glücklicherweise nicht viele Menschen, die so dachten wie er. Die Nachricht auf Papier hatte allerdings ihr Interesse geweckt, falls es sich bei dem, was sie gesehen hatte, tatsächlich um so etwas handelte. Sie hielt das Bild an und zoomte hinein, aber es war zu verschwommen, um das Objekt besser erkennen zu können.
Augenblick mal. Hassana hatte doch gerade Kunstunterricht. Efi wechselte den Feed, spulte dreißig Sekunden zurück und sah, wie Hassana ihre Leinwand bemalte. Der Junie musste auf ihrer Schulter sitzen. Sie schuf ein Selbstporträt mit klaren Linien und satten Farben. Hassana besaß ein gutes Auge für Details, und Efi hatte keinen Zweifel daran, dass jeder einzelne der vielen Zöpfe ihrer Freundin, die sie oben auf dem Kopf zu einem ordentlichen Knoten hochgebunden hatte, auf dem Bild zu finden sein würde.
Efi wechselte den Feed, um den hinteren Teil des Klassenzimmers sehen zu können, und erhaschte das verschwommene Bild von Naade, der auf dem Flur vorbeiging. In diesem Augenblick sah Efi das, was sie bisher für ein Produkt ihrer Fantasie gehalten hatte.
Eine Nachricht wurde weitergereicht. Und die beiden schenkten sich ein verstohlenes Lächeln.
Das war ein Knaller.
Ein unfassbarer Hammer.
Es war …
Eine Nachricht von Efis Cousin und Klassenkamerad Dayo erschien auf ihrem Bildschirm:
Die Lehrerin kommt.
Rasch schloss Efi den Feed, rief die Gleichung wieder auf und kritzelte wild drauflos, um sie zu lösen. Auf einmal war Efi in eine Duftwolke von Miss Okories schwerem Parfüm gehüllt und konnte dank ihres gesenkten Kopfs den Rocksaum der Lehrerin sehen, die neben Efis Tisch stehen blieb.
»Efi«, sagte Miss Okorie, »wenn du nicht zu beschäftigt bist, könntest du der Klasse dann bitte zeigen, wie man die Gleichung nach y auflöst?«
Efi räusperte sich. »Ja, Ma.« Sie stand auf und ging an Dayos Tisch vorbei, der ihr einen besorgten Blick zuwarf. Dabei raunte sie ihm lautlos ein Danke zu, weil ihr Cousin sie mit der Nachricht gewarnt hatte. Er nickte und schaute schnell wieder auf sein Tablet, bevor sich Miss Okories Zorn auch noch gegen ihn richten konnte.
Dann stand Efi vor der Klasse und legte sich einen Finger an die Schläfe, als müsste sie scharf nachdenken. Sie wusste, wie sie die Lösung finden konnte. Tatsächlich war sie im Lehrstoff schon drei Kapitel weiter, aber sie hatte rasch gelernt, dass Teenager, und zwar nicht einmal die klugen Teenager in ihrem Mathekurs, es nicht leiden konnten, wenn sie von einer fast Zwölfjährigen vorgeführt wurden. Das bedeutete jedoch noch lange nicht, dass sie unehrlich war … Sie tat nie so, als würde sie die Antwort nicht kennen, sondern gab vielmehr vor, erst überlegen zu müssen. Schließlich machte sie die »Aha!«-Geste, die bedeutete, dass sie es herausgefunden hatte, und löste die Gleichung. Als sie damit fertig war, wischte sie sich die Hände ab und wollte schon auf ihren Platz zurückkehren, doch anstelle des »Sehr gut, Efi«, das sie von ihrer Lehrerin gewohnt war, sagte Miss Okorie: »Nah dran, Efi. Könnte ihr jemand zeigen, wo sie einen Fehler gemacht hat?«
Efi stand wie erstarrt da, während die Lehrerin Dayo aufrief. Er griff nach seinem Gehstock und ging nach vorn, um das untere Viertel von Efis Lösung wegzuwischen. Die Pixel lösten sich auf und hinterließen eine leere Fläche. Er löste das Problem, und Efi erkannte ihren Fehler sofort. Wie hatte sie nur derart schlampig sein können?
Aber sie kannte den Grund dafür. Anstatt sich auf den Lehrstoff zu konzentrieren, war sie die Hälfte der Zeit mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Hatte sie Naade nicht vor genau dieser Nachlässigkeit gewarnt? Efi musste sich auf das konzentrieren, was hier vor sich ging, anstatt sich den Kopf über das zu zerbrechen, was ihre Freunde gerade trieben.
