P.S. Vergiss mich nicht - Lena Ullmann - E-Book

P.S. Vergiss mich nicht E-Book

Lena Ullmann

4,5

Beschreibung

In Annas Leben spielen zwei Männer eine wichtige Rolle: Ihr erster Freund Sebastian und ihr Traummann und späterer Ehemann Julian. Beide stiften eine Menge Verwirrung in ihrem Leben! Aber wer von beiden ist denn nun eigentlich der Richtige für sie? Eine solche Situation schreit geradezu nach Verwirrungen und schmerzvollen Erfahrungen, aber last not least auch nach einem romantischen Happy End.

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P.S. Vergiss mich nicht

TitelseiteNicht schwindelfrei...Ein verräterisches HandyWer bitteschön ist Sebastian?Was man über Anna wissen sollteDieses Pärchending zwischen Sebastian und AnnaAlle haben was zu meckernNicht jugendfreie Themen einer BeziehungBesser ein Ende mit SchreckenKonsequenz ist wohl nicht Annas StärkeAnna, das ist nicht fairIrgendwann erwischt es jeden mal so richtigSebastian geht’s noch?Liebling, bitte heirate michAb in den NordenNoch nie was von Verhütung gehört?Das Leben schreibt manchmal skurrile GeschichtenNoch ein ganz und gar nicht jugendfreies KapitelHabt ihr eigentlich gar kein Gewissen?Das musste ja so kommenAnnas Sebastiankrise oder Sebastians Annakrise?Annasüchtig oder nur neugierig, das ist hier die FrageDiagnose: Definitiv SebastiansüchtigKreuzverhör im ChatDie SchuldfrageMissbraucht und durchs Telefon geohrfeigtWenn Liebe fast tötetDas war längst überfälligWie vergisst man den Mann seines Lebens?Wenn es in der Sauna heiß wirdBloß nicht sentimental werdenIch mach dich fertig, den Rest regelt mein AnwaltAuf dem EifelturmMit sich selbst ins Reine kommen?Wer hätte das gedacht?Jetzt meldet sich sogar noch Anna zu WortDankeImpressum

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P.S.

VERGISS MICH NICHT

Roman

von

Lena Ullman

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Nicht schwindelfrei...

Ein verräterisches Handy

Als Sebastian die Wohnung betrat, lag irgendetwas in der Luft. Er konnte es förmlich riechen. „Regina, bist du da?“, rief er in die Richtung, die zur Küche führte. Plötzlich stand sie vor ihm. Ihre finstere Miene versprach gar nichts Gutes. „Sebastian, erkläre mir bitte mal diese Nachricht auf dem Handy“, fauchte sie ihn an und hielt ihm sein Smartphone unter die Nase. Ihre Augen funkelten wütend. Ohha, da war er unvorsichtig gewesen! Er hatte sofort registriert, dass sie das „Annahandy“ in ihren Händen hielt. Verdammt, er hatte es, als er gestern Abend die ganzen schönen Kurznachrichten von Anna heimlich wieder einmal gelesen hatte, nicht sorgfältig genug versteckt. Und jetzt spontan eine Ausrede zu erfinden, lag Sebastian überhaupt nicht. Er druckste herum: „Regina, das ist lange her.“ Wie eine Furie ging diese auf ihn los: „Lange? Für wie blöd hältst du mich? Jede einzelne SMS trägt ein Datum! Anna, das war doch deine allererste Liebe!“ „Ja“, meinte Sebastian nun kleinlaut, „Stimmt!“ „Warum hast du mit der Kontakt? Und überhaupt, was ist das für ein Handy? Normal hast du doch ein ganz anderes!“ Basti fiel so spontan überhaupt keine Erklärung ein und um sich nicht weiter zu belasten, schwieg er lieber. „Wie, du hast zu deiner Verteidigung überhaupt nichts zu sagen?“, schrie Regina noch aufgebrachter und schoss nun wutschnaubend aus dem Zimmer. Dabei brüllte sie noch: „Auf Nimmerwiedersehen, du Arsch.“ Peng! Die Haustür fiel ins Schloss. Jetzt wurde es heikel. Das erkannte Sebastian direkt.

Regina, in Bezug auf Partnerschaften ein gebranntes Kind, das schon in erster Ehe scheiterte, hatte angenommen, in Sebastian endlich den Mann gefunden zu haben, dem sie vertrauen konnte. Und sie war die Partnerschaft mit ihm eingegangen, obwohl ihre ganze Familie sich gegen die Beziehung ausgesprochen hatte. Seit dreizehn Jahren traten Basti und sie überall im Doppelpack auf und galten als unzertrennliches glückliches Paar. Bastis Aufmerksamkeit, Feinfühligkeit, seine Fixierung ausschließlich auf sie und seine Biegsamkeit gefielen Regina. Allerdings, wenn sie ehrlich war, erschien es ihr in der letzten Zeit öfter so, als hätte er Geheimnisse vor ihr. Abends ging er regelmäßig erst erheblich später als sie ins Bett, weil er angeblich noch sehr wichtige Dinge am Computer zu erledigen hatte. „Basti, was machst du da?“ Wiederholt war sie unerwartet ins Arbeitszimmer geschlichen und hatte versucht, über seine Schultern einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen. Aber er war jedes Mal schneller gewesen und hatte die Seite schleunigst weggeklickt und ertappt gefragt: „Wieso?“ Sie hatte lieber diplomatisch geschwiegen und sich damit beruhigt, dass er sich, wie alle Männer, nur heimlich Pornobildchen anschaue und beschlossen, ihm diesen Spaß nicht weiter zu verderben. Dann ließ er sie wenigstens in Ruhe. Aber lag sie wirklich richtig mit dieser Erklärung?

Bastis geheime Aktivitäten am PC hatten fast immer mit Anna zu tun, deshalb wartete er vorsichtshalber, bis Regina fest eingeschlafen war. Dann las er alte Mails von Anna, schaute sich brave, aber auch pikante Fotos von ihr an und stalkte sie auf den Onlineseiten, auf denen sie aktiv war, denn nach ihrem Kontaktabbruch musste er unbedingt wissen, was sie so treibt, wie es ihr geht, ob sie über ihn schreibt und an ihn denkt. Oh ja! Neugierig war er! Ohne Frage!

Dass Regina jemals von Anna erfuhr, das wollte Sebastian aber unbedingt vermeiden. Mit dem Auffliegen seiner Untreue hatte er jetzt überhaupt nicht gerechnet.

