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Willkommen in Quinindé im Nordwesten Ecuadors! Alles kreist hier um den Arzt und Fabrikleiter Jorge Oswaldo Muñoz, der mit seiner Frau Julia die Palmherzenfabrik leitet und für alle ein offenes Ohr hat. Jorges Vater hat seine besten Tage längst hinter sich. Das Hausmädchen Bélgica muss sich mit ihrem Zuckerrohrschnaps trinkenden Mann herumplagen. Die verschrobene Tante Catita streckt heimlich Cola mit Rum und trauert ihrem glamourösen Leben mit einem Gangster hinterher, und der Ananaskönig Zorro gerät an gefährliche Hühnerdiebe. "Palmherzen" führt uns in die Mitad del Mundo – die Mitte der Welt –, in eine Familiengeschichte voller Magischem Realismus im Herzen Ecuadors.
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Seitenzahl: 315
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MARGIT MÖSSMER
ROMAN
für Tonio
El amar es el cielo y la luuuuuuuuuz
Ser amado es total plenituuuuuuuud
Es el mar que no tiene final
Es la gloria y la paz
Es la gloria y la paz
QUININDÉ
DER TOD UND DIE MÄDCHEN
DAS OHR
DIE HÜHNERDIEBE
ANGÉLICAS WARTEN
VIER WOCHEN SPÄTER
GLOSSAR
Dass ein Erdbeben der Stärke 5,1 in Kürze das 160 Kilometer entfernt liegende Quito erschüttern würde, spürte ein Pferd, das sich – durch elektrische Schwingungen, die Warnrufe von Graupapageien oder irgendwelche Gase, die aus dem tropischen Erdboden entwichen waren, in Unruhe versetzt – auf das Grundstück des Arztes und Fabrikleiters Jorge Oswaldo Muñoz verirrt hatte. Das Tier stand im Schatten einer auf einem Hügel wachsenden Bananenstaude und blickte auf Jorge hinunter. Es war in einem erbärmlichen Zustand. Seine Augen hatten keine Festigkeit mehr und schwappten über die Ränder seiner Lider. Die Zähne ragten an den vertrockneten Lippen hervor, und das Fell klebte so nah an den Knochen, dass die Rippen, sobald das Pferd den Kopf beugte, aus dem Brustkorb drängten, als wollten sie aus dem Körper springen. Auf Höhe der Lenden nässten zwei Wunden, offenbar durch ein schlecht befestigtes Tragegestell hervorgerufen. Mähne und Schwanz waren borstig und ungepflegt, und kaum bewegte es eines seiner herabgefallenen Ohren, um die Moskitos zu verscheuchen, die seine Stirn umflogen. Hier, in den Palmenwäldern von Quinindé, blieben solche Wesen nicht unbemerkt. Jorge sah nach oben: Zwei Geier hatten die stockenden Bewegungen des Tieres registriert und kreisten über dem armen Teufel, der schon halb aus der Welt geworfen war. Auch wenn der Tropenregen den Boden aufgeweicht hatte, stieg Jorge mit sicherem Schritt den Hügel hinauf, näherte sich dem Tier und sprach kleine Worte der Beruhigung. Er legte eine Schlinge um dessen Hals und führte es hinunter zur Straße, wo das in den Schlaglöchern stehende Wasser damit begonnen hatte, in den Himmel zu dampfen. Er gab ein paar anfeuernde Pfiffe von sich, das Pferd schnaubte leise und trabte davon.
Zur selben Zeit saß Jorges Frau Julia im Wohnzimmer seiner Schwester Catita. Die Arbeiten an der Kreuzung ließen die Fensterscheibe vibrieren, und Julia, die auf der Couch einer gigantischen Sitzgruppe, die einen gigantischen Tisch umzingelte, Platz genommen hatte, atmete tief ein und sah nach draußen. Die Wohnung lag im modernen Norden Quitos, im letzten Stockwerk eines Hauses, das früher als Hochhaus galt. Von hier aus konnte man bis zu einem Ende der Stadt sehen, denn Quito lag in einem nur wenige Kilometer breiten Streifen des Guayllabamba-Tals, über das der viertausendachthundert Meter hohe Pichincha herrschte, der Berg, der der Region ihren Namen gab.
Mittlerweile war das Haus von zehnstöckigen Gebäuden eingekesselt. Eisensteher ragten von vorübergehenden Flachdächern in die Höhenluft und kündeten von weiteren Stockwerken. Die weiße Äquatorsonne, die jeden Tag im Jahr in der gleichen Anzahl an Stunden die Stadt erleuchtete, ließ die Finanzgebäude immense Schatten werfen. Es waren Schatten, die jedem noch so stolzen Maiskolbenverkäufer, der unten auf der Straße seinem Geschäft nachging, seine Position verdeutlichten.
Catita betrat in einem gestreiften Fendi-Kimono-Dress das Zimmer. Sie hielt ein Tablett in Händen, so beschwingt, dass die Teekanne darauf tanzte. Julia starrte auf die muskulösen Beine der Schwägerin. Sie hatten diese formgebende Muskelkraft, weil sie täglich auf dem Fitnessgerät trainierte, das ihr nach der Scheidung von Juan Diego Hernández, dem ehemaligen Chef des staatlichen Erdölunternehmens Petroecuador, als einzige von fünfzehn verschiedenen Muskelmaschinen geblieben war.
Früher hatte Catita in königlichen Stöckelschuhen neben ihrem Ehemann die Marmorböden von Präsidenten-Sommersitzen abgeschritten. Sie konnte mit den Ministerflittchen und Ehefrauen der Militärs und Attachés mithalten. Sie konnte auch mit Shrimp-Cocktails umgehen, die in Gläsern serviert wurden, die auf den Kopf gestellten Pyramiden glichen, von deren Endpunkten dünne Stiele nach unten führten. Wenn sie serviert wurden, wusste Catita, dass sie zu diesem Zeitpunkt kein Glas Champagner vom Tablett nehmen würde, weil es sich eben um ein Empfangshäppchen handelte, für das man zwei Hände benötigte. Erst wenn sie die Shrimps ausgelöffelt und die Soßenreste aus den Lippenfurchen in die Serviette getupft hatte, tauschte sie das Pyramidenglas gegen ein Glas Champagner. Dann griff sie mit der anderen Hand nach diversen Dingen: der Hand der Präsidentengattin, einem Rindswürstchen im Teigmantel, einem Frotteetüchlein, das eisgekühlt gereicht wurde. Was für eine Hitze!, stöhnten die Schlampen.