»Großartig«, sagte Miss Okorie in dem Moment, in dem die Glocke das Stundenende verkündete. »Bitte macht für morgen die Aufgaben vierunddreißig A, B und C. Und vergesst nicht, den Lösungsweg genau aufzuschreiben!«
Efi packte ihre Tasche und wollte den Raum schnell verlassen, aber ihr Cousin folgte ihr auf dem Fuß. Dayos Schuluniform sah an ihm sehr formell aus. Er hatte sie zweifellos selbst genäht und das Schulemblem und die Stickereien an den Manschetten mit goldenen Verzierungen versehen – gerade genug, dass er auf den Schulfluren auffiel, aber noch so dezent, um nicht die Aufmerksamkeit eines Lehrers zu erregen. Er trug sein Haar zu winzigen Zöpfen geflochten – einhundertsiebenundfünfzig waren es, hatte er Efi mal verraten, weil es sich dabei um seine Lieblingsprimzahl handelte. Efi hatte den Fehler gemacht, ihn zu fragen, warum dies seine Lieblingsprimzahl war. Daraufhin hatte er ihr erklärt, dass Zahlen eine wichtige Bedeutung besitzen, und war zu einer spontanen Mathe-Geschichts-Lektion mit mehr Tangenten übergegangen, als Miss Okorie je auf ihrem Holoboard unterbringen könnte.
»Warte, Efi. Warum hast du es denn so eilig?«, fragte Dayo, sobald er Efi an ihrem schnellen Abgang gehindert hatte.
»Keine Ahnung. Ich brauche einfach frische Luft. So wie eben habe ich noch nie versagt, noch dazu vor allen.«
»Kein Mensch ist immerzu perfekt.«
Efi nickte. Sie wusste, dass sie nicht perfekt war. Einmal hatte sie für ein Wissenschaftsprojekt nicht die Bestnote bekommen. Und dann war da noch dieser Zwischenfall, als sie mit den Haaren in den Zahnrädern eines Robotermotors hängen geblieben war. Auch dieses Fiasko hatte Dayo mit angesehen, und dank seines geschickten Umgangs mit der Schere hatte er den Großteil ihres Ponys retten können. Heute trug sie ihr lockiges Haar zu kleinen Zöpfen geflochten, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, damit es ihr nicht in die Quere kommen oder ihre Experimente beeinflussen konnte.
Ja, sie hatte Fehler gemacht, aber auch daraus gelernt.
»Was hast du dir eigentlich angesehen?«, erkundigte sich Dayo. »Du hast derart konzentriert mit zusammengekniffenen Augen auf dein Tablet gestarrt, dass ich schon dachte, du fällst rein.«
»Einen Live-Feed der Junies, die ich Naade und Hassana gegeben habe. Ich bin wirklich gern hier und lerne den halben Tag an deiner Schule, aber ich habe immer das Gefühl zu verpassen, was meine Freunde erleben.«
»Hey, dies ist ebenfalls deine Schule. Und du hast hier auch Freunde!«
»Meinst du etwa dich? Du musst mein Freund sein. Wir sind schließlich miteinander verwandt.«
»Ne, wenn du nicht cool wärst, würde ich so tun, als gäbe es dich überhaupt nicht.« Dayo stieß Efi an der Schulter an. »Ich habe meinen Bruder vor ein paar Wochen am S-Bahnhof gesehen, als sich die Türen gerade schlossen. Ich hätte nur die Hand ausstrecken müssen, damit er noch einsteigen konnte, aber ich habe ihn schlichtweg ignoriert.«
»Oh.« Efi schnappte nach Luft. »Hast du Tantchen davon erzählt?«
»Nein, sie soll sich nicht schon wieder aufregen. Bisi hat sich für einen Weg entschieden, und wenn du mich fragst, verdient er weitaus Schlimmeres als eine verpasste S-Bahn.«
Bisi war Dayos älterer Bruder, aber der Kontakt zu ihm war seit über einem Jahr abgebrochen. Efi konnte nachvollziehen, warum die Begegnung bei Dayo einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen hatte, aber dadurch wurden all die guten Erinnerungen, die Efi an die gemeinsame Zeit mit ihm hatte, nicht ausgelöscht. Bisi hatte Efi sogar ihr erstes Werkzeugset geschenkt … Und zwar keins aus Plastik wie das, mit dem ihre Eltern zu ihrem vierten Geburtstag angekommen waren, sondern echte Werkzeuge aus Karbonstahl. Bisi war klug. Vielleicht sogar klüger als Dayo. Er hätte in seinem Leben Großes erreichen können.
Doch er hatte sich direkt nach der Highschool mit einigen schlimmen Leuten eingelassen. Er hatte irgendwelche Schulden bei ihnen, und als sie kamen, um die einzutreiben, hielten sie Dayo für Bisi. Weil er nicht zahlen konnte, verprügelten sie Dayo und ließen ihn mit einer zertrümmerten Hüfte und einer schweren Gehirnerschütterung zurück. Seitdem lastete auf der Familie ein großer, äußerst peinlicher Schandfleck.