Was nun? Ratlos blickte er sich um. Mit Liebesschwüren würde er auf gar keinen Fall weit kommen. Er kannte seine starrköpfige, äußerst empfindliche Freundin. Wohin sie wohl entschwunden war? Und die Chance, sich aus dem Fiasko geschickt herauszulügen, war ebenfalls vertan. Ach! Sebastian hasste unbequeme Konflikte. Das hatte ihm nun gerade noch gefehlt. Für so etwas hatte er nach einem stressigen Arbeitstag in der Firma überhaupt keinen Kopf! Anna! Immer wieder verursachte diese Frau Chaos in seinem Leben. Jetzt sogar ganz ohne ihr Zutun! Anna. Anna. Anna. Er musste aufpassen, denn die Sehnsucht nach seiner Jugendliebe saß ihm schon wieder im Nacken und die konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Eine perfekte Strategie musste her, um seine Freundin zurück an seine Seite zu holen.

Die ganze Nacht ließ Regina sich nicht mehr blicken und am nächsten Tag tauchte eine Arbeitskollegin von ihr auf. „Sebastian, Regina möchte, dass ich ihre Kleider hole,“ sagte diese in einem nichts Gutes verheißenden Tonfall, musterte ihn herablassend von oben bis unten und begann hektisch, Reginas Kleiderschrank zu inspizieren und Wichtiges in dem riesigen Koffer zu verstauen, den sie mitgebracht hatte. „Bastian, du bist wirklich das Allerletzte“, fauchte sie ihn dabei feindselig an.

Erst als der weibliche Eindringling die Wohnung endlich grußlos verlassen hatte, setzte Sebastian sich mit einem Glas Rotwein auf sein bequemes Sofas, atmete mehrfach ganz tief durch, um sich zu beruhigen, schaltete entspannende Musik ein und begann nachzudenken. Jetzt war also endgültig der Zeit-

punkt eingetreten, an dem er entscheiden musste, was er wirklich wollte. Hatte er Lust darauf, zu betteln und zu flehen, dass Regina zu ihm zurückkommt, um dann wie ein Hündchen mit dem Schwanz zu wedeln und Männchen zu machen und unterwürfig auf ihre Kommandos zu warten, um sie gnädig zu stimmen? Schon länger kam ihm immer öfter der Gedanke, dass ein Singleleben in vieler Hinsicht sehr viel angenehmer wäre. Im Grunde brauchte er Regina doch gar nicht! Oder?

Und eigentlich liebte er doch…Halt, Stopp, was passierte denn da gerade mit ihm? Nix da! Annagedanken! Husch, husch, Fenster auf und raus mit euch!

Wer bitteschön ist Sebastian?

„Dein Sohn.“ Stolz drückte Kathrin ihrem Jochen den kleinen, dicken Schreihals in den Arm. Noch völlig geschafft von der extrem anstrengenden Geburt hätte sie am liebsten nur vierundzwanzig Stunden am Stück geschlafen, aber der Winzling brauchte sie jetzt, hatte Hunger für Drei und wollte kuscheln. Jochen betrachtete den Kleinen mit gemischten Gefühlen: „Du kleiner Wicht, mein eigen Fleisch und Blut. Muss ich wegen dir den Plan meines Lebens ad acta legen und die sorgfältig vorbereitete Flucht in den Westen abblasen?“ Kathrin bemerkte Jochens Zweifel. Für so etwas besaß sie ausgeprägte Antennen, aber sie sagte nichts.

Wenige Tage später rückte Jochen dann endlich mit seinen bisher unausgesprochenen Zukunftsplänen heraus: „Kathi, ich will, ich muss in den Westen. Hier in Greifswald wird es für mich immer brenzliger.“ Diese Aussage stimmte. Jochen war unbequem: Er ließ sich nichts gefallen, nahm nie ein Blatt vor den Mund und hatte sich damit in eine fatale Situation gebracht. Seine Chefs, die seine oft berechtigte Kritik nicht hören wollten und durften, konnten jeden Moment dafür sorgen, dass er aus nichtigen Gründen für immer im Gefängnis der Deutschen Demokratischen Republik verschwinden würde und was das bedeutete, wusste man nur zu gut! „Freunde haben mir die Möglichkeit eröffnet, mich relativ unproblematisch in den Westen abzusetzen. Kathrin, ich will dir da nichts vormachen. Alles ist sorgfältig geplant und ich wünsche mir sehr, dass du mit mir kommst!“ Sie hatte nur verständnisvoll genickt, um später mit dem kleinen Wonneproppen im Arm bitterlich zu weinen. „Basti, dein Vater will uns verlassen! Sag mal“, sie schaute das friedlich nuckelnde Söhnchen liebevoll an: „Erlaubst du es mir, dass ich dich hier bei Oma und Opa lasse und deinen Vater begleitete?“ Einen Moment schien es so, als nicke der kleine Basti zustimmend. Ein mutiger Entschluss reifte in ihrem Kopf. Allerdings brauchte sie dazu die Hilfe ihrer Eltern. „Würdet ihr euch um Sebastian kümmern, wenn ich mich mit Jochen in den Westen absetze? Kann ich ihn bei euch lassen, bis ihr nachkommen könnt? Ihr seid die einzigen Menschen auf der Welt, bei denen ich mein wertvolles Söhnchen ohne Skrupel zurücklassen kann. Ihr wollt doch sicher ohne uns auch nicht hierbleiben. Oder? Dann kommt ihr nach und bringt den Kleinen mit! Wenn ich diesen Schritt nicht gehe, verliere ich meine große Liebe für immer und beide Kinder müssen ohne Vater aufwachsen!“ Gottergeben hatten ihre Eltern, die nur diese eine Tochter besaßen und abgöttisch liebten und ihr nie einen Wunsch abschlagen konnten, genickt. „Kathrin sei beruhigt, Basti wird es sehr gut bei uns haben. Das weißt du. Lebe dein Glück! Wir werden dann einen Ausreiseantrag stellen. Bei Rentnern geht das schnell und wird sich unproblematisch gestalten. Anschließend werden wir so schnell wie möglich nach Westdeutschland nachkommen“, versprachen die Eltern.

Hartnäckig hatte Kathrin allerdings darauf bestanden, die fünfjährige Tochter mitzunehmen: „Ohne die Kleine gehe ich nirgends hin!“ Und das kleine Mädchen gab ihr enorm viel Kraft, die Strapazen und Risiken ihrer Flucht nervlich durchzuhalten. „Jochen, was geschieht denn, wenn wir erwischt werden?“, hatte Kathrin ihn immer wieder ängstlich gelöchert. „Dann dürfen wir die Gefängnisse unseres Landes für sehr viele Jahre von innen betrachten!“, hatte er gemeint. „Und die Kinder?“, fragte Kathrin ängstlich. „Keine Sorge, die kommen nicht in den Knast! Die werden zu Pflegeeltern gegeben! Zu ganz besonders überzeugten Sozialisten!“ Da war ihr angst und bange geworden.