Heute, fünfundzwanzig Jahre später, trug sie niedrige Absätze. Weil es keinen Ölgatten mehr gab und es nicht mehr nötig war, Präsidentenvillen zu betreten, und auch, weil sich die Höhe mit den Medikamenten und dem Rum nicht vertragen hätte. In der Stadt trank sie den Rum pur. An der Küste aber, wenn sie in der Provinz Esmeraldas »urlaubte«, mischte sie ihn mit Cola. Sie sagte: »Ich urlaube.« Oder: »In dieser Woche kann ich leider nicht, da urlaube ich.« Oder: »Das muss in der Zeit geschehen sein, als ich gerade urlaubte.«
Sie saß dann auf der Terrasse ihres Strandhauses, mischte Rum mit Cola, hielt ihr Gesicht über das Glas und ließ sich von der aufsteigenden Kohlensäure kitzeln. Die kleinen Kügelchen schossen nach oben, zu ihren Lippen hüpften sie hinauf und riefen: Enjoy!, während unterhalb der Terrasse eine Welle nach einem kurzen Ausflug in die Höhe zurück ins Meer schäumte.
Catitas Höhenflüge:
1. Wenn ihr dementer Vater, der auf der Finca ihres Bruders lebte, für einen Moment die laminierten Karten, auf denen Zeichnungen von einem Haus, einem Auto oder einer Ameise abgebildet waren, zur Seite legte und seinen verwässerten Blick auf seine Tochter richtete.
2. Wenn die Ananasschnittchen perfekt aus dem Ofen kamen, also der Plunderteig außen knusprig, innen weich war und die Süße der Ananas durch eine leichte Zitronennote gedämpft wurde.
3. Wenn der Rum so mit dem Cola abgemischt war, dass er ihr den längstmöglichen fröhlichen Rauschzustand verschaffte, bevor die Müdigkeit sie zwang, wieder alles auszuschlafen.
»Wo ist Angélica, hat sie heute frei?«, fragte Julia.
»Sie kommt später, irgendwas ist mit ihrem Mann«, sagte Catita und hielt die Teekanne über die Tasse. Julia wollte ihr entgegenkommen und die Tasse anheben, doch der Weg war zu weit, sie stand mehr als eine Armlänge entfernt. Sie stützte sich mit einer Hand auf der Sitzfläche der Couch ab und erhob sich halb.
»Lass nur!« Catita schenkte ein und reichte ihr die Tasse.
Der Rum war in einen hübschen Glasflakon gefüllt. Julia hatte kein Verlangen nach Rum im Tee, Catita umso mehr, traute sich aber nicht vorzupreschen. »Ein Schüsschen, Julia?«
»Nein, vielen Dank.«
Sie tat, als wäre ihr Angebot absurd gewesen und als würde sie der Rum ebenso wenig interessieren. Sie ließ den Glaspfropfen wieder ins Fläschchen gleiten, sog noch einmal das süßliche Aroma ein, das in diesem kurzen Moment des Offerierens aus dem Flakon geströmt war, und wandte sich zu einem Porzellantellerchen mit aufgemalten Passionsblumen und maritimen Fabelwesen, auf dem eine aufgeschnittene Zitrone lag. Sie nahm ein Scheibchen mit einer kleinen Zange, die an das Tellerchen gelehnt war. Die Zitronenscheibe hing über Julias Tasse, sie zitterte wild, weil Catitas Hand zitterte, kleine Tropfen Säure fielen in den Tee und brachten auch ihn zum Zittern. Julia nickte. Als das Scheibchen endlich hineinglitt, stieß Catita Luft aus der Nase, so als wäre nun etwas Großes geschafft. »Und mein Bruder ist wohlauf?«
»Jorge arbeitet wie immer viel.«
»Sehr schön, sehr schön!«, brach es viel zu laut aus Catita heraus. Sie nahm eines der Kissen, die die Couch schmückten, schlug mehrmals leicht darauf ein und stützte ihren Rücken damit. Dann erhob sie sich wieder, um den Tisch zu erreichen. »Du nimmst Zucker?«
»Hab ich mir abgewöhnt. Seit der Chemo schmeckt er mir sowieso nicht mehr.«
»Kindchen, Gottchen, ja, oh nein, wie schrecklich.«
»Nicht weiter schlimm, er fehlt mir ja nicht. Jorge meint, deswegen bin ich jetzt süchtig nach diesem Handyspiel, du weißt schon, Candy Crush. Er sagt, das ist meine Ersatzsüße.«
»Wie meinst du das, Ersatzsüße?«
»Das sollte ein Witz sein«, sagte Julia.
Julia war ihrer Schwägerin zum ersten Mal bei den Feierlichkeiten zu ihrem Medizinabschluss begegnet. Eingehängt im Arm ihres Ehemannes Juan Diego Hernández, bei dem man zu diesem Zeitpunkt schon bemerken konnte, wie schnell er seine Netzwerke in Ecuadors Politelite erweitern würde, und es später nicht verwunderte, als er ein enger Freund des Präsidenten und Chef von Petroecuador wurde, leuchtete Catita mit ihrem paillettenbesetzten Etuikleid die dunkelsten Ecken der Universität aus. Sie war marmorbodenlaut auf Julia zugestöckelt, hatte ihr die Hand gereicht und ohne ein Wort zu sagen an ihrem Talar gezogen: »Praktisch, das Ding, kann man den Babybauch verstecken.«
Julia hatte sie mit großen Augen angesehen. Felipe war tatsächlich in ihrem Bauch gelegen, aber woher wusste sie … »Woher weißt du?«, hatte sie geflütert.
