P - Trauriges Reisen - Jochen Schliemann - E-Book

P - Trauriges Reisen E-Book

Jochen Schliemann

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Beschreibung

Tim Ross verlässt seine Wohnung, um zur Arbeit zu gehen, und kommt nicht mehr nach Hause. Ohne den nächsten Schritt zu kennen, lässt er sich von seinem Unterbewusstsein treiben, das ihn von seiner deutschen Haustür einmal um die Welt und abschließend an den Schauplatz seiner Kindheit führt. Ein schräger Trip zu abgelegenen Orten und zum Kern der menschlichen Suche nach Sinn, bei der die Grenzen zwischen exotischer Realität und wilder Phantasie immer weiter verschwimmen. Jochen Schliemanns Debütroman ist ein unkonventioneller, ein alternativer Reiseroman, eine Antithese zu den harmoniesüchtigen Berichten und Bildern, die uns allerorts begegnen. Schliemanns tiefe Liebe zum Reisen ist in jeder Zeile seines Debütromans spürbar - aber auch die dunkle Seite des Unterwegsseins, die allzu oft ausgeblendet wird. Alle geschilderten Orte liegen fernab der gängigen Touristenwege. Schliemann hat diese in mehrmonatigen Reisen selbst besucht - nicht immer ohne Risiko. Seine realistischen und atmosphärischen Schilderungen vermischt er mit Fiktion und assoziativem Schreiben. Hinzu kommen kritische Beobachtungen seiner Generation, die taumelnd zwischen zu vielen Möglichkeiten, Spießertum, dem Erbe der Älteren und der eigenen Selbstinszenierung durch die Welt irrt.

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Frei zu lernen, ohne Schuld.

Inhalt

BOLIVIEN

EINS

NAIROBI

RUANDA

BUENOS AIRES

SALTA

JAMAIKA

KUBA

USA

GRÖNLAND

BANGKOK

LAOS

INDIEN

SCHLAF

JAPAN

MALI

ZWEI

DREI

VIER

BOLIVIEN

Weiß. Spiegelglattes, grelles, für das Auge viel zu helles Weiß. Oben wie unten. Rechts wie links. Überall. Tim stand auf einer kleinen Anhöhe und blickte in ein rundherum alles dominierendes, alles ausmerzendes Weiß. Seine Augen schmerzten. Würden seine Pupillen noch kleiner, würden sie verschwinden. Und doch traf immer noch viel zu viel Licht auf seine Netzhaut und verbrannte sie wie ein Flammenwerfer ein ausgedörrtes Blatt.

Neben ihm auf diesem Eiland inmitten dieses weißen Meeres war nicht viel. Es ragten noch ein paar Kakteen in die Höhe. Weit größer als Tim waren sie, und zu ihren Füßen, auf dem steinigen Untergrund, hatten sich ein paar gelbe Halme zu kniehohen Büscheln gesammelt. Nur diese Pflanzen schafften es, dieser extremen Trockenheit zu trotzen.

Die Atacama-Wüste in Chile und die danebenliegende Salar de Uyuni in Bolivien waren der lebensfeindlichste Raum, in dem Tim bisher gewesen war und jemals sein würde. Letzteres schwor er sich gerade. Denn seine Lippen waren spröde wie rissiges Schleifpapier, seine Gesichtshaut spannte, war verbrannt, seine Hände waren rissig, eine Dose Feuchtigkeitscreme wäre binnen Sekunden gänzlich in seiner Haut verschwunden, und er musste scheißen. Tim musste scheißen. Und zwar richtig. Gewaltig. Mit ungewissem Ausgang. Und zwar jetzt. Nicht gleich. Die Signale durchfuhren ihn in dieser Sekunde, der innere Alarm wurde ausgelöst, und er kannte sich gut genug, um zu sagen: Das wird etwas Besonderes.

Drei Tage waren er und die drei jungen Engländer, die er im letzten Dorf kennengelernt hatte und die auf Drogensafari durch Südamerika waren, in einem weißen Jeep, der im Gegensatz zur aktuellen Umgebung allerdings eher gelblich-grau schien, durch dieses wahrscheinlich trockenste Gebiet der Welt gefahren. Auf über 4.500 Metern waren sie teilweise gewesen, hatten in heißen Quellen gebadet, die nach Schwefel stanken, waren über unendliche, menschenleere Gebirgspässe gerast und durften wirklich unfassbare Weiten und Farben sehen.

Einmal waren die vier – Fahrer Pedro machte derweil ein Nickerchen im Jeep – stundenlang durch einen bizarren tiefroten See gewatet. Durch knietiefes, rotes Wasser, vorbei an weißen Salzschollen, um zu einem gelb bewachsenen Berg zu gelangen, der unter einem glasklaren blauen Himmel thronte und vor dem sich in dem blutroten Wasser eine Flamingokolonie niedergelassen hatte. Aus dem Wagen hatten sie dieses entrückte Panorama gesehen und Pedro sofort zum Anhalten bewegt.

Tim hatte sich wie auf dem Mars gefühlt bei diesem Spaziergang. Zumal die Münder der anderen sich zwar bewegt hatten, aber ihre Worte in dem extremen Wind nicht zu hören waren. Das Pfeifen des Windes war so stark und unerbittlich gewesen, dass Personen, die nur wenige Meter von ihm entfernt waren, meilenweit weg schienen.