Als sie Westberlin wohlbehalten, ohne lebensgefährliche Komplikationen erreichten, jubelte Jochen; „Kathrin, die Freiheit begrüßt uns“, war völlig aus dem Häuschen und nahm seine Frau und das Töchterchen glücklich in die Arme. „Wir sind frei, wir sind frei, wir sind frei! Fröhlich schlenderten sie den Kudamm entlang und Jochen spendierte Unmengen von Bananen. „Esst, meine Süßen! Esst, bis ihr platzt. Ein Leben im Wohlstand ohne Zensur und Kontrolle kann beginnen!“ Ein Schatten huschte über Kathrins Gesicht. Der Gedanke an ihren kleinen verlassenen Sohn schmerzte einen Moment, deshalb konnte sie sich nur bedingt freuen. Aber die Dinge überschlugen sich und schon ging es nach Bonn, wo ein recht gut bezahlter Job auf den aktiven jungen Familienvater lauerte. Wie mag es Basti und meinen Eltern gehen, quälte Kathrin jeden Abend vor dem Einschlafen ihr schlechtes Gewissen. Bin ich eine Rabenmutter und Rabentochter? Seit Monaten blieben ihre Briefe an die Eltern unbeantwortet, sie verschwanden oder kamen sporadisch mit „Empfänger verzogen“ zurück. Auch alle Kontaktversuche zu alten Freunden scheiterten. Was war geschehen? Verzweiflung überfiel die junge Mutter.

Die Ungewissheit blieb. Kathrin hörte überhaupt nichts aus Greifswald und badete in Selbstvorwürfen. Wo waren ihre Eltern und ihr Sohn abgeblieben? Hatte man sie etwa verhaftet und Basti zu Pflegeeltern gegeben? Auch über Bekannte erfuhr sie nichts! Mittlerweile waren sechs Jahre verflogen. Die Ungewissheit zerfraß Kathrin, auch wenn sie ihre Verzweiflung geschickt verbarg.

Vergeblich stellten Kathrins Eltern in Greifswald einen Ausreiseantrag nach dem anderen, alle wurden wieder und wieder abgelehnt. „Ihre Tochter hat sich respektlos der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber verhalten, das können wir nicht noch honorieren“, hieß es vorwürfig. Andere durften in den Westen ziehen, die alten Leute mit dem kleinen Jungen wollte man jedoch nicht gehen lassen. So wuchs Basti elternlos, aber gut behütet bei Oma und Opa auf, war deren kleiner Sonnenschein, lachte viel und war sehr brav und ruhig, manchmal beängstigend unbeweglich für einen kleinen Jungen seines Alters. „Basti, iss schön, damit du groß und stark wirst“, betonte die Großmutter bei jeder Gelegenheit und stopfte das Kerlchen mit Leckereien voll. Das arme Kind musste schon auf seine Mutter verzichten, dann sollte es wenigstens ordentlich ernährt werden! Und dann, Sebastian feierte schon seinen sechsten Geburtstag, geschah das Wunder. Kathrins Eltern wurden in das Rathaus bestellt und nach endlosem Warten in ein Büro geführt. „Sie dürfen unser Land schon nächste Woche mit ihrem Enkel verlassen. Ihr Eigentum, ihre Immobilien, ihr ganzes Hab und Gut fällt damit allerdings an den Staat. Sie können nur das Nötigste mitnehmen“, erklärte ein übereifriger Beamter. Die Freude hielt sich bei allen sehr in Grenzen. Besonders Basti schimpfte und tobte, denn er wollte nicht weg von seinen Freunden, Tieren und seinem Kindergarten. Wer verlässt schon gerne seine Heimat? Schweren Herzens verabschiedeten sich die alten Leutchen von ihrem geliebten Mecklenburg-Vorpommern, ihrem Gut, auf dem seit Generationen die Familie glücklich lebte, ihrem großen Freundeskreis, um im Westen in einem unwirtlichen Auffanglager für Flüchtlinge zu landen, aus dem es zunächst monatelang kein Entkommen gab. Unsicherheit beherrschte ihr erstes Jahr in Westdeutschland. Sie besaßen weder ein Lebenszeichen noch eine Adresse von ihrer Tochter und deren Familie, seit diese geflüchtet war. Trotzdem! Es war ihre Pflicht, Sebastian wieder zu seinen Eltern zu bringen. Nur, wo sollten sie anfangen zu suchen? Erst nach mehr als einem Jahr intensivster Recherchen wurde der Großvater fündig. Es hatte die Kinder in die Stadt Bonn im Rheinland verschlagen. Nachdem die Tochter sich bereit erklärt hatte, allen Asyl zu gewähren, durften sie endlich nach Bonn reisen. Glücklich betraten sie die Wohnung, die Kathrin mit Jochen und Marlies bewohnte und die Kathrins Eltern nach einem Jahr Flüchtlingslager vorkam, wie ein kleines Paradies, auch wenn sie für sechs Personen aus allen Nähten platzte.

Mit fast sieben Jahren lernte Sebastian bewusst Mutter, Vater und Schwester kennen und fremdelte zunächst. „Fremde Frau, lass mich!“, fauchte er seine Mutter an, als Kathrin ihn glücklich in ihre Arme schließen wollte und lief schutzsuchend zu Oma und Opa. Aber schon bald fand Basti Gefallen an der Frau, die sich Mutter nannte und ihm nahezu jeden Wunsch von den Lippen ablas. Auch der meist ernst dreinschauende Vater mit seiner lauten, brummigen Stimme war Basti ganz und gar nicht geheuer. Aber er gewöhnte sich schnell auch daran. Und tägliche Zankereien mit der Schwester ließen auch nicht lange auf sich warten. Langsam ging die Familie zum Alltag über.

Als Sebastians Mutter ein paar Monate später das Kinderzimmer betrat, traute sie ihren Augen nicht: „Basti, was wird das denn?“ Da stand der Siebenjährige und um ihn verstreut lagen sämtliche Dessous seiner großen Schwester. Und damit nicht genug: Der Kleine selber bemühte sich krampfhaft, einen der Büstenhalter, einen schwarzen mit ganz viel Spitze, anzuziehen und stolzierte anschließend, mit seinem kleinen, ausladenden Hinterteil eifrig wackelnd, vor Eitelkeit strotzend durch das Zimmer „Sebastian, bist du noch bei Verstand?“, fragte Frau König völlig entgeistert. „Ich, ähhh, also, die Marlies hat mir befohlen, ihre Wäsche anzuziehen, sonst haut sie mich“, behauptete der Junge mit pfiffigem Augenaufschlag und dem treunaiven Blick, der immer wirkte. Sein Interesse an ausgefallenen Dessous sollte ihn übrigens sein ganzes Leben lang begleiten.