»Dios mío«, hatte Catita gelacht, »das sollte ein Witz sein!«
Julia atmete schwer, weil ihr die Höhenluft zu schaffen machte, und nippte am Tee. Sie erinnerte sich, wie heiß es damals war, unter dem Talar. Sie erinnerte sich, wie hungrig sie gewesen war, wie sie die gesamte Ansprache über an Eier mit Speck gedacht hatte.
»Ach so, ja, Candy Crush, haha.« Catita tat, als hätte sie den Witz verstanden.
Sie fixierte die Lehne der Couch. »Lass mich dein Pölsterchen aufschütteln.« Sie griff nach dem Kissen, das Julias Rücken gestützt hätte, wäre sie denn überhaupt so tief in der Couch gesessen. Sie saß aber am äußersten Drittel der Sitzfläche und hielt ihren Rücken gerade. Ihre Beine steckten in Jeans und bildeten einen rechten Winkel, ihr T-Shirt ging an den Ärmeln nur leicht bis über die Schulter, sodass man ihre schlanken Arme sehen konnte. Der etwas ausgeleierte V-Ausschnitt verriet etwas über ihren Brustkorb, der ein wenig nach außen gewölbt war. Wer es wusste, konnte die unterschiedlichen Größen ihrer Brüste erkennen.
»Und papito?«, fragte Catita.
»Unverändert.«
»Hat er nach mir gefragt?«
»Du weißt ja, wie er ist. Die meiste Zeit spricht er nicht. Er ist auch der Grund, warum ich gekommen bin, Cata. Es ist so, Felipe will heiraten.«
»Ach was! Wieso denn?«
»Wieso denn was?«
»Wieso will der Junge heiraten?«
Catita schälte sich aus der Couch und ging zur Tropenholzkommode, die unterhalb eines 63-Zoll-Flachbildfernsehers stand. Sie nahm eine Zigarette aus einer Schatulle und schlug mit einem Feuerzeug auf den Deckel, um sie wieder zu schließen. Die Zigarette lag eingebettet in fetten Farbschichten zwischen ihren Lippen, die sie fest zusammenpresste. Mehrmals klackte das Feuerzeug erfolglos, weil sie ihre Fingernägel davor schützen wollte, Schaden zu nehmen und deshalb unwahrscheinlich umständlich damit hantierte. Endlich kam eine Flamme zum Vorschein, und sie zitterte das Ende der Zigarette hinein.
»Ich meine nur, sollte der Junge nicht andere Dinge im Kopf haben? Meine Kleine will sich ja ganz auf die Uni konzentrieren«, sagte sie und stieß den Rauch, der eben noch ihre Lungenflügel durchströmt hatte, in die Höhe.
»Tatsächlich?«, fragte Julia.
»Bis zu ihrem Abschluss fehlt nicht mehr viel.«
»Deine Tochter hat dir gesagt, dass sie ihren Abschluss macht?«
»Natürlich macht sie ihren Abschluss, warum fragst du?«
»Ach, nur so.«
»Sie leistet Unglaubliches. Ich habe gelesen, die Universität San Francisco ist das Yale Ecuadors.«
Julia lachte, weil sie dachte, Catita würde scherzen. Sie führte zwei Finger an ihre Lippen, ließ den Zitronenkern, der in ihrem Mund gelandet war, zwischen die Fingerkuppen gleiten und streifte ihn am Rand der Untertasse ab.
Catita hatte den Vorgang beobachtet und erschrak: »Dios mío, ich habe dir ja gar nichts angeboten! Willst du Kekse?« Sie lief in die Küche, wobei sie auf dem Weg dorthin Asche auf dem Teppichboden verlor, und öffnete verschiedene Schränke, schloss und öffnete sie erneut. »Oder Yucabrötchen?« Julia hörte ihre Stimme nur noch gedämpft: »Das passt doch zum Tee?«
Sie kam mit einem Brocken Käse zurück, der auf einem Glasteller waberte. Ein kleines Messer lag bei. Julia lehnte ab. »Sag nicht, du magst gar keinen Käse?«
»Das ist es nicht, ich habe keinen Appetit, vielen Dank.«
»Ja, natürlich, schrecklich, du armes Kind!« Sie klopfte wieder an ihrem Kissen herum, ließ sich dann in die Couch fallen und dämpfte die Zigarette auf dem Teller mit dem Käse aus: eine rosa-weiße Skulptur, die noch minutenlang vor sich hin qualmte.
Julia ließ sich nicht anmerken, dass sie die Aktion irritierte: »Cata, hör zu, die Sache ist die, sie ist Amerikanerin. Sie wollen in den Staaten heiraten.«
»Ach! Da bin ich erleichtert. Gescheiter Junge. Ich verstehe nicht, warum er die Staaten überhaupt verlassen hat. Er hatte so ein gutes Leben drüben. Der Job bei IBM! Das will er eintauschen, gegen Palmen? Nicht böse sein, Julia, du weißt schon, wie ich das meine. Für euch passt das ja, aber der Junge …« Sie steckte zwei Finger in den Käse, zog ein Stück heraus und schob es in ihren Mund.
Julia wurde ungeduldig und fasste Mut, deutlich zu werden: »Jedenfalls können wir deinen Vater unmöglich mitnehmen. Wir möchten ihn aber auch nicht so lange mit den Mädchen alleine lassen, schließlich ist Papito, du weißt schon, manchmal eine Zumutung. Wir wollen sie nicht überfordern, verstehst du? Niemand ist da, um ihn zu versorgen, und da haben wir uns gedacht, Jorge und ich, es wäre gut, wenn du für ein paar Tage auf ihn aufpasst. Wir hätten dich natürlich gerne bei der Hochzeit dabei, aber wir sehen keine andere Möglichkeit.«
Catita saß tief in der Couch, der Fendi-Dress schimmerte im hereinfallenden Sonnenlicht, er hatte sich da und dort ungünstig aufgebauscht und ließ sie wie ein überdimensionales Seidenbonbon aussehen. Sie bemerkte die Käsefäden nicht, die auf ihr Dekolleté gefallen waren, und sah aus dem Fenster, das in den frühen Nullerjahren noch einen Blick auf die Busstation Eloy Alfaro ermöglicht hatte, der jetzt aber vom Akros Hotel verstellt war.