Erst nach etwa einer Stunde Wanderung hatten sie realisiert, dass sie es nicht schaffen würden. Der Wind, die Kälte, die Sonne, die Trockenheit, das Salz, das sich immer mehr auf ihnen niedergelassen hatte – hatten sie kapitulieren lassen. Wie euphorisch waren sie noch aus dem Wagen gesprungen und wie aufgeregt waren sie runter zu diesem völlig bizarren Stück Natur gerannt und hatten damit eigentlich schon ihren Sauerstoffvorrat in der so dünnen Luft verprasst. Aber der Blick hatte sie alles vergessen lassen. Das konnte es eigentlich gar nicht geben. Nicht auf diesem Planeten. Und wie geschunden waren sie wenig später zurückgekehrt mit trockenen, salzigen Mündern, aufgeplatzten Lippen, durchgefroren und hungrig.

Übernachtet hatten sie in irgendwelchen Betonverschlägen an irgendwelchen Pisten in irgendwelchen leerstehenden Etagenbetten. Graue Baracken – voll mit Sand und Staub. Geschlafen hatte Tim immer wie ein Stein, bis er in einer Nacht aufgewacht war mit dem Gefühl, ersticken zu müssen. Er hatte stechende Kopfschmerzen, sein Körper schrie nach Sauerstoff, Schwindel, Atemnot, Pissen-Müssen. Er schälte sich aus seinem gerade ausreichend warmen Schlafsack und ging raus in die viel zu kalte Nacht.

Der Sauerstoffgehalt auf dieser Höhe war zu niedrig, das hatte er geahnt, aber die Ausmaße hatte Tim nicht ernst genommen. Sein Körper war eigentlich seit Tagen im Ausnahmezustand, und jetzt meldete er sich immer deutlicher. Zudem pendelte die Temperatur in dieser Region in der Zeit eines Sonnenuntergangs zwischen trockener Hitze im Hellen und zweistelligen Minusgraden im Dunkeln. Was Tim dazu bewegte, nur ein bis zwei Schritte aus dem Verschlag zu gehen und einfach auf den Platz vor dem Eingang zu pissen, über den morgens jeder gehen würde.

Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt wegen der Kälte, sein Schädel pochte, seine Urin schien sofort zu verdampfen, als er in den sandigen Boden einschlug, den Tim seltsamerweise ziemlich gut erkennen konnte. Dunkelblau schimmerte er. Tim richtete seinen Blick nach oben, und sein Herz blieb fast stehen. Als könnte er reingreifen in dieses Meer aus Sternen, das über ihm leuchte. Millionenfach glitzerten sie. Bei den großen konnte er fast eine eigene Form erkennen, die kleinen waren ebenfalls klar definiert und verwischten, erst als sie sehr klein wurden und gleichzeitig immer zahlreicher, zu schimmernden Schleiern.

Tims Herz tanzte. Er versuchte kurz, sich an ein paar Sternbilder zu erinnern, irgendetwas zuzuordnen, aber er konnte sich nicht konzentrieren bei dieser Pracht, die sich über ihm von Bergkette zu Bergkette und dahinter noch weiter in die Endlosigkeit erstreckte. Fast meinte er die Wölbung der Atmosphäre zu erkennen. Das Universum in all seiner Pracht zeigte ihm heute sein scheues, aber funkelndes Antlitz. Es war nicht ein Bild oder ein Moment, es war kein Foto oder eine Anekdote, es war ein nicht enden wollendes expressionistisches Gemälde, das keine Kamera, kein Mensch, niemand in Worte oder irgendetwas anderes fassen konnte, geschweige denn begreifen.

Tim war ganz ruhig. Wenn das alles wirklich existierte – und es war ja da – dann hatte er kein Problem. Dann war seine Existenz tatsächlich so unbedeutend, wie er sich das immer gewünscht hatte. Dann war er nicht in der Lage, auch nur irgendein Leid bemerkenswerter Größe zu verursachen. Aber wieder konnte er diesen Gedanken nicht zu Ende bringen, weil ihn die schiere Pracht des Himmels übermannte. Wäre es nicht so unfassbar kalt und windig gewesen, er hätte sich den Nacken ausgerenkt. Oder sich hingelegt und sich gezwungen, niemals mehr einzuschlafen, um ja nicht auch nur eine Sekunde diesen Anblick zu verpassen. Dieses wunderschöne, brachiale Firmament, das jede Form von Logik überstieg.

Als Kind hatte er sich immer wieder die Unendlichkeit des Universums vorzustellen versucht. Er liebte es, an die Grenzen des Begreifbaren zu kommen. Den Moment, in dem sein auf Logik geschultes Gehirn schlicht kapitulierte. Wo war der Anfang von allem? Und vor allem: Wo endete es? Und was war dahinter? Alle jemals gewonnenen Erkenntnisse, alles geballte Wissen und alle Kapazität eines Gehirns konnten das nicht sagen. Der Ausgangspunkt und das Ende von allem waren unlogisch. Der Mensch würde nie ganz verstehen. Tim beruhigte das. Ihn hatte das schon immer sehr glücklich gemacht, und noch nie war diese Unlogik so zum Greifen nah wie in diesem Moment.

Er hielt es gegen jede medizinische Vernunft noch etwas aus und ging, nicht ohne sich noch dreimal umzudrehen und nach oben zu schauen, wieder rein. Im Schlafsack wurde ihm klar, wie tief die Kälte in seine Knochen gedrungen war. Ewigkeiten dauerte es, bis sein geschwächter Körper sich wieder aufgewärmt hatte.

Worte, Schritte und Knistern weckten ihn auf. Als er in der bereits früh morgens gleißenden Sonne seinen Koffer neben die Wanderrucksäcke in den Jeep stellte, schaute er nach unten an die Stelle, an die er gepisst hatte. Nichts zu sehen. Und er schaute nach oben. Nichts zu sehen. Von dem, was da gerade immer noch ist. Er grinste.