„Marlieeees“, brüllte Frau König ungehalten und schon erschien Sebastians große Schwester und brach in schallendes Gelächter aus, als sie den kleinen Bruder in seiner ausgefallenen Kostümierung mitten im Zimmer stehen sah. „Sag mal, Kleiner, gehts noch?“ Erst dann registrierte sie, dass ihre Mutter alles andere als belustigt wirkte. „Marlies hat mir aber befohlen, die Wäsche anzuziehen“, behauptete der Kleine zum zweiten Mal dreist und frech. Diese spontan zusammengereimte Ausrede überzeugte die Mutter, obwohl sie ganz und gar nicht den Tatsachen entsprach. „Marlies, das Chaos räumst du auf“, befahl Frau König angesäuert, „wahnwitzig, auf was für dumme Gedanken du den Basti immer bringst!“ „Mutter, ich…“, setzte das Mädchen an, verstummte aber gleich wieder, denn Frau König hatte einen Narren gefressen an ihrem kleinen, korpulenten Wonneproppen, da war es zwecklos zu meckern. Basti war pfiffig genug, diese Tatsache zu seinem persönlichen Vorteil auszunutzen. „Komm Schatz, zieh dich an, in der Küche warten leckere Wiener Würstchen auf dich“, säuselte die Mutter schon wieder verführerisch. „Hey, wird der jetzt auch noch belohnt? Ist ja nicht zu fassen“, protestierte Marlies, aber niemand hörte ihr zu.

Als einziger Sohn und zukünftiger Stammhalter wurde Sebastian von allen Seiten maßlos verwöhnt. Ob das die richtige Option für seine weitere Entwicklung war?

„Komm mal mit“, überraschte Sebastians Vater ihn an seinem 10. Geburtstag und führte das aufgeregte Geburtstagskind zur Wiese neben dem Wohnhaus. Dort graste friedlich ein niedliches, weißes Shetlandpony. „Basti, das Tierchen gehört ab heute dir“, erklärte er nun seinem Sohn. „Du bist jetzt alt genug, um die Verantwortung für ein anderes Lebewesen zu übernehmen!“ Gut, dass er Basti nicht ansah, denn dessen Mimik wechselte von Schock über Angst zu Ekel und Ablehnung. „Och, ich glaube, das Pferd brauche ich eher nicht“, kommentierte Sebastian das großzügige Geschenk enttäuscht. Allein der Gedanke, sich ab sofort täglich um das Pony kümmern zu müssen, reizte ihn ganz und gar nicht. Die Fortbewegung auf Pferden war Sebastian schon immer eher suspekt. „Papa, du musst nicht glauben, dass ich mich auf so ein wackliges Ding raufsetze“, meckerte er unzufrieden. „Übrigens werde ich es Frikadelle nennen“, verkündete er mit bockigem Gesichtsausdruck. „Bist du dumm? Das ist ein Tier und kein Nahrungsmittel!“, schimpfte Marlies, die wieder als Einzige den Mut besaß, den Jungen zu kritisieren. Basti sah sie mit seinem „Ich-bin-Mamis-Liebling-Triumphblick“ herausfordernd an und grinste breit: „Ich bin jetzt der Besitzer und bestimme! Basta! Frikadelle komm.“ Er schnappte sich die Zügel, zerrte wild an ihnen herum und bemühte sich, das Tier in Bewegung zu setzen. „Los, du störrisches Biest, beweg dich!“ Das funktionierte natürlich überhaupt nicht, denn Ponys können genau so stur sein wie zehnjährige Jungen. Am liebsten schaute Sebastian sich das Tier sowieso aus der Ferne an.

Zum Glück war Sebastian ein sehr groß gewachsenes Kind, dennoch sah man sein Übergewicht, in Form von Speckröllchen über den Körper verteilt, deutlich. Das führte in der Schulzeit dazu, dass andere Schüler hinter vorgehaltener Hand über seine Figur lästerten: „Vorsichtig, geht lieber in Deckung, massives Riesenbaby im Anflug.“ Sebastian überhörte derartige Sprüche, legte sich schon sehr früh eine besonders dicke Haut zu und ließ solche Hänseleien gar nicht an sich herankommen. Die sind nur neidisch, beruhigte er sich, denn Männer müssen groß und stark sein. Das hatte seine Großmutter ihm schließlich immer eingeredet!

Später, als sein Interesse am anderen Geschlecht sein Denken mehr und mehr dominierte, bemerkten die Mädchen ihn gar nicht, obwohl er mit seiner überdurchschnittlichen Körpergröße und Leibesfülle kaum zu übersehen war. Aber ihm fehlte einfach dieses Attraktivitätsdingsda, das die Frauen zum Schmelzen bringt, wenn Mann die Bildfläche betritt. „Wie schafft ihr es bloß immer, dass ihr euch aussuchen könnt, welche Weiber ihr mit ins Wochenende nehmt und welche ihr in die Wüste schickt?“, fragte er neidisch seine Kumpel.

In der Vierzimmerwohnung der Familie stapelten sich in Sebastians Teenagerzeit zwei Großmütter, der Großvater, drei Schwestern, die Mutter, sein Vater und Sebastian selbst. Von Intimsphäre und Rückzugsmöglichkeiten ließ sich in dieser Situation nur träumen. Basti konnte höchstens unter der Bettdecke heimlich onanieren und zwar nur dann, wenn wirklich alle anderen im Zimmer im Tiefschlaf lagen. Selbst die Toilette war immer hochfrequentiert. Und es gab nur eine einzige in der Wohnung! Hier lernten sämtliche Familienmitglieder schon früh das Schlangestehen samt Bedürfnisaufschub, was manchmal durchaus unangenehm werden und enden konnte, und Sebastian schwor sich: Wenn ich erwachsen bin, miete ich mir nur eine Wohnung mit mindestens zwei Toiletten. Ihm war Ruhe und Gemütlichkeit am stillen Örtchen ein ganz ausgeprägter Herzenswunsch.