»Natürlich«, sagte sie. »Ich verstehe. Es wird Felipe ja auch recht sein, dass ich nicht dabei bin. Ich habe das Gefühl, er mag mich nicht besonders.«
»Unsinn«, sagte Julia, führte die Tasse an ihre Lippen und tat, als könnte sie sich dahinter verstecken.
Catita war es völlig egal, was ihr Neffe von ihr hielt. Catita war ihr Neffe völlig egal. Wie egal ihr erst diese Hochzeit war! Doch sie dachte nicht daran, es Julia so einfach zu machen.
»Heute Morgen, als du angerufen hast, da habe ich mich so gefreut, dass du kommst, und jetzt das!« Sie hatte den beleidigten Ton offenbar perfekt getroffen, denn Julia beugte sich vornüber und versuchte ihre Hand zu erreichen.
»Es ist ja nichts Persönliches, Cata.«
»Nichts Persönliches, sagst du?«
Und da, in diesem Moment, fingen die Tassen am Tisch zu wackeln an, Lampen schaukelten, Blumentöpfe klapperten, und aus dem Regal mit den präkolumbischen Statuen fiel ein hockendes Männlein mit großen Ohren, Schlangenzähnen und dem Schwanz eines Hundes zu Boden.
»Barbaridad! Das war ordentlich.« Catita lief zum Regal, hob die Statue auf und verzog nun ehrlich das Gesicht. »Qué joda! Ein Zahn ist abgebrochen. Weißt du, was die wert ist?«
»Nein, wie viel denn?« Julia schaltete den Fernseher ein.
»Nun, das weiß ich auch nicht. Aber viel! Dios mío, warum denn, warum muss der da herunterfallen?« Sie streichelte dem Männlein über den Kopf, hielt den abgebrochenen Zahn an die Bruchstelle, um zu sehen, ob noch ein Stück fehlte, sah ihm in die Augen und fragte: »Bist du schlecht gestanden? Hat man dich schlecht hingestellt, mein Kind? Ay, Angélica!«
Von der Straße drang das Heulen mehrerer Alarmanlagen nach oben, Hunde bellten, irgendwo weinte ein Kind, Bauarbeiter in orangefarbenen Warnwesten verließen die Gebäude und riefen einander aufgeregt zu. Julia zappte die Kanäle von eins bis fünf hinauf, überall liefen dieselben Bilder. Der Präsident sei derzeit außer Landes, hieß es, bis dahin gab es ein erstes Statement der Policia Nacional, man hätte alles unter Kontrolle, es handelte sich um ein Beben der Stärke 5,1, einige Verletzte, bisher keine Todesopfer, Epizentrum Checa, Nachbeben im Raum Quito wären nicht auszuschließen.
Die Meldung einer Straßensperre wäre Julia gelegen gekommen. Sie hätte dann die Dringlichkeit aufzubrechen leicht argumentieren können. Sie zappte die Kanäle noch einmal zurück, aber es wurde von keinen Sperren berichtet. Sie erhob sich, zog ihr Telefon aus der Hosentasche, tat, als würde sie jemanden anrufen, verließ für ein paar Minuten das Zimmer, kam zurück und sagte mit Eile in der Stimme: »Ich muss jetzt, Cata.«
Catita hörte sie nicht. Sie stand immer noch vor dem Regal mit den Statuen und flüsterte mit gefletschten Zähnen, so als wollte sie den kämpferischen Gesichtsausdruck des Männchens in ihren Händen kopieren: »Sie hätte dich besser hinstellen müssen. Ich hab ihr gesagt, sie soll vorsichtig mit euch sein. Ich hab ihr gesagt, dass ihr tausend Jahre alt seid. Tausend Jahre, verdammt, und dann macht dich Angélica kaputt.«
»Hast du gehört? Jorge geht nicht ran, ich mache mir Sorgen, es könnte etwas passiert sein. Ich denke, ich fahre besser los.«
Catita merkte zu spät, dass sie ihr Gesicht zum Gesicht eines wilden Tieres verzogen hatte, und sah Julia mit der Wut, die sie auf Angélica hatte, an: »Hast du nicht zugehört? Gescheppert hat’s irgendwo bei Checa. Was zur Hölle soll bei euch unten schon los sein?«
»Du hast recht, was soll schon passiert sein«, sagte Julia ein wenig enttäuscht. Sie ging zum Fernseher und wartete auf irgendeine neue, brauchbare Information, einen Vorwand, um die Wohnung zu verlassen, während sich Catita nicht von der Stelle rührte. »Andererseits«, sagte sie nach wenigen Minuten, »wer weiß, wo sie noch überall Straßen dichtmachen«. Catita wehrte sich nicht gegen die Ausrede. Die Statue in Händen blickte sie auf den Tisch und wusste, sobald die Schwägerin gegangen war, würde ihr der Tee endlich schmecken.
Sie verabschiedete Julia wortlos mit Küsschen auf die Wangen. Dann nahm sie den Rum und leerte ihn in ihre Tasse, stellte sich dicht ans Fenster und sah Julia dabei zu, wie sie in ihren Wagen stieg, einige Zeit wartete, bis die vorbeifahrenden Autos sie aus der Parklücke ließen und sie endlich davonfuhr.
Catita erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Es war weniger ein Erinnern als ein ungemütlicher Gedanke, der sich jedes Mal aufdrängte, wenn sie die Schwägerin sah. Seit Jahrzehnten. Julia war so unvoreingenommen freundlich zu ihr gewesen, damals, in ihrem Talar, mit ihrem Abschluss in der Hand. Es war die Freundlichkeit einer Frau, die sich ihr überlegen fühlte.
Im Vorzimmer fiel die Tür ins Schloss und Catita ging in die Küche.