Als der über Nacht ausgekühlte Jeep losfuhr und die Sonne schnell durch die geschlossenen Scheiben begann, ihn aufzuheizen und das Raumklima etwa für zehn Minuten in einem angenehmen Zustand zu halten, bevor alles zu heiß wurde, schaute Tim aus dem Fenster und schwieg. Das Gerede der anderen nahm er nur als Geräuschteppich war. Seine Augen hakten aus, konnten sich nicht mehr fokussieren, und trotzdem sah er scharf. Weil er weit genug schauen konnte.

Über Schotterpisten passierten sie malerische, schneebedeckte Berge, spiegelglatte Seen, Kraterlandschaften, aus denen gelber Rauch aufstieg, Sandwüsten mit über Jahrtausende erodierten Felsen, die unlogische Formen hatten.

Ungefähr an diesem Tag musste es passiert sein. Rückblickend war logisch, dass Mayonnaise, die tagelang hinter einem Autofenster bei Temperaturen zwischen 30 Grad plus und 15 Grad Minus gelagert wurde, nicht im besten Zustand sein konnte. Die Keime mussten Tango getanzt haben auf dem weiß-gelblichen Fetthaufen, der in der nur halbverschlossenen Dose wahrscheinlich sogar noch ein wenig gewachsen war. Doch bei einem existenziellen Hungerschub auf dieser Höhe war reflektiertes Denken nicht möglich. Außerdem gab es eh nichts anderes. Er stopfe alles in sich hinein.

Und genau jetzt, einen Tag und eine bereits unangenehme Nacht später, schoss Tim auf dieser kargen kleinen Anhöhe mitten im Nichts, mitten in der Salar de Uyuni, unmissverständlich und ohne große Vorankündigung die Erkenntnis ins Bewusstsein: »Ich. Muss. Scheißen.« Genau jetzt. Die anderen winkten schon vom Jeep unten am Rande der Insel, aber es gab keinen Diskussionsspielraum. Und während Tim das noch zu Ende verstand, ging er bereits wie ferngesteuert den Weg zu diesem von Latten eingezäunten Loch im Boden, das sich Toilette schimpfte. Keine Sekunde länger hätte es dauern dürfen. Nicht auszudenken was passiert wäre, wenn sein Gürtel gehakt hätte. So blieb vorerst eine epochale Erleichterung, der allerdings schon auf dem Weg zum Jeep die Erkenntnis folgte: Es ist noch nicht vorbei.

Es gab nur einen Weg. In ein Bett, zu einem Arzt oder gleich in ein Krankenhaus. Und der einzige Weg hier raus führte mitten durch das Weiß. Tim durfte vorne sitzen. Ein Privileg, aber die Engländer verstanden nach ihren ersten 20 sarkastischen Kommentaren relativ schnell, was los war. Hinter Tim quetschten sie sich auf die Rückbank. Der eine in der Mitte, Phil, hatte sein Telefon in der Hand, das durch ein Kabel mit dem Autoradio verbunden war. Er war dran mit Musik. Phil entschied sich, der Landschaft und nun auch Tims Zustand angemessen für Pink Floyds »Dark Side of the Moon«.

Was hatten sie schon für große Musikmomente gehabt in diesem Jeep. Etwa als sie Queens »Greatest Hits«, Teil 1 und 2, komplett durchhörten. Immer lauter machten sie. Pedro schaute nur verdutzt, hatte aber letztlich keine Wahl und sang schließlich irgendetwas mit, obwohl er die Songs gar nicht kannte, als sie zu fünft in diesem Wagen viel zu schnell über einen Gebirgspass rasten.

Von außen muss das gewagt ausgesehen haben, von innen war es Wahnsinn. Die Engländer standen fast, als Tim »Bohemian Rhapsody« anmachte. Jede Zeile sangen sie mit. Erst eierten ihre Stimmen im bemüht gefühlvollen Bereich, dann kam das »MAMAAAAAA!!!!!«. Und ab dann wurde eigentlich jede Zeile unterstützt von geballten Fäusten wie bei Tennisspielern, die einen Satz im Endspiel gewonnen hatten.

Selbst die Chöre sang der kleinste der drei Engländer mit. Das Solo spielte der Lange, während Tim versuchte, den Fahrer mitzureißen. Und als der Operettenpart, den Tim bis heute niemals auch nur im Ansatz verstanden hatte, aber komplett auswendig konnte, eingeleitet wurde von den knappen Pianoakkorden, stand England auf. Im fahrenden Jeep, auf 3.500 Meter Höhe. Und als dann der Operettenteil – perfekt intoniert von allen Beteiligten exklusive Pedro – in den Rockteil mündete, entkoppelte sich die Situation komplett. Haare flogen, halbleere Wasserflaschen, ein vor Freude schreiender Bolivianer, der sinnentleert aufs Gas drückte, Hände an den Schultern, Bangen bis zum Schleudertrauma – sie rasten in den Orbit.

Als dieses Retro-Armageddon schließlich endete mit den versöhnlichen bittersüßen Zeilen »Nothing really matters to me«, erfüllte Rührung die dünne Luft. Es gab sogar ganz ehrlichen, gerührten Applaus und dann Ruhe. Tim machte keinen neuen Song an, und wo sonst nach Sekunden Vorschläge durch den Raum flogen, herrschte kurz Ruhe. Der Wagen rollte über eine relativ ebene Strecke, das dumpfe Ruckeln war das Einzige, was zu hören war, alle waren bei sich.