„Sebastian, mein Freund bietet dir eine Lehrstelle als Elektriker. Ich denke, diese Chance solltest du unbedingt nutzen“, meinte Bastis Vater kurz vor dessen Hauptschulabschluss. „Was zahlt der?“

„Sei froh, überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen, die liegen wahrlich nicht auf der Straße!“

Der phlegmatische Junge muss durch körperliche Arbeit dazu gebracht werden, festzustellen, wie viel angenehmer es ist, seine Gehirnzellen einzusetzen und geistig zu arbeiten. In meinem Sohn steckt nämlich viel mehr, dachte Bastis Vater sich. Man muss nur den richtigen Knopf drücken. Und dieses Konzept ging auf. Sebastian fand sehr schnell heraus, dass es weniger anstrengend ist, für die Schule zu lernen, als sich auf den Baustellen abzurackern und dabei körperlich völlig zu verausgaben. „Ich glaube, ich will doch noch ein Fachabitur machen und studieren“, verkündete der Junge schon nach der ersten Woche seiner Lehrzeit.

Auch was Frauen betraf, beschloss Sebastian endlich in die Offensive zu gehen. Zunächst stellte er die ausschweifende Esserei ein: „Bitte verschont mich in Zukunft von Schokolade in jeglicher Konsistenz, unzähligen Chipstüten, Bonbons und fetten Sahnetorten“, instruierte er die spendablen Großmütter energisch, die es doch nur gut mit ihm meinten und brachte konsequent seine Figur in eine annehmbare Form. „Von nix kommt nix“, sagte er sich immer wieder und sammelte in einer Schublade die Süßigkeiten, die sie ihm trotzdem noch aufzwangen. Sebastian hatte Mühe, die ganzen Kalorien woanders an den Mann oder die Frau zu bringen, aber er selbst blieb standhaft und ernährte sich gesund und kalorienarm.

„Was hältst du denn davon, einen Tanzkurs zu besuchen?“, schlug Frau König ihrem Sohn vor, denn sie sah, wie sehr erdarunter litt, weit und breit als einziger immer noch keine Freundin zu haben. „Guter Plan“, stimmte dieser zu, schließlich gab es in Tanzschulen reichlich Mädchenüberschuss. Zunächst besuchte er einen Anfängerkurs. Selbstbewusst umwarb er anfangs die Michaela, deren gut geformte Brüste ihn außerordentlich anlockten. „Hör mal, nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst. Ich suche keinen Freund!“, erklärte ihm das Mädchen mit der ansprechenden Oberweite unverblümt, als ihr Sebastians Penetranz nur noch auf den Wecker ging und ließ ihn einfach stehen. Damit fiel dieser ein paar Tage in alte Unsicherheiten zurück. Was mache ich falsch? Warum erkannte die schon wieder meine Werte nicht? Ich bin doch ein stattlicher vorzeigbarer Mann! Aber dann konnte er sich erneut aufraffen, erst die Kerstin mit dem knackigen, ausladenden Hinterteil und danach die Gudrun mit ihren flammendroten Locken im Tanzkurs aufzufordern und sich Hoffnungen zu machen, sie dann auch mal nach Hause begleiten und in einer dunklen Ecke berühren zu dürfen. „Sebastian, ich habe wenig Zeit“, winkten nacheinander erst Kerstin dann auch Gudrun ab. Und wieder waren es andere Jungen, die diese beiden ausführen und angrapschen durften. Ein Satz mit X, das war wohl nix, sagte Sebastian sich enttäuscht. Aber so schnell gebe ich die Frauensuche nicht auf, beschloss er, schließlich besaß er diese enorm dicke Haut, die er sich im Laufe seines jungen Lebens zugelegt hatte und die ihm letztlich half, die Absagen der Mädchen einfach abprallen zu lassen. Jetzt wollte er es wissen! Wenn nicht in der Tanzstunde, dann halt in der bekanntesten Disko des Ortes. Eine Freundin muss jetzt her! „Dirk, Treffpunkt Disko, morgen einundzwanzig Uhr“, instruierte Sebastian seinen besten Freund, als das Wochenende anbrach.

„Mutter, bring mir doch bitte mal ein passendes Hemd“, rief Basti am Abend ungeduldig. Er war es gewohnt, von seiner gutmütigen Mutter bedient zu werden. Sorgfältig schmiss er sich für den Diskobesuch in Schale: Trug seinen teuersten Blazer und eine perfekt sitzende XXL-Designerjeans. „Mutter, was denkst du?“, fragte er, sich selbstgefällig vor dem Spiegel hin- und her wendend und seine Mutter verstärkte seine Eitelkeit überschwänglich schwärmend: „Fantastisch, was für eine attraktive Erscheinung du bist, Sebastian! Mein wunderbarer Sohn!“ „Heute“, sagte dieser sich gebauchpinselt von den schönen Komplimenten, „genau heute wird es geschehen.“ Ob er endlich einmal richtige Vorahnungen hatte?

Sein Freund stand schon ungeduldig am Eingang: „Da bist du ja endlich! Steh mir hier schon die Beine in den Bauch.“ Beide Männer waren so edel gekleidet, dass es ein Leichtes für sie war, an den Türstehern vorbei zu kommen. Die hübschen Mädchen um sie herum ließen sie von der ersten Minute an richtig übermütig werden. „Basti, welchem Hasen spendieren wir nun den ersten Drink?“, fragte Dirk anzüglich grinsend, „die Auswahl ist ja heute beeindruckend. Eindeutiger Frauenüberschuss! Mindestens drei für jeden Mann!“ „Nicht so stürmisch, wir müssen nichts überstürzen“, entgegnete Sebastian kontrolliert wie immer und ließ seinen Blick im Kreis wandern. Es gab tatsächlich ein Mädchen, das ihn auf Anhieb faszinierte. „Schau mal, Dirk, die Blonde da! Die hat doch mal eine sehr ansprechende Figur, schlank, aber nicht zu abgemagert, genau wie ich es mag!“ Während er sie beobachtete, nahmen wilde erotische Phantasien neunzig Prozent seines Denkapparats in Besitz. Sie war nicht zerbrechlich, sondern schlank und durchtrainiert und er müsste keine Angst haben, ihr weh zu tun, wenn er auf ihr liegt. Und ihre wohlgeformten Brüste entsprachen genau dem, was er sehr mochte. Mit ihnen ließ sich seine große Hand schon ausfüllen. Schließlich wollte er auch etwas zum Anfassen haben.

„Los, sprich sie an!“

„Soll ich wirklich?“

Schweißperlen bildeten sich auf Bastis Stirn und in Anbetracht der bevorstehenden Ansprechaktion bröckelte seine Selbstsicherheit etwas. Er musste dauernd zu ihr schauen und kalkulierte jedoch, um nicht enttäuscht zu werden, schon ein, sich bei ihr vielleicht auch wieder einen Korb zu holen.