»Angélica!«
»Mande, Señora!«
»Ich brauche heute kein großes Essen.« Sie stierte in die Einkaufstaschen, die Angélica auf dem Küchentisch abgestellt hatte: »Was hast du gekauft?«
»Das Übliche. Ich mache Ihnen ein kleines Ei, das brauchen Sie für den Magen.«
Kaum hatte sie den Mantel ausgezogen und ihren Arbeitskittel angelegt, nahm Angélica ein Ei aus dem Kühlschrank und schlug es in die Pfanne, während Catita die Schlagzeilen des Comercio las: Hochwasser in Guayaquil, zwölf Finalistinnen der Miss Ecuador-Wahl stehen fest, keine Hinweise auf die Vergewaltiger und Mörder der beiden argentinischen Touristinnen.
»Wollen Sie vorher noch trainieren, Señora?«
Das Fitnessgerät stand im Arbeitszimmer, das am Ende des Flurs lag und das diesen Namen trug, obwohl dort niemand arbeitete. Catita blickte den Flur entlang zur offen stehenden Tür. Der Rum hatte sie müde gemacht und ihr jegliche Lust genommen, Angélica wegen der kaputten Statue anzufauchen.
»Mein Neffe heiratet«, sagte sie, als hätte sie die Nachricht gerade in der Zeitung gelesen.
Angélica flutschte vor Aufregung das Löffelchen aus der Hand, und ein Haufen Salz landete auf dem gebratenen Ei: »Que liiiindo! El Felipe?«
»Er heiratet in den Staaten.«
»In den Staaten? Aber die Braut ist doch hoffentlich keine Gringa?« Angélica servierte das Ei, schob ein Netz über ihr kurz geschnittenes Haar und machte sich daran, die Kräuter zu hacken, die sie vom Markt geholt hatte und die sie in kleinen Portionen im Tiefkühlfach aufbewahren wollte. Über den zackigen Bewegungen, die sie mit dem Messer ausführte, lagen die Gedanken des Tages: die Gasbestellung, die Wäsche, die Pflanzen, der Fußboden. Für den Weg zur Apotheke und die Erledigungen bei der Post musste sie zwei Stunden berechnen. Sie nahm einen Schluck Wasser aus einer Plastikflasche und spürte Freude in ihrem Bauch. Wenn die Señora in die Staaten fuhr, dann wohl für mindestens eine Woche. Eine Woche, in der Angélica tun und lassen können würde, was immer sie wollte. Sie könnte mit Rodrigo und dem Kleinen an den Strand fahren oder ein paar Tage in Loja verbringen.
»Die Staaten, que lindo! Sagen Sie mir nur, was Sie für die Reise brauchen, ich besorge es. Wie lange werden Sie oben sein? Das wird Ihnen guttun, Señora, so ein Tapetenwechsel.«
Catita verschlang das Ei in exakt drei Bissen. Seit Monaten war sie nicht mehr bei ihrem Vater gewesen. Quinindé. Die Hitze, der Regen und die Moskitos, die einem allesamt den Verstand raubten. Die einfältigen Menschen mit ihren einfältigen Geschichten, die Abgeschiedenheit der Finca, auf die ihr Bruder aus irgendeinem Grund so furchtbar stolz war, der Geruch des Halbtoten, der über allem hing, da es in der Gegend so unverschämt viel Leben gab. Armandos Augen, die unstet um sich blickten, ohne einen Impuls an sein Gehirn zu schicken. Sein Röcheln, wenn er versuchte, ein Wort an die Welt zu richten.
»Ja«, sagte sie. Sie spürte, wie sich das Ei wohltuend an ihre Magenwand schmiegte. »Ein Tapetenwechsel.«
Julia nahm die Route durch das Tumbaco-Tal, also musste sie Richtung Norden bis zum Busbahnhof Carcelén und dann auf die Schnellstraße, die bald in die Serpentinenfahrbahn durch die Nebelwälder von Mindo überging. Der Verkehr war aufgeregt, aber nicht aufgeregter als sonst.
In den Geschäften am Straßenrand stellten Menschen zu Boden gefallene Regale auf, oder sie begossen den warmen Gehsteig mit Wasser, um den Staub zu bändigen. Ein Mann, der in einer bunt bemalten Garageneinfahrt Spanferkel verkaufte, kehrte Scherben vom Boden. Julia sah den Mann, den Besen, das Ferkel und spürte ihren Bauch. Wie hungrig sie plötzlich war. Ihr Bremsmanöver kam so abrupt, dass zwei Polizisten, die ihre Motorräder an der Kreuzung abgestellt hatten und mit in die Hüften gestemmten Armen auf eine Gruppe Männer blickten, die versuchten, einen in einem Schlagloch stecken gebliebenen Lieferwagen herauszuziehen, ihre Köpfe in Julias Richtung wendeten.
Sie bestellte das Tagesgericht, das in diesem Laden das Gericht eines jeden Tages war: ein Stück hornado, über offenem Feuer gebratenes Schwein, eine halbe Avocado und gebratener Kartoffelbrei. Der Mann, der eben hier sauber gemacht hatte, servierte das Menü auf einem Plastikteller: »Viel, das kaputtgehen kann, gibt’s bei mir ja nicht«, sagte er mit einem zahnlosen Lächeln und deutete auf seine Tische und Stühle, die alle aus Plastik waren. In der Nachbarortschaft Checa, erzählte er, hatte ein Mädchen auf dem Gehsteig gesessen und gespielt, als in einem Geschäft an der Straße die Reissäcke umfielen. Es soll ganz furchtbar ausgesehen haben, das Mädchen, zerquetscht zwischen Reis und Beton. »Qué horror!«, sagte Julia. »Davon habe ich noch gar nichts im Fernsehen gehört.«
»Im Fernsehen«, lachte der Mann und legte ihr das Wechselgeld auf den Tisch, das sie mit ihren Fingerkuppen betastete und dann auf dem klebrigen Tischtuch liegen ließ.
Der Lieferwagen steckte immer noch fest, als sie an den Polizisten vorbeifuhr und die erste Ausfahrt Richtung Puerto Quito nahm. Staub lag in der Luft. Die Obstverkäuferinnen, die zwischen den Autos die Fahrbahn entlanggingen, trugen Tücher um ihre Münder und Nasen. Wer soll euch diese verstaubten Melonen abnehmen, dachte Julia und schüttelte immer wieder den Kopf, wenn ein Augenpaar sie durch die Windschutzscheibe traf.