Der Gedanke an diesen Moment war gerade das Einzige, was Tim half. Stundenlang ruckelten sie bereits durch eine selbst durch Sonnenbrillen nicht erträgliche gleißende Hölle aus spiegelndem Weiß. Pedro musterte Tim immer wieder, um seinen Zustand zu kontrollieren. Tim sah sich dann kurz in Pedros verspiegelter Sonnenbrille – er sah seinen eigenen Kopf und das Weiß. Dann schaute er wieder nach vorne in der Hoffnung, irgendein Zeichen von Zivilisation am Horizont erkennen zu können.

Aber der Horizont war verschwommen durch die Hitze, und der kniehohe Wasserfilm verstärkte die Reflexion des Salzes am Grund der Salar de Uyuni so sehr, dass Tim das Gefühl hatte, er sei in einem viel zu hellen Raum ohne Wände. Ohne Widerstand, ohne Atmosphäre. Sie fuhren durch einen komplett weißen Raum aus Licht, während Pink Floyds »Dark Side of the Moon« die Geschichte eines Menschen erzählte, der langsam, aber sicher schizophren wird. Tims Gedanken machten ab jetzt alleine weiter.

Tim liebte Freddie Mercury. Für ihn war Freddie Mercury nicht nur der Inbegriff eines Sängers und eines Frontmannes einer Band namens Queen, er war auch ein leuchtendes Vorbild dafür, wie man ein Leben führen kann. Mercury war ein hässlicher Vogel. Er hatte einen Überbiss wie ein Pferd, relativ früh schütteres Haar, war zudem ein durchaus introvertierter Mensch und nicht ohne Komplexe. Beim Lachen hielt er sich die Hand vor den Mund wegen seiner Zähne, und hadern mit sich selbst konnte er angeblich auch besonders gut. Auf der Bühne aber gab es keinen anderen Weg als nach vorne. Nicht blind über alles hinweg. Sondern mitten durch. Trotz allem! Seht her! Ich bin super! Und ihr sowieso!

Tim hatte nie in seinem Leben einen besseren Live-Sänger gesehen. Selbst zweistündige Stadionshows sang Freddie Mercury so kraftvoll wie viele angeblich große Sänger das höchstens zehn Minuten lang können. In jeder freien Sekunde rannte er zudem auf der Bühne herum, feuerte die Menschen an, breitete die Arme aus, wackelte mit dem Arsch – es gab keine Grenzen. Auch modisch. Freddie kleidete sich teils fast unerträglich schrill, aber für Tim war dieser Mann, je länger er über das Leben nachdachte, die coolste Sau auf dem Planeten.

Freddie hatte garantiert viele Kämpfe mit sich auszutragen gehabt. Am Ende die schreckliche Krankheit, davor sicherlich irgendwann die schlimmerweise damals noch weniger gern gesehene Homosexualität. Aber Freddies Lösung hieß immer: nach vorne. Das Leben nehmen, es umarmen, sich nicht verstecken. Trotz oder gerade wegen des Leids die größten Songs der Welt schreiben und darin nicht einfach Sachen nur zu verarbeiten, sondern daraus etwas Neues bauen. Es gibt keinen anderen Weg, als sich zu lieben. Als von Moment zu Moment das Beste zu geben und zu nehmen. Leben war jetzt. Alles andere machte keinen Sinn. Reue funktioniert nicht, Selbsthass funktioniert nicht, Schuld funktioniert nicht, Angst funktioniert nicht. Und dennoch war es so schwer, das umzusetzen. Freddie half Tim dabei, es zumindest zu versuchen.

Damit war auch dieser Gedankengang verbraucht. Der Wagen wackelte in Weiß. Tim nahm jetzt alles nur noch schemenhaft war. Magenkrämpfe, permanente Übelkeit, Kopfschmerzen sowie die komplette Unsicherheit darüber, wie schlimm es noch werden würde, was da genau in ihm passierte, was sich da vermehrte, und was am Ende dieses Horrortrips auf ihn warten würde, schossen durch seine schwammige Wahrnehmung. Hinzu kamen die Sorge und leider auch die unbewusste Hoffnung, dass der Damm bald ein nächstes Mal brechen würde. Erleichterung. Endlich raus mit der Scheiße.

Aber wohin? Und wie würde das ablaufen? Dem Fahrer sagen, dass er anhalten soll? Und wenn der zunächst ungläubig schaute, lauter werden, ihn schnell anschreien, zur Not die Handbremse selbst ziehen, da es hier um Millisekunden ging? Die Tür während der Fahrt noch aufreißen, raus in die Hitze, die sofort im Nacken brannte und einfach rein mit den einzigen Schuhen in das kniehohe, ätzende Nass? Hose auf, Hose runter und das ganze wunderbare Weiß vollpumpen mit Scheiße?

Unter den Augen Englands und Boliviens würde ausgehend von Tims Arsch dieses wunderbare, jahrtausendealte und unberührte Naturwunder, für das Menschen aus der ganzen Welt anreisen, vollgepumpt mit Kot. Mit brauner Soße, die diese unwirkliche Schönheit zunächst infiltrierte wie Blut, das in einen Tropf zurückläuft. Sich dann langsam und immer mehr ausbreitete wie Kirschsaft im Bananensaft. Und dann diesen kompletten verfickt weißen und nahezu unberührten Fleck Erde für immer und komplett tauchen würde in Kotbraun. Alles wird braun. Von Tims Scheiße. Der Himmel, das Wasser, der plötzlich fallende Regen, die Erde, der Jeep, die Gesichter der Engländer und Pedros.