„Wenn man sie so tanzen sieht, bekommt man richtig Appetit“, meinte er und leckte sich gierig über seine Lippen.

„Dass du immer ans Essen denkst, Basti, du sabberst ja schon wieder! Auf jetzt, sprich sie an und friss sie auf!“

Sebastian atmete noch einmal ganz tief durch und stürzte dann zu ihr. Er stellte sich vor ihr auf und schaute durch seine Brillengläser in ihre strahlendblauen Augen, die nicht auswichen, sondern ihn anlächelten. Dabei hatte Basti in diesem Moment das Gefühl einen Magneten verschluckt zu haben, so sehr zog ihn dieses Mädchen gerade an. Was geschah denn da mit ihm? Seine Stimme klang belegt vor Aufregung. So krächzte er, fast als wäre er noch im Stimmbruch, aufgeregt: „Du, wollen wir tanzen?“

Was man über Anna wissen sollte

„Sag mal, hatte ich grade eine Erscheinung, oder ist die kleine Anna von nebenan eben nur mit einem Unterrock bekleidet auf den Spielplatz gelaufen?“, fragte Frau Brinkmann, eine Nachbarin, irritiert ihren Mann, der nur unverständlich brummelte. Tatsächlich saß Anna mit einem rosa Tüllpettikot dürftig bekleidet auf der Schaukel des beliebten Spielplatzes des Viertels. „Ich bin eine Prinzessin“, rief sie jedem, der vorbei kam zu. „Aber wo ist deine Krone, Mausi?“, wurde sie immer wieder lachend gefragt.

Ihre Großmutter war nachmittags zu Besuch gekommen und hatte Anna dieses Kleidungsstück geschenkt. Stolz hatte die Kleine den schwingenden Tüllpettikot der ganzen Familie vorgeführt, sich als Modell gefühlt und war dann in einem unbewachten Augenblick durch das Kinderzimmerfenster auf die Straße gesprungen. Sie ahnte nämlich, dass Mutter und Oma Einwände gegen eine Unterrockexkursion anzubringen hätten. Vergeblich hatten die Erwachsenen anschließend stundenlang erfolglos die leichtbekleidete Anna gesucht.

„Um Gottes willen, Kind, es schickt sich für ein kleines Mädchen überhaupt nicht, im Unterrock herumzulaufen“, empfingen sie die Kleine empört, als diese endlich, sogar durchaus schuldbewusst, am Abend in der Tür stand. „Kein Mensch läuft in Unterwäsche über die Straße! Stell dir nur vor, der Opa würde in seinen langen Unterhosen durch die Stadt spazieren oder ich in Büstenhalter und Miederhöschen“, hatte die Großmutter ihr anschaulich zu erklären versucht. „Oma, das ist doch ganz was anderes! Meins sieht doch aus wie ein Ballettkleid“, hatte sich das Kind uneinsichtig verteidigt. Anna beabsichtigte insgeheim immer noch, auch die nächsten Tage in diesem Gewand zum Spielen zu gehen, aber das durften Mutter und Omi natürlich auf gar keinen Fall erfahren.

„Man, Mama, wo ist denn das neue schwarze Top?“, fragte Anna viele Jahre später und zahlreiche Zentimeter größer sichtlich genervt ihre Mutter und verdrehte die Augen, „man, du hast echt ein unglaubliches Talent, mir meine Sachen zu verstecken.“ „Das habe ich in deinen Schrank geräumt, mein „ordentliches“ Töchterchen!“, erwiderte diese schroff, denn immer, wenn in dieser Familie jemand etwas nicht fand, dann gab man ihr die Schuld, dabei versuchte sie lediglich, eine Grundordnung in der chaotischen Familie aufrecht zu erhalten!

Und als Anna das „Oberteilchen“, von Teil konnte man wahrlich nicht sprechen, angezogen hatte, fiel ihr Vater fast in Ohnmacht und meinte kritisch: „Anna, dieses Oberteil ist viel zu gewagt! Dazu würden nun Klarsichtfolienhotpants perfekt passen! Hast du etwa noch keine?“ Anna überhörte das Nörgeln des Vaters einfach. Sie hatte jetzt keine Lust zu diskutieren. „Schwesterchen, du Dummchen, du machst mit deinem Outfit einen riesigen Fehler! Welcher Junge hat da noch Lust, dich auszuziehen, wenn eh schon alles rausfällt?“, mischte sich auch noch ihr Bruder in das aus Annas Sicht komplett überflüssige Gespräch ein. „Sorry Leute, aber ich muss das heute anziehen“, antwortete sie uneinsichtig, denn am Abend in der Disko wollte sie die Jungen beeindrucken und heiß machen, dazu benötigte sie genau dieses spezielle Top, denn das funktionierte nur so, da war sie sich sicher. Sie liebte die begehrlichen Blicke der Jungen. Aber wenn dann ein männliches Exemplar ankam und mehr wollte, konnte Anna, die mit zweitem Vornamen Angsthase hieß, blitzschnell von der Bildfläche verschwinden.

Nun lag der Teeny schimpfend in der Badewanne: „Verflucht, habe ich zugenommen oder warum ist die Jeans heute so extrem eng und widerspenstig? Geht die denn nie zu?“ Doch plötzlich klappte es. „Kind, es ist viel zu kalt, um in der tropfnassen Jeans loszuziehen“, kritisierte Annas Mutter verständnislos den Kopf schüttelnd die Jeansanziehaktion ihrer Tochter. „Wenn das deine Blase unbeschadet überlebt, hast du enorm gute Abwehrkräfte!“

Sorgfältig geschminkt, hineingepresst in die knallenge schwarze Jeans, die ganz extrem ihre Kurven akzentuierte und ein hautenges, knappes Top, das tiefe Einblicke erlaubte, betrat Anna dann in Begleitung dreier ebenfalls schick gestylter Freundinnen die angesagteste Disko Bonns.

„Ich weiß auch nicht, aber seit wir hier sind, habe ich die ganze Zeit das merkwürdige Gefühl, ein paar Augen verfolgen mich“, meinte Anna nach einer Weile verunsichert zu ihren Freundinnen.

„Oh, wie spannend, Anna! Hoffen wir mal, es ist kein Killer!“, erwiderten die nur lachend. Erst nach einer halben Stunde konnte sie das Gefühl endlich eindeutig analysieren.