Bisi hatte Dayo im Krankenhaus besucht, sich leise entschuldigt und war dann einfach … verschwunden. Manchmal fragte sich Efi, ob sich Dayo nicht freuen würde, wenn sein Bruder wieder nach Hause kam, sobald er seinen Ärger erst einmal überwunden hatte. Efi hätte sich jedenfalls gefreut.
»Hey, Dayo!«, rief ein Junge durch den Flur. »Macht die Kleine dir Ärger?«, fragte er dann und lachte.
»Du kennst doch meine Cousine Efi«, erwiderte Dayo. »Efi, das ist Sam.«
»Stimmt! Das Genie, nicht wahr?« Sam starrte Efi an, als würde er damit rechnen, dass sie einen mathemagischen Trick vorführte, eine irrationale Zahl aus dem Ärmel zog oder etwas in der Art. Efi konnte diese Blicke nicht leiden, die fast immer von einem Kommentar wie »Sag mal was Kluges« begleitet wurden.
Sie wollte sich anpassen und nicht aus der Menge hervorstechen.
»Es fällt Efi schwer, hier Freunde zu finden«, sagte Dayo achselzuckend.
Efi riss die Augen auf. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Sie war entsetzt und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. »Ich … äh, muss gehen. Ich will meine S-Bahn nicht verpassen!« Dann lief Efi hinaus, so schnell sie konnte. Efi mochte Dayo wirklich sehr, und er war immer sehr nett zu ihr. Er hatte ihr sogar erlaubt, ihn in der Schule mit dem Vornamen anzusprechen, damit sie sich wie eine Gleichgestellte fühlte und nicht wie die kleine Cousine, die ihm Respekt erweisen musste. Aber manchmal schien er vollkommen gefühllos zu sein.
Efi stieg in die Straßenbahn 47, um von der Schule nach Hause zu fahren. Vor den Fenstern sauste ganz Numbani an ihr vorbei: eine glänzende Hightechskyline inmitten von Streifen mit Natur und umwerfender Schönheit. Die Glasflächen der Gebäude verschmolzen mit dem zu großen, zu blauen Himmel, und auf so gut wie jedem der gestaffelten Balkone war ein Garten zu erkennen, so dass man kaum sagen konnte, wo die Häuser aufhörten und die Natur anfing. Auf einer Terrasse sah sie Omnics und Menschen zusammen an einem Terrarium voller Orchideen arbeiten. Efi konnte die Energie, die durch ihre Stadt strömte, förmlich spüren, als würde diese atmen und ihre Bewohner in Harmonie vereinen. Manchmal hörte sie, wie ihre Mutter und ihre Tante von den ãrìṣà sprachen, spirituellen Wesen, die ein entscheidender Bestandteil der natürlichen Welt waren und ihr Leben auf eine Art und Weise beeinflussten, die Efi noch immer nicht so richtig verstand. Sie hatte versucht, über Fragen herauszufinden, wie die Technologie und KIs da hineinpassten, wurde aber immer nur abgewimmelt.
Seufzend stöpselte sich Efi die Ohrhörer ein und widmete sich ihrem Tablet. Der Live-Feed zeigte Naade, der im Unterricht schlief, und Hassana, die bei einem Buchstabiertest vor sich hin murmelte, daher wechselte Efi zu den Archivbildern und ging den Tag durch.
Nach einiger Zeit entdeckte sie etwas. Zwischen der vierten und fünften Stunde hielten Stevie Igwe und Sibe Oye Händchen!
Efi schickte Hassana direkt nach Schulschluss eine Nachricht.
Ich fasse es nicht, dass Stevie und Sibe zusammen sind!
Zusammen *waren*. Es hat gerade mal zwei Stunden gehalten.
Wirklich?
Du hättest die Trennung miterleben sollen. Es war episch!
Warte, ich sehe es mir an. Wann genau war das?
Keine Ahnung. Irgendwann nach Sport.
Efi ging den Feed durch, bis sie zu der Stelle kam, an der Hassana die Turnhalle verließ. Und da war es. Sie hatte es gefunden! Aber es war alles dunkel. Efi konnte gerade so eben gedämpfte Schreie hören. Und Beschimpfungen. Es hörte sich an, als hätte Sibe Stevie als »zurückgebliebenen stinkenden Alligator mit Eiswagen« beschimpft. Möglicherweise hatte sie aber auch »rückständiger Omnic-Hasser mit nichts als Eis im Herzen« gesagt. Efi war sich nicht sicher.
Was war da los? Ich kann überhaupt nichts erkennen.
Ah. Oh. Ich hatte den Junie beim Sport im Rucksack. Die Basketballmädels sollten ihn nicht mit ihren klebrigen Fingern anfassen. Und danach hab ich nicht sofort daran gedacht, ihn wieder rauszunehmen.
Sorry.
Efi rief Naades Feed aus dieser Zeit auf. Vielleicht hatte er ja etwas gesehen. Aber genau in dem Moment, in dem sich die Trennung ereignete, war Naade auf dem Weg zur Toilette. Zum