»Us And Them« hallte es durch die Boxen. Und jeder kleine Hügel, jede Unebenheit rückte Tim näher an diesen Moment. Sein Sichtfeld flimmerte, sein Hirn surrte wie ein offenes Kabel im Regen, seine Augen stimmten ein und waren längst ausgehakt, aber er sah ohnehin nichts mehr. Das Finale von »Dark Side of the Moon« umwaberte ihn in unendlichem Hall, gebückt saß er da, bewegte sich nicht mehr, war ganz ruhig von außen. Er musste irgendwie bei Bewusstsein bleiben, damit er nicht bei der nächsten Unebenheit mit dem Kopf auf das Armaturenbrett knallte.

Als der Wagen irgendwann nach einem letzten starken Ruck vom Salzsee auf eine Schotterpiste fuhr, war er zu schwach, um sich zu freuen. Als sie schließlich das kleine Dorf Uyuni erreichten und direkt zum Krankenhaus fuhren, behielt man ihn sofort da. Er saß nur kurz im Wartezimmer. Andere Patienten steckten gern zurück, so, wie er aussah. Er wurde hingelegt, an einen Tropf angeschlossen, hatte wenig später nur ein Nachthemd an (was praktisch war bei seinem nicht enden wollenden Drang zu scheißen) und lag in einem Raum ohne Fenster. Ein leeres Bett stand neben ihm.

Tagelang lag er dort. Der Tropf pumpte ihn voll, sein Darm pumpte ihn leer. Dr. Mario kam morgens mittags und abends. »Germany! Alemania!«, freute er sich jedes Mal. Machte Scherze vor dem ihn begleitenden Ärzteteam. »Beckenbauer, Rummenigge«, hörte Tim aus dem Mund des in die Jahre gekommenen bolivianischen Doktors mit italienischen Wurzeln. Ein bisschen »Scorpions«, ein bisschen »Oktoberfest« – das Übliche halt, das ganze deutsche Programm. Tim konnte sich nicht wehren.

Teilnahmslos lag er da, als Dr. Mario ihm den Arm abband, eine zu große Spritze auspackte, die Vene suchte mit seinen in Plastikhandschuhen steckenden Fingern, und gerade als er mit der spitzen Nadel durch Tims Haut in die pralle, blaue Vene stach und das Blut in das Gefäß hinter der Nadel herausschoss und durch den von Doktor Mario erzeugten Unterdruck immer mehr wurde im Körper der Spritze, gerade in dieser Sekunde schaute der bolivianische Arzt Tim in die Augen und sagte mit breitem Grinsen: »Hitler was a good man.«

Die Tage waren lang. Und es wurden immer mehr. Tim starrte die Wand an. Stundenlang. Er musterte jeden einzelnen Riss in dem durchschnittlich verputzten Gemäuer. Irgendwann kam die Oberschwester und erkundete sich nach seinem Befinden. Eine komplette Änderung seines Zustandes war bisher ausgeblieben. Es war besser, er war stabil, aber gut war es nicht. Die Schwester meinte allerdings auch seinen psychischen Zustand. Wie es ihm ginge. Tim schüttelte den Kopf, schwieg und starrte die Wand an.

Der Doktor kam hinzu. Er musterte Tim. Einige Zeit unterhielten die Schwester und Mario sich auf dem Gang. Dann verschwand sie kurz und kam wieder mit einem silbernen Tablett, auf dem etwas lag, das so aussah wie Tims Spültabs zu Hause. Eingeschweißt in Plastik war dieser Klostein. Groß, blau und weiß an den Rändern und in der Mitte mit einem roten Punkt. Daneben stand ein Becher Wasser, in den der Stein kaum reingepasst hätte. Mit Worten und Gesten machte die Schwester Tim klar, dass er das Ding jetzt nehmen sollte. Er fragte mehrmals nach, aber beide, die Schwester und Dr. Mario, nickten. Immer wieder. Unmissverständlich. Tim nahm das Ding, presste es mit dem Schlückchen Wasser vorbei an seinem Kehlkopf durch seinen Hals, der wehtat danach. Jeden Zentimeter seiner Speiseröhre spürte er das Teil hinunterwandern. Er sank zurück in sein Bett. Und fiel in einen tiefen Schlaf.

EINS

Tim nahm seine Jacke vom Haken. Er zog sie an, sah in den Spiegel. Er schaute sich in die Augen und begutachtete die grünlich schimmernden Ränder unter ihnen. Je näher sie der Mitte seines Gesichtes kamen, desto dunkler wurden sie. Fast schwarz. Er drehte sich um und sah durch den Türspalt kurz den Wohnzimmertisch, den er auch mal wieder aufräumen müsste.

Er öffnete die Haustür, trat hinaus und zog sie hinter sich zu. Er schloss ab. Er ging die Treppen herunter, zückte dabei – wie immer – bereits sein Telefon und studierte erste News und Nachrichten. Er verließ das Haus, ging links die Straße entlang, rechts runter in die U-Bahn. Er wartete auf die Bahn. Er wartete länger auf die Bahn. Bis der kalte, schmutzige Wind, der ihm ins Gesicht blies, die Einfahrt des Zuges ankündigte. Er stieg ein, bog rechts ab durch die sich am Eingang drängenden Menschen, er setzte sich hinten in die Ecke auf den einzigen allein stehenden Schalensitz aus Plastik. Der Zug fuhr an.