„Ich habs, schaut mal da hinten. Dieser endlos lange, dunkelhaarige Mensch, etwas adipös und leicht verkrampft wirkend, starrt mich die ganze Zeit an! Guck gefälligst woanders hin. Du bist nicht mein Typ!“, versuchte Anna sich in Beschwörungen. „Ignorier den einfach“, rieten ihr die Freundinnen, „Wieder nur männliche Mängelexemplare. Heute ist echt nicht unser Tag!“

„Warum immer ich?“, jammerte Anna weiter, „schaut doch nur mal, wie der mich anstiert“, und sie fasste schon Fluchtoptionen ins Auge. Die Jungen, die sie wirklich interessierten, schienen an diesem Abend mal wieder alle daheim vor dem Fernseher zu sitzen. „Welches langweilige Fußballspiel hält sie wohl heute wieder ab, in die Disko zu kommen?“, fragte Anna verzweifelt die Freundinnen. Aber die hörten ihr gar nicht zu, sondern amüsierten sich mittlerweile doch noch ganz prächtig, indem sie über jeden zweiten Jungen, der ihren Weg kreuzte, schonungslos lästerten: „Schaut mal, der beißt Anna gleich ins Bein! Hat denn niemand einen Schnuller für ihn?“, oder: „Wann hat Mami dem denn diese Hose verpasst und bis unter sein Kinn gezogen?“ Man sah den hübschen Mädchen keineswegs an, dass sie derartig bissig sein konnten.

Aber Fortuna hatte sich an diesem Abend ganz offensichtlich frei genommen! Annas Verwünschungen, den aufdringlichen Beobachter betreffend, bewirkten das genaue Gegenteil. Beharrlichkeit war nämlich Sebastians zweiter Vorname. Er stolzierte schnurstracks auf sie zu, strahlte sie durch seine Brillengläser auffordernd an und fragte mit fast säuselnder Stimme: „Wollen wir tanzen?“ Und Anna sagte verblüfft: „Ja“, während sie innerlich mit sich selber schimpfte: Geht‘s noch? Warum habe ich zugestimmt? Einmal, zweimal, immer wieder kam Mr. Unvermeidlich an. „Tanzen wir?“, und Anna folgte ihm jedes Mal brav auf die Tanzfläche. Immerhin konnte er sogar Diskofox tanzen und war älter und sympathischer als dieser Zehenmisshandler Max oder der chaotische Elmar, die beide jedes Wochenende in der Disko herumlungerten und Anna mit ihrer Aufdringlichkeit ganz schrecklich nervten. Aber hätte sie gewusst, was ihre Jasagerei an diesem Abend für ihr weiteres Leben bedeutete und auf was sie sich da gerade einließ, hätte sie sicher energisch den Kopf geschüttelt.

Anna schaffte es einfach nicht, dem verzückt dreinblickenden Basti einen Korb zu geben. Sie war von ihren Eltern immer auf Höflichkeit und Rücksichtnahme getrimmt worden. „Sehen wir uns wieder?“, fragte Sebastian hoffnungsvoll, nachdem er sie nach Hause gebracht hatte und Anna entgegnete unverfänglich: „Wir werden uns sicher mal wieder über den Weg laufen.“ Sebastian hatte sich auf den ersten Blick in dieses Mädchen verliebt. Sie musste unbedingt seine Freundin werden, soviel war sicher!

Es war nicht schwer für ihn, von da an jeden Freitag- und Samstagabend rein zufällig in Annas Stammdisko aufzutauchen und sich anzubieten, sie heimzubringen. „Herrlich, Anna, wenn dieser kräftige junge Mann dich nach Hause begleitet, muss ich mir endlich in der Nacht keine Sorgen mehr machen, dass du verloren gehst“, jubelte Annas Mutter höchst erfreut darüber, dass ihre Tochter sicher von einem starken, zuverlässigen männlichen Wesen heim gebracht wurde, das endlich einmal nicht so flippig erschien, wie all die anderen Jungen, die Anna sonst anschleppte. Sebastian strahlte diese enorme Zuverlässigkeit aus. Vielleicht gerade deshalb, weil er wenig spontan und beweglich war.

Eigentlich ist er so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was ich mir unter meinem Traummann vorstelle, überlegte Anna. Aber irgendetwas zieht mich zu ihm hin. Sie konnte sich nicht erklären, was es eigentlich war. Oh, er hörte sich gerne reden. Dabei schaffte er es selten mal, auf den Punkt zu kommen, zerredete fast jedes Thema und merkte nicht einmal, wie sehr er das junge Mädchen mit seinen Endlosmonologen langweilte. Mit neunzehn Jahren war Basti eher der nüchterne, der gründliche, der zuverlässige, der realistische Mensch, der Emotionen nicht ausstehen konnte, weil sie viel zu unkontrollierbar schienen. Ein zweiter Homo Faber irgendwie. Er hasste es, Dinge nicht im Griff zu haben. Die Themenwahl, mit der er meinte, Anna gut zu unterhalten, zeugte von kaum vorhandener Empathie: „Soll ich dir mal erklären, wie so ein Motor aufgebaut ist?“, fragte er Anna und fand das höchst unterhaltsam und spannend und vielleicht sogar romantisch. „Mach nur“, erwiderte diese gottergeben, ließ ihn blubbern und hörte gar nicht richtig hin. Aber gut erzogen setzte sie immer eine interessierte Miene zu seinen langweiligen Ausführungen auf und überlegte dabei lieber, ob sie sich nun endlich mal küssen sollten oder nicht, ob mit oder ohne Zunge und wie sich das wohl anfühlt. Man, sie war längst überfällig, was die Knutscherei betraf. Ihre Freundinnen konnten schon fast alle mitreden. Und bevor sie in die Straße einbogen, in der ihre Familie wohnte, geschah es dann: Hm, ganz schön störend seine Brille und die Zähne waren auch irgendwie im Weg. Ihre Lippen berührten sich, sie bekamen es hin und es schmeckte nach mehr. Komisch, der Kuss kribbelte sogar im Bauch. Anna wusste, dass es auch für Sebastian der erste Kuss war, obwohl er betont lässig so tat, als hätte er schon reichliche Erfahrung, aber seine Unsicherheit entlarvte ihn. An der Haustür verabschiedeten sie sich und Bastian fragte: „Treffen wir uns morgen in der Stadt?“ Hätte Anna seine Frage verneinen sollen? Wäre das vielleicht die bessere Option für ihr und auch Sebastians Leben gewesen? Optisch war er eigentlich nicht wirklich ihr Fall! Er wirkte so überhaupt nicht lässig und cool, wie Anna das bei Jungen mochte, sondern angespannt und ziemlich verkrampft. Trotzdem sagte sie: „Ja!“

Das junge Mädchen war sich nicht sicher, ob sie etwas Festes mit Sebastian wollte. Aber gab es noch ein Entkommen? Die Weichen hatte sie mit ihrer Jasagerei und der Knutscherei gestellt und leicht ließ ein Sebastian sich nicht mehr abschütteln.