Sie erreichte die Nebelwälder von Mindo, und das Staubige war verschwunden. Nach etwa eineinhalb Stunden kurvenreicher Fahrt bergauf ging es nur noch bergab, und ihr Jeep ritt auf der äußersten Spur an modernen und weniger modernen Überlandbussen vorbei.
Als sie in Puerto Quito an der Tankstelle Halt machte, hatte sie beinahe dreitausend Höhenmeter zurückgelegt. Endlich war sie wieder in ihrer Luft. Sie war in der Luft, die ihr Haar im Lauf der Jahrzehnte so kraus und ihre Haut so bronzen hatte werden lassen, in ihrer geliebten, tropischen Luft.
Erst als sie einen Tropfen Benzin, der beim Tanken auf ihren Jeans gelandet war, mit einem Taschentuch verwischte, kam es ihr: Hatte Catita überhaupt zugestimmt?
Bis Quinindé waren es nur noch wenige Kilometer. Rechts und links der Fahrbahn zogen die Plantagen der Bauern an Julia vorbei. Zuerst die niedrigen Kakaopflanzen und die etwas höheren Bananenstauden, dann die mächtigen Ölpalmen, die jeden Blick eines Vorbeifahrenden auf sich zogen, wie sie im rechten Winkel zur Straße in exakten Abständen zueinander in endlos scheinenden Reihen standen. Es gab Zeiten, da vermochten ihre Früchte in den Augen der Bauern zu glänzen wie orangerote Edelsteine. Die Raffinerien in La Concordia, Santo Domingo und Puerto Quito zahlten hohe Preise, und jeder, der alle Sinne beisammen und einen Flecken Erde zur Verfügung hatte, bepflanzte seinen Boden mit den Königen. Die Bauern schnitten die schweren Bündel aus den Kronen, luden sie auf ihre Maultiere, Motorräder oder Pritschenwagen und tauschten sie gegen bares Geld. Sah man heute zwischen die Palmenreihen, konnte man an vielen Stellen braune Fruchtbündel am Boden liegen sehen. Die Männer ließen sie dort verrotten, weil es den Aufwand nicht wert war, sie in die Raffinerie zu bringen. Sie saßen abends beim Zuckerrohrschnaps und sprachen darüber, dass es jetzt andere Länder gab, die das Geschäft machten. Länder, in denen Millionen Ölpalmen wuchsen. Länder, die zwar ebenfalls am Äquator, aber Tausende Kilometer weit weg lagen.
Auch als Jorge und Julia vor zwanzig Jahren in die Gegend gekommen waren, waren die Tanks der Raffinerien bis obenhin voll gewesen. Niemand nahm den Bauern ihre Früchte ab. Sie protestierten, indem sie riesige Ladungen Palmfrüchte in den Rio Blanco und in den Guayllamba-Fluss warfen. Sie kippten auch Palmfrüchte vor die Banken, bei denen sie noch offene Kredite hatten, und ließen sie dort verfaulen. Ein unglaublicher Gestank hatte sich daraufhin in den Dörfern ausgebreitet, ein Gestank, der Jorge zum Nachdenken brachte. Wollte man in dieser Gegend überleben, dachte er, durfte man sich nicht auf den König Ölpalme verlassen.
In der Nähe des Dorfes La Agrupación de los Ríos kaufte er ein unüberschaubar großes Grundstück, eine riesige abgeholzte Waldfläche, auf der nichts weiter als ein paar ausgemergelte Kakaopflanzen standen. Im entlegensten Teil jedoch war ein Stück Wald erhalten geblieben, durch den ein unberührter Fluss lief. Dort hatten Wildtiere Schutz gefunden, weshalb sich auf der Finca allerlei Jäger und Fischer herumtrieben. Jorge ließ einen Zaun bauen, das Tor zum Gelände von einem Wachmann im Auge behalten und beschloss, das Haus der Familie Muñoz auf einer Anhöhe direkt neben dem Wald zu bauen, um selbst Wächter zu sein für eine beachtliche Zahl an Gürteltieren, Pekaris, Ozelots, Wickelbären, Krokodilkaimanen, Faultieren, Adlern, Pelikanen, Papageien und unzähligen Singvögeln. Er nannte die Finca »La Julia«.
Der Mann, der mit seiner Familie an der Einfahrt zur Finca wohnte und das Tor bewachte, hieß Joel Quiñónez. Er sah die Señora schon von Weitem die löchrige Straße entlangschaukeln und stieg aus der Hängematte. Julia passierte das Tor und öffnete die Fensterscheibe.
»Der Strom war weg. Aber sonst haben wir eigentlich nix gespürt, Señora«, sagte Joel Quiñónez, ohne eine Frage abzuwarten.
»Eigentlich?«, fragte Julia.
»Mein Größter meint, in der Schule ist was kaputtgegangen.«
Julia atmete hörbar aus. Sie blickte zu seinen drei Kindern, die vor dem Haus mit einem Huhn spielten. Das Huhn bewegte sich nicht, und erst da erkannte sie, dass es tot war.
»Was ist passiert?«
»Zorros Hunde schon wieder, Señora. Sehen Sie sich die Sauerei an. Das Huhn ist nicht mal mehr gut für den Suppentopf. Alles zerfetzt, die Gedärme aufgeplatzt. Können Sie nicht mal mit ihm reden?«
Julia nickte. »Ich kümmere mich darum. Aber lass deine Kinder nicht mit toten Tieren spielen, das ist gefährlich.« Sie schloss das Fenster und fuhr an drei weiteren Häusern von Angestellten vorbei, den von Palmen, Bäumen, Sträuchern und Farnen gesäumten Weg bis zum eingezäunten Garten, der das Haus der Muñoz umgab.