Ein paar Stationen später sah Tim hoch. Menschen. Es wurden mehr. Er ließ den Blick schweifen. Taschen, Jacken, Hosen, Schuhe, Ärsche, Gesichter, Kinder, Spiegelbilder in den Fenstern. Manchmal trafen sich kurz zwei Augenpaare, aber niemand hatte ernsthaft das Bedürfnis nach Kontakt. Niemand war freiwillig hier.

Manchmal, wenn die Bahn stand in einem dieser Tunnel, in diesem scheinbar unendlichen unterirdischen Geflecht aus schwarzen Schläuchen, manchmal, wenn Tim lange genug durch die Scheibe nach draußen ins Schwarz starrte, erkannte er die Wand des Gemäuers. Dunkel und pelzig vom Smog war sie. Zu schmutzig für Schwarz. Eher ein fast schwarzes Grau, das nur durch jahrelange Penetration mit Abgasen, schwüler Hitze im Sommer und erbarmungsloser Kälte im Winter hatte entstehen können.

Tim starrte auf dieses Gegenteil von allem Schönen, studierte den giftigen Staub und Moder und merkte irgendwann, wie seine Augäpfel aushakten. So nannte er diesen Vorgang. Nichts wurde mehr fokussiert, alles verschwamm. Seine Augen waren weit geöffnet, alle optischen Informationen flossen hinein durch die beiden Löcher in seinem Frontkopf, der volle Schwall an Informationen wurde gespiegelt und an seine Netzhaut projiziert.

Aber irgendetwas in seinem Blickfeld zu fokussieren, irgendetwas in sein Bewusstsein zu lassen – sein Geist tat es einfach nicht mehr. Die Stimmen um sich herum nahm Tim dann nur noch als dumpfes Rauschen wahr. Das Gemecker der Spießer, das Geschrei der Kinder, das Telefonieren der Egomanen, das Husten der Kranken, das Betteln der Penner, das Gelaber der Verrückten, die Durchsagen der Roboter.

Angekommen im Bahnhof, der seiner Arbeitsstelle am nächsten lag, schlängelte Tim sich durch das Abteil – vorbei am unerträglich engen Aneinander von Umständen, Zuständen, Eigenarten, Gerüchen und Egos – zum Ausgang und ließ sich auf den Bahnsteig spucken. Eiskalt war es. Sein Körper war hermetisch abgeschottet von der Außenwelt. Schal, Jacke, Schuhe, Mütze – er konnte sich kaum bewegen. Er hasste Kälte. Er hasste den Winter. Das ewige Hin und Her zwischen heiß und kalt, trocken und nass, der logistische Großaufwand, den er betreiben musste, wenn er einfach mal nach draußen wollte.

Er ging denselben Weg wie jeden Morgen. In Fahrtrichtung die kaputte Rolltreppe hoch, vorbei an einem nach Chemie stinkenden Nagelstudio, einem Kiosk mit einem Verkäufer, der jeden Tag seines Lebens hier, unter der Erde verbrachte, einem widerlichen Brötchenstand – an dem die bereits leicht oxidierten Industriefleischbrocken hinter einer dreckigen Glasscheibe drapiert waren –, eine Treppe hoch auf die Straße, wo der Tag in der Stadt nun langsam begann. Rentner sammelten sich vor Kaufhäusern, weil sie keine Aufgaben hatten, außer Geld zu sparen, das sie niemals für etwas ausgeben würden. Bizarre kleine Gefährte reinigten in bedrohlich schnellen Bewegungen den Gehweg. Auf Pappkartonresten und unter Lumpenhaufen bewegten sich die Penner, die die Nacht überlebt hatten. Und aufgestylte Frauen stolzierten arrogant, schnell, mit klappernden Absätzen und schnellen Schritten in die Hauseingänge ihrer Arbeitsstellen, während sie sich mit spitzen Fingern und hochgeklappten Lippen ein möglichst kalorienarmes Treibmittelprodukt des Kettenbäckers, der auf ihrem Weg lag, verabreichten.

Tim ging diesen Weg öfter als jeden anderen in seinem Leben. Er hörte Musik dabei, um es zu ertragen. Er kannte jede Ecke, jeden Schriftzug, jedes Haus – das Schild da hinten war neu. Er kannte die Leute, die kahlen Bäume, die kleinen grauen, verdreckten Schneematschhügel in Pfützen, die einfach nicht ganz verschwinden wollten – tausendmal angetaut, dann wieder leicht gefroren, grobkörnig und unter all dem Dreck vielleicht noch ein bisschen weiß, aber nach unten immer grauer bis zu dem schwarzen Wasser, in dem sie standen.

Tim ging seinen Weg. Stehenbleiben wäre schwieriger. Da vorne links, über diese nach oben gewölbte Brücke über den längst umgekippten Stadtsee, vorbei an ein paar Typen, die dort immer soffen, Analogkäse aus dem Supermarkt fraßen und angelten, ohne ernsthaft an einen Fang zu glauben. Und gleich: klingeln, warten, Namen sagen, das Surren, reingehen, Fahrstuhlknopf drücken, Fahrstuhl kommt, Schiebetür auf, Gesichter, Knopf, auf den Boden starren oder ein bisschen Small Talk rauszwängen, aussteigen, Glastür, warten, bis der Empfang dich sieht, diese tonnenschwere Tür ziehen, rein, lügen, dass es einem gut geht, an den Tisch gehen, ausziehen, Powerknopf drücken, setzen.