Eigentlich schien doch der David mit den wunderschönen braunen Augen und Locken aus dem Tennisclub, bei dem sie immer ganz rot wurde, die letzten Male äußerst interessiert an ihr. Sollte sie besser doch noch abspringen und auf ihren Traumprinzen warten?

Dieses Pärchending zwischen Sebastian und Anna

Von da an verbrachten sie sehr viel Zeit miteinander, probierten an Sebastians Lieblingsfrittenbude die sensationelle Frikadelle Spezial, die es nur dort gab, hockten abwechselnd bei Anna oder bei seinen Eltern und spielten „Mensch ärgere dich nicht“ und das „Spiel des Lebens“ , gingen manchmal ins Kino, häufig ins Theater und zum Eislaufen.

Ein Grund für Bastis Dilemma, beim Thema Sex zunächst nicht weiterzukommen, lag natürlich darin, dass die beiden nie ungestört zusammen sein konnten. Draußen auf der Straße hatte er nur ein einziges Mal riskiert, unter Annas Pulli zu greifen, mit dem Resultat, dass er eine schallende Ohrfeige kassierte. „Mach das nie wieder“, hatte sie mit hochrotem Gesicht gefaucht. Anna konnte ganz schön bieder sein! Oder lag es daran, dass sie sich gar nicht sicher war, ob Sebastian der Richtige ist?

Dann, eines Abends erschien Basti freudestrahlend bei seiner Freundin. „Basti, was ist los, du strahlst ja über alle vier Backen!“, begrüßte Anna ihn frech. „Du, ich habe heute ein Auto gekauft und auch schon den ultimativen Kuschelparkplatz für uns beide aufgetan.“ „Aha“, entgegnete Anna nur und man sah ihr nicht an, was sie wirklich dachte. Fast täglich holte Basti seine Freundin nun ab und ganz selbstverständlich fuhren sie auf „ihren“ Parkplatz. Stundenlang hielten sie es so miteinander aus, erzählten sich ihre geheimsten Gedanken und genossen die extrem intime Zweisamkeit. „Anna, alles ist ganz leicht, wenn wir zusammen sind“, schwärmte Basti. In solchen Augenblicken waren sie sehr glücklich miteinander, ohne wenn und aber, obwohl Anna… Egal!

„Komm, Anna, gehen wir zu mir nach Hause! Meine Mutter fragt die ganze Zeit nach dir“, schlug Sebastian immer dann vor, wenn ihm so gar nicht einfiel, was er und Anna unternehmen sollten. Dort überschüttete Sebastians Mutter Anna mit Schokolade, ausgefallenem Süßkram und Redeschwällen. Kaum hatte Anna das Wohnzimmer betreten, stand auch schon ein Teller mit auserwählten Kalorienbomben bereit. „Wollt ihr mich mästen?“, fragte Anna entsetzt, denn ihr war klar, dass sie diesen Versuchungen nie im Leben widerstehen konnte. „Bei deiner Figur darfst du sogar den Teller noch mit verspeisen“, mischte Basti sich ein. Kein Wunder, dass Sebastian immer mit Figurproblemen kämpfen muss, dachte Anna dann insgeheim.

Und manchmal entstand bei Anna der Eindruck, Frau König lege es mit allen Mitteln darauf an, dass sie sich mit ihrem Sohn wohlfühlt. Aber Süßigkeiten als Bestechung kann sie vergessen, brummte Anna missmutig und fühlte sich in die Enge getrieben.

An einem dieser Nachmittage fragte Sebastians Vater: „Anna, kommst du am Wochenende mit an die Biggetalsperre?“

Und schon am folgenden Samstag war es dann so weit! Der künstliche Stausee schillerte und funkelte in der Sonne in den verschiedensten Blautönen und damit in Annas Lieblingsfarben. Na, wenn das kein gutes Omen war!

„Dieses herrliche Blau, Basti schau nur, wie schön!“, schwärmte Anna. „Komm, es gibt eine idyllische, einsame Bucht, die nur Liebespaare betreten dürfen“, lockte Basti seine Freundin vom Rest seiner Familie weg, „die wurde letztens speziell für uns angelegt! Hilf mir bitte mal.“ Gemeinsam breiteten sie eine Decke aus und machten es sich gemütlich. Anna hatte sich extra noch einen ganz knappen schwarzen Bikini zugelegt. Basti gefiel, was er sah. Die strahlende Sonne, die wohlige Wärme, der See zum Abkühlen und Sebastian liebevoll an Annas Seite, alles schien perfekt. Glücklich kuschelte sie sich entspannt in seine Arme. Doch plötzlich sprang er auf und rannte, wie von einer Tarantel gestochen zum Wasser. „Hast du in einem Wespennest gesessen, Basti? Oder was ist los?“, rief sie ihm kichernd hinterher. Anna, in punkto Männerreaktionen auf heiße Küsse hin recht unbedarft, war noch damit beschäftigt, sich über Sebastian zu wundern, als sie ihren Augen nicht traute. Was bitte war das? Sie rieb sich die Augen vorsichtshalber noch einmal gründlich, aber das Bild vor ihr entpuppte sich keineswegs als optische Täuschung. Die Naht von Sebastians Badehose hatte sich komplett aufgelöst und sein Hinterteil blitzte weiß in nackter Unschuld in der strahlenden Sonne. Ein unbändiges Lachen schüttelte Anna. „Hilfe, Basti, also wirklich“, stammelte sie. Sebastian drehte sich verwirrt um und verstand gar nichts mehr. „Warum um alles in der Welt lachst du mich aus?“; fragte er pikiert. Weil er nach dem heißen Kuss die Abkühlung ganz dringend brauchte? Das war ja nun ganz und gar nicht nett von ihr! „Sebastian, was ist denn mit deiner Badehose?“, konnte Anna endlich nach einem Endloslachanfall fragen. Seine Hände wanderten nach hinten und bekamen nur nackte Haut zu fassen. „Hä? Auch du Schande. Was ist das denn?“ Irritiert stand Sebastian dort bis zu den Knien im See, untersuchte mit den Händen den aktuellen Zustand seiner Badehose an seiner Rückfront und sein Gesichtsausdruck sprach Bände, als er die aufgelöste Naht ertastet hatte! Die ganze Situation war ihm mehr als peinlich. Zum Glück hatte er eine zweite Badehose eingepackt und die kam jetzt ganz schnell zum Einsatz.