Als sie die Tür zum Haus öffnete, lag der Alte im Gitterbett und starrte mit geschlossenen Augen an die Decke. Neben ihm saß Carmencita, das jüngere der beiden Mädchen, und las aus einem Kinderbuch vor. Julia begrüßte sie leise und ging die Stufen nach oben. Doña Bélgica, das zweite Mädchen im Haus, war schon gegangen. Sie hatte einen Zettel auf den Tisch gelegt: Essen steht auf dem Herd, Maracujasaft im Kühlschrank. Julia war überhaupt nicht hungrig. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen, warf sie in die Ecke und krempelte die Jeans nach oben. Dann griff sie unter das T-Shirt, öffnete den BH, schob rechts und links die Träger von ihren Schultern und zog ihn am Ausschnitt vorbei von ihrem Körper. Sie ging nach unten und fischte im Halbdunkel nach Fröschen im Pool. Der Kescher glitt durch das Wasser, die Bäume spiegelten sich in der bewegten Fläche und schwiegen, weil kein Windhauch ihre Blätter in Bewegung brachte. Die Moskitos flügelten unhörbar, vom Alten drang ein Röcheln nach draußen, ein Gecko bellte von der Terrasse herüber und in Abständen fiel der Schrei eines Affen in die Dämmerung.
Vor dem Frühstück ging Jorge, wie jeden Morgen, die von Bélgica frisch gewischten Steinstufen hinunter, küsste seinen Vater, der dort so im Bett lag, wie man ihn am Abend zuvor hineingelegt hatte, und begrüßte die kleine Carmencita, die sich gerade daranmachte, den Alten zu waschen. »Ich geh schon mal vor, papito!«, rief er seinem Vater ins Ohr, und der starrte an die Decke und bewegte den Mund ein wenig.
Er stieß die Eingangstür auf und ließ sie offen stehen, sodass ein erster Windhauch die insektenschwangere Luft der Nacht im Haus vertrieb. Etwa zehn Schritte trennten ihn von seinem flachen Sprung ins Wasser.
Julia frisierte ihre kurzen, strammen Locken nach hinten, während sie die Schwimmgeräusche ihres Mannes durch die Fliegengitterfronten im ersten Stock dringen hörte. Das Haus hatte einen quadratischen Grundriss. Nur das Erdgeschoss war durchgehend gemauert und in einem freundlichen Gelb gestrichen. Im ersten Stock wurden die Mauern von meterlangen, meterhohen Fliegengittern abgelöst, die bis hinauf zum Dach reichten. So war man immer verbunden, mit dem Wind und den Tages- und Nachtschreien der Tiere ringsum. Und immer hatte man einen Blick auf das Grün. Das Grün lag im Garten, der das Haus umgab. Das Grün lag hinter dem Zaun, der den Garten umschloss und der von wilden Schlingpflanzen besetzt war. Es lag in der Ferne, dort, wo das Auge kaum die Grenze zum Grau des Regenzeithimmels ausmachen konnte. Im Garten war es das Hellgrün des gut gepflegten Rasens und das einladende Grün der Hibiskussträucher. Hier und da sah man auch ein knöchriges, dürres Grün, etwa bei den Wandelröschen, die so schnell wuchsen, dass sie auf halber Strecke vergaßen, Blätter auszubilden, und ihre Äste weit in alle Richtungen streckten. Hochwachsende Gräser umgaben die Terrasse, und gewaltig grüne Frösche, die dort im Versteck saßen und auf die Nacht warteten. Hinter dem Zaun fiel das Grundstück einigermaßen steil bergab, bevor es in der Ferne wieder anstieg. Dort wuchsen sie und wussten nicht, wie viele sie waren: die Palmen, die Ölpalmen, manche von ihnen behangen mit Früchten, andere bereits der Früchte beraubt – von den Arbeitern der Familie Muñoz. Zwischen den Ölpalmen wuchsen auch orientalische Palmen, die sich unter den großen Königen mit ihren ewig emporsteigenden Stämmen ihre eigenen Lichtquellen suchen mussten. Vielleicht sah man vereinzelt auch eine Kokospalme.
Hinter den Ölpalmenfeldern lag der wahre Schatz des Unternehmens Muñoz. Auf zweihundertvierzig Hektar Land wurden dort Babassupalmen gepflanzt, denen man, sobald ihre Stämme dick genug waren, ihre Herzen entnahm: elfenbeinweiße, etwa einen Meter lange Stangen, die in der nahe gelegenen Muñoz-Fabrik gewaschen, zerkleinert, in Lauge gelegt und in Dosen konserviert wurden.
Jorge schwamm die bescheidenen Längen energisch – eigentlich war das Becken viel zu klein für seinen Bewegungsdrang. Er musste daran denken, dass sein Sohn, der sich mit seinem IBM-Geld ein dreistöckiges Haus zwanzig Kilometer südlich von Quito in einer gated community im Tumbaco-Tal bauen ließ, einen Pool mit Gegenstromanlage besaß. Felipe, der sich doch gar nicht fürs Schwimmen interessierte! Er grub sich noch kraftvoller ins Wasser hinein, als wollte er jemandem beweisen, dass er keinen künstlichen Widerstand brauchte. Er sah Carmencita als bewegten, verzerrten Farbfleck am Beckenrand stehen, wie sie dem Alten gut zuredete, unaufhörlich, ohne die Geduld zu verlieren. Das Sonnenlicht brach sich im metallenen Gestänge des Rollators, zwei von vier Beinen steckten in verblichenen Tennisbällen, was das Fortkommen erleichtern sollte. Der Alte stand und schwieg. Jetzt zeigte sich auch seine lächerliche Silhouette durch das bewegte Wasser. Jorge stieß heftig Luft aus. Er wollte, dass sein Vater draußen sehen konnte, wie die Blasen aufstiegen, wie lebendig sein Sohn war.
Armando war ordentlich gekleidet. In seinen beigen Herrenhosen, dem gebügelten Polohemd und den Turnschuhen sah er auf den ersten Blick wie ein rüstiger Pensionist aus. Dieser Eindruck zerbarst in Millionen Teile, wenn man Carmencita dabei beobachtete, wie sie auf den Mann einredete wie auf ein altes Pferd, er möge doch seinen Fuß ein paar Zentimeter nach vorne bewegen, um den nächsten Schritt zu machen. Sein Kopf hing schief wie der eines unwissenden Vogels, seine Augen waren blasse Flüssigkeit, die immer wieder überlief und die stark hervorstehenden Wangenknochen entlang zu den Mundwinkeln tropfte. Dort vermischte sie sich mit einem uralten Speichel, der notdürftig eine Zunge befeuchtete, die keinen Geschmack mehr erlebte. »Muy bien Señor, vamos!«, feuerte das Mädchen den Alten an.