Als Tim auf die Klingel zuging und seine Hand nur kurz aus der Hose an die klirrende Kälte ziehen wollte, um zu klingeln, verharrte sie noch ein paar Sekunden länger in der Tasche als sonst. Das Lied, das er gerade hörte, fand er gut, und manchmal, wenn das der Fall war, ging er noch einmal um den Block. Hörte das Stück zu Ende. Er gönnte sich das ab und an. Fünf Minuten Freiheit. Verrücktheit. Eigenen Willen. Erfüllung. Das war heute der Fall. Er war eh früh dran.

Er ging vorbei an dem Hochhaus, in dem er arbeitete, und erreichte den Park, den er aus seinem Bürofenster sehen konnte. Jeden Tag sah er diese Grünfläche von oben, die Hunde, die Herrchen, die Omas, die Radfahrer. Die Mütter mit Kind, die Jogger, die Studenten. Aber betreten hatte er diesen Ort noch nie. Auf seinen Extrarunden blieb er immer auf den vorgezeichneten Wegen. Nicht aus Gehorsam. Er hatte einfach nie darüber nachgedacht. Was sollte auf dem Rasen schon sein? Gras, Nässe, Hundescheiße.

Heute ging er, als der Weg eine Biegung machte, geradeaus. Auf den Rasen. Er ging ein wenig und blieb stehen. Er drehte sich um, blickte auf das schmale Grün, das er eben erstmals beschritten hatte, er blickte auf die Stelle, an dem er den Weg verlassen hatte. Er blickte hoch auf das Haus, in dem seine Arbeit wartete. Ein Glas-und-Stahl-Bau, glänzend, stabil, wohl modern gemeint. Weder hässlich noch schön. Funktional. Einfach da. Niemandem konnte dieses Gebäude etwas bedeuten.

Tim sah hinter dem einen Fenster sein Büro. Da standen seine Ablagefächer aus stumpfem Kunststoff auf seinem Schreibtisch. Aus ihnen ragten nicht sauber zusammengelegte Zettelberge. Tim saß dort jeden Tag. Er konnte jeden Tag hier herunterschauen. Er tat es selten. Und wenn er es tat, dann tat er es irgendwie nicht so lange, wie er es müsste, um diesen Platz zu würdigen – dachte er gerade. Diesen völlig unspektakulären Fleck Rasen auf einer völlig unspektakulären Rasenfläche in einer völlig egalen Ecke einer, ehrlich gesagt, völlig egalen Stadt.

Tim ging zurück auf den Weg, der da vorne eine Kurve nach rechts machte. Wahrscheinlich würde er in ein paar Minuten bei seiner Arbeitsstätte rauskommen, wenn er ihr folgte. Auf der anderen Seite des Gebäudes wäre er dann wohl. Er könnte da dann auch klingeln. Hatte er selten gemacht, aber ging. Er ging um die Kurve. Und nun stand er vor der Tür. Er klingelte wieder nicht. Die Hand steckte leblos in der Tasche. Er schaute an sich herunter. Nichts bewegte sich.

Er ging weiter. Weg vom Park in Richtung Stadt. Geradeaus, dann links in ein Wohnviertel. Väter trugen ihre Kinder die Eingangstreppen der Häuser herunter, manche zogen sie auf Schlitten über den letzten Rest Schnee. Die Kufen schrien auf, immer wenn sie über den Teer schleiften. Autos versuchten einzuparken, Restaurants wurden beliefert. Eine Bahnbrücke. Er ging unter ihr durch, vorbei an Plakaten und Graffitis, hinein in ein weiteres Wohnviertel.

Er erreichte ein Café. Es war einer dieser schäbigen Kettenläden, die mit halb amerikanischem, halb künstlichem Vintage-Interieur und einem Namen, der irgendwann vielleicht mal für Urbanität gestanden hatte, versuchten, Menschen anzulocken, die sich in ihm als Teil des städtischen Lebens fühlten, weil sie es nicht besser wussten. Der Laden war voll.

Das Menü mit verzierten Überschriften, das draußen vor dem Eingang hing, war höchst durchschnittlich. »All You Can Eat«-Frühstücksbuffet jeden Sonntag, an dem sich das vom Vorabend noch versoffene Volk schön nach längerem Warten in der Schlange mit all den anderen Lemmingen sammeln und dann fettfressen konnte. Und dann die Hälfte des Mülls, des Salzes, Zuckers und der Kohlenhydrate auf den pro Person durchschnittlich zwölf benutzten Tellern liegenließ, während aus den Boxen Loungemusik kroch, die man nachts im Fernsehen bestellen konnte. Oder Swingalben längst uncooler Künstler oder schwache Coverversionen. Tim hasste diesen Laden, ohne dass er ihn jemals betreten hätte. Er setzte sich hinein.

Der billige, in schlimmem Grün gehaltene Kunststoffstuhl mit sinnlosem Sitzkissenmuster auf der anderen Seite des runden Fake-Marmortisches kippte fast um unter Tims Winterbekleidung. Er bestellte sich einen frisch gepressten Saft für zu viel Geld. Er schaute durch eine Scheibe nach draußen in die Fußgängerzone.

So lange war er schon auf der Welt, und immer noch faszinierte ihn der schlichte Umstand, wie viele Menschen auf ihr herumliefen. Wie viele allein jetzt gerade in seinem Blickfeld waren. Und jetzt wieder weg. Und schon wieder neue. Wie viele an ihm vorbeigelaufen waren – allein in diesen zwei Minuten, in denen er darüber nachdachte, wie viele es von ihnen gab. Alle hatten ein Ziel, ein Zuhause, Aufgaben, Ängste, Hoffnungen, empfanden Freude, Trauer, sie schliefen, redeten und dachten. Seine Kollegen würden jetzt gerade denken, Tim habe die Bahn verpasst. Das war schon einmal passiert. Er käme dann gleich.

Tim schloss die Augen. Er versuchte, an nichts zu denken, und merkte die steinharte Plastiklehne des Kunststoffstuhls in seinem Rücken. Er ignorierte das. Und versuchte wieder, an nichts zu denken. Einfach mal an nichts. Nach ein paar Sekunden begriff er, dass das nicht funktionierte, weil er ja gerade daran dachte, an nichts zu denken.

Er ärgerte sich darüber. Würde er an nichts denken, dürfte ihm ja gar nicht bewusst sein, dass er an nichts dachte. Weil er dann ja nicht einmal denken würde, dass er nichts denkt. In dem Moment, in dem er an nichts denkt, dürfte ihm das also gar nicht auffallen. Und auch nichts anderes. Dann allerdings würde ihm nie bewusst werden, dass er gerade an nichts dachte. Selbst wenn er es gerade täte. Wobei: Wenn er das täte, täte er ja etwas. Also nicht nichts. Und überhaupt: Vielleicht hatte er ja schon oft an nichts gedacht. Aber woher sollte er das wissen? Er hätte ja in dem Moment nichts gedacht. Sein Saft kam.

Der Saft war eiskalt und sauer. Er nippte alle fünf Minuten ein wenig, aber selbst das zerfraß ihm seine Mundwinkel, seinen Gaumen und weiter unten wahrscheinlich auch seinen Magen wie Säure ein vor Schmerz schreiendes Soldatengesicht. Alles war scheiße. Und trotzdem war es zu ertragen. Irgendwie. Wenn er schon seinen Arbeitgeber verprellte, dann wollte er es jedenfalls genießen. Ob sie böse sein würden? Oder Verständnis hätten? Wann würde das Vertrauen in Wundern umschlagen? Wann das Wundern in Unverständnis, wann das Unverständnis in Wut, wann Wut in Sorge, wann Sorge in Resignation, wann wären alle darüber hinweg und könnten weiterleben?

Er kannte diese Situation nicht. Er hatte sich nie vorstellen können, einfach einen ganzen Tag zu lügen und damit leben zu können, nur um frei zu haben. Einfach zu sagen: »Ich kann nicht«, obwohl er konnte. Tim hatte eine Tasse zu Hause. »Blaumacher« stand da drauf. Er verabscheute diese Tasse. Er sah in ihr einen der vielen Beweise für die Armseligkeit der Gesellschaft, in der er lebte. Wenn Tassen mit so einem Aufdruck verschenkt würden, wie bitter, wie fortgeschritten dumm und schwach musste das Volk sein. Sich an ein tausendfach gefertigtes Industrieprodukt mit einer schlechten Wortschöpfung zu klammern, um eine völlig unangebrachte und unerhebliche Form der Selbstgerechtigkeit zum Lifestyle zu erheben, anstatt auch nur im Ansatz ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass diese Tasse nur das nächste Level eines grundlegend falschen Daseins als Diener des Kapitals markierte.

»Blaumacher«. Wie verkommen, wie durchschnittlich, wie kaputt müsse eigentlich alles schon sein, sagte er immer, wenn er jemandem diese Tasse morgens gab. Aber wenn er sonntags mal wieder Angst hatte vor Montag, wenn er nur noch dasaß, in kaltem Schweiß, verkrampft und leer, wenn er einfach nur verschwinden wollte – wählte er diese Tasse und sagte sich selbst dann immer, sie habe halt die perfekte Größe.

Tim zahlte, verließ das Café, ging runter in die U-Bahn-Station, stieg in den nächsten Zug und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz – den Einzelsitz hinten in der Ecke. Angenehm leer war es. Die Massen waren bei der Arbeit. Er schaute in die Scheibe, an der er saß. Kurz sah er sein Spiegelbild im Schwarz, dann hakten seine Augen wieder aus. Er fühlte nichts, fuhr von Station zu Station. Er starrte aus dem Fenster, ohne etwas zu fokussieren.

Die ersten Stationen kannte er, den Hauptbahnhof, die danach auch noch, dann kamen ein paar, an denen er früher mal gestanden hatte, als er noch woanders in der Stadt gewohnt hatte. Dann sah er sein Spiegelbild nicht mehr, weil die Bahn den Tunnel verließ, dann ging es aufs Land, da kannte er nichts mehr. Immer dünner wurde die Bebauung, immer mehr Bäume mischten sich ins Bild, Grünflächen, weniger Menschen – die Provinz. Ein paar Kinder mit Schulranzen stiegen ein, Mütter mit Kinderwagen, alles in allem blieb es aber übersichtlich.

Tim war aufgewachsen auf dem Land. Die Beschaulichkeit, der Platz, die aufgeräumte Szenerie, auch die Tristesse – sie berührten ihn noch immer. Er konnte es nie genau auf den Punkt bringen, aber unterbewusst gab ihm all das Frieden. Hier komme er her, hier ginge er hin, hatte er schon immer gesagt. Er würde auf dem Land sterben, sagte er Freunden. Das passierte nicht oft und wenn dann ungefragt. Die Leute waren dann immer leicht verstört. Sie dachten, er rede vom Sterben. Er dachte, er rede vom Leben.

Irgendwann kam die Endstation. Tim stand auf dem Bahnsteig und schaute auf eine braune, hartgefrorene Koppel, auf der sich nur noch ein paar Eis- und Schneeinseln hielten. Dahinter stand eine kahle Reihe aus Bäumen. Ein Knick. Dahinter erahnte er wieder eine Koppel und wieder eine und darüber breitete sich der graue Him