Die Morgensonne wich schon bald einem tropischen Wolkenbett, das Hitze anderer Art verbreitete. Jorge zog seine Bahnen, das Auf- und Abtauchen wurde mit der Zeit zu einem Takt, der ihn auf den Tag vorbereitete. Wie eine Maschine klang es in seinen Ohren – Tscha-pfrrr, Tscha-pfrrr, Tscha-pfrrr, Wende, Tscha-pfrrr, Tscha-pfrrr, Tscha-pfrrr, Wende, automatisiert, aber doch vom Menschenkörper ausgeführt, so wie die Handgriffe seiner Arbeiter und Arbeiterinnen in der Fabrik. In immer gleichen Abläufen wuschen, schälten und teilten sie die weißen Stangen, bis am Ende die Maschine angeworfen wurde, die unzählige Etiketten auf die Aludosen zitterte: Corazones de palmito del Ecuador. Angaben zu Brennwert (30 Kalorien pro Portion), Fett (0 %), Natrium (11 %) und Proteinen (6 %) sowie das Nettogewicht (400 g) waren darauf tabellarisch aufgelistet.
Bis vor zwei Jahren noch waren dies die einzigen Informationen, die man auf den Dosenetiketten finden konnte – bis zu jenem Weihnachtsessen, bei dem Felipe aus dem Nichts heraus wütend geworden war. Er hatte die Palmherzen aus der Dose geholt und sie in Stücke geschnitten. Dann hatte er die leere Dose mit einer weit ausholenden Geste theatralisch in die Spüle geworfen und Jorge erklärt, dass kein Mensch, und schon gar kein europäischer Mensch, zu so einer Dose greifen würde.
Er meinte, die Dose bräuchte eine Botschaft. So, wie jedes Produkt auf der Welt für etwas steht, sollte auch dieses für etwas stehen. »Hast du eine Ahnung«, hatte er seinen Vater gefragt, »woran die Gringos als erstes denken, wenn sie Palmen und Südamerika hören?«
»Keine Ahnung«, hatte Jorge geantwortet, »vielleicht an Urlaub?«
»Haha«, hatte Armando gelacht, obwohl er schon damals nichts mehr verstand.
»Raubbau, Jorge. Rodung, Monokulturen, Zerstörung von Urwald, scheiß Klimakatastrophe. Willst du der Welt nicht sagen, dass du einer von den Guten bist?«
Das war das letzte Weihnachtsessen gewesen, auf dem Jorges Dosen ihr gewohntes Etikett trugen. Zu Neujahr hatte er die Umstellung der Maschine veranlasst, die im Sekundentakt folgenden Text zu Provenienz und Philosophie drucken sollte:
Die delikaten Palmherzen des Unternehmens Muñoz werden auf den fruchtbaren Böden Ecuadors kultiviert, wo sie unter der tropischen Sonne ihren frischen und zarten Geschmack entwickeln. Diese Palmherzen kommen ausschließlich von kultivierten, nicht wilden Pflanzen, da das Unternehmen für den Schutz der Natur einsteht.
Rechts unter dem von Felipe im Photoshop nachbearbeiteten Bild von fünf saftigen, elfenbeinweißen Palmitostücken prahlte eine Grafik in Rot, mit goldener Schrift, die ein Gütesiegel nachahmen sollte: Producto de exportación.
Julia hörte auf, ihre Zähne zu putzen und lauschte, weil sie Jorge im Schlafzimmer nebenan reden hörte.
»… Oben vor der Zweier-Finca? Du musst ihn wegschaffen … ja … Kümmere dich drum … Wie meinst du das, heute noch? Jetzt gleich!«
Sie öffnete die Tür und kam aus dem Badezimmer. »Mit wem telefonierst du so früh?«
»Mit Zorro.«
»Worum soll er sich kümmern?«
»Er soll das Pferd wegschaffen.«
»Was denn für ein Pferd?«
»Da ist so ein Pferd, Zorro hat es vor der Zweier-Finca stehen gesehen.« Jorge kämpfte seine feuchten Füße in ein Paar störrischer Socken und fuhr sich mehrmals hintereinander mit einer Hand durchs Haar, wobei Wassertropfen auf das Bettlaken fielen. »Es hat sich irgendwie aufs Gelände verirrt und will einfach nicht mehr abhauen. Ich hab ihn gestern draußen vor dem Garten entdeckt und runter zur Straße gebracht. Heute steht er wieder da. Er sieht schrecklich aus.«
»Ist er krank?«
»So halbtot.«
»Soll ich ihn mir ansehen?«
»Ich hab ihn mir angesehen, da kann man nichts mehr machen. Ich hab gehofft, dass er zu seinem Besitzer zurückgeht.«
»Wie kommt er überhaupt zu uns rein? Haben wir irgendwo ein Loch im Zaun?«
Jorge riss sich die auf Risthöhe stecken gebliebenen Socken von den Füßen und warf sie auf den Boden: »Ich sag Zorro, er soll eine Runde drehen und den Zaun kontrollieren.«
»Früüühstück!«, hörten sie Bélgica aus der Küche rufen.
Bélgica war für die Zubereitung der Mahlzeiten und diverse organisatorische Dinge zuständig. Sie erstellte Listen: Listen für den Einkauf, Listen für die Gartenpflege, Listen, die sich auf Dinge bezogen, die noch am selben Tag, und auf solche, die später erledigt werden mussten. Sie schrieb auch Notizen anderer Art, kleine Reminder oder Nachrichten. Manche davon waren an sie selbst gerichtet.
Sie hatte Omelette aus vier Eiern zubereitet, dazu gab es aufgewärmte Yucabrötchen vom Vortag, grob geschnittene Melonenstücke und eine Kanne Kaffee.
»Guten Morgen, Bélgica. Wo ist denn der Kleine heute?«
»Buenos días, Señor. Mein Herzchen ist bei der Oma.«